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Der neue Kalender

Prolog von Arthur Koestler (1978)

 

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9-32

Wenn man mich nach dem wichtigsten Datum in der Geschichte und Vorgeschichte der Menschheit fragte, würde ich ohne Zögern den 6.8.1945 nennen. Dafür gibt es einen einfachen Grund. 

Seit dem Herauf­dämmern seines Bewußtseins bis zu diesem Augusttag des Jahres 1945 mußte der Mensch mit der Aussicht auf seinen Tod als Individuum leben; seit dem Tag aber, an dem die erste Atombombe über Hiroschima den Himmel verdunkelte, muß er mit der Aussicht auf seine Vernichtung als Spezies leben.

Man hat uns gelehrt, die Vergänglichkeit der eigenen Existenz zu akzeptieren und zugleich die potentielle Unsterblichkeit der Gattung Mensch als selbst­verständlich hinzunehmen. Dieser Glaube hat seine Gültigkeit verloren. Wir müssen, was wir für unumstößlich hielten, revidieren. 

Das ist keine leichte Aufgabe. Es braucht eine gewisse Inkubationszeit, ehe eine neue Idee vom menschlichen Geist Besitz ergreift. 

Fast ein Jahrhundert verging, bis das Weltbild des Kopernikus, das den Stellenwert des Menschen im Universum so radikal reduzierte, in das europäische Bewußtsein eindrang. Die neue Herabsetzung unserer Spezies auf den Status der Sterblichkeit ist noch schwerer zu verkraften.

Es sieht allerdings so aus, als sei diese Einsicht wieder in Vergessenheit geraten, bevor sie noch richtig zur Kenntnis genommen wurde. Schon ist der Name Hiroshima ein historisches Klischee geworden wie die Bostoner <Tea Party>. 

Wir sind zu einem Stadium pseudo-normaler Verhältnisse zurückgekehrt. Nur eine kleine Minderheit ist sich der Tatsache bewußt, daß die Menschheit, seit sie die nukleare Büchse der Pandora öffnete, von geborgter Zeit lebt.

Jede Epoche hat ihre Kassandras, doch der Menschheit gelang es bisher, all ihre finsteren Prophezeiungen zu überleben. Diese tröstliche Feststellung ist indessen nicht länger gültig, denn nie zuvor hat eine Gruppe oder eine Nation über die notwendigen technischen Mittel verfügt, um diesen Planeten für Leben untauglich zu machen. 

Bisher konnte man seinen Feinden nur begrenzten Schaden zufügen und tat es bei jeder Gelegenheit. Heute kann man die gesamte Biosphäre erpressen. Wäre Hitler zwanzig Jahre später geboren worden, hätte er es wahrscheinlich unter Androhung einer atomaren Götterdämmerung getan.

Das Dumme ist, daß eine einmal gemachte Erfindung nicht rückgängig gemacht werden kann. Die Atom­bombe ist eine Realität; sie ist zum Bestandteil der menschlichen Daseinsbedingungen geworden. Wir werden fortan mit ihr leben müssen: und zwar nicht nur bis zur nächsten oder übernächsten Konfrontation oder Krise, nicht nur bis zum nächsten Jahrzehnt oder Jahrhundert, sondern für immer das heißt, solange die Menschheit überlebt. 

Anzeichen weisen darauf hin, daß es nicht mehr sehr lange sein wird. 
Für diese Schlußfolgerung gibt es zwei Hauptgründe. Der erste ist technischer Natur: 

Da die Mittel zur nukle­aren Kriegführung immer wirkungsvoller werden und ihre Herstellung immer weniger Schwierigkeiten bereitet, kann man nicht verhindern, daß junge und unreife Nationen bald ebenso darüber verfügen werden wie alte und überhebliche Staaten, und eine globale Kontrolle der Kernwaffen­produktion ist nicht durch­führ­bar.

In der überschaubaren Zukunft wird überall auf der Erde, von Nationen aller Hautfarben und aller Ideologien, atomares Kriegsgerät in großen Mengen hergestellt und gelagert werden. Die Wahrscheinlich­keit, daß ein Funke, der die Kettenreaktion auslöst, früher oder später absichtlich oder unabsichtlich gezündet wird, dürfte dementsprechend zunehmen und sich auf lange Sicht der statistischen Gewißheit nähern. 

Man versetze sich in die Lage einer Schar von straffälligen Jugendlichen, die, eingesperrt in einen Raum voller leicht brennbarem Material, eine Schachtel Streichhölzer erhalten und dazu den guten Rat, sie nicht zu benutzen.

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Der zweite Hauptgrund, der auf eine niedrige Lebenserwartung des Homo sapiens in der Nach-Hiroshima-Zeit schließen läßt, ist die paranoide Veranlagung, die seine bisherige Geschichte offenbart. Ein objektiver Beobachter von einem höher entwickelten Planeten, der die Geschichte der Erdbewohner von Cro-Magnon bis Auschwitz mit einem Blick überschauen könnte, würde zweifellos zu dem Schluß gelangen, daß der Mensch in mancher Hinsicht ein bewundernswertes, im wesentlichen jedoch ein krankes biologisches Produkt sei; gemessen an den Chancen eines längeren Überlebens, fielen die Folgen seiner Geisteskrankheit schwerer ins Gewicht als all seine kulturellen Leistungen. 

Der Klang, der am nachhaltigsten durch die Geschichte der Menschheit hallt, ist der von Kriegstrommeln. 

Stammeskriege, Religionskriege, Bürgerkriege, Erbfolgekriege, Nationalkriege, Revolutionskriege, Kolonialkriege, Eroberungs- und Befreiungskriege, Kriege zur Verhütung und Beendigung aller Kriege folgen einander wie in einer Kette zwanghafter Wiederholung, und es besteht aller Grund zu der Annahme, daß diese Kette auch in Zukunft nicht abreißen wird.

In den ersten zwanzig Jahren nach Hiroschima, von 0 bis 20 n. H. oder zwischen 1946 und 1966, nach unserer überholten Zeitrechnung registrierte das amerikanische Verteidigungsministerium vierzig Kriege mit konventionellen Waffen, und mindestens zweimal standen wir am Rande eines Atomkrieges: 1948 in Berlin, 1962 in Cuba.(1)

Und sobald wir unser bequemes Wunschdenken aufgeben, wird uns klar, daß die Brennpunkte potentieller Konflikte weiterhin über den Globus wandern wie Hoch­druckgebiete über eine Wetterkarte. Und der einzige fragwürdige Schutz vor der Eskalation eines lokalen Konflikts, nämlich die gegenseitige Abschreckung, steht und fällt mit der Zurückhaltung oder Skrupellosigkeit fehlbarer politischer Schlüsselfiguren und fanatischer Regime. Russisches Roulette ist ein Spiel, das man nicht lange spielen kann.


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Das auffälligste Kennzeichen für das Pathologische unserer Spezies ist der Gegensatz zwischen ihren einzig­artigen technologischen Leistungen und ihrer ebenso einzigartigen Unfähigkeit, ihre sozialen Probleme zu meistern. Wir können Satelliten um ferne Planeten steuern, aber wir sind außerstande, die Situation in Nordirland unter Kontrolle zu bekommen. Der Mensch kann die Erde verlassen und auf dem Mond landen, er kann aber nicht ungehindert von Ostberlin nach Westberlin fahren. Prometheus greift nach den Sternen mit einem irren Grinsen im Gesicht und einem Totemzeichen in der Hand.

 

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Ich habe noch nichts über die zusätzlichen Schrecken der biochemischen Kriegführung gesagt; nichts über die Bevölkerungs­explosion, die Umwelt­verschmutzung und dergleichen, die - so bedrohlich sie auch sein mögen -, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit ungebührlich von dem zentralen, alles andere überschattenden Problem abgelenkt haben: daß nämlich unsere Spezies seit 1945 die diabolische Fähigkeit besitzt, sich selbst zu vernichten und - nach ihrer bisherigen Geschichte zu urteilen - alle Aussicht besteht, daß sie diese Fähigkeit bei einer der vielen Krisen in nicht allzu ferner Zukunft auch einsetzen wird. Das Ergebnis wäre die Verwandlung des Raumschiffs Erde in einen Fliegenden Holländer, der mit seiner toten Besatzung im Sternenmeer umhertreibt.

Wenn aber diese Aussicht wahrscheinlich ist, welchen Sinn hat es dann, daß wir unsere partiellen Bemühungen fortsetzen, um den vom Aussterben bedrohten Pandabären zu retten oder die Verwandlung unserer Flüsse in Kloaken zu verhindern? Oder Vorsorge für unsere Enkel zu treffen? Oder dieses Buch weiterzuschreiben?  

Das ist keine rhetorische Frage, wie die allgemeine Desillusionierung unter den Jugendlichen beweist. Doch es gibt mindestens zwei gute Antworten.

Die erste liegt in den beiden Worten »als ob«, auf die der deutsche Gelehrte Hans Vaihinger ein System aufbaute, das zu Beginn unseres Jahrhunderts viele Anhänger hatte: die Philosophie des Als Ob.(2)


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Sie besagt in kurzen Worten, daß der Mensch keine andere Wahl hat, als von Fiktionen zu leben so zu tun, als ob die von unseren Sinnen wahr­genommene Welt die absolute Realität darstelle; so zu tun, als ob er einen freien Willen hätte, der ihn für seine Handlungen verantwortlich macht; so zu tun, als ob es einen Gott gäbe, der ehrbares Verhalten belohnt und so fort. 

Entsprechend muß der einzelne so leben, als ob das Todesurteil nicht bereits über ihn verhängt sei, und die Menschheit muß ihre Zukunft planen, als ob ihre Tage nicht schon gezählt wären. Nur mit Hilfe dieser Fiktionen gelang es dem menschlichen Geist, ein bewohnbares Universum zu schaffen und ihm einen Sinn zu verleihen.

Die zweite Antwort leitet sich von der einfachen Tatsache ab, daß wir es, obgleich unsere Spezies gleichsam von einem Jahrzehnt zum anderen von geborgter Zeit lebt und, allem Anschein nach, auf die endgültige Katastrophe zutreibt, doch immer noch mit Wahrscheinlichkeiten und nicht mit Gewißheiten zu tun haben. Es besteht immer noch Hoffnung auf das Unerwartete, Unvorhergesehene.  

Seit dem Jahr Null des neuen Kalenders trägt der Mensch eine Zeitbombe um den Hals und wird ihrem Ticken das mal lauter, mal leiser, dann wieder lauter ist lauschen müssen, bis sie explodiert oder bis es ihm gelingt, sie zu entschärfen. Die Zeit drängt, die Geschichte beschleunigt sich auf schwindel­erregenden Exponentialkurven, und die Vernunft sagt uns, daß die Chancen einer erfolgreichen und rechtzeitigen Entschärfung gering sind. 

Wir können indes nichts weiter tun, als so handeln, als ob wir noch genug Zeit dafür hätten.

Das Entschärfen der Bombe erfordert allerdings radikalere Anstrengungen als UNO-Resolutionen, Abrüstungs­konferenzen und Appelle an die vielgerühmte Vernunft. Derartige Appelle sind schon seit den Tagen der alttestamentarischen Propheten stets auf taube Ohren gestoßen, und zwar aus dem einfachen Grund, weil der Homo sapiens kein vernünftiges Wesen ist — denn wenn er es wäre, hätte er aus seiner Geschichte keinen solchen Schlachthof gemacht. Es gibt auch keine Anzeichen dafür, daß er dabei ist, ein vernünftiges Wesen zu werden.  


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Um eine mögliche Therapie zu entwickeln, muß man zunächst diagnostizieren, was mit unserer Spezies schiefgegangen ist. Es hat zahlreiche Versuche gegeben, eine solche Diagnose zu stellen, von der Beschwörung des biblischen Sündenfalls oder des Freudschen »Todestriebs« bis zum »territorialen Imperativ« zeitgenössischer Verhaltensforscher. 

Keiner dieser Versuche war sehr überzeugend, weil keiner von der Hypothese ausging, daß der Homo sapiens möglicherweise eine anomale biologische Spezies, ein evolutionärer Irrläufer sein könnte, von einer endemischen Störung gezeichnet, die ihn von allen anderen Lebewesen unterscheidet wie Sprache, Wissenschaft und Kunst ihn in einem positiven Sinn unterscheiden. 

Diese unangenehme These bildet den Ausgangspunkt meines Buches.

Die Evolution hat viele Fehler gemacht; Julian Huxley hat sie mit einem Labyrinth von zahllosen Sackgassen verglichen, die alle zu Stagnation oder in den Untergang führen. Auf jede lebende Spezies kommen Hunderte anderer, die in der Vergangenheit ausgestorben sind; die Fossiliensammlungen unserer Museen sind gleichsam die Müllplätze für die verworfenen Modelle des großen Chefkonstrukteurs.

Indizien aus der bisherigen Menschheitsgeschichte und der modernen Gehirnforschung deuten darauf hin, daß an irgendeinem Punkt des letzten explosiven Entwicklungs­stadiums des Homo sapiens irgend etwas falsch gelaufen ist; daß es einen Defekt in unserem angeborenen Rüstzeug genauer gesagt, in den Schaltkreisen unseres Nervensystems gibt, einen möglicherweise verhängnisvollen technischen Fehler, der für jenen paranoiden Zug verantwortlich ist, welcher unsere Geschichte durchzieht. 

Das ist die häßliche, aber plausible Hypothese, die bei jeder ernst zu nehmenden Untersuchung der Wissen­schaft vom Menschen berücksichtigt werden muß. 

Unsere besten intuitiven Diagnostiker die Dichter haben immer wieder darauf hingewiesen, daß der Mensch geisteskrank ist und es von jeher war, doch Anthropologen, Psychiater und Evolutionsforscher nehmen Dichter nicht ernst und ignorieren weiterhin die Indizien, die ihnen ins Gesicht starren. 


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Natürlich ist schon diese mangelnde Bereitschaft, der Realität ins Auge zu sehen, ein unheilvolles Symptom. Nun wäre zwar der Einwand möglich, von einem Geisteskranken sei nicht zu erwarten, daß er sich seiner Geisteskrankheit bewußt ist. Die Antwort lautet jedoch, daß er sich ihrer sehr wohl bewußt sein könnte, weil er nicht die ganze Zeit vollkommen geisteskrank ist. Schizophrene haben in ihren Remissionsperioden erstaunlich scharfsinnige Berichte über ihre Krankheit geschrieben.

*

Ich will nun versuchen, einige der auffälligsten pathologischen Symptome zusammenzustellen, wie sie sich in der verhängnisvollen Geschichte unserer Spezies widerspiegeln, um abschließend ihre denkbaren Ursachen zu diskutieren. Ich habe die Liste der Symptome auf vier Hauptpunkte beschränkt.3

1.  
In einem der ersten Kapitel der Genesis gibt es eine Episode, die zu vielen großartigen Gemälden angeregt hat. Es handelt sich um die Szene, in der Abraham seinen Sohn aus purer Gottesliebe auf einem Holzstoß festbindet und Vorbereitungen trifft, ihm die Kehle zu durchschneiden und ihn zu verbrennen. Seit den Anfängen der Geschichte stehen wir vor einem verblüffenden Phänomen, das Anthropologen bisher viel zu wenig beachtet haben: Menschenopfer, das rituelle Töten von Kindern, Jungfrauen und Helden,* um Götter zu besänftigen und Göttern zu schmeicheln, jenen Hervor­bringungen furchtbarer Alpträume. 

*d-2018: Heiden?

Es war ein überall anzutreffendes Ritual, das vom Morgengrauen der Vorgeschichte bis zum Höhepunkt der präkolumbischen Zivilisationen und in einigen Teilen der Erde bis zum Beginn unseres Jahrhunderts ausgeübt wurde. Von den Südseeinsulanern bis zu den skandinavischen Moorleuten, von den Etruskern bis zu den Azteken entwickelten sich diese Bräuche unabhängig voneinander bei den unterschiedlichsten Kulturen als Ausdruck einer wahnhaften Tendenz der menschlichen Psyche, für die offenbar die gesamte Spezies anfällig war und ist. 

Die Sache als ein gespenstisches Kuriosum vergangener Zeiten abzutun, wie es gewöhnlich geschieht, heißt die Universalität des Phänomens ignorieren und die Hinweise übersehen, die es für den paranoiden Zug in den geistigen Anlagen des Menschen und dessen Bedeutung für sein Schicksal liefert.


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2.   
Der Homo sapiens ist praktisch einzigartig im Reich der Lebewesen, was das Fehlen instinktiver Schutzvorkehrungen gegen das Töten von Artgenossen betrifft. Das »Gesetz des Dschungels« kennt nur ein legitimes Motiv zum Töten: den Nahrungstrieb, und auch dann nur, wenn Räuber und Beute zu verschiedenen Arten gehören. Innerhalb derselben Spezies werden Rivalität und Konflikte zwischen einzelnen oder Gruppen durch symbolische Drohgebärden oder ritualisierte Duelle geregelt, die mit der Flucht oder Unterwerfungsgeste eines Widersachers enden und fast nie zu tödlichen Verletzungen führen.

Die hemmenden Kräfte instinktiven Tabus gegen das Töten oder tödliche Verwunden von Artgenossen sind bei den meisten Tieren einschließlich der Primaten genauso stark wie die Triebe Hunger, Sexualität oder Furcht. Der Mensch steht (abgesehen von einigen umstrittenen Beobachtungen bei Ratten und Ameisen) allein auf weiter Flur, was das spontane oder organisierte Morden von einzelnen oder Gruppen der eigenen Art aus Motiven angeht, die von sexueller Eifersucht bis zu Spitzfindigkeiten über metaphysische Lehren reichen. Intraspezifischer Dauerkrieg ist ein Hauptmerkmal der conditio humana. Er wird durch die verschiedensten Praktiken des Folterns, von der Kreuzigung bis zu Elektroschocks, ergänzt.4)

3.   
Das dritte Symptom ist eng mit den beiden zuvor genannten verknüpft: Es manifestiert sich in der chronischen, fast schizophrenen Spaltung zwischen Vernunft und Emotion, zwischen den rationalen Fähigkeiten des Menschen und seinen irrationalen, affektgebundenen Überzeugungen.

4.  
Schließlich gibt es noch die bereits erwähnte auffallende Diskrepanz zwischen den Wachstumskurven der Wissenschaft und Technologie einerseits und des ethischen Verhaltens andererseits; oder, um es anders zu sagen, zwischen der Macht des Intellekts, wenn es darum geht, die Umwelt in den Griff zu bekommen, und seinem Unvermögen, harmonische Beziehungen innerhalb der Familie, der Nation und der Menschheit insgesamt aufrechtzuerhalten. 

Vor ungefähr zweieinhalb Jahrtausenden, im 6. Jahrhundert v.Chr. leiteten die Griechen jenes wissenschaftliche Abenteuer ein, das uns schließlich zum Mond führte zweifellos eine eindrucksvolle Wachstumskurve. 


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Aber das 6. Jahrhundert v. Chr. sah auch den Aufstieg des Taoismus, Konfuzianismus, Buddhismus, während das 20. Jahrhundert den Aufstieg des Hitlerismus, Stalinismus und Maoismus erlebte in diesem Bereich ist keine Wachstumskurve zu erkennen. Der Biologe Ludwig von Bertalanffy hat es so ausgedrückt:

»Was man allgemein als menschlichen Fortschritt bezeichnet, ist eine rein intellektuelle Angelegen­heit... Im moralischen Bereich dagegen zeichnet sich keine besondere Entwicklung ab. Es erscheint zumindest zweifelhaft, ob die Methoden der modernen Kriegführung den großen Steinen vorzuziehen sind, mit denen der Neandertaler seinem mißliebigen Nachbarn den Schädel einschlug. Es läßt sich nicht leugnen, daß der moralische Standard von Laotse und Buddha dem unsrigen keinesfalls unterlegen war. 

Der menschliche Cortex enthält etwa zehn Milliarden Neuronen, die den Fortschritt von der Steinaxt zum Flugzeug und zur Atombombe von der primitiven Mythologie bis zur Quantentheorie ermöglicht haben. Im Bereich unserer Instinkte gibt es aber keine vergleichbare Entwicklung, die den Menschen zu einer moralischen Besserung antriebe. Aus diesem Grund haben sich auch die Moralpredigten, die durch die Jahrhunderte hindurch der Menschheit von Religionsgründern und edlen Führern vorgesetzt wurden, als bemerkenswert unwirksam erwiesen.«5

 

Die Liste der Symptome ließe sich erweitern. Ich denke jedoch, daß die erwähnten das Dilemma des Menschen deutlich genug in Erscheinung treten lassen. Die Symptome sind natürlich voneinander abhängig; so könnte man Menschenopfer als eine Auswirkung der schizophrenen Spaltung zwischen Vernunft und Emotion betrachten und den Unterschied zwischen den Wachstumskurven der technologischen und der moralischen Leistung als weitere Folge davon sehen.


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Bisher haben wir uns im Bereich der Fakten bewegt, die von historischen Zeugnissen und anthropolog­ischen Forschungsergebnissen über die Vorgeschichte belegt werden. Wenn wir uns nun von den Symptomen abwenden, um die Ursachen zu behandeln, müssen wir auf mehr oder weniger spekulative Hypothesen zurückgreifen, die miteinander in Beziehung stehen, aber aus verschiedenen Disziplinen stammen, nämlich aus der Neurophysiologie, der Anthropologie und der Psychologie.

Die neurophysiologische Hypothese leitet sich von der sogenannten <Papez-MacLean-Theorie> der Emotionen ab, die durch das Ergebnis von etwa dreißig Jahren experimenteller Forschung gestützt wird.6) Ich habe in <Das Gespenst in der Maschine> ausführlich darüber gesprochen und werde mich an dieser Stelle mit einer zusammenfassenden Darstellung begnügen, ohne in die physiologischen Einzelheiten zu gehen.

Die Theorie beruht auf den grundlegenden anatomischen und funktionalen Unterschieden zwischen den archaischen Gehirnstrukturen, die der Mensch mit den Reptilien und niederen Säugetieren gemeinsam hat, und dem spezifisch menschlichen Neocortex, den die Evolution darübergestülpt hat ohne jedoch sicherzustellen, daß beide richtig koordiniert sind. Die Folge dieses evolutionären Versehens ist eine gespannte Koexistenz mit häufigen, eruptiv sich entladenden Konflikten zwischen den frühen Strukturen des Gehirns den Zentren vor allem des instinktmäßigen und emotionalen Verhaltens und dem Neocortex, dem der Mensch die Sprache, die Logik und das Denken in Symbolen verdankt. 

MacLean hat den daraus resultierenden Stand der Dinge in einem wissenschaftlichen Aufsatz ungewöhnlich anschaulich beschrieben:

»Der Mensch befindet sich in der mißlichen Lage, daß die Natur ihn im Prinzip mit drei Gehirnen aus­gestattet hat, die trotz erheblicher Struktur­unterschiede gemeinsam funktionieren und sich miteinander verständigen müssen. Das älteste dieser Gehirne stammt im wesentlichen aus der Reptilienphase. Das zweite hat er von den niederen Säugetieren geerbt, und das dritte hat sich in der späten Säugetierphase entwickelt; ..... dieses hat den Menschen erst zu dem gemacht, was er heute ist. In metaphorischer Form könnte man die drei Gehirne in dem einen Gehirn so erklären: Wenn ein Psychiater seinen Patienten auffordert, sich auf die Couch zu legen, dann verlangt er von ihm, sich neben einem Pferd und einem Krokodil auszustrecken.«7

Wenn wir den Patienten durch die Menschheit insgesamt und die Couch des Psychiaters durch die Bühne der Geschichte ersetzen, erhalten wir ein groteskes, aber im wesentlichen zutreffendes Bild von der Situation des Menschen. In einer neueren Reihe von neurophysiologischen Abhandlungen hat MacLean einen anderen Vergleich gebracht:

»Man könnte sich diese drei Gehirne auch als drei biologische Computer vorstellen, von denen jeder seine individuelle Form der Subjektivität und seine individuelle Intelligenz, seinen eigenen Sinn für Zeit und Raum, sein eigenes Gedächtnis, seinen individuellen Antrieb und seine individuellen anderen Funktionen hat.«8

Das »reptilische Gehirn« und das »Paläosäugetier-Gehirn« bilden zusammen das sogenannte limbische System, das man der Einfachheit halber als »Althirn« bezeichnen kann, im Gegensatz zum Neocortex, der spezifisch menschlichen »Denkhaube«. Während jedoch die vorsintflutlichen Strukturen im Zentrum unseres Gehirns, die die Instinkte, Leidenschaften und biologischen Triebe steuern, von den flinken Händen der Evolution kaum berührt wurden, vergrößerte sich der Neocortex der Hominiden in den letzten fünfhunderttausend Jahren mit einer geradezu explosionsartigen Geschwindigkeit, die in der Geschichte der Evolution ohnegleichen ist manche Anatomen haben den Vorgang mit dem rapiden Wachstum eines Tumors verglichen.

Es scheint, als sei diese Gehirnexplosion in der zweiten Hälfte des Pleistozäns (also vor etwa einer halben Million Jahre) auf der Bahn jener Exponential­kurven verlaufen, die uns in jüngster Zeit so vertraut geworden sind Bevölkerungsexplosion, Informationsexplosion usw. , und vielleicht liegt hier mehr als nur eine oberflächliche Analogie vor, denn alle diese Kurven zeigen den beschleunigten Ablauf der Geschichte an. Explosionen haben nun einmal keine harmonischen Ergebnisse, und in diesem Fall war das Ergebnis offenbar, daß die Denkhaube, die sich so rasant entwickelte und dem Menschen seinen Verstand bescherte, mit den älteren emotionsgebundenen Strukturen nicht richtig verbunden und koordiniert wurde. Die Nervenbahnen zwischen den archaischen Strukturen des Stammhirns und dem Neocortex sind anscheinend unzulänglich.


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So ließ das explosive Gehirnwachstum eine geistig unausgeglichene Spezies entstehen, bei der sich altes Gehirn und neues Gehirn, Gefühl und Intellekt, Glaube und Vernunft in den Haaren liegen. Auf der einen Seite der blasse Abdruck rationalen Denkens, eine an einem dünnen, allzu leicht reißenden Faden hängenden Logik; auf der anderen Seite das angeborene Ungestüm leidenschaftlich vertretener irrationaler Glaubenssätze, das sich in den Massenmorden der Vergangenheit und der Gegenwart austobt.

Hätten die neurophysiologischen Indizien uns nicht das Gegenteil bewiesen, wäre zu erwarten gewesen, daß sich das primitive alte Gehirn im Verlauf der Evolution allmählich zu einem komplizierteren Instrument entwickelt hätte wie die Kiemen in die Lunge oder die Vordergliedmaßen des Reptilvorfahren in die Flügel des Vogels, die Flossen des Wals, die Hände des Menschen verwandelt wurden. Statt jedoch das alte Gehirn in ein neues umzuwandeln, gab die Evolution sich damit zufrieden, der alten Struktur einfach eine neue, differenziertere Struktur aufzupfropfen, ohne Funktionsüberschneidungen zu verhindern und ohne das neue Gehirn mit eindeutigen Kontrollbefugnissen über das alte auszustatten.

Kraß ausgedrückt: Die Evolution hat ein paar Schrauben zwischen dem Neocortex und dem Hypothalamus locker gelassen. Für diese endemische Unzulänglichkeit im Nervensystem des Menschen prägte MacLean den Terminus Schizophysiologie. Er definierte sie als

»eine Dichotomie in der Funktionsweise des phylogenetisch älteren und des neueren Cortex, die der Grund für den Kontrast zwischen emotionalem und verstandesmäßigem Verhalten sein könnte. Während unsere intellektuellen Funktionen sich im jüngsten und am höchsten entwickelten Teil des Gehirns abspielen, wird unser affektives Verhalten weiterhin von einem relativ undifferenzierten und primitiven System, von archaischen Strukturen im Gehirn gesteuert, deren Grundmuster sich im gesamten Verlauf der Evolution von der Maus bis zum Menschen nur wenig verändert.«(9)


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Die Hypothese, diese Art von Schizophysiologie gehöre zu unserem genetischen Erbteil, sei gleichsam in die Spezies eingebaut, könnte die zuvor erwähnten Krankheitssymptome weitgehend erklären. Der chronische Konflikt zwischen rationalem Denken und irrationalem Glauben, der daraus resultierende paranoide Zug in unserer Geschichte, der Kontrast zwischen den Wachstumskurven der Wissenschaft einerseits und der Ethik andererseits, ließe sich endlich erklären und physiologisch ausdrücken. 

Und jedes Leiden, das sich physiologisch ausdrücken läßt, sollte letzten Endes auf Heilmittel ansprechen worauf ich später zu sprechen kommen werde. Im Augenblick mag der Hinweis genügen, daß der evolutionäre Fehler, der die schizophysiologische Veranlagung des Menschen entstehen ließ, mit der schnellen, fast brutalen Aufpfropfung (statt Umwandlung) des Neocortex auf die älteren Strukturen, begonnen hat, wodurch es zu der ungenügenden Koordinierung zwischen dem neuen und dem alten Gehirn und der unzulänglichen Kontrolle des ersteren über das letztere kam.

 

Ehe wir diesen Abschnitt beschließen, sollten wir noch einmal betonen, daß die Annahme, das angeborene Rüstzeug des Menschen sei dem vieler Tierarten zwar überlegen, enthalte aber irgendeinen schwerwiegenden Fehler im Schaltkreis des Nervensystems, jenem kostbarsten und empfindlichsten aller Instrumente, für den Evolutionsforscher nichts Unwahrscheinliches hat. Wenn der Biologe von »evolutionären Schnitzern« spricht, wirft er der Evolution nicht etwa vor, sie habe es nicht geschafft, ein theoretisches Ideal zu erreichen, sondern er spielt auf eine ganz bestimmte, einfache Tatsache an: auf eine offensichtlich von den naturgegebenen Normen der technischen Leistungsfähigkeit abweichende Erscheinung, die ein Organ seines wirksamen Einsatzes beraubt — man denke an das monströse Geweih des inzwischen ausgestorbenen irischen Elchs. 

Schildkröten und Käfer werden durch ihren Panzer gut geschützt, aber er macht sie so toplastig, daß sie sich nicht mehr mit eigener Kraft umdrehen können, wenn sie beim Kampf oder infolge eines Mißgeschicks auf dem Rücken zu liegen kommen; sie müssen deshalb verhungern, ein grotesker Konstruktions­fehler. Kafka sah darin einen symbolischen Ausdruck für das Schicksal des Menschen.10)


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Die größten Fehler traten jedoch bei der Evolution der verschiedenen Gehirnarten auf. So entwickelte sich das Gehirn der Wirbellosen um die Speiseröhre herum, so daß diese bei der Vergrößerung und Weiterentwicklung der Nervenmasse immer mehr zusammengedrückt werden mußte (was zum Beispiel den Spinnen und Skorpionen widerfuhr: sie können durch Schlund und Speiseröhre nur Flüßigkeiten aufnehmen und sind zu Blutsaugern geworden). In seinem Werk The Origin of Vertebrates (»Der Ursprung der Wirbeltiere«) erklärt der englische Physiologe Walter H. Gaskell dazu:

»Zur Zeit der ersten Wirbeltiere führte die Evolution der Gliederfüßler wegen der Art, wie das Gehirn von der Speiseröhre durchbohrt wurde, zu einem tragischen Dilemma: Entweder hatte das Tier die Fähigkeit, die Nahrung zu verdauen, aber nicht die Intelligenz, sie zu erbeuten; oder es hatte die Intelligenz, sie zu erbeuten, aber nicht die Fähigkeit, sie zu verdauen.«(11)  

Und Wood Jones, ein anderer großer Naturwissenschaftler, meint:

»Hier ist also der Weiterentwicklung des Gehirns bei den Wirbellosen ein Schlußpunkt gesetzt..... Die Wirbellosen begingen einen fatalen Fehler, als sie begannen, ihr Gehirn rings um die Speiseröhre zu entwickeln. Ihr Versuch, ein großes Gehirn zu erwerben, mißlang ... Es mußte ein neuer Anfang gemacht werden.«(12)  

Der neue Anfang wurde von den Wirbeltieren gemacht. Eine der Hauptordnungen der Wirbeltiere, die australischen Marsupialier oder Beuteltiere (die ihre Embryos im Gegensatz zu uns Plazentaliern in Beuteln tragen), landete in einer neuen Sackgasse. Ihrem Gehirn fehlt ein wichtiger Bestandteil, das Corpus callosum (der Balken), ein ausgeprägter Nerventrakt, der bei plazentalen Säugetieren die rechte mit der linken Gehirnhemisphäre verbindet.13)  

Die neuere Gehirnforschung hat inzwischen eine grundlegende funktionale Trennung zwischen den beiden Gehirnhemisphären nachgewiesen, die einander ergänzen wie Yin und Yang. Die beiden Hemisphären müssen offenbar zusammenarbeiten, damit das Tier (oder der Mensch) seine Möglichkeiten voll ausschöpfen kann. 


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Das Fehlen des Corpus callosum läuft also auf eine unzulängliche Koordinierung zwischen den beiden Hälften des Gehirns hinaus eine Tatsache, die verdächtig bekannt klingt. Sie trägt vielleicht die Hauptverantwortung dafür, daß die Evolution bei den Marsupialiern zwar viele Arten hervorgebracht hat, die ihren plazentalen Vettern verblüffend ähnlich sind, dann aber beim Koalabär auf der evolutionären Leiter steckenblieb.

Ich werde später noch einmal auf das faszinierende und zu unrecht vernachlässigte Thema »Beuteltiere« zu sprechen kommen. In diesem Zusammenhang hier sollen uns die Beuteltiere und die Gliederfüßler nur nachdenklich stimmen und es uns etwas leichter machen, die Möglichkeit zu akzeptieren, daß vielleicht auch der Homo sapiens das Opfer einer fehlerhaften Gehirnkonstruktion ist. 

Wir haben zum Glück ein ausgeprägtes Corpus callosum, das die linke und die rechte Gehirnhälfte horizontal integriert; aber in der vertikalen Richtung, von der Region des begrifflichen Denkens bis zu den dumpfen Tiefen des Instinkts und der Leidenschaft, steht es nicht so gut. Die Befunde aus dem physiologischen Laboratorium, die tragischen Annalen der Geschichte und die banalen Anomalien unseres täglichen Verhaltens führen alle zu derselben Schlußfolgerung. 

 

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Es gibt noch einen anderen Ansatzpunkt, über die mißliche Lage des Menschen nachzudenken: Das Kleinkind hat eine weit längere Periode der Hilflosigkeit und totalen Abhängigkeit von seinen Eltern durchzumachen als die Jungen irgendeiner anderen Spezies. Die Wiege ist ein ausbruchsichereres Gefängnis als der Beutel des Känguruhs.

Man könnte nun spekulieren, daß diese frühe Erfahrung der Abhängigkeit das ganze Leben hindurch nachwirkt und daß sie zumindest teilweise für die Bereitschaft des Menschen verantwortlich ist, sich der Autorität von Individuen oder Gruppen zu unterwerfen und durch Doktrinen und moralische Imperative beeinflussen zu lassen. Die Gehirnwäsche beginnt in der Wiege.


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Ein Hypnotiseur suggeriert seinem Patienten zunächst, daß er sich seinen Suggestionen öffnen soll. Der Patient wird also konditioniert, für Konditionierung empfänglich zu werden. Das hilflose Kleinkind ist einem ähnlichen Prozeß unterworfen. Es wird in einen willigen Empfänger vorgefaßter Meinungen verwandelt.14) So lange die Geschichte zurückreicht, entwickelten oder wählten die meisten Menschen das System von vorgefaßten Meinungen und Glaubenssätzen, für die sie zu leben und zu sterben bereit waren, nicht etwa selbst; sie wurden ihnen zugewiesen durch die zufälligen Gegebenheiten ihrer Geburt. 

Dulce et decorum est pro patria mori, süß und ehrenvoll ist es, für das Vaterland zu sterben, sagt das Sprichwort in welchem Vaterland einen der Storch auch absetzen mag. Bei der Entscheidung für einen Glauben, einen Sittenkodex, eine Weltanschauung, für ein Leben als eifernder christlicher Kreuzritter, als fanatischer, in den Heiligen Krieg ziehender Mohammedaner, als überzeugter Puritaner oder Royalist, spielte die kritische Vernunft bestenfalls eine untergeordnete Rolle. Die zahlreichen Katastrophen in der Geschichte des Menschen gehen vor allem auf seine exzessive Fähigkeit und sein brennendes Verlangen zurück, sich mit einer Gruppe oder einer Nation, mit einer Kirche oder Sache zu identifizieren und deren Credo selbst dann unkritisch und begeistert zu übernehmen, wenn die betreffenden Dogmen aller Vernunft widersprechen, den eigenen Interessen schaden und dem Selbsterhaltungstrieb Hohn sprechen.

Dies führt uns zwangsläufig zu der altmodischen Schlußfolgerung, unsere Spezies leide nicht etwa an einem Übermaß an Aggression, sondern an einer übermäßigen Neigung zu fanatischer Hingabe. Schon ein flüchtiger Blick auf die Geschichte zeigt: Die Zahl der individuellen Morde, begangen aus selbst­süchtigen Motiven, spielt in der menschlichen Tragödie eine unbedeutende Rolle, verglichen mit der Zahl der Menschen, die aus selbstloser Loyalität gegenüber einem Stamm, einer Nation, einer Dynastie, einer Kirche oder einer politischen Ideologie hingemetzelt wurden ad majorem Dei gloriam. Abgesehen von wenigen Kriegen, die aus Gewinnsucht oder sadistischen Beweggründen ausgetragen wurden, wurde in Kriegen nicht etwa um persönlicher Vorteile willen gefochten, sondern weil man sich einem König, einem Land oder einer Sache verschrieben hatte.


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Mord aus persönlichen Motiven kommt in allen Kulturen, unsere eigene eingeschlossen, statistisch gesehen, selten vor. Das vorherrschende Phänomen in der Geschichte ist Mord aus selbstlosen Beweggründen, unter Einsatz des eigenen Lebens.

Hier muß ich zwei kurze polemische Bemerkungen einschieben.

Erstens: Als Freud ex cathedra verkündete, Kriege würden verursacht durch aufgestaute aggressive Instinkte auf der Suche nach einem Ventil, war man geneigt, ihm zu glauben, weil man sich schuldig fühlen konnte obgleich er nicht die Spur eines historischen oder psychologischen Beweises für seine Behauptung vorlegte. 

Wer je in einer Armee gedient hat, kann bezeugen, daß gegen den Feind gerichtete Aggressionsgefühle im trostlosen Einerlei des Krieges kaum eine Rolle spielen. Soldaten hassen nicht. Sie haben Angst, langweilen sich, hungern nach Sex und haben Heimweh; entweder sie kämpfen aus Resignation, weil sie keine andere Wahl haben, oder mit Begeisterung für König und Vaterland, die wahre Religion, die gerechte Sache nicht von Haß, sondern von Loyalität getrieben. Denn wie gesagt: Die Tragödie des Menschen liegt nicht in einem Übermaß an Aggression, sondern in einem Übermaß an Hingabebereitschaft.

Die zweite polemische Bemerkung richtet sich gegen eine andere Theorie, die in letzter Zeit bei den Anthropologen Anklang fand: der sogenannte »territoriale Imperativ«. Er besagt, daß der Ursprung der Kriege in dem Trieb einiger Tierarten liegt, ihr Land- oder Wasserrevier um jeden Preis zu verteidigen. Mich überzeugt diese Theorie nicht mehr als Freuds These. Die Kriege des Menschen wurden, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht um individuellen Besitz an Grund und Boden geführt. Tatsache ist, daß der Mann, der in den Krieg zieht, sein Haus verläßt, das es angeblich zu verteidigen gilt, und seine Waffen weit davon entfernt abfeuert. Was ihn dazu veranlaßt, ist nicht der biologische Trieb, seine eigenen Felder und Wiesen zu schützen, sondern seine Devotion gegenüber Symbolen, die ihre Kraft aus Stammeskulten, göttlichen Geboten oder politischen Schlagworten beziehen. 

Kriege werden nicht um Territorien geführt, sondern um Worte.


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Das bringt uns zum nächsten Punkt unserer Bestandsaufnahme der möglichen Ursachen der menschlichen Misere. Die tödlichste Waffe des Menschen ist die Sprache. Er ist für die hypnotische Wirkung von Schlagworten ebenso anfällig wie für ansteckende Krankheiten. 

Und bei einer Epidemie ist es dann die Gruppenmentalität, die zur Herrschaft gelangt. Sie gehorcht ihren eigenen Gesetzen, die sich von den Verhaltens­regeln des Individuums unterscheiden. Wenn sich ein Mensch mit einer Gruppe identifiziert, wird seine Fähigkeit zu vernünftigem Denken vermindert, seine Empfindungen und Leidenschaften aber durch so etwas wie eine Gefühlsresonanz oder positive Rückkoppelung intensiviert. Der einzelne ist kein Killer, die Gruppe ist es, und indem er sich mit ihr identifiziert, wird er in einen Killer verwandelt. Diese teuflische Dialektik spiegelt sich in der Geschichte von Kriegen, Verfolgungen und Völkermord. Und die hypnotische Macht des Wortes ist der Hauptkatalysator solcher Umwandlung.

Die Reden Adolf Hitlers waren seinerzeit die mächtigsten Triebkräfte der Zerstörung. Lange vor der Erfindung der Druckerpresse lösten die Worte von Allahs erwähltem Propheten eine emotionale Kettenreaktion aus, die die Welt von Mittelasien bis zur Atlantikküste erschütterte. Ohne Worte gäbe es keine Dichtung — und keinen Krieg. Die Sprache ist der wichtigste Faktor unserer Überlegenheit über unsere Brüder, die Tiere — und in Anbetracht ihres explosiven Gefühlspotentials eine ständige Bedrohung für unser Überleben.

Diese anscheinend paradoxe Feststellung wird durch neuere Freilandbeobachtungen japanischer Affen­gesell­schaften veranschaulicht, bei denen man festgestellt hat, daß verschiedene Horden einer Spezies überraschend unterschiedliche Gewohnheiten — man könnte fast sagen, verschiedene Kulturen — entwickeln können. So haben sich manche Horden angewöhnt, Kartoffeln vor dem Verzehr in einem Fluß zu waschen, andere tun dies nicht. Gelegentlich treffen umherziehende Gruppen von Kartoffelwäschern auf Nichtwäscher, und beide Gruppen beobachten das seltsame Verhalten der anderen mit offensichtlicher Verwirrung.


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Anders als die Bewohner von Liliput, die wegen der Frage, an welchem Ende das Ei von Rechts wegen aufgeklopft werden müsse, heilige Kriege führten, erklären die kartoffelwaschenden Affen ihren nicht waschenden Brüdern keineswegs den Krieg, denn die bedauernswerten Geschöpfe haben keine Sprache, die ihnen erlaubt, das Waschen zu einem göttlichen Gebot und den Verzehr ungewaschener Kartoffeln zu einer todeswürdigen Gotteslästerung zu erklären.

Der sicherste Weg, den Krieg abzuschaffen, wäre offensichtlich, die Sprache abzuschaffen. Jesus scheint das erkannt zu haben, denn er sagte: »Eure Rede aber sei: Ja, ja — nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel.« Und in gewissem Sinn hat die Menschheit schon vor langer Zeit tatsächlich auf die Sprache verzichtet, wenn wir unter Sprache eine Kommunikationsmethode für die gesamte Spezies verstehen. Der Turm von Babel ist ein zeitloses Symbol.

 

Andere Arten besitzen eine einzige, allgemeine Kommunikationsmethode — durch Zeichen, Laute oder das Absondern von Gerüchen —, die von allen Artgenossen beherrscht wird. Wenn ein Bernhardiner einem Pudel begegnet, verstehen sie einander ohne Dolmetscher, so verschieden sie auch aussehen. Der Homo sapiens dagegen ist in etwa dreitausend Sprachgruppen gespalten. Jede Sprache — und jeder Dialekt der betreffenden Sprache — wirkt als bindende Kraft innerhalb der Gruppe und als trennende Kraft zwischen Gruppen. 

Das ist einer der Gründe dafür, weshalb die trennenden Kräfte in unserer Geschichte so viel stärker sind als die verbindenden. Die Menschen weisen in ihrem Aussehen und Verhalten eine weit größere Vielfalt auf als jede andere Spezies (mit Ausnahme der Produkte künstlicher Züchtungen); und die Gabe der Sprache dient nicht etwa dazu, diese Unterschiede zu überbrücken, sondern errichtet weitere Schranken und betont den Gegensatz. 

Wir haben Nachrichtensatelliten, die Botschaften an die gesamte Bevölkerung des Planeten schicken könnten, aber keine lingua franca, keine globale Verkehrs­sprache, die sie allgemein verständlich machen würden. Sonderbar, daß mit Ausnahme einiger kühner Esperanto-Anhänger noch niemand, weder die UNESCO noch irgendeine andere internationale Organisation, darauf gekommen ist, daß der einfachste Weg zur Völkerverständigung dieser wäre, eine Sprache zu fördern, die von allen verstanden wird.


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Bertrand Russell erzählt in seinen <Unpopulären Betrachtungen> eine aufschlußreiche Anekdote:

»Der Gelehrte Frederick Myers, den der Spiritismus zum Glauben an ein Fortleben im Jenseits bekehrt hatte, fragte einmal eine Frau, die vor nicht langer Zeit ihre Tochter verloren hatte, was ihrer Ansicht nach aus der Seele des Mädchens geworden sei. Die Mutter antwortete: <Nun, ich hoffe zu Gott, daß sie die Freuden der ewigen Seligkeit genießt; aber ich wollte, Sie sprächen lieber nicht von so unerfreulichen Dingen.>«15

Der letzte Punkt auf meiner Liste der Faktoren, die für die Pathologie unserer Spezies verantwortlich sein könnten, ist die »Entdeckung des Todes«, oder vielmehr die Tatsache, daß der Intellekt sich mit ihm beschäftigt, während Instinkt und Gefühl ihn verdrängen. Darin äußert sich wiederum die Schizophrenie des menschlichen Geistes, der fortdauernde Widerspruch zwischen Glaube und Vernunft. Der Glaube ist der ältere und stärkere Partner. Im Konfliktfall ist die rationale Hälfte des menschlichen Geistes gezwungen, differenzierte rationale Erklärungen zu liefern, um das Entsetzen des älteren Partners vor der Leere zu beschwichtigen. 

Doch nicht nur die naive Vorstellung von den »Freuden der ewigen Seligkeit« (oder von den ewigen Qualen für die Bösen), sondern auch die subtileren metaphysischen Theorien vom Leben nach dem Tode werfen Probleme auf, die zu lösen jenseits unserer Verstandesgrenze zu liegen scheint. Vielleicht gibt es auf Planeten, die Millionen Jahre älter sind als unsere Erde, Millionen anderer Kulturen, für die der Tod kein Problem mehr ist. 

Tatsache aber bleibt, daß wir, um im Computerjargon zu sprechen, für diese Einsicht nicht »programmiert« sind. Vor eine Aufgabe gestellt, für die er nicht programmiert ist, schweigt ein Computer entweder, oder er spielt verrückt. Letzteres scheint in den verschiedensten Kulturen mit beklemmender Regel­mäßig­keit geschehen zu sein.


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Ausgeliefert dem Paradoxon eines Bewußtseins, das aus pränataler Leere auftaucht und in postmortalem Dunkel wieder versinkt, lief der menschliche Verstand Amok. Er erfand ganze Heere von Geistern der Verstorbenen, von Göttern, Engeln und Teufeln, bis die Atmosphäre mit unsichtbaren Wesen gesättigt war bestenfalls launenhaften und unberechenbaren, meist aber böswilligen und rachsüchtigen Dämonen. Sie mußten verehrt, umschmeichelt und besänftigt werden durch ausgeklügelt grausame Rituale, durch Menschenopfer, Heilige Kriege oder Ketzerverbrennungen.

Fast zweitausend Jahre lang hegten Millionen ansonsten intelligenter Menschen die Überzeugung, daß jene überwiegende Mehrheit der Erdenbürger, die ihr Glaubensbekenntnis nicht mit ihnen teilte, nicht die gleichen Riten zelebrierte, auf Befehl eines liebenden Gottes für alle Ewigkeit in Flammen schmoren würde. Andere Kulturen hatten ähnlich gespenstische Phantasievorstellungen entwickelt — wiederum ein Beweis für die Allgegenwart der paranoiden Veranlagung des Menschen.

Doch auch dieses Ding hat zwei Seiten. 

Die Weigerung, an die Endgültigkeit des Todes zu glauben, ließ Pyramiden im Wüstensand entstehen, führte zu festgefügten ethischen Grundsätzen und wurde zum wichtigsten Inspirationsquell künstlerischer Schöpfungen. Gäbe es das Wort »Tod« in unserem Sprachschatz nicht, wären die großen Werke der Literatur nie geschrieben worden. Die Kreativität und die Pathologie des Menschen sind zwei Seiten derselben Medaille, geprägt in demselben evolutionären Münzstock.


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Um es zusammenzufassen: 

Alle Versuche, die verhängnisvolle Geschichte unserer Spezies zu diagnost­izieren, müssen vergeblich bleiben, wenn sie nicht die Möglichkeit einbeziehen, daß der Homo sapiens Opfer einer der zahllosen Fehler der Evolution ist.

Wie unter anderem das Beispiel der Gliederfüßler und Beuteltiere zeigt, kommen solche Fehler vor und können sich negativ auf die Gehirnentwicklung auswirken.

Ich habe einige der ins Auge fallenden Symptome der Geisteskrankheit aufgeführt, die für unsere Art endemisch zu sein scheint:  

1. die in grauer Vorzeit überall anzutreffenden Rituale des Menschenopfers; 

2. das hartnäckige Austragen intraspezifischer Kriege, die früher nur begrenzten Schaden anrichten konnten, heute jedoch den ganzen Planeten gefährden; 

3. die paranoide Spaltung zwischen rationalem Denken und irrationalem, auf Affekten beruhendem Glauben; 

4. der Gegensatz zwischen der Genialität der Menschheit bei der Unterwerfung der Natur und ihrer Unfähigkeit, mit ihren eigenen Problemen fertig zu werden symbolisiert durch die neue Grenze auf dem Mond und die Minenfelder quer durch Europa.

Es muß noch einmal betont werden, daß die anfangs geschilderten Symptome der Geistesgestörtheit, die unserer Spezies eigentümlich zu sein scheinen, in keiner anderen vorkommen. So erscheint es nur logisch, daß wir unsere Suche nach Erklärungen primär auf jene Attribute des Homo sapiens konzentrieren sollten, die ausschließlich für den Menschen gelten und in der übrigen Tierwelt nicht zu finden sind.

Doch wie zwingend diese Schlußfolgerung auch erscheinen mag, sie widerspricht dem heute vorherrsch­enden reduktionistischen Trend. Der »Reduktionismus« ist der philosophische Glaube daran, daß alle menschlichen Aktivitäten auf Verhaltensweisen niederer Tiere »reduziert«, das heißt, durch sie erklärt werden könnten, seien es nun Pawlows Hunde, Skinners Ratten und Tauben, die Graugänse von Lorenz oder der nackte Affe von Desmond Morris. Ferner der Glaube daran, daß diese Verhaltensweisen wiederum auf die physikalischen Gesetze der unbelebten Materie reduziert werden könnten.

Zweifellos verdanken wir Pawlow und Lorenz neue Erkenntnisse über das Wesen des Menschen — aber sie betreffen nur jene ziemlich elementaren, unspezifischen Eigenheiten unserer Natur, die wir mit Hunden, Ratten oder Gänsen gemeinsam haben, während die spezifischen und ausschließlich menschlichen Aspekte, die die Einzigartigkeit unserer Spezies ausmachen, unberücksichtigt bleiben.


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Da diese einmaligen Merkmale aber sowohl in der Kreativität als auch in der Pathologie des Menschen zum Ausdruck kommen, sind die Wissenschaftler der reduktionistischen Schule ebensowenig als kompetente Diagnostiker geeignet wie als Kunstkritiker.

Darum auch sind die Wissenschaftler so jämmerlich gescheitert bei ihrem Versuch, die Tragödie der Menschheit zu erklären. Wenn der Mensch wirklich ein Automat ist, so hat es keinen Zweck, ihm ein Stethoskop an die Brust zu drücken.

Also noch einmal: 

Wenn die Symptome unserer Pathologie artspezifisch, das heißt, ausschließlich menschlich sind, müssen die Erklärungen dafür auch ausschließlich in seinem Bereich gesucht werden. Zu dieser Schlußfolgerung hat nicht menschliche Hybris geführt, sondern die Indizienkette der Geschichte.

Die Diagnose-Ansätze, die ich skizziert habe, lauteten:

 

Jeder dieser Faktoren wird in späteren Kapiteln ausführlicher untersucht werden. Es scheint keine unmög­liche Aufgabe, diese pathogenen Erscheinungen zu neutralisieren. Gegen gewisse Arten schizophrener und manisch-depressiver Psychosen hat die Medizin Mittel gefunden. Es ist nicht mehr utopisch zu glauben, daß sie auch eine Kombination hilfreicher Enzyme entdecken wird, die dem Neocortex ein Veto gegen die Torheiten des archaischen Hirns ermöglichen, den krassen Fehler der Evolution korrigieren, die Emotionen mit der Vernunft in Einklang bringen und den Übergang vom Wahnsinnigen zum Menschen einleiten könnte.

Noch andere Wege warten darauf, erforscht zu werden, und bringen vielleicht Rettung in letzter Minute, voraus­gesetzt, die Botschaft des neuen Kalenders läßt uns die Dringlichkeit des Handelns bewußt werden — und vorausgesetzt, die Situation des Menschen wird, ausgehend von einem neuen Verständnis der Wissen­schaft vom Leben, richtig diagnostiziert.

Die folgenden Kapitel befassen sich mit einigen Aspekten dieses neuen Ansatzes, der in den letzten Jahren in den unfruchtbaren Wüsten der reduktion­istischen Philosophie zu sprießen begann. So werden wir nun die Pathologie des Menschen verlassen und uns von der Unordnung abwenden, um einen neuen Blick auf die biologische Ordnung und geistige Kreativität zu werfen. Manche der auf den vorigen Seiten erhobenen Fragen werden dabei wieder­aufgenommen werden — und sich schließlich, wie ich hoffe, in ein zusammen­hängendes Muster einfügen.

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