Der Aufruf zum Sozialismus

von Gustav Landauer

Würdigung und Kritik aus heutiger Sicht

Universität Wuppertal 1992

Von Dr. Martha Meyer

 

DNB.Autorin

Bing.Autorin

detopia:

Landauer.Start

Turlach

 

Artikel 9 aus den
"
12 Artikeln des Sozialistischen Bundes"
(Fassung von 1912)

 

"Der Sozialismus ist keineswegs eine Sache der Staatspolitik, der Demagogie oder des Kampfes um Macht und Stellung der für die kapitalistische Wirtschaft tätigen Arbeiterklasse, ist ebenso wenig beschränkt auf Umwandlung materieller Verhältnisse, sondern ist heute in erster Linie eine geistige Bewegung."  

 


 

Der vorliegende Text setzt sich mit dem Hauptwerk Gustav Landauers, "Aufruf zum Sozialismus" auseinander und versucht darzustellen, wie sich dessen Vorstellungen von einem freiheitlichen Sozialismus vom Sozialismusverständnis der Marxisten abheben.

Sein Konzept einer föderativen und gewaltfreien Umgestaltung der Gesellschaft wird vorgestellt.

In der abschließenden Diskussion soll der Frage nachgegangen werden, ob Landauer ein "utopischer Sozialist" war und in wieweit seine heute zum großen Teil vergessenen Ideen - ebenso wie sein umfangreiches literarisches Werk - durchaus wieder, oder immer noch aktuell sind.

Inhalt

A. Biographische Notiz

1.Geistige Einflüsse - Die Menschheit als Bund der Vielfältigen
2. Was ist Sozialismus und was soll er nicht sein? 

2.1. Der 'Sozialismus der Tat'  
2.2. Revolutionsbegriff und 'revolutionäres Subjekt'
2.3. Der 'Sozialistische Bund' und sein 12-Artikel-Programm

B. "Was Marxisten Sozialismus nennen ist Kapitalismus."

1. Landauers Auseinandersetzung mit dem Marxismus
2. Kritik am organisierten Sozialismus als politische Partei und Wissenschaft
3. Kritik an der organisierten Arbeiterbewegung

C. Landauers Staatskritik und sein sozialistischer Gesellschaftsentwurf

1. Kapitalismusbegriff und Kritik an der Zentralisation
2. Landauers Kritik an der marxistischen Klassenkampftheorie

D. Versuch einer kritischen Würdigung:
Ist Landauer ein 'utopischer' Sozialist?

 

A. Biographische Notiz

 

Gustav Landauer (1870-1919) war ein höchst eigenwilliger Denker, welcher seine Utopie einer anarchistischen Gesellschaft, er nennt sie auch sozialistisch, auf gewaltlosem Wege zu verwirklichen suchte. In der Literatur zum Anarchismus taucht auch Landauers Name auf. Dennoch wäre es eine starke Vereinfachung, wollte man ihm den Stempel eines 'anarchistischen Phantasten' oder 'sozialistischen Anarchisten' aufdrücken. Für Landauer waren Anarchismus und Sozialismus Synonyme, er selbst nannte sich einen Sozialisten, wenn auch nicht Marxisten, denn den historischen Materialismus, wie bloßes Klassenkampfdenken, verwarf er.

Landauer lebte in einer Zeit des geistigen Umbruchs. Mit vielen anderen Intellektuellen teilte er in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg die utopische Zukunftshoffnung auf den "neuen Menschen" und eine gerechtere Ordnung der Gesellschaft. Konsequent verbreitete er seine Ideen eines freiheitlichen Sozialismus auf unzähligen Vortragsreisen und in Zeitungsartikeln unter den Menschen. Seinen unermüdlichen Einsatz bezahlte er schließlich in der Münchner Räterepublik mit dem Leben. Landauer war sich seines Schicksals sein Leben lang bewußt und die Gewißheit, sicher einmal ein gewaltsames Ende zu finden, war für ihn mehr Ansporn als Hemmnis.

Landauer entstammte einer jüdisch-bürgerlichen Familie aus Süddeutschland. Obwohl er nicht religiös erzogen wurde, spielte doch die Tatsache, daß er Jude war, für die Entwicklung seines Menschenbildes eine entscheidende Rolle.

Schon während seiner Gymnasialzeit fiel Landauer durch sozialrevolutionäre Gesinnung unliebsam auf und wurde deshalb mehrmals verwarnt. Nach Abschluß des Gymnasiums begann er im Jahre 1888 das Studium der Fächer Germanistik, Philosophie, Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte in Heidelberg, Straßburg und Berlin, wo er 1892 sein Studium unterbrach und heiratete. In Berlin lernte er Johannes Most und andere Sozialisten kennen, die gegenüber der organisierten deutschen Arbeiterbewegung kritisch eingestellt waren.

Bereits im Alter von 23 Jahren mußte Landauer seine erste zweimonatige Gefängnisstrafe wegen Ungehorsam gegen die Staatsgewalt absitzen. Wegen "Aufreizung" der Staatsgewalt folgte kurz darauf eine zweite. Diese Gefängnisstrafen und ein daraus resultierendes Immatrikulationsverbot haben sicher seine spätere antistaatliche, anarchistische Haltung mit beeinflußt.

Landauers politische Aktivitäten begannen mit der Arbeit im "Verein der unabhängigen Sozialisten" in Berlin, die sich gegen die bürokratische und zentralistische Parteistruktur der SPD wandten. Im Februar 1893 wurde er Mitherausgeber des politischen Organs "Der Sozialist", für das er in den folgenden Jahren zahllose Artikel schrieb. 

 wikipedia  Verein_Unabhängiger_Sozialisten  1891-1894

Da Landauer zeitlebens keinem geregelten Beruf nachging, befand sich seine Familie, er hatte zwei Töchter, ständig in wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Seine Einkünfte erzielte er hauptsächlich aus seiner schriftstellerischen Tätigkeit als oppositioneller Journalist. Trotzdem mußte ihn sein Bruder Hugo des öfteren finanziell unterstützen.

1895 wurde Landauer Mitbegründer der Arbeiterkonsumgenossenschaft "Befreiung", die allerdings wegen mangelnder Resonanz nach einigen Jahren auseinanderfiel. Da im Januar desselben Jahres der "Sozialist" auf Grund staatlicher Repressionen eingestellt werden mußte, wandte sich Landauer in den folgenden Jahren vermehrt literarischen Themen zu, ohne jedoch seine sozialrevolutionären Ideen aus den Augen zu verlieren. Er beteiligte sich an den sprachkritischen Studien seines Freundes Fritz Mauthner und wirkte mit an den Übersetzungen spätmittelalterlicher Predigten des Mystikers Meister Eckart.

1908 gründete er gemeinsam mit Erich Mühsam und Martin Buber den "Sozialistischen Bund", der insgesamt 20 Gruppen im deutschen Reich und der Schweiz umfaßte und sozialistische Siedlungsgenossenschaften propagierte.

(Diese Form des Siedlungsgedankens wurde durch Martin Buber nach dessen Emigration nach Israel wieder aufgegriffen und dort mit den Kibbuzim in die Realität umgesetzt.)

Von 1909-1915 gab Landauer das Organ des sozialistischen Bundes, "Der Sozialist" heraus, es trug den gleichen Namen wie sein Vorgänger, und unternahm mehrere Vortragsreisen nach Süddeutschland und in die Schweiz.

1911 erschien sein Hauptwerk "Aufruf zum Sozialismus", welches sein bekanntestes Buch werden sollte.

Daneben hat sich Landauer auch einen Namen als Shakespeare-Übersetzer gemacht, sowie mit Arbeiten zu Hölderlin, Whitman und Strindberg (in "Der werdende Mensch"). 1917 zog er, vom Tod seiner Frau tief betroffen und politisch durch den ersten Weltkrieg enttäuscht, von Berlin nach Süddeutschland. In der Revolution von 1919 rief Kurt Eisner ihn nach München und bat ihn um Mitarbeit in der provisorischen National­versammlung: "Was ich von Ihnen möchte, ist, daß sie durch rednerische Betätigung an der Umbildung der Seelen mitarbeiten."

Landauer wurde "Provisorischer Volksbeauftragter für Volksaufklärung der Räterepublik Bayern" in der am 7.4.1919 ausgerufenen Räterepublik. Er hatte die Hoffnung, daß man einen Bund dt. Republiken auf der Basis von Arbeiter- Bauern- und Soldatenräten gründen könnte. Allerdings mußte er schnell erkennen, daß sein Einfluß sehr gering war und er bei den überwiegend sozialdemokratisch bzw. kommunistisch orientierten Räten kein Gehör für seine Ideen fand.

Der revolutionäre Zentralarbeiterrat wurde schließlich in der Nacht vom 12. auf den 13. April 1919 von gegenrevolutionären Rechtssozialisten abgesetzt. Nach nur 6 Tagen war die Utopie einer neuen Gesellschaft bereits dahingeschmolzen! Gustav Landauer wurde am 1.Mai von Reichswehrtruppen verhaftet und in das Gefängnis Stadelheim verschleppt, wo man ihn noch am selben Tage grausam ermordete. Ein Mensch, der jegliche Gewalt aus tiefster Überzeugung verabscheute und gar kein Politiker im herkömmlichen Sinne war, sondern eher ein hochsinniger Theoretiker und Literat, wurde wie ein Stück Vieh abgeschlachtet. Sein Tod markierte den Auftakt einer Epoche der Brutalität in Deutschland, in der alle Andersdenkenden ihres Lebens nicht mehr sicher sein sollten und alles Geistige verachtet wurde.

 

1. Geistige Einflüsse

Die Menschheit als Bund der Vielfältigen

 

Landauers Geisteswelt ist nicht zu verstehen, wenn man nicht nach seinen Wurzeln fragt. Er bekannte sich explizit zu seinem Judentum und formuliert in einem Brief an Constantin Brunner im Jahre 1909: "Ich habe nicht die mindeste Anlage, die Freude an meinem Judentum auch nur einen Tag zu vergessen." So sehr sich Landauer seiner jüdischen Herkunft bewußt war, so sehr fühlte er sich auch als Deutscher; wenngleich er das wilhelminische Deutschland ablehnte.

Die Beschäftigung mit der jüdischen Mystik, an die er besonders von seinem Freund Martin Buber herangeführt wurde, war für ihn erkenntnisleitend für einen zukünftigen, freiheitlichen Gesellschaftsentwurf. 

Die Heilsgeschichte und Reinigung des Menschen, der alttestamentarische "Bund" werden für Landauers Denken zum bestimmenden Maß. Judentum bedeutet für ihn, einen Dienst an der gesamten Menschheit zu verrichten; bei der geistigen Erneuerung mitzuwirken. Das Schicksal des Volkes Israel, welches über alle Grenzen in alle Ewigkeit zu einem "Bund" zusammengeschweißt ist, verkörpert mit seinem stark von alten Traditionen beeinflußten Gemeinschaftsleben den Inbegriff der humanen, sozialistischen Gesellschaftsordnung. "Nirgends finde ich eine so das ganze Volk erfassende und bindende Selbständigkeit der Gesamtheit in der Sehnsucht nach Reinigung. Die seelische, die nationale Besonderheit der Juden war in all der Zeit ihr Eigentum." Die besondere kulturelle und religiöse Aufgabe der Juden erblickte Landauer in ihrem Kampf um Frieden und Gerechtigkeit unter den Menschen.

Landauer lebte voll in dem Bewußtsein, als Jude zu dieser Schicksalsgemeinschaft zu gehören und auch die Bestimmung zu haben, an der geistigen Reinigung und Erneuerung der Menschheit mitzuwirken. Unter Menschheit verstand er allerdings nicht, daß jeder Mensch gleich sei, sondern er sah in ihr einen "Bund der Vielfältigen". In diesem Bund sollte sich alle Vielfalt menschlichen Lebens versammeln, eine Gemeinschaft von Individuen. Es ist nicht mehr das Volk, welches einer Nation angehört, sondern der "Kulturverband", der "Sprachverein"; Synonyme für Landauers Vorstellungen von einer freiheitlichen, humanen Gesellschaft. Damit stand er in krassem Gegensatz zur damals gängigen Interpretation der Begriffe 'Nation' und 'Volk'.

Für ihn definierte sich die Nation nicht nur über politische und ökonomische Strukturen, sondern als eine Gemeinschaft im Geiste, die keiner staatlichen Begrenzung unterliegt. Der Begriff der Nation ist für Landauer identisch mit dem 'Bund'. Dieser habe die Aufgabe, die Juden mit der Menschheit zusammenzuführen, um alle Völker zu erlösen: "Denn was anders ist die Nation, als ein Bund solcher, die von verbindendem Geist geeint in sich eine besondere Aufgabe für die Menschheit spüren? "

Landauer war realistisch genug zu erkennen, daß der bestehende Staat nicht einfach abgeschafft werden konnte. Deshalb konnte er sich die Entstehung eines 'neuen' Staates, oder besser einer neuen Gemeinschaft, nur 'neben' dem Bestehenden vorstellen. Den Juden sprach Landauer hierbei die Vorreiterrolle zu.

Hans-Joachim Heydorn betont in seinem Vorwort zu 'Aufruf zum Sozialismus,' wie sehr das Judentum sich im Gesamtwerk Landauers niedergeschlagen hat. Die "kollektive Erfahrung des Geschlechts ... ist nicht zuletzt eine spezifisch jüdische Erfahrung." Nur so lasse sich auch die Überbetonung des Emotionellen begreifen, die "gelegentlich die Grenze zum Irrationalismus überschreitet." (Seite 29 ebd.)

 

 

2. Was ist Sozialismus und was soll er nicht sein?

 

 

2.1. Der "Sozialismus der Tat": "Sozialismus ist die Willenstendenz geeinter Menschen."

Landauer hat im Laufe seines Lebens seine Vorstellungen von Sozialismus in seinen Schriften wiederholt präzisiert. Allerdings findet man keine einheitliche Definition. Es gibt 'nur' einen Grundgedanken, der sich wie ein roter Faden durch alle Formulierungen zieht.

Zu Beginn seiner politischen Laufbahn definierte Landauer Sozialismus gleichbedeutend mit Anarchismus. Letzterer war allerdings in der Öffentlichkeit sehr negativ belegt und wurde gleichgesetzt mit kriminellen gewalttätigen Aktionen, um den Staat zu beseitigen. In späteren Jahren ersetzte Landauer dann für sich Anarchismus durch Sozialismus; er selbst nannte sich auch aus tiefster Überzeugung einen Sozialisten, während er denjenigen, die seiner Meinung nach aus dem Sozialismus eine Wissenschaft gemacht hatten, das Recht darauf absprach.

In Artikel 9 der 12 Artikel des Sozialistischen Bundes ist seine Vorstellung prägnant dargelegt. Es ging ihm nicht darum, daß der Sozialismus sich mit der ökonomischen Erneuerung der Gesellschaft zu beschäftigen habe, um so die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiterklasse zu verbessern; ebensowenig, wie Sozialismus eine staatlich 'verordnete' Gesellschaftsform sein sollte.

Die allmähliche Abschaffung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung war nur die Basis. Darauf aufbauend sollte sich die geistige Erneuerung der Menschheit vollziehen. Insofern ist der Sozialismus eine geistige Bewegung für Landauer, die in den Köpfen der Individuen stattzufinden hat und nicht etwa Parteiprogramm ist, wie es heute modern formuliert würde. In der Betonung des Geistigen unterscheidet sich sein Sozialismusbegriff ganz entscheidend von allen anderen Bewegungen, welche in der Umwandlung der Eigentumsverhältnisse das zentrale Anliegen des Sozialismus sehen. Landauer sieht im Sozialismus eine Kulturbewegung, die sich vorallem nicht auf eine bestimmte Klasse einer Gesellschaft bezieht, sondern alle Menschen einschließt (siehe Abschnitt 'Klassenkampftheorie').

Landauer war geistig nicht nur von seinem Judentum stark beeinflußt, sondern auch von Meister Eckart, Spinoza, Goethe, den er oft und gern zitierte, und nicht zuletzt von dem Anarchisten Pierre-Joseph Proudhon. Von diesem übernahm er die Gedanken der Vertragsidee und des Föderalismus, zwei Grundprinzipien, auf denen Proudhons Gesellschaftsordnung ruhen sollte.

Landauer führte die Vertragsidee weiter indem er von der Grundannahme ausging, eine freiheitliche, sozialistische Gesellschaft könne ihre Angelegenheiten allein über das 'Prinzip der Gegenseitigkeit' regeln: es bezieht sich auf alle Lebensbereiche, gewährt dem Individuum die größtmögliche Freiheit innerhalb der Gesellschaft, sowie Schutz und Hilfe.

Grund und Boden und die Produktionsmittel gehören niemandem, sondern werden von jedermann eben nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit genutzt. Dem Prinzip liegt politisch der Föderalismus zugrunde, in welchem die einzelnen Gemeinden weitgehend autonom sein sollten und die Menschen sich genossenschaftlich gegenseitig unterstützten.

Landauer war in seinem positiven Menschenbild von Rousseau beeinflußt, welches annimmt, daß der Mensch von Natur aus gut ist. Er war ein Idealist und glaubte fest daran, daß der Mensch vernunftbegabt und geistig umerziehbar sei, bis er schließlich allein durch geistige Neuorientierung zu einer neuen Gesellschaft gefunden habe.

Sozialismus ist für Landauer ein werdender, stets nur relativer Sozialismus; das heißt, daß in jeder Generation bestimmte Aufgaben zu bewältigen sind, um zu einer freien Gemeinschaft zu kommen. Sozialismus ist also ein Prozeß, der im hier und jetzt beginnt, "wenn die Menschen ihn nur wollen", und keine Gesellschaftsform, die plötzlich entsteht. Er soll keine verbindliche Theorie für ein Volk sein und kann deshalb auch nicht zur Parteibildung führen.

Hier zeigt sich der unüberbrückbare Gegensatz zur Sozialdemokratie, wenn er eine sofortige und immerwährende Revolutionierung der geistigen Kräfte fordert. Sozialismus ist in erster Linie eine Bewußtseinsveränderung, an der permanent gearbeitet werden muß, ein fortwährendes Üben, eine stetige Erziehung des Menschen. Nur so können sich nach Auffassung Landauers die Menschen dann in der freiheitlichen Form des Sozialismus 'bewähren' und mit der Freiheit umgehen. Mit einem einmaligen revolutionären Akt kann man die Menschen nicht zum Sozialismus führen!

Um es zusammenfassend zu beschreiben könnte man Landauers Sozialismus antidogmatisch, überparteilich, freiheitlich und auch antistaatlich nennen.

(Hierin ist wohl auch der Grund zu suchen, warum Landauers Name immer in der anarchistischen Literatur zu finden ist, während er im Handbuch des Sozialismus mit keiner Silbe erwähnt wird!)

Für Landauer ist der "Sozialismus ein Bestreben, mit Hilfe eines Ideals eine neue Wirklichkeit zu schaffen."....."Es ist ein Stück Geist, ist Vernunft, ist Gedanke." Ihm ist bewußt, daß man dieses Ideal nicht verwirklichen kann, jedoch "nur durch das Ideal wird in diesen unseren Zeiten unsere Wirklichkeit."

Landauer beschreibt mit seinem Sozialismus nicht ein Endziel, sondern er zeigt Wege auf, wie man diese zukünftige Gesellschaftsform erreichen könnte. Er war realistisch genug zu erkennen, daß eine gerechte Ordnung von der geistigen Entwicklungsstufe der Individuen abhängig ist.

 

2.2. Revolutionsbegriff und ›revolutionäres Subjekt‹

 

Es wurde oben schon darauf hingewiesen, daß Landauer zur Verwirklichung des Sozialismus die permanente Revolutionierung des Geistes forderte. Demzufolge definierte er Revolution ebenfalls als einen sich über Generationen hinziehenden Prozeß, die "permanente Tat", und nicht als etwas einmaliges.

In seinem 1907 erschienenen Werk 'Die Revolution' legte er seine Vorstellungen von Revolution dar. Es lassen sich vier unterschiedliche Revolutionsbegriffe unterscheiden: erstens die revolutionäre Massenaktion, "von unten auf in jedem Augenblick ". Darunter versteht Landauer, "daß eine Idee, ehe sie sich auf revolutionärem Wege durchsetzt, den Beweis liefern muß, daß sie in sich die Mittel besitzt, sich friedlich auszugestalten."

Zweitens ist Revolution "passiver Widerstand", der sich gegen den Staat richtet.

Drittens, die Revolution als gewaltsame gesellschaftliche Umwälzung dort, "wo eine soziale Entscheidung nur mit den letzten Mitteln der Politik getroffen werden kann: das ist das vom Staat nicht bloß gewährleistete, sondern geradezu in der Entstehung des Staates erst so geschaffene Privateigentum an Boden." Die vierte Form der Revolution ist schließlich die geistige Revolution als wichtiger Bestandteil der freiheitlichen und humanen Gesellschaftsordnung.

Der Mensch sollte zum 'revolutionären Subjekt' erzogen werden, zum selbständigen Denken und Wollen; nicht mehr nur ein Objekt des staatlichen Dirigismus. (Auf diesen Punkt werde ich noch einmal im Abschnitt 'organisierte Arbeiterbewegung' eingehen.)

 

2.3. Der ›Sozialistische Bund‹ und sein 12-Artikel-Programm

 

Der Sozialistische Bund wurde von Landauer im Jahre 1908 gegründet. In ihm sollten sich alle diejenigen zusammenschließen, die Landauers Vorstellungen von Sozialismus teilten. Es handelte sich größtenteils um Intellektuelle aus der Mittelschicht. Mit der Gründung dieses Bundes wollte er veranschaulichen, wie die zukünftige Gesellschaft aussehen sollte. Dieser Bund bestand aus selbständigen Gebilden, in denen sich Menschen zu künstlerischen, handwerklichen oder politischen Aktivitäten zusammenschlossen und an keinerlei Weisungen des Sozialistischen Bundes gebunden waren.

Es gab keine Körperschaft, die über den einzelnen Gruppen thronte und zwischen ihnen Kontakt hielt. Diese sollten ihre Angelegenheiten selbst entscheiden und zu den anderen Gruppen in losem Kontakt stehen. Allerdings gab es in jeder Gruppe einen Delegierten, welcher zu den "Gesamttagungen" entsandt wurde, damit die Kommunikation zwischen allen anderen Gruppen nicht abriß. Dieser Delegierte war mit einem imperativen Mandat ausgestattet und somit von seiner Gruppe auch jederzeit wieder absetzbar.

Historisches Vorbild für die Organisation des Sozialistischen Bundes waren die Sektionen und Distrikte in Frankreich zur Zeit der Französischen Revolution. Sie waren autonom und hatten keine Zentralinstanz.

Landauer favorisierte die bäuerlichen und handwerklichen Genossenschaften des Hochmittelters, in denen der Mensch in die soziale Gemeinschaft eingebunden war und die Bedürfnisse weitgehend autonom von den Genossenschaften befriedigt wurden. Er bezeichnet diese historische Epoche als "Gesamtheit von Gesellschaften", ... "die Form des Mittelalters war nicht der Staat, sondern die Gesellschaft, die Gesellschaft von Gesellschaften." (Die Idee des genossenschaftlichen Siedlungszusammenschlusses hatten vor Landauer auch schon andere. So übernahm er vieles von Proudhon, Kropotkin, Tolstoj, Gesell u.a.) Ich werde im Rahmen dieser Hausarbeit den Genossenschaftsgedanken nicht weiter verfolgen.

 

Jede Gruppe des Bundes hatte ihre eigene Aufgabe, für die sie auch allein verantwortlich war: es wurden z.B. Flugblätter gedruckt, die dann von einer anderen Gruppe verteilt wurden. Wiederum andere Gruppen gingen aufs Land, um dort landwirtschaftliche Kommunen zu gründen. Versammlungen wurden vorbereitet, um mit der Bevölkerung ins Gespräch zu kommen. Eine wichtige Aufgabe bestand denn auch in "Propaganda und Sammlung".

Die lose Föderation der Gruppen hatte auch den Vorteil, daß man nicht damit zu rechnen brauchte, daß der Sozialistische Bund in seiner Gesamtheit verboten wurde, falls eine Gruppe einmal in Konflikte mit der Staatsgewalt kommen sollte. Deshalb hatte der 'Bund' auch keine Satzung, sondern es gab einen sogenannten "Organisationsentwurf", und ein 12-Artikel-Programm vom 14.6.1908, neugefaßt 1912. In diesem Entwurf ist festgehalten, daß der Sozialistische Bund aus Gruppen besteht, daß jede Gruppe einen Gruppenwart hat, der die Geschäfte führt und die Kontakte zu anderen Gruppen aufrecht erhält. Weiterhin ist festgelegt, daß jede Gruppe selbständig beschließt und andere Gruppen einladen, bzw. an deren Sitzungen teilnehmen kann.

Die Ziele des Bundes wurden in den 12 Artikeln von 1908 bzw. 1912 beschrieben. Die beiden Fassungen unterscheiden sich etwas voneinander. Es soll hier kein Vergleich vorgenommen, sondern nur kurz auf einige Unterschiede hingewiesen werden:

Die erste Fassung ist offenbar eine Art Gründungsmanifest. In fast jedem Artikel ist vom Sozialistischen Bund die Rede. Man erfährt aber nicht, was Landauer sich unter Sozialismus vorstellt, nämlich die Selbsterziehung zum Sozialismus. Denn Selbsterziehung ist ja die Grundvoraussetzung für den Aufbau der neuen Gesellschaft. So heißt es im 1. Artikel der Fassung von 1912: "Sozialismus ist der Aufbau einer neuen Gesellschaft". Während in der ersten Fassung stärker die Aufgaben des Sozialistischen Bundes betont werden, präzisiert Landauer in der zweiten zukünftige gesellschaftliche Aufgaben und vor allem seinen Sozialismus. Art. 2 definiert z.B. die sozialistische Gesellschaft, Art. 5 beschreibt, was im Sozialistischen Bund an die Stelle des Kapitals tritt, nämlich "verbindender Geist" und "der Boden, ein Stück Natur also ...".

Die grundlegenden sozialistischen Ideale, wie sie in den 12 Artikeln beschrieben werden, z.B. "Gegenseitiger Kredit" (Art. 4), "Austritt aus der kapitalistischen Wirtschaft" (Art.3), Freimachung des Bodens und "Neuaufteilung des Bodens .....auf der Grundlage der Gerechtigkeit" (Art. 6), "Verbindung von Landwirtschaft, Industrie und Handwerk, von geistiger und körperlicher Arbeit und zu den starken Gefühlen der Arbeitsfreude und Gemeinschaftssinnigkeit..."(Art. 12), waren in naher Zukunft nicht zu verwirklichen.

Dieser 'Utopie' gab sich auch Landauer nicht hin. Vielmehr beschreibt sein Programm einen Weg und nicht das Ziel. Ihm war wichtig, deutlich zu machen, in welchem Geiste der Sozialismus vorangetrieben werden sollte. Deshalb nennt er seinen Sozialismus einen beginnenden, "der wirkliche Sozialismus ist immer nur ein beginnender, ist immer nur ein solcher, der unterwegs ist."

Geistiges Organ des Sozialistischen Bundes war die Zeitung 'Der Sozialist', welche von Landauer in den Jahren von 1909 bis 1915 herausgegeben wurde. In dieser Zeitung schrieb Landauer zahlreiche Leitartikel, die sich mit allen wichtigen politischen und kulturellen Themen der Zeit befaßten. Sie sollte aber nicht der politischen Agitation dienen, sondern wurde von Landauer eher als ein philosophisches Blatt gesehen. 1915 mußte die Zeitung schließlich auf Grund staatlicher Repressionen ihr Erscheinen einstellen. Auch die Aktivitäten des Sozialistischen Bundes gerieten seit 1913 ins Stocken, weil in den kleinen Gruppen die persönliche Existenz der Mitglieder nicht mehr möglich war.

B.

"Was Marxisten Sozialismus nennen ist Kapitalismus."

 

 

1. Landauers Auseinandersetzung mit dem Marxismus

"Der Marxismus ist die Pest unserer Zeit und der Fluch der sozialistischen Bewegung."

Die grundlegende Zusammenfassung seiner Beschäftigung mit der Sozialdemokratie und dem Marxismus erschien 1911 in Landauers Hauptwerk 'Aufruf zum Sozialismus', welches auch Grundlage dieser Hausarbeit ist. In diesem Buch erteilt er der wilhelminischen Gesellschaft eine deutliche Absage. Der Marxismus wird in flammenden Worten teils polemisch, teils sachlich, teils sehr enthusiastisch kritisiert. Er ist für Landauer "die Pest unserer Zeit und der Fluch der sozialistischen Bewegung". Er spart auch nicht mit Kritik an Karl Marx, wobei dieser nun sicher keinen Einfluß mehr darauf hatte, was nachfolgende Sozialisten, die sich Marxisten nannten, aus seiner Theorie gemacht haben.

Was hat Landauer denn nun den Marxisten vorgeworfen? Er wandte sich vorallem gegen die Auffassung, wonach der Sozialismus ein 'Naturgesetz' und demnach "naturnotwendig" eintrete. Ob denn die großen Massen der Proletarier gar nichts mehr für den Sozialismus zu tun brauchten, sondern quasi in passiver Haltung darauf warten sollten, "bis es soweit ist"?

Sozialismus ist nach Landauers Verständnis keine Gesellschaftsstufe, die zwangsläufig dann erreicht wird, wenn der Kapitalismus abgewirtschaftet hat. Sozialismus ist zu jeder Zeit möglich, auch in jeder Gesellschaftsform und nicht gebunden an das Scheitern des Kapitalismus. Man müsse ihn nur 'wollen'. Nach seiner Ansicht beanspruchten die Marxisten für sich, die Zukunft zu kennen, "Einsicht in ewige Entwicklungsgesetze" zu haben und voraussagen zu können, was aus "unseren Produktions- und Organisations­formen wird." Mit einer Theorie des Sozialismus könne man die Menschen nicht erreichen; ja das Proletariat wüßte ja eigentlich gar nicht, was Sozialismus sei. Sie würden zu Objekten des wissenschaftlichen Diskurses degradiert und das sei auch nicht Aufgabe "wahrer" Wissenschaft. Die Marxisten hätten eine materialistische Geschichtsauffassung, aus der sich der Geist verabschiedet habe.

Karl Marx, und in seinem Gefolge die Sozialdemokraten, erlebten die ungeheure Dynamik der fortschreitenden Industrialisierung und sahen in der Großindustrie auch die Voraussetzungen für den gesellschaftlichen Fortschritt. Landauer hierzu:

"Immer haftet ihr Blick nur an den äußeren, unwesentlichen, oberflächlichen Formen der kapitalistischen Produktion, die sie gesellschaftliche Produktion nennen....Der Marxismus ist der Philister, und der Philister kennt nichts Wichtigeres, nichts Großartigeres nichts, was ihm heiliger ist als die Technik und ihre Fortschritte....Hier nun, wo wir die grenzenlose Verehrung des Gevatters Fortschrittlers sehen, lernen wir die Herkunft des Marxismus kennen. Der Vater des Marxismus ist nicht das Geschichtsstudium, ist auch nicht Hegel, ist weder Smith noch Ricardo, noch einer der Sozialisten vor Marx, ist auch kein revolutionär-demokratischer Zeitzustand, ist noch weniger der Wille und das Verlangen nach Kultur und Schönheit unter den Menschen. Der Vater des Marxismus ist der Dampf. Alte Weiber prophezeien aus dem Kaffeesatz. Karl Marx prophezeit aus dem Dampf."

Hier wird besonders deutlich, mit welcher Emotionalität Landauer sich mit dem Marxismus auseinandersetzt, aber auch, wie pointiert er die unreflektierte Fortschrittsgläubigkeit der Marxisten aufs Korn nimmt.

Natürlich sah Marx auch die Kehrseite der Medaille: nämlich fortschreitende Verelendung der Massen durch die ungebremste Landflucht und den Zuzug in die Städte, in der Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen. Er sah auch die zerstörerische Wirkung kapitalistischer Produktivkräfte, d.h. durch Arbeitsteilung und stetige Konkurrenz wurden die Produktivkräfte dauernd angekurbelt und der Arbeiter, der nichts weiter als seine Arbeitskraft anzubieten hatte, war ohne Einfluß auf die Produktionsverhältnisse; seine soziale Lage änderte sich keineswegs.

"Der Kapitalist...benutzt die sozialistische Form der Genossenschaft, der Gegenseitigkeit für seine Zwecke der Ausbeutung des Marktmonopols."

Damit die Arbeiter nicht so merken, wie sie ausgebeutet werden, hat der Staat mit seiner Sozialpolitik "die schlimmsten Schärfen des Kapitalismus abgeschliffen". Trotzdem mußte Landauer den Arbeitsschutzgesetzen auch Erfolge einräumen.

 

Sozialismus im Sinne Landauers konnte nicht aus den vom Kapitalismus hochentwickelten Produktivkräften entstehen, nicht aus Industrialisierung und technischem Fortschritt, sondern er sah die Voraussetzungen für eine freiheitliche Gesellschaft in der ländlichen, begrenzten Gemeinschaft mittelalterlicher Siedlungs­genossenschaften. Deshalb warf er dem Marxismus vor, daß ihr Sozialismus nichts weiter sei als Kapitalismus. Er unterstellt ihm: "der Kapitalismus entwickelt ganz und gar den Sozialismus aus sich heraus, die sozialistische Produktionsweise "erblüht" aus dem Kapitalismus."

Landauer nennt ihn "Kapitalsozialismus": Marxismus ist für ihn nichts weiter als "die Geistlosigkeit, die papierne Blüte im geliebten Dornstrauch des Kapitalismus." Man kann Landauer durchaus als fortschritts- und industriefeindlich bezeichnen. Das bedeutet aber nicht, daß Landauers Kritik nicht berechtigt gewesen ist. Wir wissen heute, daß die kapitalistische Produktionsweise niemals den Kern zu einer neuen Gesellschaftsordnung in sich trägt. Im Gegenteil: die Industrie stellt heute eine 'zentralmachtorientierte Produktivkraft' dar, die bestrebt ist, diese Macht auszubauen.

 

2. Kritik am organisierten Sozialismus als politische Partei und Wissenschaft

 

Landauer glaubte, daß die Sozialisten und mit ihnen die sozialdemokratische Partei vor dem Handeln zurückschreckten und sich stattdessen "in eine Theorie von den Entwicklungsgesetzen mit daranhängender politischer Partei" geflüchtet hätten. Ihre Hauptaufgabe sei es geworden, die Arbeiterschaft an die kapitalistischen Bedingungen anzupassen und an die bestehenden Gesellschaftszustände zu gewöhnen.

Als Delegierter auf den internationalen Sozialistenkongressen in Zürich (1893) und London (1896) konnte er die "fanatische Intoleranz" der Partei gegenüber den anarchistischen Vertretern erleben. Verstärkt wurde seine kritische Sicht des organisierten Sozialismus durch das Verhalten vieler Sozialdemokraten gegenüber kritischen Anmerkungen und ernsthaften Verbesserungsvorschlägen aus den eigenen Reihen.

Seine Vorstellungen über die "Freiheit der Meinung gegen Unterdrückung und Ausschließung" glaubte er nicht in einer Organisation verwirklichen zu können, deren zentralistischer Apparat von einer "ekelhaften Herrschsucht" getrieben werde.

Landauer warf der Sozialdemokratie vor, es fehle ihr der Mut, sich mit den bestehenden Herrschaftsverhältnissen wirklich auseinanderzusetzen. Sie zeige keine echte Begeisterung, um eine herrschaftsfreie und solidarische Gemeinschaftsordnung aufzubauen. Auch würde sie die Menschen nicht mobilisieren, damit sie sich aus ihren Zwängen befreien und gegen die herrschenden, gesellschaftlichen Mißstände erheben könnten.

Stattdessen habe sich die Sozialdemokratie politisch und organisatorisch immer mehr als Partei etabliert und sich spätestens seit der Aufhebung der Sozialistengesetze 1890 zunehmend in ein reformistisches Fahrwasser begeben. Sie unterscheide sich kaum noch von anderen Oppositionsparteien im dt. Reichstag und habe sich voll ins wilhelminische Deutschland integriert! Somit sei sie offenbar bereit, wenn auch "etwas demokratisiert", sich mit den bestehenden Verhältnissen abzufinden. Wahrhaft revolutionärer Politik stehe sie im Wege und stelle keine ernstzunehmende Kraft für die Erringung der Freiheit des Menschen dar.

Höchst bedauerlich fand er, daß die innerparteiliche Opposition, welche einen neuen revolutionären Geist einforderte, schließlich auf Bestreben des Parteivorstandes aus der Partei verstoßen wurde, anstatt sie mit demokratischen Mitteln zu überzeugen und sich auf einen Diskurs einzulassen. So lag es Landauer auch folgerichtig immer fern, eine eigene Partei zu gründen, geschweige denn seine Vorstellungen von Sozialismus in eine Theorie zu gießen. Damit wäre der erste Schritt zu einer Organisation beschritten gewesen.

Trotz fortgesetzter persönlicher Diffamierungen durch die Sozialdemokratie suchte Landauer immer wieder den Dialog, um der Partei seine Vorstellungen von einem "staats- und zwanglosen" Sozialismus darzulegen. Diese Auseinandersetzungen waren nicht nur sachlich, sondern vielfach auch sehr emotional gefärbt: "Denn nicht nur während der Wahlbewegung...verleugnet die Sozialdemokratie die Prinzipien des Sozialismus, sondern sie beteiligt sich an den Arbeiten des Parlaments vollständig vom Standpunkt der bürgerlichen Gesellschaft aus."

In den Mittelpunkt des politischen Interesses der deutschen Sozialdemokratie rückte in der Tat immer mehr die parlamentarische Arbeit. So wurden die Anstrengungen um eine sozialistische Gesellschaft ziemlich verwässert.

Die aufgestellten Forderungen des Parteivorstandes konnten die Grundlagen des wilhelminischen Deutschland nicht erschüttern. Dem Ziel, der Befreiung der unterdrückten Massen kam man keinen Schritt näher. Landauer lehnte diesen "sozialdemokratischen Staatssozialismus", der sich an der Regierung und Parlamentsarbeit beteiligt, ab. Stattdessen setzte er seine Hoffnungen auf "wirtschaftliche Selbsthilfe", solidarische Zusammenlegung von Konsuminteressen als einen Weg der Befreiung. Neben der Gewerkschaftsbewegung sollten Genossenschaften die Grundlagen eines freien "staats- und herrschaftslosen Sozialismus" werden.

 

3. Kritik an der organisierten Arbeiterbewegung

 

Die Sozialdemokratie glaubte, man müsse nur abwarten, dann werde der Zusammenbruch der kapitalistischen Wirtschaft von ganz allein erfolgen, wenn der Druck des Proletariats von unten groß genug geworden sei. Diese Taktik des Abwartens, in dem der Einzelne sich passiv verhielt, stand in krassem Gegensatz zu Landauers Vorstellungen von einem 'Sozialismus der Tat'. Revolutionär waren die Sozialdemokraten nur noch auf dem Papier. Ihre Politik lief auf eine straffe Zentralisation hinaus, die Arbeiter wurden zu Parteimitgliedern organisiert. Landauer meinte dazu ironisch, daß nun "aus dem Proletarier des kapitalistischen Betriebes der Staatsproletarier geworden sei." Wenn es dann irgendwann einmal zu einer notwendigen Revolution käme, wüßten die Arbeiter ja gar nicht, was sie zu tun hätten.

Die Sozialdemokraten ihrerseits griffen auch Landauer scharf an, indem sie ihm vorwarfen, er würde sich "aus der Welt der menschlichen Ausbeutung und des unerbittlichen Kampfes gegen sie auf eine selige Insel zurückziehen, von der aus man dem ungeheuren Geschehen tatenlos zusieht." (zit. aus: Martin Buber, 'Pfade in Utopia', Seite 88).

Buber verteidigt Landauer gegenüber den Sozialisten indem er anführt, Landauer habe nicht nur wegen seiner Sozialisten, sondern "um der Völker willen" die Revolution gewollt. Es sei eine Revolution aus dem Geist und aus der Liebe.

Auch Landauer reagierte auf die Vorwürfe: man macht keine Revolution damit der Sozialismus beginnt, sondern der Sozialismus ist da, indem man jetzt! damit anfängt, damit dann der "große Umschwung" in der freiheitlichen Beziehung der Menschen zueinander kommt. Die Menschen mußten sich nach den Vorstellungen Landauers zum Sozialismus erziehen und zwar durch permanente Revolutionierung des Geistes eines jeden Einzelnen. Das war nicht zu erreichen, indem man sie einfach in einer Partei organisierte, wo ihnen alle Entscheidungen von der Parteiführung abgenommen wurden, die auch ein 'Programm' herausgab, in dem die Marschroute der Partei festgelegt wurde.

Natürlich hatte die Partei sogenannte Arbeiterbildungsschulen eingerichtet, welche die Arbeiter vornehmlich abends nach Feierabend besuchten. Hier wurden ihnen politische, kulturelle und religiöse Themen nahegebracht. Vielfach beschränkte sich diese "Bildung" aber auf die Lektüre politischer Schriften. Der größte Teil der Arbeiterschaft wurde durch die Organisation in einer Partei nicht langfristig mobilisiert; im Gegenteil: die harten Arbeits- und Lebensbedingungen, an denen sich ja kaum etwas änderte, verurteilte sie zusätzlich zur Passivität.

Letztlich kam auch noch hinzu, daß die sozialdemokratische Partei sich in innerparteilichen Richtungskämpfen zerfleischte, und ihre Position dadurch mehr schwächte als stärkte.

 

C.

 

Landauers Staatskritik

und sein sozialistischer Gesellschaftsentwurf

 

1. Kapitalismusbegriff und
Kritik an der Zentralisation

Für Landauer waren die Interessen des kapitalistischen Wirtschaftssystems und des Staates weitgehend identisch. Er bezeichnete mit 'Kapitalismus' nicht nur das Wirtschaftssystem, sondern subsumierte darunter alle wirtschaftlichen, politischen und geistigen Erscheinungen, die mit dem Aufkommen der Industrialisierung zusammenhingen. Besonders die 'soziale Frage' ergab sich für ihn hieraus: die Industriearbeit riß den Menschen immer mehr aus seinen sozialen Bindungen und isolierte ihn; durch zunehmende Arbeitsteilung wurde der Mensch von seiner Arbeit entfremdet. Er konnte sich mit dem Produkt seiner Arbeit kaum oder gar nicht mehr identifizieren.

Die aus der kapitalistischen Wirtschaftsweise resultierende Vereinsamung und Entfremdung der Menschen griff mit zunehmender Ausdehnung der Industrie allmählich auf die gesamte Gesellschaft über und war nicht nur symptomatisch für die Industriearbeiter. So wurde der Kapitalismus schließlich von einer Wirtschaftsform zu einer Lebensform.

Zunehmende Zentralisierung und Spezialisierung brachten immer stärkere Arbeitsteilung für die Menschen mit sich. Das bedeutete auch, daß der Einzelne seine körperlichen und geistigen Kräfte in nur sehr begrenztem Umfang zur Verfügung stellen durfte. Der überwiegende Teil menschlicher Fähigkeiten blieb ungenutzt und lag brach. Dieses empfand Landauer als unmenschlich und mit seinem Menschenbild als nicht vereinbar. Man müsse es den Menschen wieder ermöglichen, alle ihre Kräfte und Fähigkeiten in den Dienst einer Gemeinschaft zu stellen, damit sie sich wirklich freiheitlich entfalten könnten. Nur das Leben und die Arbeit in kleinen Gemeinschaften verhindern nach seiner Auffassung Entfremdung und Vereinsamung des Menschen. Nur hier kann er soziale Fähigkeiten neu erüben.

Landauer war der Meinung, daß der Staat sich zunehmend zentralisiere, also seine Bürokratie ausbaue, um seine Macht in allen Lebensbereichen zu festigen. Landauer beschreibt sehr anschaulich, wie wirtschaftliche Zentralisation (Kapital und Arbeit) gekoppelt mit zwangsläufiger technischer Zentralisation weitere Zentralisationsmechanismen nach sich ziehen: nämlich Zentralisation des Bankwesens, Handel und Transporteinrichtungen. Somit werden auch die Menschen in Mietskasernen zentralisiert.

Zur wirtschaftlichen und technischen Zentralisation ist für Landauer eine dritte, die Zentralisation des Staates hinzugekommen, die sich allerdings weitgehend unabhängig von den anderen entwickelt hat. So seien neben die Fabrik- und Mietskasernen die Kasernen der Bürokraten gezogen, "wo in jedem dieser öffentlichen Häuser hundert kleine Kammern, und in jeder öden Kammer ein, zwei oder drei grüne Tische, und hinter jedem grünen Tisch ein, zwei oder drei gähnende Subalternbeamte mit der Feder hinter dem Ohr und dem Frühstücksbrot in der Hand sitzen...." (Aufruf, Seite 99).

In dieser zunehmenden Institutionalisierung sah er einen permanenten Angriff auf den freiheitlichen, menschlichen Geist, der immer mehr verhindere, daß Menschen sich in Gemeinschaften zusammenschließen. Der Staat sei zum Selbstzweck verkommen; das habe die historische Entwicklung des Staates doch deutlich gezeigt. Staatliche Machtentfaltung war nach Landauers Vorstellung prinzipiell darauf aus, die Menschen zu unterdrücken, sei "an sich böse" und deshalb unmenschlich. Deshalb lehnte er den Staat radikal ab. Jegliche, irgendwie geartete zentralistische Konzeption kam für ihn nicht in Frage. Lockere Föderationen, wie er es mit den Gruppen seines Sozialistischen Bundes zu realisieren suchte, konnte er sich gerade noch vorstellen.

In den ländlichen Bauernsiedlungen sah Landauer die ideale Grundlage zur Verwirklichung seines Sozialismus. Hier sollten auch die dezentralisierten, aus den Städten ausgesiedelten Industriebetriebe aufgenommen werden. Er glaubte, daß die aufs Land ziehenden Industriearbeiter dann auch die bäuerlichen Strukturen allmählich übernehmen würden.

Für Landauer spielte die Staatsform keine Rolle; sei sie nun monarchistisch oder die von den Marxisten postulierte 'Diktatur des Proletariats'. Für 'seinen' Sozialismus gab es keine Zentralisation. Genau dies warf er ja auch den Marxisten vor: sie hätten nicht nur ihre eigene Partei straff und zentralistisch organisiert, sondern sich auch unkritisch in die Hierarchie des Staates eingepaßt. Damit zementierten sie nur dessen Machtansprüche!

Es war keinesfalls Landauers Ziel, den Staat durch einen gewaltsamen Umsturz zu beseitigen. Er wußte, daß er bei den bestehenden Machtverhältnissen seinen Sozialismus nicht gewaltsam herstellen konnte. Er wollte ihm 'neben' dem bestehenden Staat zum Durchbruch verhelfen, und zwar durch 'Absonderung' (vom Staat) und somit Austritt aus dem Kapitalismus. Neue, kleine sozialistische Gemeinden sollten sich so bilden, daß sie ihre Angelegenheiten völlig selbständig regeln konnten. 'Durch Absonderung zur Gemeinschaft' war das Schlagwort. Die kapitalistische Gesellschaft sollte sozusagen 'von unten' revolutionär durchdrungen, und es sollte ihr nicht 'von oben' die Revolution aufoktroyiert werden. "Nicht im Staat wird der Sozialismus Wirklichkeit werden, sondern draußen, außerhalb des Staates, zunächst, solange diese überalterte Albernheit, dieser organisierte Übergriff, dieser Riesentölpel noch besteht, neben dem Staat."

Landauer lehnte den Staat auch deshalb ab, weil er in ihm die Ursache für Kriege sah. Er fragte sich, wie der Staat es fertiggebracht habe, zu diesem Gewaltmonopol zu kommen und Kriege anzuzetteln, wenn er es als erforderlich erachtet. Soweit könne es nur gekommen sein, weil der "Gemeingeist" immer mehr geschwunden sei. Er drückt es mit den Worten aus:

"Wo Geist ist, da ist Gesellschaft. Wo Geistlosigkeit ist, ist Staat. Der Staat ist das Surrogat des Geistes."

 

2. Landauers Kritik an der marxistischen Klassenkampftheorie

 

Am 9.12.1918 gab Landauer als Mitglied des "Revolutionären Arbeiterrates" in München vor den bayrischen Arbeiterräten einen Rechenschaftsbericht seiner Tätigkeit ab. Er machte u. a. deutlich, daß das Proletariat in einer demokratisch-sozialistischen Revolution abgeschafft werden sollte und man nicht an die Errichtung einer 'Diktatur des Proletariats' denke.

Wenn man sich noch einmal vor Augen führt, daß Landauer sich unter 'seinem' Sozialismus die Tat eines jeden Einzelnen in der Gemeinschaft vorstellte, um zu einem freiheitlichen Miteinander zu kommen, kann man daraus ableiten, daß sein Augenmerk nicht nur einer bestimmten 'Klasse' von Menschen gelten konnte, etwa nur der Arbeiterklasse! Während der Marxismus die kapitalistische Gesellschaft in Form einer Herrschaft der 'Diktatur des Proletariats' überwinden, also über eine 'Eroberung' des Staates zur Staatslosigkeit kommen wollte, bezog Landauer die gesamte Menschheit mit ein.

Eine von den Marxisten angestrebte, zukünftige herrschaftsfreie Gesellschaft konnte aber keinesfalls dadurch geschaffen werden, daß das Proletariat selbst nach der Herrschaft greift; auch, wenn es sich hier nur um ein vorübergehendes Stadium auf dem Wege zur klassenlosen Gesellschaft handeln sollte. So war Landauers Maxime: "Will ich Herrschaftslosigkeit, so kann ich nicht nach der Herrschaft greifen." Er hält den Marxisten vor, sie hätten nicht begriffen, daß Freiheit die Sache eines ganzen Volkes sei und nicht nur einer Klasse!

Hier besteht ein fundamentaler Unterschied zum Marxismus. Landauer wollte keinesfalls die theoretische Bedeutung der marxistischen Klassenkampftheorie schmälern. Er unterstellte ihr jedoch, sie hätte mit ihrem mechanistischen Weltbild, aus welchem der Geist entfernt worden sei, keine brauchbare Alternative aufzuzeigen, wie die Menschen denn "zu leidenschaftlichen Kämpfern gegen die heutige Ordnung, zu eigenartigen, freien Individuen zu erziehen" wären.

Um es noch einmal hervorzuheben: Sozialismus war für Landauer keine Klassenbewegung, sondern eine Kultur- bzw. Menschheitsbewegung!

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D.

Versuch einer kritischen Würdigung

Ist Landauer ein 'utopischer' Sozialist ?

 

"Utopie ist die Wahrheit von morgen" (Viktor Hugo)

 

Landauers soziale Utopie bestand in der Vorstellung, es könnte zu einer 'Versöhnung' von Geist und arbeitenden Bevölkerungsschichten kommen. So hatte er auch nach dem Zusammenbruch des wilhelminischen Deutschland die Hoffnung, man könne die Gesellschaft auf der Grundlage eines föderativen Systems neu strukturieren. Das Scheitern der Münchner Räterepublik schien aber den Beweis dafür zu liefern, daß die Menschen geistig zu einer Erneuerung noch lange nicht reif waren. In erster Linie war es auch hier ein Kampf um politische Macht- und Einflußnahme.

Landauer besaß keine 'Gesellschaftstheorie' im herkömmlichen Sinne, sondern hatte 'nur' die Fiktion der idealen Gesellschaft. Er glaubte, das 'Prinzip der Gegenseitigkeit', auf menschlicher Einsicht beruhend, könne eine Gesellschaft stabilisieren und harmonisieren. Das trug ihm von Seiten der Marxisten den Vorwurf ein, er sei ein 'Utopist' und er vertrete einen 'utopischen Sozialismus', weil er sich von der "materiellen Basis der gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten" entferne. 

Martin Buber, ein Weggefährte und enger Freund Landauers, hat sich in seinem Buch 'Der utopische Sozialismus' mit dem nach seiner Ansicht zu Unrecht bestehenden Vorwurf der Marxisten auseinandergesetzt. Er überprüft den Begriff 'Utopie' auf seinen "wahren Gehalt" hin und beschreibt, was Landauer sich unter einer Utopie vorstellte. (ders. in 'Die Revolution') Buber formuliert, daß ein utopischer Sozialismus (nicht nur auf Landauer bezogen) "die scheinbar zur Unzeitgemäßheit verurteilte Anstrengung des Geistes" sei, welche die "künftige Struktur der Gesellschaft" vorbereite. Er formuliert weiter zur Charakterisierung der Utopie, sie sei "ein Bild dessen, was "sein soll", wovon "der Bildende wünscht, daß es sein soll."

Es sei "die Sehnsucht nach dem Rechten." Die "Sehnsucht nach der Verwirklichung des Geschauten gestaltet das Bild. Die Schau des Rechten in der Offenbarung vollendet sich in dem Bild einer vollkommenen Zeit: als messianische Eschatologie; die Schau des Rechten in der Idee vollendet sich in dem Bild eines vollkommenen Raums: als Utopie."

Das oben beschriebene läßt sich unschwer auf Landauer übertragen: er litt an den bestehenden Zuständen der Gesellschaft und hatte die Sehnsucht nach einer gerechteren Ordnung. Die 'Utopie' bestand darin, daß er seine Ideen in der Gegenwart durchsetzen wollte. Das war aber bei den bestehenden Verhältnissen unmöglich und deshalb unzeitgemäß, am "falschen Ort", eben u-topisch! Genau dies bedeutet aber, daß Landauers Vorstellungen nicht etwa unmöglich, sondern noch nicht, oder nicht mehr möglich sind.

Fast messianisch wollte er die Menschen bekehren und sie zu einer Veränderung "hier und jetzt" aufrufen. Er legt sehr hohe Maßstäbe an die Menschen an, wenn er an ihre moralische Gesinnung appelliert.

Gleichzeitig bleibt aber die Frage unbeantwortet, wie er sich denn die Erziehung der Menschen zu einer höheren, geistigen Gesinnung vorstellt, damit die Gesellschaft gänzlich nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit Bestand haben soll! Die Öffentlichkeit hat ihn nicht gehört. Vermutlich blieb seine kleine Bewegung des 'Sozialistischen Bundes' auch deshalb so unbedeutend, weil Landauer jede Form der Organisation ablehnte, ebenso jegliche parlamentarische Arbeit. So konnten sich seine Vorstellungen in der Öffentlichkeit nicht verbreiten und er wurde zum Eigenbrötler und Sektierer abgestempelt.

Es lohnt sich dennoch, Landauers Ideen auf ihre Aktualität hin zu überprüfen. Wenn man in seinem Buch (Aufruf) liest, und einmal seine an manchen Stellen in überschwengliches Pathos, Emotionalität und fast beschwörendes Sektierertum verfallende Sprache unberücksichtigt läßt, haben seine Forderungen nichts unrealistisches mehr. Seine Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft ist durchaus aktuell und visionär. Bestehende gesellschaftliche Zustände müssen immer wieder daraufhin überprüft werden, ob sie wirklich dem 'Gemeinwohl', oder ob sie nur dem Wohle einiger Weniger dienen.

Jede Gesellschaft muß Platz haben für Idealisten und Utopisten wie Landauer, die wie er unermüdlich an die Vernunft und die Gutwilligkeit des Menschen appellieren.

Kritisch zu beurteilen ist allerdings Landauers Favorisierung ländlicher, bäuerlicher Genossenschaftsstrukturen als idealer Ort für die Umsetzung seiner Vorstellungen. Hier offenbart sich ein konservativer Zug in seiner Gedankenwelt, indem er technischen Fortschritt fast als die Quelle allen gesellschaftlichen Übels abqualifiziert. Man darf dabei allerdings nicht vergessen, daß sich Landauer die "Auswüchse" der Industrialisierung und des technischen Fortschritts, und der damit verbundenen gesellschaftlichen Umwälzungen, etwas anders darstellten als sie es heute tun.

Leider ist Landauers Werk in der Öffentlichkeit fast völlig vergessen. Besonders bedauerlich finde ich, daß er in den von mir durchgesehenen Handbüchern des Sozialismus entweder gar nicht, oder nur in wenigen, dünnen Worten zu finden ist. Dafür taucht sein Name in der anarchistischen Literatur auf, was sicherlich zu einer Verzerrung seiner Ideen beigetragen hat. 

Auch wenn Landauer selbst 'seinen' Sozialismus als Anarchismus bezeichnet hat, so distanzierte er sich schon früh von den Anarchisten, die zum Teil einen gewaltsamen Umsturz zur Beseitigung des Staates propagierten.

Landauer, der für sich jede Gewaltanwendung ablehnte, mußte seinen 'Aufruf zum Sozialismus' schließlich mit einem gewaltsamen Tod bezahlen.

Er hat das zeitlebens vorausgesehen und lebte in der tiefen religiösen Überzeugung, daß dies, nicht zuletzt als Jude, sein Schicksal und "seine Mission" war.

 

"... denn ich will, daß Menschen mich hören, 
daß Menschen zu mir stehen, 
daß Menschen mit mir gehen, 
die es nicht mehr aushalten können gleich mir."
 

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www.detopia.de

Dr. Martha Meyer 1992