Freya Klier 

Abreiß-Kalender 

 

Ein deutsch-deutsches Tagebuch

 

 

1988 bei Kindler Verlag

1989 bei Knaur

1995 bei Knaur

 

 

   Mai 1981  

  

1988   300 Seiten

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Vorwort

 

Wozu ein Tagebuch? Der Übertritt ist erfolgt (freiwillig oder nicht, in den Westen fällt man weich), das Thema längst aus den Schlagzeilen. Wozu also ein Tagebuch?

Als ich drei Jahre alt bin, gehen meine Eltern tanzen. Fahren mit der Straßenbahn, hängen mit einer Traube junger Leute draußen auf dem Trittbrett der langsamen Dresdner Bimmel. Ein Mann springt auf und zerrt, um einen Fuß aufs Trittbrett zu kriegen, meine Mutter runter - sie fällt auf die Straße. Mein Vater, von cholerischem Temperament, drückt dem Ungehobelten die Faust ins Gesicht.

Der Vorgang - unwürdig, aber glimpflich ausgehend. Niemand ist verletzt. Trotzdem kommt mein Vater für ein Jahr ins Gefängnis: Der andere trug Uniform, war Polizist. Und somit hat mein Vater sich an der Staatsmacht vergriffen. Wir haben Dresden 1953. Meine Mutter, eine Arbeiterin, verliert die Kinder­gartenplätze für ihre beiden Kinder und wird strafversetzt ans Fließband im Zweischicht-System. Mein Bruder und ich kommen in ein Wochenheim - dort sind wir die Kinder eines Staatsfeindes. Ein Jahr, das uns prägt.

Und der Anfang eines langen Reibungsprozesses mit »unserer sozialistischen Heimat«, wie wir bald darauf in der Schule lernen. Er führt über Jungpioniere und Religionsunterricht, über FDJ und Junge Gemeinde, über Nietzsche und Karl Marx. Und er hat seinen verzweifelten Höhepunkt 1968. Ich beginne ein Schauspielstudium. Mein Bruder, gerade 18 Jahre alt, wird exemplarisch abgestraft: wegen »schwerer Staatsverleumdung« kommt er für vier Jahre ins Zuchthaus. Ich möchte raus aus diesem Land. Es gibt einen Kontakt zu einer sozialdemokratischen Theatertruppe in Schweden. Ich trete die Flucht an, sie scheitert. Mein Urteil fällt milde aus: 16 Monate.

Als ich entlassen werde - noch vor der Zeit -, falle ich nicht ins Leere, sondern in die gütigen Hände der Parteisekretärin unserer Theaterhochschule. Eine Altkommunistin. Sie macht sich die Mühe, den Ursachen meines Fluchtversuches auf den Grund zu gehen. Ich darf mein Studium noch einmal beginnen. Das passiert 1970, und es ist eine Ausnahme in der Deutschen Demokratischen Republik. Ich sehe darin ein Zeichen. Stürze mich mit neuem Eifer in dieses Land. Versuche nun, mit vielen anderen meiner Generation, endlich den Sozialismus aufzubauen.

Biographische Momente, ein winziges Stück DDR-Geschichte. Für uns verläuft sie anders als für unsere Eltern. Und sie hat ihre besonderen Perspektiven: Persönliche Erlebnisse und Erfahrungen überschneiden sich mit denen anderer Kinder aus der Aufbauzeit.

Dieses Tagebuch erzählt von den 80er Jahren. Von der anderen Seite der Mauer. Und von unserer Generation... ihren Hoffnungen, ihren Aufbrüchen - und ihren Abwanderungen. Die deutsche Geschichte, sie ist verzahnt. Im (noch immer) andauernden Wechsel von einem Teil Deutschlands zum anderen vermischen sich die Biographien.

Juli 1988,
F. K.

 

 

1987

7. November 

 

 

 

 

 

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