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6  «Wenn man es zugibt, ist man verloren»

 

Die Ersatzfamilie

 

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Auf dem Ball zum Tag des Gesundheitswesens, im Herbst 1970, lernt Familie Hartmann den jungen Manfred Böhme kennen. Der erste Eindruck war mir nicht angenehm, sagt Dr. Regina Hartmann. Er küßte mir in dieser Umgebung die Hand und benahm sich eigentlich wie ein Dandy.

Ihre Tochter Beate sieht den damals Sechsundzwanzigjährigen noch genau vor sich: sehr zierlich, schwarzer Anzug, weißes Hemd, Schlips, Handkuß, total alte Schule, ein hervorragender Tänzer, ein glänzender Gesellschafter. Das erste Bild – ungewöhnlich.

Als Beate Hartmann und ihr Bruder Rainer den neuen Freund mit nach Hause nehmen, ist da zuerst Mißtrauen. Vor allem bei Professor Hartmann, dem Chefarzt des KKH, des Kreiskrankenhauses in Greiz. Denn Manfred Böhme hält damals in der Ärzteschaft Vorträge. <Rotlichtbestrahlung> nannten wir das, sagt Gerhard Hartmann. Die Ärzte waren ja nicht gerade linientreu.

Aber eigentlich waren wir immer ganz froh, wenn der Böhme unser Weiterbildungsleiter war. Der brachte uns den Marxismus-Leninismus etwas lockerer bei, der war nicht so dogmatisch stur. Und weil ich mich lieber über Literatur als über Lenin unterhielt, sagt er, habe ich ihn dann auch mal ins Krankenhaus eingeladen.

Da hat er vor den Schwestern gesprochen, auch über Bücher, die nicht populär waren bei uns, also über Michael Bulgakows «Meister und Margarita», diese herrliche Satire, in der ein freier, genialer Mensch sich den Heuchlern, Spießern und Bürokraten unterwerfen soll. Böhme ist so weit gegangen, wie er es verantworten konnte. Aber es war nicht immer einfach, ihm zu folgen. Er schürfte sehr tief. Und vor allem waren seine Vorträge sehr lang. Für die Schwestern war das schon anstrengend. Aber sie mochten ihn. Und auch uns, so kann man sagen, wurde er langsam ein Freund.

War er frei und offen, wenn er privat bei Ihnen war?

Nein, sagt Regina Hartmann. Manfred war immer ein Stück Politik. Er sprach über Begegnungen mit politischen Leuten, berief sich auf Fakten, die mir fremd waren, benutzte Abkürzungen, die mein Mann zwar verstand, aber irgendwie war das alles sehr ermüdend.

Er trank ja auch gern und viel in jener Zeit, und er war ein pausenloser Redner. Er redete, ohne zuzuhören. Das habe sie ihm dann auch später einmal vorgeworfen. Ungerechterweise, sagt sie, zu ihrem sechzigsten Geburtstag, wo Böhme die Wohnung mit Girlanden geschmückt und sich um alles gekümmert hatte. Aber auch das habe sie schon wieder gestört, daß er die Honneurs machte, die ja eigentlich ihr oblagen, und daß er sich wie ein Butler benahm. Und am Abend, als er dann schon einiges getrunken hatte und wieder nur über Politik monologisierte, sich selbst fragend, wer wohl wann wessen Nachfolger werden könnte, da sei ihr der Kragen geplatzt, und sie habe ihm gesagt, daß sie es schrecklich fände, daß er so überhaupt nicht zuhörte und auch nicht auf die Anliegen anderer einginge.

Das hat gewirkt, sagt sie, denn in Zukunft hat er doch des öfteren direkt nachgefragt und ist auch wirklich ein Zuhörer gewesen. Einmal hat er mir auch gesagt: Die Leute wissen gar nicht, daß sie viel weiter gehen können. Viel weiter.

Regina Hartmann glaubt, daß er selbst dieses <Weitergehen> praktiziert habe. Ich glaube auch, sagt sie, daß hier die Ursache für sein Trinken lag. Er hat es wohl einfach nicht ausgehalten, hatte wohl auch Angst.

Wir Ärzte, sagt Professor Hartmann, wußten doch, daß überall Spitzel saßen, wußten, daß wir wirklich nur zwei oder drei Menschen gegenüber offen sein konnten.

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Wenn ich ins Krankenhaus ging, sagt er, hatte ich immer eine Maske auf. Immer. Und was bei der <Rotlichtbestrahlung> geredet und diskutiert wurde, das war am nächsten Tag bei der Staatssicherheit. Das wußte jeder, sagt er. Auch Böhme.

Einmal habe er dem gesagt: Herr Böhme, nun sagen Sie mir doch, mal, der Marxismus-Leninismus ist nach Ihrer Auffassung eine Wissenschaft. Eine Wissenschaft aber, die überholt sich doch nach fünfzig Jahren, spätestens aber wohl nach hundert Jahren. Nur bei Marx soll es keinen Zweifel geben? Und weil Böhme kein Dogmatiker war, hat er geantwortet: Richtig. Da müsse man sicherlich auch mal über dies und jenes nachdenken. Das, sagt Gerhard Hartmann, hat ihn uns sympathisch gemacht. So sprach sonst kein Bonze.

Aber Professor Hartmann wußte natürlich, daß Manfred Böhme schon qua Beruf mit der Staatssicherheit zu tun hatte. Er war Kulturfunktionär. Und dann und wann – da duzten sie sich dann schon – habe Böhme ihm auch mal gesagt: Gerd, bedenke, was du sagst! Ja, das habe er schon auch als Warnung begriffen.

In all unseren Gesprächen, sagt Regina Hartmann zu ihrem Mann, hast du dein Mißtrauen immer durchblicken lassen. Ich erinnere mich noch, daß du ihm einmal sogar gesagt hast: Na, Manfred, vielleicht bist du sogar einer von denen. Und am Ende, sagt sie zu ihrem Mann, hast du mit all deiner Skepsis recht behalten. Ja, sagt er, aber ich habe wirklich nie geglaubt, daß der Manfred Seiten und Seiten, Hunderte von Seiten für die Stasi geschrieben hat. Wirklich nie.

Manfred Böhme hat auch über die Hartmanns Berichte abgeliefert, über die Menschen, die er seine «Quasi-Eltern» nennt und von denen er sich wünschte, ihr «Quasi-Sohn» sein zu dürfen. Das ist Hartmanns nie schwergefallen. Manfred B. war Kind im Hause, wie es Beate und Reiner H. waren, seine «Quasi-Schwester» und sein «Quasi-Bruder».

Wie sehr er Sohn im Hause Hartmann ist, beweist, daß Regina Hartmann ihm Briefe zeigt, die Tochter Beate schreibt. Beate Hartmann, die Ärztin geworden ist, hat inzwischen geheiratet, heißt Schwämmle und lebt mit ihrem westdeutschen Mann seit 1976 in der Bundesrepublik bei Tübingen.

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Am 24. August 1977 spricht der Inoffizielle Mitarbeiter «Paul Bonkarz» der Staatssicherheit einen Text aufs Tonband «zu einem Gespräch bei Familie Hartmann, Betreff Reiner Kunze». Reiner Kunze lebt zu dieser Zeit seit vier Monaten in der Bundesrepublik. Und Manfred Böhme, der den Lyriker jahrelang in Greiz bespitzelt und den Bonzen geholfen hatte, ihn aus dem Land zu ekeln, nimmt die Gelegenheit wahr, der Staatssicherheit erneut ein paar Brocken vom ehemaligen Volksfeind anzuschleppen.

«... Interessanter war aber vor allem ein Fakt: Frau Dr. R. Hartmann zeigte mir einen Brief, in dem B. Hartmann davon berichtete, daß sie mit Dr. Elisabeth Kunze, Gattin des R. Kunze, vor unlanger Zeit zusammengetroffen wäre. R. Kunze halte sich zur Zeit zu einer Kur in der Schweiz auf... Frau Dr. E. Kunze, so ging es aus diesem Brief hervor, hält sich etwa 100 km von Tübingen entfernt auf. (Ein genauer Ort war im Brief nicht angegeben, so wie man immer nur von Elisabeth sprach.) Auf jeden Fall wollten an dem im Brief genannten Tag das Ehepaar Schwämmle (Beate und Kurt) die Frau Dr. Kunze in ihrer Praxis abholen... Als Schwämmles verspätet, zumindest später als angekündigt, in der Praxis von Dr. E. Kunze eintrafen, befand sich ein Zettel an der Tür, wo sich Frau Dr. Kunze wohnhart aufhalte. Sie besuchten sie in einer 2-Zimmer-Wohnung, die z. Z. von Frau Dr. Kunze bewohnt wurde. Dort haben sie längere Zeit, d. h. von 18.30 Uhr bis o.30 Uhr gesprochen.

Aus dem Brief ging hervor, daß Schwämmles und Kunzes weiter in Kontakt bleiben wollten.

Dr. E. Kunze bat vor allem, sowohl das Ehepaar Hartmann als auch den als Kreissekretär in Greiz ausgeschiedenen (Kreissekretär des KB) Manfred Böhme recht herzlich zu grüßen. Es stand u. a. darin, <wir haben über M. sooo lange und wohlwollend gesprochen>.»

Damit signalisiert der IM «Paul Bonkarz» der Staatssicherheit, wie gut er gearbeitet habe, damals, als Kunzes noch in Greiz lebten, so gut nämlich, daß die <Opfer> den <Täter> herzlich grüßen lassen, weil sie ihn eben nicht erkannt haben. Wenigstens diktiert Böhme es so in seinem Bericht.

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Schon 1975 sprudelt die <Quelle> Böhme und berichtet, wie sein «Quasi-Vater» als junger Assistenzarzt gedacht habe. Woher er das erfahren haben will, bleibt unklar. Böhmes Berichte strotzen von Hypothesen und Vermutungen: immer wieder «glaubt» er, weiß nicht genau, aber «ahnt» und «schließt nicht aus».

Ende Dezember 1976 erzählt «Paul Bonkarz», wie bitter enttäuscht Hartmanns gewesen seien, als ihre Tochter Beate aus West-Deutschland nicht einreisen durfte. Am Telefon habe Hartmann ihm sein Leid geklagt, und er, Böhme, habe versucht, beruhigend auf ihn einzuwirken. Und dann fügt er perfide hinzu, welchen Tip Regina Hartmann von einem netten Beamten bekommen habe und wie der Major T. versuchen wolle, die Einreise der Tochter beim nächsten Mal zu ermöglichen. Den Leser der Akten wundert es kaum, daß neun Mo-' nate später wieder eine Absage auf den Antrag der Tochter erfolgt, und Manfred Böhme weiß denn auch von einer «miesen Stimmung» im Hause Hartmann zu berichten.

Und wieder schlägt er zu, wieder plaudert er ein Geheimnis aus, das Regina Hartmann ihm, dem sie vertraut, erzählt hat:

«... Vor längerer Zeit bereits hatte Frau Dr. Regina Hartmann mit dem Wissen des Professors G. Hartmann etwas verschlüsselt mit Beate Hartmann vereinbart, daß sie sich zu Pfingsten am Hermsdorfer Kreuz treffen wollten; gemeint Farn. G. Hartmann und Kurt und Beate Schwämmle. Aus Anlaß des 29. Geburtstages von Beate Hartmann sollte dieses Treffen stattfinden. Anwesend waren außerdem noch Rainer und Edda Hartmann, Sohn und Schwiegertochter. Beide hatten sich aber ab Hermsdorfer Kreuz von Hartmanns abgesetzt. Ob sie ein eigenes Fahrzeug hatten oder ein anderes, weiß ich nicht. Auf jeden Fall hätte das Treffen stattgefunden, Schwämmles wären allerdings etwas verspätet eingetroffen... Im Hermsdorfer Kreuz hätten sie Mittag gegessen und hätten auch einige Geschenke getauscht. Frau Dr. Hartmann hatte für Beate Schwämmle eine Decke gekauft zum Geburtstag. Schwämmles ihrerseits hatten zwei Wünsche erfüllt; für Frau Dr. Hartmann ein Rädchen für eine Junghans-Uhr, für Prof. Hartmann 5 Bücher, u.a. Reiner Kunze und Adorno.»

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Nach dem Treffen an der Autobahnraststätte werden Hartmanns angehalten, zwei Stunden verhört, und alle Geschenke werden konfisziert, und Frau Hartmann, so notiert es Böhme dann noch einmal in seinem Bericht, «hatte noch sehr darum gebeten, daß man ihr doch wenigstens das Rädchen für die Junghans-Uhr beließe».

Man beließ es ihr nicht. Und scheinheilig fragt Böhme das Ehepaar, ob es sich bei der Durchsuchung vielleicht um den Zoll gehandelt haben könnte.

Nein, habe Herr Hartmann gesagt, es seien Personen der Staatssicherheit gewesen, und selbige hätten sich auch als solche ausgegeben.

Und damit die Herrschaften von der Stasi auch wissen, wie Professor Hartmann und seine Frau das Ganze einschätzen, gibt Böhme ihre Vermutungen zum besten:

«Die vernehmenden Personen» hätten offenbar in Routine gearbeitet, die Namen Kunze und Adorno seien den Herren allem Anschein nach unbekannt gewesen, und die ganze Sache am Autobahnkreuz sei wohl nur deshalb bemerkt worden, weil Schwämmles mit soviel Verspätung gekommen seien, denn dadurch sei der Kellner aufmerksam geworden. Mit einem Wort: Hartmanns seien ahnungslos – ach, wie schön, daß niemand weiß, daß ich Rumpelstilzchen heiß.

Elf Jahre später, 1988, feiert Professor Hartmann seinen 65. Geburtstag. Und Manfred Böhme, der von Greiz über Gera und Neustrelitz nach Berlin gegangen war – oder von der Staatssicherheit dorthin beordert worden war –, Manfred Böhme kommt also zum Fest nach Greiz.

Was hat er nicht alles gemacht, sagt Regina Hartmann. Er hat die Wohnung geschrubbt, die Ecken geputzt, die Gardinen abgenommen, gewaschen, wieder aufgehängt, er hat von morgens bis abends auf den Knien gelegen. Und dann hat er mit mir überlegt, was man anbieten kann, was für wie viele Personen notwendig ist, hat Wein mit mir besorgt, wußte, wo was billiger war, und er hat das kalte Büffet zurechtgemacht und den Butler gespielt für die ganze Familie. Er hat fünf Tage von früh bis spät geschuftet. Geschuftet wie ein Kind, das für die Eltern alles tun will.

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Und dann, in der Nacht, als wir schon schliefen, hat er mit Beate das ganze Zeug abgewaschen in der Küche. Bis morgens um fünf. Und die Blumen hat er versorgt. Und aus der Badewanne hat er den schönsten Strauß genommen und ist in aller Herrgottsfrühe auf den Friedhof gegangen und hat ihn Willibald Müller aufs Grab gelegt. Das war der Erste Kreissekretär von Greiz, sagt Regina Hartmann. Womöglich ein Freund von ihm. Womöglich ist von dem vieles dorthin gelangt, wo es nicht hingelangen sollte.

Ich frage Manfred Böhme, warum er ausgerechnet diesem Funktionär, der Wolf Biermann als eines der gefährlichsten Subjekte der DDR denunzierte, als einen Renegaten dazu, warum er diesem Mann Blumen aufs Grab legt ?

Na ja, sagt Böhme, das war schon ein Mensch, der ein bißchen dümmlich war. Nicht einer, sagt er, der Kino mit <ie> schreibt. Aber er hatte auch wieder keine Möglichkeit, einer der gefährlichsten zu sein.

Aber dumm ist gefährlich genug, sage ich.

Mir, sagt Böhme, hat er geholfen. Damals, als er gegen den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die CSSR votiert habe, da sei in einer Parteiversammlung einer aufgestanden und habe gesagt:

Leute wie Böhme müßten an die Wand gestellt werden. Da sei Willibald Müller aufgestanden und habe gesagt: Also, so ginge das doch wohl nicht. So, sagt Böhme, habe man ihm das jedenfalls später erzählt. Und deshalb habe er dem Genossen immer mal wieder Blumen aufs Grab gelegt.

Im Dezember 1990 lesen Professor Hartmann und seine Frau das Buch «Deckname Lyrik» von Reiner Kunze. Und sie entdecken darin, daß Manfred Böhme für die Staatssicherheit gearbeitet hat. Da saß er hier, der Manfred, sagt Gerhard Hartmann, und meine Frau und ich wollten ihm noch den Überzeugungstäter unterjubeln, und ich sage noch zu ihm: Manfred, wenn du es warst, warum kannst du es dann nicht zugeben?

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Nie! hat er da gesagt. Nie kann man das zugeben. Wenn man das zugibt, ist man verloren.
Hier im Wohnzimmer hat er gesessen und hat das gesagt.

Manfred wollte keine Karriere machen, sagt Professor Hartmann, er war ein Gläubiger, ein Sozialist, ein Marxist. Und für die Realisierung seines Glaubens, seines Traums, hat er alles auf eine Karte gesetzt. Alles.
Manfred Böhmes «Quasi-Bruder» Rainer Hartmann liest das Buch von Reiner Kunze ebenfalls im Dezember 1990. Auch er, der Pfarrer von Beutnitz, ist entsetzt. Aber nicht über Manfred Böhme, sondern über Reiner Kunze. Ihm schreibt er zwei Tage vor Weihnachten einen langen offenen Brief:

«Es wird die Zeit kommen, da wird sich Reiner Kunze schämen. Die Presse hat sich längst nicht soviel vorzuwerfen wie er. Sie hat nur bereitwillig in das Hörn geblasen, das ihr an den Mund gehalten wurde.
Ich weiß zwar nicht, ob die Zeit kommen wird, in der Ibrahim Manfred Böhme vollkommene Rehabilitierung erfahren wird, oder ob die ihn freisprechende Wahrheit ein für allemal im Schatten der unbarmherzigen Geschichte bleibt ...
Manfred I. Böhme ist ein Mensch, dem es um die Menschen ging und nie um Posten für sich selbst. Er kann damit umgehen, nicht in Amt und Würden zu sein. Er war es immer nur für kurze Zeit, um dann um so tiefer zu fallen... Er hätte in der DDR höchste Posten bekleiden können, wenn er sich unter das Regime der Partei (SED) gestellt und aufgehört hätte, Unrecht beim Namen zu nennen.
Ich kenne beide, I. Böhme und R. Kunze. Ich habe in meinem Beruf und meinem Leben viele Menschen näher kennengelernt und weiß wohl zu unterscheiden, auf welche Weise ein Mensch sich Selbstbewußtsein verschafft.
I. Böhme habe ich durch die Jahre hindurch in den verschiedensten Lebensumständen erlebt. Ein Mensch, der andere Menschen größer machte und mutiger und selbstbewußter und der versuchte, niemanden aus Nachlässigkeit zu kränken.

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«Wir  Ärzte waren ja nicht linientreu. So bekamen wir <Rotlichtbestrahlung>. 
Böhme hielt uns Vorträge über Marxismus-Leninismus. 
Er machte das nie dogmatisch stur.»

Professor Gerhard Hartmann über Ibrahim Böhme, 
hier 1991 in seiner Wohnung am Prenzlauer Berg.

 

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Sicher hat auch er so manches Menschliche und Allzumenschliche in seiner Person vereint, aber ein Denunziant war er nie. Dagegen macht sich der raffinierte Ankläger R. Kunze wie ein Wurm aus. Nichts gegen seine dichterischen Verdienste, wenn sie nun auch ihr jämmerliches Ende gefunden haben dürften. Als Mensch habe ich R. Kunze als einen erlebt, der andere klein macht.
Sein Buch «Deckname Lyrik» ist nichts anderes als der Versuch, eine alte Verleumdung nun mit Hilfe der Stasi-Unterlagen zu erneuern ...
Was R. Kunze dazu bewogen hat, ist nur in den Abgründen seiner Seele zu finden: Seine ganze Familie ist I. Böhme zu großem Dank verpflichtet, und Kunze weiß dies.
Wenn doch einmal alles durchgestanden sein wird, dann könnte vielleicht auch ich Verständnis für ihn finden und ihm vergeben.
Bis dahin aber ist nur zu vermerken, daß der Verrat des Judas in einer Verleumdung bestand. Auch er ist ein Mensch, aber da die Geschichte, die hier geschrieben wird, noch nicht abgeschlossen ist, kann ihm nicht vergeben werden.»

 

Rainer Hartmann ist sechzehn Jahre alt, als er Manfred Böhme kennenlernt. Und er hört, daß der wegen eines Robert-Havemann-Vortrags in Leuna rausgeschmissen worden ist und daß er in Greiz bei der Post wieder ganz von vorn anfangen mußte. Das beeindruckt Rainer Hartmann tief.

Und wie war sein Verhältnis zu Reiner Kunze ?

Er sei mit dessen Tochter Marcela befreundet gewesen. Mit ihm habe er weniger zu tun gehabt, sagt Rainer Hartmann. Habe ihn mal gesehen, ja, habe auch mal Tee mit ihm getrunken, aber Kunze war eher jemand, der auf Distanz hielt. Was der geschrieben habe, das sei natürlich wichtig. Nur für ihn selbst sei vieles ohne Bedeutung gewesen, ohne Sinn.

Kunze war immer auf einer Ebene, auf der ich nicht war. Ich weiß noch, wie ich damals sein Gedicht «Selbstmord» gelesen habe, sagt der Pfarrer.

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Die letzte aller türen
Doch nie hat man
an alle schon angeklopft

Ich dachte: Der weiß ja gar nicht, worum es geht. Er selber sei von Selbstmordgedanken erfüllt gewesen, bevor er Ibrahim Böhme kennengelernt habe. Die Sinnfrage und parallel dazu die Frage nach der Selbsttötung, damit habe er sich ein, zwei Jahre lang sehr herumgeschlagen, sei auch kontaktschwach und isoliert gewesen in jener Zeit, wie das wohl bei jungen Menschen etwas ganz Normales sei.

Und dann kam Böhme. Durch ihn, sagt Rainer Hartmann, habe er erfahren, was Leben heißt. Dabei sei Böhme ja gar kein Lebemensch gewesen, im Gegenteil, auch der habe irgendwo etwas Hilfloses an sich. Aber das war Leben, sagt er. Böhme reizte eher zum Leben, als daß er es erklärte. Wir hatten wirklich nicht dieselbe Mentalität, aber die Reibung mit ihm war interessant. Er ist ein völlig anderer Mensch als ich.

Und die Vorträge, die er hielt, ach ja, keiner hat was verstanden, aber die waren gut. Er hatte nie etwas Schulmeisterliches. Aber das Jüngerhafte, das war da, so nach dem Motto: Fragt mich, ich sage Euch.

Und wenn wir Feste feierten, dann war er der Höhepunkt des Abends. Und er machte dann auch so verrückte Sachen, kam und trank einfach nur eine Karaffe Wasser aus. Komischer Vogel. Ja, aber das war er, das war Böhme. Und er hielt es auch aus, wenn man sich über ihn lustig machte. Aber er war nie ein Clown.

Der junge Mann ahnt damals natürlich nicht, daß vieles, was er dem Freund Manfred erzählt, in die Romane einfließt, die der für die Staatssicherheit schreibt. Elend lang sind die schwatzhaften Berichte. Am 24. Dezember 1977 sei er zu einer Silvesterfete eingeladen worden, an der die Greizer «media nox»-Musiker Kühl, Seidel, Ullmann und eben auch Hartmann teilnehmen sollten. Erst am 31.12. habe er erfahren, daß dieses Fest nicht stattfinden würde. Und erzählt dann, wo wer statt dessen das Jahresende verbringen werde.

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Und plappert weiter drauflos, wie Rainer Hartmann ihn Silvester um 10 Uhr 15 mit dem Auto abgeholt habe und in Richtung Kreiskrankenhaus gefahren sei und daß er kurz zuvor noch den ersten Konzertmeister des Sinfonieorchesters getroffen und mit «einer Flasche entsprechenden Alkohols » auf ein gesundes neues Jahr angestoßen habe. Von 11 Uhr bis gegen 14 Uhr 30 hätte dann ein Gespräch mit Rainer Hartmann stattgefunden, der über sein Theologie-Studium geredet und gesagt habe, daß er sich «von vornherein offener» halten wollte, woraufhin er, Böhme, «um eine genauere Akzentuierung, Erläuterung des Sich-offener-Halten» bat.

Und nach langen Böhmeschen Ausführungen heißt es am Ende: «Marxisten wären für Hartmann durchaus Bündnispartner. Marxisten wären ihm aber in dem Punkt nicht ernst zu nehmen, indem sie der Weltanschauung des Christentums nichts Gleichbedeutendes entgegenzusetzen hätten.» Und geradezu geschäftsmäßig schließt er, daß Hartmann ihn zu einer Fortsetzung des Gesprächs nach Saalfeld, Promenadenweg 1 eingeladen habe, wo er und seine Ehefrau Edda wohnten.

Wie war das, als Rainer Hartmann begriff, daß sein Freund ein Verräter ist?

Es war, als wäre ihm ein großes Unglück geschehen. Und nach langer Pause sagt er, er habe sich bis jetzt aber nicht hinter­gangen gefühlt. Sagt, Manfred hätte ja auch sagen können: Rainer, wenn du gewollt hättest, du hättest es ahnen können. Deshalb sei er auch nicht verletzt. Eher wütend, ja, furchtbar wütend. Aber Angst habe er nicht, daß die wirklichen Gespräche wiedergegeben worden seien. Unsere Worte zwischen den Sätzen, sagt er, unsere Wege zum Leben hin, auch zum Chaotischen, auch zum Beängstigenden hin, das sei doch kaum als Bericht wiederzugeben.

Und was heißt denn <Stasi>? Du, der ist bei der Stasi, hat ihm mal einer während der Armeezeit gesagt. Ja und? Dem sind wir doch nicht nachgegangen. Damit haben wir gelebt. Wir wären doch sonst unserer gesamten Menschlichkeit beraubt worden. Die größten Erfolge, sagt Hartmann, die hatte die Stasi doch durch Verdächtigungen. Aber er müsse auch dazu sagen, er habe keine bedrohlichen Erfahrungen gemacht mit der Staatssicherheit.

Und Böhme? Sein eigenes Leben hat er uns doch nie geöffnet. Und wer heute sagt, er hat uns angelogen, der lügt sich selbst etwas vor. Jeder wußte von Anfang an, daß er uns etwas vorspielt. Er hat uns mal gesagt: Ich bin die graue Eminenz im Hintergrund.

Seinen offenen Brief an Reiner Kunze aber, den hat Rainer Hartmann nach Einsicht in die Akten korrigieren müssen:

«Mit Erschrecken lese ich durch einen Zufall oder durch unbewußten und doch zielgerichteten Willen meine Zeilen vom 22.12.90... Ich möchte mich am liebsten verschlucken, daß manche dieser Worte von mir geschrieben worden sind... Es tut mir leid... Und das nicht deshalb, weil ich so viel Gutes über Ibrahim Böhme geschrieben habe, sondern weil ich so viel Entwürdigendes über Reiner Kunze gesagt habe. Mein einziger Trost dabei ist, daß die Entwürdigung auf mich selbst zurückfällt und nicht auf den von mir Beschriebenen... Ich entschuldige mich förmlich bei Reiner Kunze, wohl wissend, daß es nicht meine Sache ist, mich von Schuld loszusprechen.»

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