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2. Wer oder was ist Gaia? 

Glossar

 

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Kaum jemand scheint zu wissen, was Gaia eigentlich ist; ich selbst wusste es die ersten zehn Jahre nach Einführung des Begriffs nicht. Die meisten Wissen­schaftler benutzen den Ausdruck »Biosphäre«*, wenn sie über den lebendigen Teil der Erde sprechen oder nachdenken, auch wenn genau genommen die Biosphäre nichts weiter ist als diejenige geografische Region, in der es Leben gibt: die dünne sphärische Blase um die Erdoberfläche herum. Unbewusst haben sie die Definition von Biosphäre zu etwas Größerem als einer geografischen Region ausgeweitet, aber es bleibt unklar, wo diese beginnt oder endet und was sie tut.  * im Glossar

Vom Mittelpunkt aus betrachtet besteht die Erde fast völlig aus heißen oder geschmolzenen Gesteinen und Metallen. Gaia ist eine dünne, kugelförmige Materieschale, die das glühende Innere umgibt. Sie beginnt dort, wo die Erdkruste an das heiße Magma des Inneren anschließt, rund 150 Kilometer unterhalb der Oberfläche, und erstreckt sich weitere 150 Kilometer durch den Ozean und die Luft hinaus bis zur heißen Thermosphäre am Rand des Weltalls. Sie schließt die Biosphäre ein und ist ein dynamisches physiologisches System, das auf unserem Planeten seit über drei Milliarden Jahren Leben ermöglicht. 

Ich bezeichne Gaia als physiologisches System, weil sie das unbewusste Ziel zu haben scheint, das Klima und die Chemie so zu regulieren, dass sie dem Leben zuträglich sind. Gaia strebt keine festen Werte an, sondern solche, die jeweils an die momentanen Umweltverhältnisse und die Gaia bewohnenden Lebensformen angepasst sind.

Wir müssen uns Gaia als ein Gesamtsystem aus belebten und unbelebten Teilen vorstellen. Dass das Sonnenlicht ein vielfältiges Wachstum von Lebewesen ermöglicht, verleiht Gaia ihre Fähigkeiten, aber diese wilde, chaotische Macht wird von Grenzen gezügelt, welche die zielgerichtete Entität formen, die sich zugunsten des Lebens selbst reguliert. Diese Grenzen des Wachstums zu erkennen ist meiner Meinung nach für das intuitive Begreifen von Gaia entscheidend. Wichtig dabei ist zu verstehen, dass die Grenzen nicht nur die Organismen oder die Biosphäre betreffen, sondern auch die physische und chemische Umwelt.

Es liegt auf der Hand, dass es für den größten Teil des Lebens zu heiß oder zu kalt sein kann, weniger bekannt ist jedoch die Tatsache, dass der Ozean zu einer Wüste wird, wenn seine Oberflächentemperatur über rund 12°C steigt. Passiert dies, bildet sich eine stabile Oberflächenschicht von warmem Wasser, die sich nicht mit den kühleren nährstoffreichen Schichten darunter mischt. Diese rein physikalische Eigenschaft des Meerwassers verweigert dem Leben in der warmen Schicht die Nahrung, und bald wird das obere, vom Sonnenlicht beschienene Wasser zu einer Wüste. Das mag einer der Gründe sein, warum Gaia anscheinend die Erde kühl zu halten versucht.

Sie werden bemerken, dass ich immer mal wieder die Metapher »lebendige Erde« für Gaia verwende; gehen Sie aber nicht davon aus, dass ich die Erde als eine empfindungsfähige Lebensform wie etwa ein Tier oder ein Bakterium betrachte. Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir die in gewisser Weise dogmatische und beschränkte Definition ausweiten, dass Leben etwas sei, das sich reproduziert und die Fehler der Reproduktion durch natürliche Auslese der Nachkommenschaft korrigiert.

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Vielleicht fand ich es nützlich, mir die Erde wie ein Tier vorzustellen, weil ich meine ersten ernsthaften wissenschaftlichen Erfahrungen nach meinem Examen im Bereich der Physiologie sammelte. Aber mehr als eine Metapher war das nicht — eine Gedächtnisstütze, nicht ernster zu nehmen als die Gedanken eines Seemanns, der »sie« sagt, wenn er sein Schiff meint. Bis vor Kurzem kam mir dabei kein bestimmtes Tier in den Sinn, immer nur etwas Großes wie ein Elefant oder Wal. Doch seit ich mir der globalen Erwärmung bewusst geworden bin, stelle ich mir die Erde eher wie ein Kamel vor. 

Im Gegensatz zu den meisten anderen Tieren können Kamele ihre Körpertemperatur auf zwei verschiedene, aber jeweils stabile Werte regulieren. Wenn es tagsüber in der Wüste unerträglich heiß ist, halten sie eine Temperatur nahe 40 °C, was dicht genug an der Lufttemperatur ist, um nicht zu viel kostbares Wasser durch Schwitzen zu verlieren. Nachts ist es in der Wüste kalt — es kann sogar Frost geben —, und das Kamel würde viel zu viel Wärme verlieren, wenn es bei 40 °C zu bleiben versuchte, also reguliert es die Temperatur auf praktikablere 34 °C herab, was noch immer warm genug ist. 

Wie ein Kamel kennt Gaia mehrere stabile Zustände, sodass sie sich den veränderlichen internen und externen Umweltbedingungen anpassen kann. Die meiste Zeit bleibt alles stabil; so war es auch ein paar Tausend Jahre lang bis ungefähr 1900. Wird der Druck zu groß — entweder in die heiße oder kalte Richtung —, geht Gaia wie ein Kamel in einen anderen stabilen Zustand über, der leichter aufrechtzuerhalten ist. Gerade fängt sie damit wieder an.

Dieses Bild ist wichtig, denn um Maßnahmen gegen den globalen Wandel zu verstehen, zu ergreifen und sogar zu verbessern, müssen wir die wahre Natur der Erde kennen und sie uns als größtes Lebewesen des Sonnensystems vorstellen, nicht als etwas Unbelebtes, wie es der herabwürdigende Begriff »Raumschiff Erde« nahelegt. 

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Wenn wir diesen Geisteswandel nicht vollziehen, werden wir nicht instinktiv spüren, dass wir einen lebendigen Planeten bewohnen, der auf die von uns verursachten Veränderungen reagieren kann, indem er sie entweder korrigiert oder sich unserer entledigt. Solange wir die Erde nicht als einen Planeten betrachten, der sich verhält, als wäre er lebendig — wenigstens hinsichtlich der Regulierung seines Klimas und seiner Chemie —, wird es uns an der Bereitschaft mangeln, unsere Lebensweise zu ändern und anzuerkennen, dass wir die Erde zu unserem größten Gegner gemacht haben. 

Es stimmt, dass viele Wissenschaftler, vor allem Klimatologen, heutzutage wissen, dass unser Planet die Fähigkeit hat, seine Chemie und sein Klima zu regulieren, aber Allgemeinwissen ist das noch lange nicht. Es ist nicht leicht, das Gaia-Konzept zu verstehen — einen Planeten, der sich schon seit einem Drittel der Zeitspanne, die das Universum existiert, für das Leben geeignet verhalten kann —, und bis das IPCC die Alarmglocken schrillen ließ, bestand dazu auch wenig Neigung. 

Ich werde versuchen, eine Erklärung zu liefern, die einem Praktiker wie etwa einem Arzt genügen dürfte. Eine vollständige Erklärung, die einen Wissenschaftler befriedigen könnte, mag nicht zu leisten sein, aber das sollte keine Entschuldigung für Untätigkeit sein.

Ich finde, Gaia zu erläutern ist, wie jemandem das Schwimmen oder Fahrradfahren beizubringen: Vieles davon lässt sich nicht in Worte fassen. Um es leichter zu machen, werde ich sozusagen im flachen Wasser mit einer einfachen Frage beginnen, die den irritierenden Unterschied zwischen zwei gleich wichtigen Sichtweisen der Welt illustriert. Die erste ist die der Systemwissenschaft, die sich mit allem Belebten befasst, sei es ein Organismus oder ein technischer Mechanismus, der in Betrieb ist; die zweite ist die des Reduktionismus — des Kausalitätsdenkens, das die letzten beiden Jahrhunderte die Wissenschaft dominiert hat.

Die Frage lautet: Was hat Pinkeln mit dem egoistischen Gen zu tun?

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Als ich ein junger Mann war, erstaunte mich die Anzahl von Umschreibungen für den einfachen, aber lebenswichtigen Vorgang des Urinierens. Ärzte und Krankenschwestern baten einen, eine »Probe zu geben« oder »etwas Wasser zu lassen«, und oft gaben sie einem dazu ein kleines Gefäß, um zu verdeutlichen, was sie meinten. In der Umgangssprache hieß es »das Schiff lenzen«, »ein Leck kriegen« oder »die Ladung verschütten«, und wir taten es dort, »wo kleine Jungs hingehen«, oder im »Badezimmer«. Manchmal hieß es bloß »einen Penny opfern«.

Wahrscheinlich war das alles ein Relikt des sexualfeindlichen 19. Jahrhunderts. Es war nicht nur unmöglich, öffentlich die Genitalien zu erwähnen — das Tabu erstreckte sich auch auf ihre sonstigen Funktionen. Aber im Jahr 1996 bemerkte der herausragende amerikanische Biologe George Williams, es sei schon eine ökonomische Merkwürdigkeit der Evolution, dass dasselbe Organ für den Lustgewinn, die Reproduktion und die Abfallentsorgung benutzt wird.

Doch erst kürzlich begann ich mich zu fragen, ob nicht hinter diesem eher unbedeutenden Rätsel ein tieferer Grund steckt. Warum pinkeln wir? Das ist keine so dumme Frage, wie es scheint. Dass wir Abfallprodukte wie überflüssiges Salz, Harnstoff, Kreatinin und zahllose weitere Stoffwechselreste loswerden müssen, liegt auf der Hand, ist aber nur Teil der Antwort. Vielleicht pinkeln wir aus altruistischen Gründen. Wenn wir und andere Tiere nicht einem Teil des Pflanzenlebens der Erde Urin zukommen ließen, würde es jenem möglicherweise an Stickstoff mangeln.

Ist es möglich, dass während der Evolution Gaias, des großen irdischen Systems, Tiere sich dahin entwickelt haben, Stickstoff in Form von Harnstoff oder Harnsäure abzugeben, und nicht in Form von Stickstoffgas? Für uns ist die Ausscheidung von Harnstoff eine nicht unerhebliche Energie- und Wasserverschwendung. Warum sollten wir etwas für uns Nachteiliges ausbilden, wenn nicht aus altruistischen Gründen? 

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Harnstoff ist das Abfallprodukt der Verdauung von dem Fleisch, Fisch, Käse und den Bohnen, die wir gegessen haben; sie alle sind reich an Proteinen, dem Stoff des Lebens. Wir verdauen, was wir essen, und zerlegen es in seine chemischen Bestandteile; wir nehmen nicht das Protein von Rindermuskeln und bauen es in unsere eigenen Muskeln ein. Wir bauen unsere Muskeln und andere Gewebe auf oder ersetzen sie, indem wir die Bestandteile, die Aminosäuren der Proteine, nach den Plänen unserer eigenen DNS zu neuen Proteinen zusammensetzen. Wollten wir unsere Muskeln direkt aus den Rinderproteinen aufbauen, gliche das dem Versuch, mit Teilen eines Traktors eine Waschmaschine zu reparieren. Der bei all diesem Zerlegen und Aufbauen übrig bleibende Abfall wird letztlich zu Harnstoff, und wir scheinen keine andere Möglichkeit zu haben, als ihn in Wasser gelöst loszuwerden, nämlich als Urin.

Harnstoff ist eine einfache Chemikalie, eine Kombination von Ammoniak und Kohlendioxid, die ein organischer Chemiker als Kohlensäurediamid oder NH7CONH2 bezeichnet. Warum haben wir und andere Tiere uns so entwickelt, dass wir unseren Stickstoff in dieser Form ausscheiden? Warum wird der Harnstoff nicht in Kohlendioxid, Wasser und gasförmigen Stickstoff zerlegt? Es wäre viel einfacher, gasförmigen Stickstoff auszuatmen, und wir würden das Wasser sparen, das zur Ausscheidung von Harnstoff nötig ist; den Harnstoff zu oxidieren würde sogar noch ein bisschen Wasser freisetzen, von Energie ganz zu schweigen.

Schauen wir uns ein paar Zahlen an.

100 Gramm Harnstoff entsprechen metabolisch 90 Kilokalorien oder, wenn Ihnen das lieber ist, 379 Kilojoule. Aber statt ihn zu nutzen, wird er in Urin gelöst abgegeben; mehr als vier Liter Wasser sind nötig, um diese 100 Gramm Harnstoff in ungiftiger Lösung auszuscheiden. Normalerweise geben wir pro Tag rund 40 Gramm Harnstoff, gelöst in rund 1,5 Litern Wasser, ab. 

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Kein großes Problem, meinen Sie vielleicht, aber denken Sie einmal an Tiere, die in einer Wüstenregion leben, wo es wenig Nahrung und Wasser gibt. Wäre es zu einem Mutanten gekommen, der fähig gewesen wäre, Harnstoff zu Stickstoff, Kohlendioxid und Wasser zu verstoffwechseln, hätte er einen erheblichen Vorteil gehabt und wahrscheinlich mehr Nachkommen hinterlassen, als seine Harnstoff ausscheidenden Konkurrenten. Gemäß einer stark vereinfachten Interpretation der Darwinschen Theorie hätte die natürliche Auslese diese mutierte Eigenschaft begünstigt, sie hätte sich rasch verbreitet und wäre zur Norm geworden.

An diesem Punkt würde ein skeptischer Biochemiker sagen: »Ist Ihnen nicht klar, dass die Produkte der Oxidation von Ammoniak oder Harnstoff allesamt giftig sind und dies der Grund ist, warum wir Stickstoff in Form von Harnstoff ausscheiden?« Meine Antwort würde lauten: »Sagen Sie das den Bakterien, die Stickstoffverbindungen in Stickstoffgas umwandeln und die es im Boden und im Meer im Überfluss gibt.« Abgesehen davon wäre eine Symbiose mit Stickstoff entsorgenden Organismen genauso gut oder noch besser als die Verstoffwechselung von Harnstoff durch uns selbst.

Wie die Dinge stehen, ist Harnstoff für uns ein Abfallprodukt, und es zu entsorgen kostet wertvolles Wasser und Energie. Aber wenn wir und andere Tiere nicht pinkeln, sondern stattdessen Stickstoff ausatmen würden, gäbe es vielleicht weniger Pflanzen, und später würden wir Hunger leiden. Wie um alles in der Welt haben wir uns so entwickeln können, dass wir so altruistisch sind und unsere Eigeninteressen so kenntnisreich verfolgen? Vielleicht ist es weise, wie Gaia funktioniert und das egoistische Gen interpretiert.

Als ich vor nunmehr 40 Jahren über Gaia zu arbeiten begann, war die Wissenschaft noch nicht so hochorganisiert wie heute und wurde noch nicht im selben Umfang von Wirtschaftsunternehmen betrieben. 

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So etwas wie Projektplanung oder Statusberichte gab es kaum, und fast nie wurde auf Konferenzen beschlossen, was als Nächstes zu tun sei. Um Gesundheit und Sicherheit kümmerte sich noch keine Bürokratie — man erwartete von uns als qualifizierten Wissenschaftlern, dass wir für unsere Sicherheit und die unserer Kollegen selbst verantwortlich waren. Der wichtigste Unterschied bestand darin, dass Forschung praktisch im Labor betrieben wurde, nicht als Simulation auf einem Computerbildschirm in einem Büro. In solch idyllischer Umgebung war es möglich, mittels Experiment eine Idee zu bestätigen oder zu verwerfen. Manchmal lautete die Antwort einfach richtig oder falsch, gelegentlich aber war sie mehrdeutig. Dieses »nicht genau wissen« war es, was durch glückliche Zufälle zur Enthüllung von etwas völlig Unerwartetem führte, zu einer echten Entdeckung.

So könnte es auch mit der Idee der Harnstoffabsonderung gewesen sein. 

Auf diese Weise über Stickstoff nachzudenken brachte mich auf das verflixte Problem des Sauerstoffs im Karbon, vor 300 Millionen Jahren. Ein wichtiger Hinweis, dass die Gaia-Theorie* richtig ist, liefert der Anteil der Atmosphären­gase wie Sauerstoff und Kohlendioxid; diese werden so reguliert, dass sie ein den jeweils gerade existierenden Lebensformen zuträgliches Niveau haben. Es gibt gute experimentelle und auch theoretische Gründe zu der Annahme, dass der momentane Sauerstoffgehalt der Atmosphäre gerade richtig ist. Bei mehr als 21 Prozent steigt das Brandrisiko; bei 25 Prozent ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Funke einen Feuersturm auslöst, zehnmal so groß. Andrew Watson und Tim Lenton haben ein Modell der Sauerstoffregulierung entwickelt und festgestellt, dass das Brandrisiko trockener Vegetation beim Mechanismus der Sauerstoffregulierung eine wichtige Rolle spielt. Bei weniger als 13 Prozent brennt es nicht, und bei mehr als 25 Prozent sind die Feuer so heftig, dass Wälder unmöglich alt werden können.

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Man stelle sich unsere Überraschung vor, als der herausragende Geochemiker Robert Berner behauptete, dass im Karbon, vor rund 300 Millionen Jahren, der Sauerstoffgehalt der Atmosphäre bei 35 Prozent gelegen hätte. Dies schlussfolgerte er aus einem Modell, das auf einer gründlichen Analyse der Zusammen­setzung von kreidezeitlichem Gestein basierte. Damals wurde seiner Überzeugung nach so viel Kohlenstoff vergraben — ein Großteil davon bildet unsere heutigen Kohlevorkommen —, dass viel mehr Sauerstoff in der Luft gewesen sein muss, um diese große Kohlenstoffablagerung auszugleichen.

Meine erste Reaktion war, dass Berner unrecht haben musste; ich wusste aufgrund von Experimenten meines Kollegen Andrew Watson in den siebziger Jahren, dass Brände bei 35 Prozent Sauerstoffgehalt fast so heftig wüten wie in reinem Sauerstoff. Laborexperimente, denen zufolge Baumzweige bei 35 Prozent nicht leicht entzündlich waren, beeindruckten mich nicht; es ist ein himmelweiter Unterschied zwischen einer Laborsimulation und einem echten Waldbrand, bei dem die intensive Hitzestrahlung das Holz in der Bahn des Feuers austrocknet und die vom Feuer selbst verursachten Winde frische, sauerstoffreiche Luft heranführen. 

Auch Argumente, dass die damaligen Riesenlibellen ohne 35 Prozent Sauerstoff in der Luft nicht hätten fliegen können, überzeugten mich nicht. Man weiß heute, dass Insekten in der Regel für eine Sauerstoffvergiftung anfällig sind und die kreidezeitlichen Libellen keine Probleme gehabt hätten, bei unserem heutigen Sauerstoffniveau zu fliegen. Die Debatte ging weiter, bis mein Freund Andrew Thomas, Akustiker und auch Taucher, vermutete, dass wir vielleicht beide recht hätten, Berner mit seiner Behauptung, es hätte mehr Sauerstoff gegeben, und ich mit meiner, der Gehalt hätte nicht viel über 25 Prozent liegen können. Es kam nur darauf an, dass mehr Stickstoff in der Luft war. Denn nicht die Gesamtmenge des Sauerstoffs bestimmt die Entflammbarkeit, sondern sein Anteil im Verhältnis zum Stickstoff.

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Rund 40 Prozent des irdischen Stickstoffs sind heute in der Erdkruste gebunden; vielleicht war jener Stickstoff in der Kreidezeit noch nicht eingelagert, sondern noch in der Luft, sodass der relative Sauerstoffanteil für die Bäume sicherer war. Wir könnten auch spekulieren, dass das Mikrobenleben des Präkambriums, das dem Aufkommen von Bäumen und Tieren vorausging, keinen Stickstoff band, sodass er größtenteils als Gas in der Atmosphäre war.

Diese Stickstoff-Überlegungen sind völlig spekulativ, aber ich will damit illustrieren, wie sich die Gaia-Theorie aus zunächst vagen Ideen oder aus fruchtbaren Irrtümern entwickelt hat, die den Boden für ein stimmigeres Gesamtbild bereiteten.

Wir wollen jetzt versuchen, Gaia gründlicher zu begreifen, indem wir die Erde als ganzen Planeten von außen betrachten. 

 

Stellen Sie sich ein Raumschiff mit intelligenten Außerirdischen vor, die vom Weltall aus das Sonnensystem untersuchen. An Bord ihres Schiffes haben sie leistungsfähige Instrumente, die den Reisenden die chemische Zusammensetzung aller Planetenatmosphären anzeigen. Aus nichts weiter als dieser Analyse würden ihre automatischen Instrumente ihnen verraten, dass der einzige Planet mit reichlichem Leben die Erde ist; darüber hinaus könnten sie zeigen, dass diese Lebensform auf Kohlenstoff basiert und hinreichend fortgeschritten ist, um eine industrielle Zivilisation hervorzubringen. 

Solche Instrumente sind alles andere als fiktiv: Ein kleines Teleskop mit einem Infrarotspektrometer und einem Computer zur Datenanalyse würde ausreichen. Die Geräte wurden in den oberen Luftschichten der Erde sowohl Median als auch Sauerstoff feststellen, und die Raumschiffwissenschaftler würden wissen, dass diese Gase im hellen Sonnenlicht miteinander reagieren und daher irgendetwas auf der Planetenoberfläche große Mengen von beidem produzieren muss.

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Die Wahrscheinlichkeit, dass zufällige anorganische chemische Prozesse dafür verantwortlich sind, geht gegen null. Daraus würden sie schlussfolgern, dass unser Planet ein Habitat reichen Lebens ist, und das Vorhandensein von Chlorfluorkohlenstoff (CFKs) würde auf eine Zivilisation schließen lassen, die dumm genug ist, sie entweichen zu lassen. 

In den sechziger Jahren konstruierte ich im Auftrag der NASA Instrumente für die Erkundung von Planeten, und Überlegungen wie diese brachten mich auf den Vorschlag, die Analyse der Planetenatmosphäre zum Aufspüren von Leben auf dem Mars einzusetzen. Ich argumentierte, wenn es Leben auf dem Mars gäbe, müsste es die Atmosphäre als Quelle für Rohstoffe und als Deponie seiner Abfallprodukte nutzen; es würde die Zusammensetzung der Atmosphäre ändern, sodass sie sich erkennbar von der eines toten Planeten unterschiede. Die an Leben reiche Erde betrachtete ich als Gegenmodell, und die maßgebliche Zusammenfassung der Biogeochemie des herausragenden Wissenschaftlers G.E. Hutchinson lieferte mir die Informationen über die Quellen und die Einlagerung der Luftgase. Ihm zufolge sind Methan und Stickstoffoxide biologische Produkte, und die jeweiligen Anteile von Stickstoff, Sauerstoff und Kohlendioxid werden von Organismen massiv verändert. 

Damals wusste keiner von uns viel über die Zusammensetzung der Marsatmosphäre, doch im Jahr 1965 wurde von der Erde aus mittels Infrarotastronomie festgestellt, dass die Marsatmosphäre fast völlig aus Kohlendioxid besteht und dicht am chemischen Gleichgewicht ist; meinen Überlegungen zufolge war der Planet daher wahrscheinlich unbelebt — eine Schlussfolgerung, die meine Sponsoren nicht unbedingt erfreute. Nachdem ich mich wieder vom extra-terrest­rischen Leben abgewandt hatte, fragte ich mich, was unsere chemisch instabile Atmosphäre in einem dynamischen Gleichgewicht halten und damit die Erde offensichtlich ständig bewohnbar machen könnte. 

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Darüber hinaus erfordert die Kontinuität des Lebens ein stets erträgliches Klima, obwohl die Strahlung der Sonne seit Bildung der Erde um 30 Prozent zugenommen hat. Zusammen brachten mich diese Überlegungen auf die Hypothese, dass lebende Organismen das Klima und die Chemie der Atmosphäre in ihrem eigenen Interesse regulieren, und im Jahr 1969 schlug der Schriftsteller William Golding den Namen »Gaia« dafür vor. Ein paar Jahre später begann ich mit der herausragenden amerikanischen Biologin Lynn Margulis zusammenzuarbeiten, und in unserem ersten gemeinsamen Artikel erklärten wir: Die Gaia-Hypothese* betrachtet die Biosphäre als ein aktives, adaptives Kontrollsystem, das die Erde in Homöostase hält.

Seit diesen Anfängen in den sechziger Jahren war die Vorstellung einer globalen klimatischen und chemischen Selbst­regulierung sowohl bei Geowissen­schaftlern als auch bei Biologen unpopulär. Bestenfalls hielten sie sie als Erklärung der Fakten des Lebens und der Erde für überflüssig; schlimmstenfalls verdammten sie sie geradewegs mit bissigen Worten. Als einzige Wissenschaftler begrüßten ein paar Meteorologen und Klimatologen die Idee. Einige Biologen stellten die Hypothese bald infrage und argumentierten, eine sich selbst regulierende Biosphäre hätte sich niemals entwickeln können, da Organismen Gegenstand der natürlichen Auslese seien, nicht die Biosphäre. Glücklicherweise war ich mit dem ausgezeichneten und scharfsinnigen Autor Richard Dawkins als Vertreter der darwinistischen Opposition gegen Gaia konfrontiert; es war eine schmerzliche Erfahrung, aber mit der Zeit stimmte ich ihm zu, dass die darwinistische Evolution, wie man sie damals verstand, mit der Gaia-Hypothese nicht zu vereinbaren war. Darwin stellte ich nicht infrage, was stimmte also an der Gaia-Hypothese nicht? Ich wusste, dass die Konstanz des Klimas und der chemischen Zusammensetzung der Luft gute Beweise für einen sich selbst regulierenden Planeten waren. 

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Darüber hinaus erwies sich das Konzept von Gaia als fruchtbar, es führte mich zu der Entdeckung der natürlichen molekularen Transporteure der Elemente Schwefel und Jod: Dimethylsulfid (DMS) und Methyliodid. Später dann, im Jahr 1986, machte ich zusammen mit Kollegen in Seattle die erstaunliche Entdeckung, dass von Algen* im Meer produziertes DMS mit der Wolkenbildung und mit dem Klima zusammenhängt. Tiefbewegt erhaschten wir einen Blick auf einen von Gaias Mechanismen zur Klimaregulierung, und wir sind der Gemeinschaft der Klimawissenschaftler zu Dank verpflichtet, die uns ernst genug nahm, um uns vieren, Robert Charlson, M. O. Andreae, Steven Warren und mir, 1988 den Norbert-Gerbier-Preis zu verleihen.

Um auf die Debatte mit den Darwinisten zurückzukommen: 1981 kam mir der Gedanke, dass Gaia das Gesamtsystem ist — eine Kopplung von Organismen und materieller Umwelt — und dass dieses riesige irdische System die Selbstregulierung hervorgebracht hatte, nicht das Leben oder die Biosphäre allein. Um diese Idee zu überprüfen, konstruierte ich ein Computermodell mit dunkel und hell gefärbten Pflanzen, die auf einem Planeten mit progressiv zunehmendem Sonnenschein um Wachstum konkurrierten. Es war nur eine Simulation, aber als sie auf dem Computer lief, zeigte sich, dass die imaginäre Welt ihre Temperatur dicht am Optimum für Gänseblümchen hielt, und zwar über ein breites Spektrum von Wärmelieferungen ihrer Sonne. Ich nannte dieses Modell »Daisyworld« (daisy = Gänseblümchen); für ein Evolutionsmodell aus gekoppelten Differenzialgleichungen war es ungewöhnlich: Es war stabil, unempfindlich gegenüber den Ausgangsbedingungen und störungsresistent.

Daisyworld ist ein Modellplanet, der der Erde ähnelt; er umkreist einen Stern wie unsere Sonne. Auf Daisyworld gibt es nur zwei Pflanzenarten, und sie konkurrieren miteinander um den Platz zum Wachsen wie alle anderen Pflanzen auch. Wenn die Sonne jünger und kühler ist, ist es der Planet auch, und zu der Zeit gedeihen die dunklen Gänseblümchen am besten.

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Nur an den heißesten Orten nahe dem Äquator sind helle Gänseblümchen zu finden. Der Grund dafür ist, dass dunkle Gänseblümchen das Sonnenlicht absorbieren und damit sich, ihr Umfeld und den gesamten Planten warm halten. Wenn der Stern sich dann aufheizt, werden die dunklen Gänseblümchen in den Tropen durch helle ersetzt, weil diese das Sonnenlicht reflektieren und so kälter bleiben; sie kühlen auch ihre Umgebung und den gesamten Planeten ab. Wenn die Modellsonne immer heißer wird, ersetzen helle Gänseblümchen die dunklen, und durch ihre Konkurrenz um den Platz bleibt der Planet immer nahe der für das Leben idealen Temperatur. Schließlich wird das Zentralgestirn so heiß, dass noch nicht einmal mehr helle Gänseblümchen überleben können, und der Planet wird zu einer leblosen Felskugel.

Das Modell ist nicht viel mehr als eine Karikatur, aber ich halte es für so etwas wie eine schematische Darstellung eines U-Bahn-Netzes: nicht gut, wenn man eine bestimmte Straße sucht, aber ideal, um sich im U-Bahn-System einer quirligen Stadt zurechtzufinden. Daisyworld wurde erfunden, um zu zeigen, dass Darwins Evolutionstheorie der natürlichen Auslese nicht der Gaia-Theorie widerspricht, sondern Teil davon ist.

Die Reaktionen von Biologen und Geologen auf Daisyworld bestanden hauptsächlich darin, dass sie als gute Wissenschaftler versuchten, das Modell zu falsifizieren; das probierten sie wiederholt, und es irritierte sie immer mehr, dass es keinem gelang. Um einigen dieser Kritiker zu begegnen, baute ich Modelle, die viel artenreicher waren als Daisyworld. Sie umfassten viele unterschiedliche Pflanzentypen, Kaninchen, die sie fraßen, und Füchse, die wiederum Kaninchen jagten. Diese Modelle waren genauso stabil und selbstregulierend wie Daisyworld. Mein Freund Stephan Harding hat Modelle von kompletten Ökosystemen mit vollständigen Nahrungsketten konstruiert und damit unser Verständnis der Biodiversität vergrößert.

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Doch die anhaltende Kritik machte mir klar, dass Gaia wissenschaftlich erst dann ernst genommen werden würde, wenn herausragende Wissenschaftler öffentlich die Theorie unterstützen. 1995 begann ich Dialoge mit John Maynard Smith und William Hamilton, die beide bereit waren, über Gaia wissenschaftlich zu diskutieren, aber nicht erklären konnten, wie eine planetarische Selbstregulierung durch natürliche Auslese aufgekommen sein könnte. Trotzdem scheute Maynard Smith keine Mühe, meinen Freund und Kollegen Tim Lenton zu unterstützen, als dieser später einen zukunftsweisenden Artikel mit dem Titel »Gaia and Natural Selection« in Nature veröffentlichte. Darin beschrieb er mehrere Möglichkeiten, wie die Erde ihr Ziel verfolgt, sich für die Lebensformen bewohnbar zu halten, die sie zufällig gerade bevölkern. Hamilton fragte in einem gemeinsam mit Lenton verfassten Aufsatz unter dem provokanten Titel »Spora und Gaia«, ob das Streben der Organismen nach Verbreitung nicht das Bindeglied sei, das die Meeresalgen mit dem Klima koppele. Im Jahr 1999 äußerte Hamilton in einer Fernsehsendung: »Genau wie die Beobachtungen eines Kopernikus einen Newton brauchten, der sie erklärte, brauchen wir einen neuen Newton, der erklärt, wie die Darwinsche Evolution zu einem bewohnbaren Planeten führt.«

Dann begann zumindest in Europa das Eis zu schmelzen, und bei einer Konferenz in Amsterdam im Jahr 2001 — bei der vier führende Organisationen gegen den Klimawandel vertreten waren — unterzeichneten mehr als 1000 Delegierte eine Erklärung, deren erster Satz lautete: »Die Erde verhält sich wie ein einziges, sich selbst regulierendes System, das aus physikalischen, chemischen, biologischen und menschlichen Komponenten besteht.«

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Diese Worte markierten eine abrupte Abkehr von einer zuvor festgefügten Lehrmeinung, der zufolge Biologen davon ausgingen, Organismen würden sich ihrer Umwelt anpassen, diese aber nicht verändern, und Geowissenschaftler behaupteten, dass allein geologische Kräfte die Entwicklung der Atmosphäre, der Erdkruste und der Ozeane erklären könnten. An diesem Punkt möchte ich an die Auseinandersetzungen mit dem herausragenden Biologen Eugene Odum erinnern, der in den sechziger Jahren ein Ökosystem als eine Entität wie Gaia betrachtete. Soweit mir bekannt ist, hat keiner von den Biologen, die Odums Konzept entschieden zurückwiesen, je zugegeben, dass sie unrecht hatten.

Die Erklärung von Amsterdam war ein wichtiger Schritt in die Richtung, die Gaia-Theorie als Arbeitsmodell für die Erde zu akzeptieren; allerdings verhindern territoriale Abgrenzungen und letzte Zweifel, dass die an der Erklärung beteiligten Wissenschaftler das Ziel der sich selbst regulierenden Erde bestätigen, das meiner Theorie zufolge darin besteht, die Bewohnbarkeit aufrechtzuerhalten. Diese Auslassung ermöglicht Wissenschaftlern ein Lippenbekenntnis zur Geosystemwissenschaft* — oder Gaia —, während sie gleichzeitig weiter isoliert forschen und Modelle bauen. Diese natürliche und allzu menschliche Tendenz von Wissenschaftlern, sich dem Wandel zu widersetzen, hätte normalerweise keine große Rolle gespielt. Irgendwann wären die eingefahrenen Bahnen verlassen worden, und Geochemiker hätten angefangen, Flora und Fauna als sich entwickelnde und reagierende Teile der Erde zu betrachten, nicht nur als passive Reservoire wie Sedimente oder Ozeane. Schließlich hätten auch Biologen die Umwelt als etwas angesehen, das Organismen aktiv verändern, nicht als etwas Feststehendes, an das sie sich nur anpassen. 

Doch unglücklicherweise haben, während die Wissenschaftler langsam ihre Haltung änderten, wir in der industrialisierten Welt mit Fleiß die Erdoberfläche und die Atmosphäre verändert. Jetzt sind Menschheit und Erde mit einer tödlichen Gefahr konfrontiert, und uns bleibt kaum noch Zeit, ihr zu entkommen. Wenn der wissenschaftliche Mittelbau sich Gaia gegenüber weniger reaktionär verhalten hätte, hätten wir vielleicht 20 Jahre gewonnen, um die viel schwierigeren menschlichen und politischen Entscheidungen hinsichtlich unserer Zukunft zu treffen.

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Wie funktioniert Gaia?

Um Gaia zu begreifen, muss man vor allem wissen, dass sie innerhalb bestimmter Grenzen oder Einschränkungen operiert. Alles Leben wird von seinen egoistischen Genen dazu getrieben, sich zu reproduzieren, und wenn Konkurrenz sowie Fressen und Gefressenwerden die einzigen Beschränkungen sind, ist eine chaotische Fluktuation der Populationen die Folge. Versucht man, natürliche Ökosysteme ohne umweltbedingte Einschränkungen im Modell darzustellen — von den berühmten Kaninchen und Füchsen des Biophysikers Alfred Lotka und seines Kollegen Vito Volterra bis zu den jüngsten Arbeiten auf der Basis der Komplexitätstheorie —, schafft man es nicht, die robuste Stabilität eines natürlichen Ökosystems hervorzubringen. Lotka warnte schon 1925, dass den Gleichungen dieser allzu einfachen Modelle eine einschränkende physikalische Umgebung fehle und sie daher schwierig zu lösen sein würden. Trotz dieser Warnung fasziniert die abstrakte Mathematik der Populationsbiologie seit mindestens 70 Jahren die akademischen Biologen, aber sie repräsentiert kaum die reale Welt und befriedigt auch nicht die bodenständigeren Kollegen, die Ökologen mit dem Schlamm an den Stiefeln. Untersucht man irgendein langfristig beständiges natürliches Ökosystem an einem der wenigen noch unberührten Orte der Welt, stellt man fest, dass es genauso dynamisch stabil ist wie der eigene Körper.

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Viele Biologen des 20. Jahrhunderts betrieben ihre Wissenschaft im Glauben an die Unfehlbarkeit einer genetischen Beschreibung des Lebens. So unerschütt­erlich war ihre Überzeugung, dass sie sich die Entwicklung eines Ökosystems unabhängig von den Genen seiner konstituierenden Spezies nicht vorstellen konnten. Faktisch kann sich die epigenetische Evolution von Ökosystemen und von Gaia einfach durch natürliche Auslese existierender Spezies vollziehen. Wenn ein Ökosystem kontinuierlich gestört wird — beispielsweise durch zu viel Wärme oder Dürre —, werden die dies tolerierenden Spezies aus dem Ensemble existierender Genotypen selektiert, und sie können sich vermehren, bis sie dominieren; die Feinabstimmung der genetischen Evolution vervollständigt diesen Adaptionsprozess. Zur Evolution von Ökosystemen und von Gaia braucht es mehr als nur das egoistische Gen.

Die instabile Mathematik des uneingeschränkten Wettbewerbs und des Fressens und Gefressenwerdens lebender Organismen ähnelt ein wenig dem Verhalten jener ungebärdigen und oft betrunkenen Horden, die sich nachts in den Innenstädten zusammenrotten. Einst sorgten die Grenzen, die eine starke, sich selbst vertrauende Gemeinde zog, und die Unterstützung durch eine effiziente Polizei für Ruhe und Stabilität; aber sie sind verschwunden, und oft herrscht Chaos. Gaia selbst sind feste Grenzen durch die Rückkopplung ihrer nicht lebendigen Umwelt gezogen. Darwinisten sagen zu Recht, dass die natürliche Auslese diejenigen Arten begünstigt, die die meisten überlebenden Nachkommen hervorbringen, aber das intensive Wachstum vollzieht sich innerhalb eines beschränkten Raums, in dem die Rückkopplung von der Umwelt das Aufkommen einer natürlichen Selbstregulierung ermöglicht.

Die Folgen eines uneingeschränkten, exponentiellen Wachstums sind oft berechnet und als Beispiele für die Vitalität des Lebens hingestellt worden.

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Wenn sich ein einziges Bakterium teilen und die daraus entstehenden sich alle 20 Minuten wieder teilen würden — vorausgesetzt, nichts würde das Wachstum einschränken und es stünde unbegrenzt Nahrung zur Verfügung —, würde die gesamte Nachkommenschaft in etwas mehr als zwei Tagen so viel wiegen wie die Erde. Gefressenwerden und ein limitiertes Nährstoffangebot stellen lokale Grenzen dar, und vor Gaia waren diese Faktoren alles, was Biologen in Betracht zogen. Heute wissen wir, dass so globale Bedingungen wie die Zusammensetzung der Atmosphäre und der Ozeane und das Klima die Grenzen darstellen, die für Stabilität sorgen.

Wie funktionieren diese umweltbedingten Einschränkungen? Sie hängen von den Toleranzen der Organismen selbst ab. Für alle Lebensformen gibt es eine untere, eine obere und eine optimale Wachstumstemperatur, und dasselbe gilt für den Säure-, Salz- und Sauerstoffgehalt der Luft und des Wassers. Alle Organismen müssen innerhalb der Grenzwerte dieser Eigenschaften ihrer Umwelt leben.

Abgesehen von wenigen, hochangepassten Organismen, den Extremophilen, die in heißen Quellen nahe dem Siedepunkt oder in der gesättigten Sole von Salzseen oder sogar in unserer scharfen Magensäure leben, sind fast alle Lebensformen sehr wählerisch, was ihre Umweltbedingungen angeht. Die einzelne Zelle, auf der das Leben aufbaut, braucht genau die richtige Mischung von Salzen und Nährstoffen in ihrer Umgebung und toleriert nur kleine Veränderungen in deren Zusammensetzung. Wenn diese Zellen sich milliardenfach zusammenschließen und große Tiere und Pflanzen bilden, können sie ihr internes Milieu unabhängig von Veränderungen der Umwelt regulieren: Es macht uns nichts aus, in Salzwasser zu schwimmen oder in die Sauna zu gehen. Bakterien, Algen und andere Einzeller aber haben keine Wahl, sie müssen mit den Temperaturen und sonstigen Verhältnissen zurechtkommen, die sie vorfinden, und folglich haben sie sich einem erheblichen Spektrum von Temperaturen, Salz- und Säuregehalt angepasst.

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Doch auch für sie ist der Temperaturbereich auf -1,6°C, dem Gefrierpunkt von Meerwasser, bis +50°C beschränkt. Die meisten Säugetiere — einschließlich Menschen — und Vögel regulieren ihre Temperatur auf um 37°C, man bezeichnet sie als homöotherm. Die weniger wählerischen Reptilien und Wirbellosen haben den seltsamen Namen Poikilotherme, Kaltblüter. Unser eigener Körper kann kurzfristig innere Temperaturen zwischen 34 und 41°C ertragen, aber unter 36 oder über 39°C fühlen wir uns definitiv unwohl. Ob wir als Inuit in der Arktis oder als Buschmänner in der heißen Kalahari-Wüste leben, ändert an diesen internen Grenzwerten nichts.

Das Leben gedeiht meist am besten zwischen 25 und 35°C, aber das ist nur die physiologische Seite der Regulierung; das Leben wird auch von den physikalischen Eigenschaften der irdischen Materialien beeinflusst. Oberhalb von 4°C dehnt sich Wasser mit der Erwärmung aus, und wenn die Sonne den Ozean aufheizt, absorbieren die oberen Schichten den größten Teil der Sonnenwärme und expandieren, wodurch sie leichter werden als das kühlere Wasser darunter. Diese warme Oberflächenschicht reicht zwischen 30 und 100 Meter tief. Sie bildet sich, wenn die Sonne stark genug scheint, um die Oberflächen­temperatur auf über rund 10°C hochzutreiben.

Die warme Oberflächenschicht ist stabil, und wenn keine starken Stürme wie beispielsweise Hurrikane wehen, bleibt sie intakt und mischt sich nicht mit dem kühleren Wasser darunter. Diese Bildung einer Oberflächenschicht stellt eine mächtige Einschränkung für das Leben im Meer dar; Primärproduzenten, die in dieser neu gebildeten warmen Schicht im zeitigen Frühling heranwachsen, durchlaufen bald eine Generationenfolge, die alle Nährstoffe in der Schicht aufbraucht. Die toten Überreste dieser Frühlingsblüte sinken auf den Meeresgrund, und bald ist die Oberflächenschicht bis auf ein paar wenige, hungernde Algenpopulationen leer. 

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Aus diesem Grund ist das warme Wasser in den Tropen so klar und blau; diese Schichten sind die Wüsten des Meeres, und sie bedecken jetzt 80 Prozent der weltweiten Wasseroberfläche. In der Arktis und der Antarktis bleibt das Oberflächenwasser unter 10°C, wird von unten bis oben gut durchmischt, sodass überall Nährstoffe zur Verfügung stehen.

In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts nahmen Interkontinentalreisende den Seeweg. Auf einem Schiff von New York nach Europa sahen die Reisenden zunächst das klare blaue, warme Wasser des Golfstroms, aber wenn sie dann Richtung Nordosten Cape Cod passierten und in den kalten Labrador­strom kamen, wurde das Wasser plötzlich ziemlich dunkel und suppig. Das Meeresleben mag es vielleicht warm, aber die Eigenschaften des Wassers verhindern, dass es sich Temperaturen wesentlich über 10°C erfreuen kann, andernfalls bleibt die Zahl der Organismen klein und sie darben. Das ist eine wichtige, globale Einschränkung des Wachstums und mit ein Grund, warum Gaia besser funktioniert, wenn es kühl ist.

In den riesigen Wüsten der heutigen Weltmeere gibt es Oasen, und man findet sie an den Rändern der Kontinente, wo kaltes, nährstoffreiches Wasser aus den Tiefen nach oben quillt. Vor den Mündungen großer Flüsse wie Mississippi, Rhein, Indus und Jangtsekiang gibt es künstliche Oasen, die die intensive Landwirtschaft entlang der Ströme mit Nährstoffen versorgt. Aber diese natürlichen und künstlichen Oasen spielen nur eine kleine Rolle.

Eine ähnliche und gleichermaßen wichtige Einschränkung des Wachstums gibt es an Land. Lebenden Organismen geht es bis zu einer Temperatur von fast 40°C gut, aber in der Natur wird das Wasser, das sie zum Leben brauchen, bei Temperaturen deutlich über 20°C immer seltener. Wenn es im Winter regnet und die Temperaturen unterhalb von 10°C liegen, bleibt das Wasser eine ganze Weile da, und der Boden ist feucht genug für das Pflanzenwachstum.

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Wenn im Sommer Durchschnittstemperaturen von rund 20°C herrschen, verdampft frisch gefallener Regen rasch, und die Oberfläche bleibt trocken. Der Boden verliert Feuchtigkeit, wenn es nicht häufig regnet. Oberhalb von 25°C verdunstet das Wasser so schnell, dass ohne kontinuierlichen Regennachschub der Boden austrocknet und das Land zu einer Wüste wird. Genau wie im Oberflächenwasser des Meeres haben es die Organismen vielleicht gern warm, aber die Eigenschaften des Wassers setzen ihrem Wachstum eine Grenze.

Richard Betts vom Hadley Centre hat gezeigt, wie die großen tropischen Regenwälder diese Grenzen ein Stück weit überwunden haben, indem sie sich so an ihre warme Umwelt anpassten, dass sie Wasser recyceln können. Dem Ökosystem gelingt das, indem es oberhalb des Blätterdachs Wolken und damit Regen generiert, aber auch dieser Mechanismus hat seine Grenzen. Richard Betts und Peter Cox vermuten, ein Temperaturanstieg von 4°C würde ausreichen, um dem Amazonaswald diese Fähigkeit zu nehmen und ihn in Buschland oder Wüste zu verwandeln, und teils wären dafür die lokalen Folgen einer schnelleren Verdunstung des Regenwassers verantwortlich, teils aber auch globale Veränderungen der Windverteilung in einer um 4°C wärmeren Welt.

Reines Wasser gefriert bei 0°C, Meerwasser wegen des Salzgehalts erst bei -1,6°C. Das Leben kann sich an Temperaturen unterhalb des Gefrierpunkts anpassen — Fische schwimmen in Wasser, das noch nicht gefroren, aber kälter als 0°C ist —, aber in gefrorenem Zustand ist aktives Leben unmöglich. Als Sandy und ich die Labors des British Antarctic Survey in Cambridge besuchten, beobachteten wir begeistert einen Fisch, der in einem Becken bei -1,6°C munter herumschwamm und darauf zu warten schien, dass unser Gastgeber, Lloyd Peck, ihm etwas zu fressen gab. Für den Fisch war das offensichtlich eine akzeptable Temperatur.

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Wird einem Organismus Wasser entnommen, das zu Eis gefriert oder verdampft, werden die im Organismus gelösten Salze stärker konzentriert. Wenn die Salzkonzentration mehr als acht Prozent beträgt, führt dies sofort zum Tod. Organismen haben sich ein Stück weit an dieses Problem angepasst; Meerwasser beispielsweise enthält sechs Prozent Salz und ist damit dicht am tödlichen Limit; die natürliche Auslese hat diejenigen Organismen begünstigt, die Substanzen produzieren können, die die schädlichen Folgen eines höheren Salzgehalts neutralisieren. Im Meer stellen sie zu diesem Zweck große Mengen von Dimetlvylsulfonpropionat (DMSP) her; an Land haben Insekten in der Arktis Gefrierschutzmittel entwickelt, die verhindern, dass die Salzkonzentration auf ein tödliches Niveau steigt, wenn sie frieren.

Diese von den Wassereigenschaften gesetzten physikalischen Einschränkungen wirken sich auf das Wachstum aus und gestalten die Beziehung zwischen Wachstum und Temperatur und der Verteilung des Lebens auf der Erde. Aus rein menschlicher Sicht ist die momentane Zwischeneiszeit — zumindest bis wir daran herumzupfuschen begannen — ein besserer Zustand als eine Eiszeit. Der Grund dafür mag sein, dass die einflussreicheren Menschen in den Bereichen der Nordhalbkugel leben, die während der Eiszeit von Gletschern oder Tundra bedeckt waren. Aus Gaias Sicht ist die Vergletscherung ein erstrebenswerter Zustand, weil es dann viel weniger warmes Oberflächenwasser und daher mehr ozeanisches Leben gibt; das zur Bildung der großen Gletscher den Ozeanen entnommene Wasser würde den Meeresspiegel um 120 Meter absenken, und damit stünde den Pflanzen eine Fläche von der Größe Afrikas zum Wachsen zur Verfügung. Wie wir gesehen haben und wie der niedrige Anteil von Kohlendioxid zu jener Zeit zeigt, gab es auf der kälteren Erde mehr Leben: Es braucht eine Menge Organismen, um ihn auf weniger als 200 Teile pro Million (parts per million, ppm) herunterzupumpen.

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Darüber hinaus legen die Eisbohrkerne aus der Antarktis den Schluss nahe, dass während der Eiszeit fünfmal mehr Dimethylsulfid (DMS) produziert wurde. Dieser größere Anteil des Schwefelgases bedeutet, dass es in den Ozeanen mehr Algen — die Quelle von DMS — gab. Wenn Gaia einer Präferenz Ausdruck verleihen könnte, wäre es meiner Meinung nach die Kälte einer Eiszeit, nicht die relative Wärme von heute.

Gaia heißt aber nicht nur Temperaturregulierung. Die Aufrechterhaltung einer stabilen chemischen Zusammensetzung ist ähnlich lebenswichtig. Andrew Watson und Tim Lenton haben ein gutes Stück weit den Mechanismus aufgedeckt, mit dem der Sauerstoffgehalt der Atmosphäre geregelt wird. Sie fanden heraus, welche Rolle das wichtige, aber seltene Element Phosphor spielt. Peter Liss hat die biologischen Quellen der wichtigen Elemente Schwefel, Selen und Jod in den Ozeanen erforscht. Der komplizierte Zusammenhang zwischen dem Algenleben in den Meeren, der Schwefelgasproduktion, der Atmosphären­chemie, der Wolkenphysik und dem Klima wird jetzt nach und nach in Dutzenden von Laboratorien überall auf der Welt geklärt. Da man inzwischen eine Regulierung durch Gaia eingesteht, auch wenn man sie noch nicht ganz begreift, gibt es weltweit Anstrengungen, die für die Erde lebenswichtigen Häufigkeits­verteilungen herauszufinden. Viele Details kann man in dem Buch <The Earth System> von Kump, Kasting und Crane nachlesen. Die Lektüre lohnt sich, auch wenn es auf seine amerikanische Weise nicht in dem Maß auf Gaia eingeht, wie es könnte.

Mit einem der Autoren, dem mit mir befreundeten amerikanischen Geochemiker Lee Kump, veröffentlichte ich 1994 einen Artikel in <Nature>, der ein Computer­modell der Erde beschreibt, das Daisyworld ähnelt, aber realistischer war; statt Gänseblümchen hatten wir Meeresalgen-Ökosysteme, die das Klima beeinflussen, indem sie Kohlendioxid abpumpen sowie weiße, reflektierende Wolken verursachen. 

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Auf den Landmassen hatten wir Wald-Ökosysteme, die ebenfalls Kohlendioxid abpumpen und Wolken produzieren. Der entscheidende Teil unseres Modells war die Wachstumsrate von Organismen bei unterschiedlichen Temperaturen. Wir setzten die allgemein akzeptierten Werte für das Wachstum von Algen und Waldbäumen unter idealen Bedingungen bei unbegrenzter Wasser- und Nährstoffversorgung ein. Diese Daten ergaben, dass das Wachstum am besten bei etwa 30°C verläuft und unter 0°C und über 45°C aufhört. Dann berücksichtigten wir die Einschränkungen der realen Welt durch die physikalischen Eigenschaften von Wasser. Für die Algen im Ozean lagen die besten Wachstumstemperaturen nahe bei 10°C, weil sich oberhalb davon stabile Oberflächenschichten bilden und die Nährstoffversorgung unterbrochen wird. Ähnlich setzt an Land die Wasserverdampfung dem Baumwachstum eine Obergrenze, und für Wälder lag das Optimum bei rund 20°C.

Als wir unser Modell so laufen ließen, dass wir entweder stetig die von der Sonne gelieferte Wärme erhöhten oder die Sonne konstant hielten, aber den Kohlendioxideintrag in die Atmosphäre herauffuhren — wie wir das jetzt in der wirklichen Welt tun —, zeigte das Modell eine gute Regulierung, bei der sowohl die Ökosysteme im Ozean als auch die an Land ihre entsprechende Rolle spielten. Doch als sich der Kohlendioxidanteil 500 ppm näherte, versagte die Regulierung, und es gab einen plötzlichen Temperatursprung nach oben. Der Grund war das Versagen der Meeres-Ökosysteme. Während die Welt wärmer wurde, bekamen die Algen aufgrund des sich ausdehnenden warmen Oberflächenwassers keine Nahrung mehr, bis sie schließlich abstarben. Die von Algen belebten Bereiche der Meere wurden kleiner, ihr Abkühlungseffekt verminderte sich, und die Temperatur schoss in die Höhe.

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Abbildung 1 zeigt einen Durchlauf dieses Modells mit stetig zunehmender CO2-Umweltverschmutzung von einem vorindustriellen Niveau bis auf das Dreifache — was weniger ist, als wir jetzt in die Atmosphäre einbringen. Im oberen Teil ist die Temperaturveränderung dargestellt, wobei die geschlängelte Linie ganz oben die für einen toten Planeten zu erwartende Temperatur angibt und die untere geschlängelte Linie die unserer Modellerde. Ein besonderes Merkmal des Modells ist eine einfache Vorkehrung, die erkennen lässt, ob die Rückkopplung positiv oder negativ ist. Wir bauten in die von der Sonne gelieferte Wärme eine kleine, periodische Variation ein. Die Amplitude dieser Fluktuation wurde konstant gehalten und spiegelt sich in den Variationen der ansonsten konstanten Temperatur des toten Vergleichsplaneten wider. 

Der untere Teil der Grafik bildet die Veränderungen der Landvegetation, der Meeresalgen und des Kohlendioxidanteils ab. Solange die Regulierung gut funktionierte, zeigten die Anteile von Algen und Pflanzen und die Temperatur allesamt gedämpfte Fluktuationen, aber als das Algen-Ökosystem überlastet wurde, wurden dessen Fluktuationen immer größer und ließen eine Verstärkung durch positive Rückkopplung erkennen. Der plötzliche Sprung in der Durchschnittstemperatur von 16 auf 24°C folgte auf die stärkste Fluktuation und das Absterben der Algen.

Das Modell passt überraschend gut zu dem beobachteten und vorausgesagten Verhalten der Erde. Der Wendepunkt, 500 ppm Kohlendioxid, würde dem IPCC zufolge einen Temperaturanstieg um 3°C bringen. Das liegt nahe an dem Temperatursprung von 2,7°C, den der Klimamodellbauer Jonathon Gregory als ausreichend betrachtet, um das irreversible Abschmelzen des Grönlandeises auszulösen. Die angesehenen Wissenschaftler, die die Ozeane und die Atmosphäre überwachen, berichten bereits von einem beschleunigten Anstieg des Kohlendioxidgehalts und einem Rückgang der Algen im sich erwärmenden Wasser des Atlantiks und Pazifiks.

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Ich räume ein, dass auf solchen Modellen und auf der Geophysiologie basierende Argumente allein nicht ausreichen, um politisches Handeln zu rechtfertigen, aber sie wiegen schwer, wenn man dazu die Beweise überall auf der Erde nimmt, dass fast alle Systeme, die unseres Wissens nach das Klima beeinflussen, sich jetzt in positiver Rückkopplung befinden. Jede weitere, aus irgendeiner Quelle zugeführte Wärme wird verstärkt, nicht bekämpft, wie man das von einer gesunden Erde erwarten würde. Wenn es uns freilich gelänge, einen Netto-Abkühlungstrend herbeizuführen, würde dieselbe positive Rückkopplung zu unseren Gunsten arbeiten und die Abkühlung beschleunigen. 

Einige Beispiele für die positive Rückkopplung sind:

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  1. Die Rückkopplung durch Eis-Albedo, die zuerst der russische Geophysiker M.I. Budyko beschrieben hat. (Mit »Albedo« bezeichnet man die Stärke der Reflexion eines Objekts oder einer Oberfläche.) Schneebedeckter Boden wirft fast alles auftreffende Sonnenlicht ins All zurück und bleibt daher kalt. Wenn der Schnee aber an den Rändern zu schmelzen beginnt, wird dunkler Untergrund freigelegt, der das Sonnenlicht absorbiert und sich daher erwärmt. Diese Wärme lässt mehr Schnee schmelzen, und aufgrund positiver Rückkopplung beschleunigt sich das Abschmelzen, bis kein Schnee mehr vorhanden ist. Geht der Nettotrend in Richtung Abkühlung, läuft derselbe Prozess umgekehrt ab. Heute schmilzt das Treibeis im Polarmeer rapide und ist ein Beispiel für den Budyko-Effekt.

  2. Wenn sich das Meer erwärmt, nimmt die von nährstoffarmem Wasser bedeckte Fläche zu, was den Ozean für Algen weniger geeignet macht. Das reduziert das Abpumptempo des Kohlendioxids und die Bildung von weißen, reflektierenden Stratuswolken über dem Meer.

  3. An Land destabilisieren steigende Temperaturen tropische Wälder und reduzieren die von ihnen bedeckte Fläche. Dem frei gewordenen Land fehlt es an Abkühlungsmechanismen, es wird heißer, und so verschwindet wie beim Schnee noch mehr Wald.

  4. Richard Betts hat in einem <Nature>-Aufsatz 1999 erstmals darauf hingewiesen, dass die Borealwälder Sibiriens und Kanadas dunkel sind und Wärme absorbieren. Wenn die Welt heißer wird, dehnt sich ihr Verbreitungsgebiet aus, und sie absorbieren noch mehr Wärme.

  5. Wenn Wald- und Algen-Ökosysteme sterben, setzt deren Zersetzung Kohlendioxid und Methan in die Luft frei. In einer wärmer werdenden Welt fungiert auch das als positive Rückkopplung.

  6. Viel Methan ist in Eiskristallen in molekularen Hohlkörpern, sogenannten Clathraten, eingelagert. Diese sind nur bei Kälte oder unter hohem Druck stabil. Wenn die Erde sich erwärmt, nimmt das Risiko zu, dass diese Clathrate schmelzen, sodass riesige Mengen von Methan entkommen, das als Treibhausgas 24-mal so potent ist wie Kohlendioxid.

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Es ist nahezu sicher, dass es noch andere Systeme gibt, sowohl geophysikalische als auch geophysiologische, die das Klima beeinflussen, von uns aber noch nicht entdeckt worden sind. Aber das Tempo der globalen Erwärmung lässt daraufschließen, dass keine großen negativen Rückkopplungen existieren, die den Temperaturanstieg ausgleichen könnten. Das einzige System, das unseres Wissens mit negativer Rückkopplung arbeitet, ist der sich langsam vollziehende Abbau von Kohlendioxid durch die Verwitterung* von Felsen.

Bei diesem chemischen Prozess reagiert in Regenwasser gelöstes Kohlendioxid mit dem Kalziumsilikat im Gestein. Vegetation auf dem Felsen verstärkt diesen Abbau von Kohlendioxid, und die zunehmende Wärme führt zu einem schnelleren Vegetationswachstum, was den Kohlendioxidabbau noch beschleunigt. Zu heiße Landmassen jedoch könnten dies auch in eine positive Rückkopplung verwandeln. Negative Rückkopplung verursachen auch die heftigen Tropenstürme, die das Wasser genügend durchmischen, sodass Nährstoffe aus tieferen Schichten an die Oberfläche gelangen und so zu einer Algenblüte führen. Wir wissen noch nicht, in welchem Umfang sich dies auf das Klima auswirkt.

Die frühere und heutige Verschmutzung der Atmosphäre mit Kohlendioxid und Methan ist der natürlichen Freisetzung dieser Gase vor 55 Millionen Jahren vergleichbar, als ähnliche Mengen von Kohlenstoff in die Atmosphäre gelangten. Damals stieg die Temperatur in den nördlichen gemäßigten Breiten um 8°C und in den Tropen um 5°C; die Folgen dieser Erwärmung hielten 200.000 Jahre an.

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Das Wesen der Regulierung 

 

Bis vor Kurzem gingen wir davon aus, dass die Evolution der Organismen nach Darwins Vision verläuft und die Evolution der materiellen Welt der Felsen, der Luft und der Ozeane nach dem Geologielehrbuch. Die Gaia-Theorie sieht aber diese beiden zuvor separaten Evolutionen als Teil einer einzigen Erdgeschichte, in der sich das Leben und seine physikalische Umwelt als eine einzige Entität entwickeln. Ich finde die Vorstellung hilfreich, dass das, was sich entwickelt, die Nischen sind, und dann die Organismen um ihre Besetzung konkurrieren.

Die hier vorgestellten Überlegungen sind Teil der Grundzüge der Gaia-Theorie, eine vollständige Erklärung würde aber eine Zusammenfassung erfordern, wie die Selbstregulierung funktioniert. In gewisser Hinsicht ist dies nicht nur schwierig, sondern unmöglich: Emergente Phänomene wie Leben, Bewusstsein und Gaia widersetzen sich der Erklärung in der traditionellen kausalen, sequenziellen Sprache der Wissenschaft. Emergenz ähnelt dem physikalischen Phänomen der Quantenverschränkung, und vielleicht werden wir beide nie in vollem Umfang erklären können. Wir können sie aber in der Sprache der Mathematik ausdrücken und sie für eine Fülle unserer Erfindungen nutzen. Ingenieure können durchaus komplexe sich selbst regulierende Systeme wie Autopiloten für Schiffe, Flugzeuge und Raumfahrzeuge konstruieren; Kommunikationstechniker und Kryptologen arbeiten bereits an Hilfsmitteln, die die Quanten­verschränkung nutzen. Ich bezweifle aber, dass sie eine bewusste mentale Vorstellung ihrer Erfindungen haben; sie entwickeln und verstehen sie intuitiv. 

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Um zu rekapitulieren: 

Am meisten verwirrt beim Gaia-Gedanken die Frage »Was ist Selbstregulierung?«. Am irdischen System erstaunte mich als Erstes seine Fähigkeit, in etwa die richtige Temperatur und die richtige chemische Zusammensetzung für das Leben beizubehalten und dies seit mehr als drei Milliarden Jahren getan zu haben — ein Viertel der Zeit, die das gesamte Universum existiert. Auch nachdem ich auf Gaia gekommen war, hatte ich noch viele Jahre lang keine Vorstellung, wie das funktioniert.

Als ich ungefähr zehn Jahre alt war, nahmen mich Mutter und Vater an Wintersonntagen nach South Kensington mit. Ihr Ziel war das mit Kunstschätzen vollgestopfte Victoria and Albert Museum, meines das Science Museum. Wie die meisten Jungen in den Jahren 1928 bis 1932 faszinierten mich mechanische Apparate, und ich wollte wissen, wie sie funktionierten. Ausgestellt war unter anderem ein funktionierendes Modell einer Dampfmaschine samt James Watts berühmtem Fliehkraftregler

Diese Vorrichtung reguliert die Drehzahl der Maschine, und sie besteht aus einer vertikalen, von der Maschine angetriebenen Welle, an der zwei Hebel angebracht sind, die an ihren Enden Eisenkugeln tragen. Die Hebel sind so an der Welle befestigt, dass die Kugeln nach außen und oben schwingen, wenn die Welle rotiert. Je schneller die Maschine läuft, desto höher kommen die Kugeln; ein an diesen Hebeln angebrachtes zweites Hebelpaar bewegt einen weiteren Hebel, der den Dampfstrom vom Kessel zum Zylinder steuert. Je schneller die Maschine läuft, desto mehr wird das Dampfventil geschlossen. Mir als Kind war klar, dass sich die Maschine bei einer konstanten Drehzahl einpegeln würde und man einfach durch Veränderung der Verbindung mit dem Dampfventil die Drehzahl so hoch oder niedrig steuern konnte, wie man wollte.

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Dieser Regler war ein frühes Beispiel, wie man mit negativer Rückkopplung eine anderweitig unkontrollierbare Maschine steuern kann. Ohne diese Vorrichtung würde die Maschine immer schneller laufen und sich vielleicht selbst in Stücke reißen, wenn der Dampfdruck zu hoch wird, oder zu langsam laufen oder stehen bleiben, wenn er zu niedrig wird. 

Aber war das wirklich so einfach?

James Clerk Maxwell gehörte vermutlich zu den größten Physikern des 19. Jahrhunderts; er vereinte die Kräfte des Magnetismus und der Elektrizität in einer umfassenden Theorie des Elektromagnetismus, welche die Grundlage für einen Großteil der heutigen Physik bildet. Maxwell soll, ein paar Tage nachdem er Watts Fliehkraftregler gesehen hatte, gesagt haben: »Das ist eine nette Erfindung, aber sosehr ich mich auch anstrenge, ihre Analyse entzieht sich mir.«  

Maxwells Irritation ist nicht sonderlich überraschend. Einfach funktionierende Regulatoren — die physiologischen Systeme in unseren Körpern, die Temperatur, Blutdruck und chemische Zusammensetzung steuern — und einfache Modelle wie Daisyworld liegen alle außerhalb der scharf definierten Grenzen des kartesianischen Kausalitätsdenkens. Wann immer ein Ingenieur wie Watt die »Schleife schließt«, die Teile seines Reglers zusammenfügt und die Maschine laufen lässt, gibt es keine Möglichkeit, dessen Funktionieren linear zu erklären. Die Logik wird zirkulär. Wichtiger noch: Das Ganze wird zu mehr als der Summe seiner Teile. Aus dem Zusammenspiel der Elemente emergiert eine neue Eigenschaft, die Selbstregulierung — eine Eigenschaft, die allen Lebewesen, Mechanismen wie Thermostaten oder Autopiloten und der Erde selbst zu eigen ist.

Die Philosophin Mary Midgley erinnert in ihren hellsichtigen Schriften daran, dass das 20. Jahrhundert die Zeit war, als die kartesianische Wissenschaft triumphierte. Es war eine Periode exzessiver Hybris, man sprach vom Jahrhundert der Gewissheit; am Anfang behaupteten herausragende Physiker, es gäbe »nur noch drei Dinge zu entdecken«, und am Ende suchten sie nach der »Theorie von allem«. Jetzt im 21. Jahrhundert nehmen wir allmählich die Bemerkung des wirklich großen Physikers Richard Feynman ernst, der über die Quantentheorie sagte: »Jeder, der glaubt, sie zu verstehen, tut das wahrscheinlich nicht.« Das Universum ist viel komplexer, als wir uns das vorstellen können. 

Ich denke oft daran, dass unser Geist niemals mehr als einen winzigen Bruchteil davon begreifen wird und wir unsere Erde nicht besser verstehen als ein Aal den Ozean, in dem er schwimmt. Das Leben, das Universum, das Bewusstsein und auch einfachere Dinge wie Fahrradfahren sind mit Worten nicht zu erklären. Wir beginnen erst, diese emergenten Phänomene anzugehen, und bei Gaia ist es fast so schwierig wie bei der an Hexerei grenzenden Physik der Quanten­verschränkung. Das aber stellt deren Existenz nicht in Abrede.

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