Viktor Kalinke

Asche

Die Antworten

des Tronje Wagenbrant  

2001 by Edition Erata Leipzig (Kalinke) 

 

»Vermag man wirklich, dem Leib die Ähnlichkeit zu dürrem Holz und der Seele die Empfindungslosigkeit von toter Asche zu geben?« 

Zhuangzi, 2. Kapitel 

 

2001  183 Seiten

Wikipedia.Autor  *1970 in Jena

DNB.Buch

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detopia:

K.htm  Aschebuch 

E.M. Remarque  Karl Kasser

Zur Datierung und Lokalisierung: Sein Geburtsjahr (1970) weist auf das Aschejahr 1988-89 hin. (detopia)

 

Viktor Kalinke: 


Psychologie-Studium, Gastaufenthalt an der Beijing Universität, Kreativitäts-Preis der Hans-Sauer-Stiftung und des Rektors der TU Dresden, Forschungsarbeit zur Hirnphysiologie in Trance, Roman <Asche; Die Antworten des Tronje Wagenbrant>, Lyrik, Übersetzung des Daodejing, Vortrag zum Daoismus-Symposium an der Universität Leipzig, Altchinesisch-Einführungs-Kurse an der Kunsthochschule Dresden sowie am Yin-Yang-Zentrum Leipzig.

Leserin aus Halle
"Ihr Roman fesselt mich mittlerweile, ich kann gar nicht mehr aufhören zu lesen, es ist wie ein Sog. Ich denke, es hat auch mit der Schreibweise zu tun, die Spannung erzeugt; und was kann sich ein Autor mehr wünschen? Viele Stellen haben mich berührt und der Inhalt beschäftigt mich noch." 

Holger Oertel, Verleger und Autor, in: Dresdner Neueste Nachrichten vom 25. 1. 1997
"Text. Erzählung nicht und kein Roman. Die Geschichte eines Erinnerns vielleicht, die um so schwerer wiegt, weil sie Fragen bereithält - Fragen, die den, der wirklich nach Antworten sucht, ein Grübeln bescheren können... Wir erkennen das Taumeln des Einzelnen inmitten der uniformierten Massenbewegung, und die Geschichte hat plötzlich ein Gesicht."

Volker Sielaff
"Der Autor schildert in seinem Roman, einer Montage aus fiktiven Tonbandprotokollen, den Weg eines jungen Mannes, der im Versuch, den Armeealltag zu durchbrechen, wahnsinnig wird. Der Held landet in der Psychiatrie, der Bericht wird zur Groteske."

 

Cornelia Marks:

Ein Interview ohne gestellte Fragen, ein Antwortenkarussel, um Fragen beim Leser aufzuwerfen, oder ein Selbstgespräch? Was will dieses Buch darstellen, dessen Untertitel keine hilfreichen Verweise trägt, etwa: Roman?

An der Form überrascht am meisten das Spiel mit der Identität. Erzähler, Autor und Protagonist scheinen keinen Pakt einzugehen. Der Autor hält sich völlig zurück - er verbirgt sich hinter der Betitelung "Herausgeber". Und er ist zugleich das Gegenüber, das vom Erzähler angesprochen wird, während Erzähler und Protagonist eine Person zu sein scheinen. Formal gesehen existieren drei Handlungsebenen: erstens die acht Verkörperungen des Ichleibs bis zur wundersamen Heilung; zweitens die Ebene der Erinnerungen an die Armeezeit in der NVA; drittens der Aufenthalt in der Nervenklinik. Das Spiel mit der Identität geht jedoch weiter, und genau genommen gibt es noch eine weitere Ebene: die des Märchens. Es tritt zweimal explizit auf, und wird auch als Märchen kenntlich gemacht: "Vogel Sing. Ein Märchen über Tronjes Kindheit" und "Das Heidelbeerbuch. Aufzeichnungen aus dem Reich der Leere und des Nichts". Dieses Land jedoch, das macht der Handlungsverlauf deutlich, ist das Gehirn Tronjes, des Patienten in der Nervenklinik, der sich kopflos wähnt, und der in der "Verkörperung des Ichleibs" phantastische Reisen durchs eigene physische Innere unternimmt. 

Und so läßt das Romangeflecht die unterschiedlichen Handlungsabläufe ineinander übergreifen, solange, bis sie am Ende zu einem einzigen Strang verschmolzen sind. Dann hört auch das Spiel mit der Identität auf. Es gibt Tronje, oder es gibt ihn nicht mehr. Was ist von ihm übriggeblieben? Was ist aus dem sensiblen, begabten Jungen geworden, der schon unter den Zwängen des Wehrlagers leidet, als bitteren Vorgeschmack auf die spätere Armeezeit? 

Was aus dem jungen Verliebten, der hin- und hergerissen zu sein scheint zwischen zwei Freundinnen, die wohl beide unterschiedliche Sehnsüchte in ihm verkörpern? Wohin ist sein rebellischer Geist entschwunden, und wohin der feine Sinn, der Hang zum Philosophieren? Aufmerksam beobachtet Tronje seine Umgebung, und er durchschaut mehr als seine Alters- und Leidensgenossen, was hinter der Machtfassade des Staates, durch die Armee-Hierarchie verkörpert, vor sich geht. Er leidet unter der Ausweglosigkeit seiner Situation und unter der Fremdbestimmtheit, die sich fortsetzt, als er ins Verrücktsein flüchtet. Zwar rettet ihn der Aufenthalt in der Nervenklinik vor der Armee, aber er bringt neuen seelischen und körperlichen Schmerz mit sich, und schließlich eine riskante Operation, bei der der behandelnde Professor, der am liebsten die ganze Menschheit von ihrer Lieblosigkeit erlösen will, experimentiert, um später den Nobelpreis für Medizin zu erlangen. Tronje wird zerstört. Kein Happy end, sondern ein Open end. Rätselhaft wie das ganze Buch.

Herausfordernd auch: der Leser ist gefordert, sich seine eigenen Gedanken zu machen, die Geschichte selbst weiterzuspinnen, genau wie er sich die Fragen, die Tronje gestellt wurden, im Nachhinein ausdenken kann. Der Roman bietet auf jeden Fall viele Anhaltspunkte. Natürlich handelt er von einem Einzelschicksal, und natürlich erfährt der Leser auf ironische Weise viel über das Leben eines Soldaten in der NVA. Es wird Kritik geübt am Umgang mit andersartigen oder sensiblen Menschen; Kritik daran, daß diese Verwirrten einfach nur in die Maschinerie der Leistungsgesellschaft zurückgeführt werden, meist durch Ruhigstellung mittels Medikamenten. Und doch weist der Roman über diesen Tellerrand hinaus. Es ist ein philosophischer Roman, in dem die Sinnlosigkeit jeder kriegspielenden Armee, nicht nur der NVA, symbolisch dargestellt wird, und in dem es, weit gefaßt, um den Traum von einer besseren Menschheit geht."

 

 

 

Vorbemerkung des Herausgebers

 

Kriege werden nicht von Präsidenten und Generälen geführt. Ohne unsere Ohnmacht, die Ohnmacht der Ausführenden und der Zuschauer, wären sie nicht möglich. Was ist es, das uns selbstverloren werden läßt? Es verführt uns, das kleinere, fühlbare Übel zu fürchten, über das große hinwegzublicken und aufzustehen. Als hätte uns ein flüchtiger Tritt nur beleidigt, gehen wir weiter und verlieren uns, jeder sich selbst, an selbstlose Herren. Uns ist nicht bewußt, in welchem Maße uns schon der gewöhnliche Dienst an Gefühl und Echtheit beraubt. Doch Tronje Wagenbrant fordert sich zum Duell, er meint es ernst und ist nicht ernst zu nehmen.

Mit diesen Sätzen wollte ich eine Reportage über Tronje Wagenbrant einleiten. Doch mein Vorhaben wurde von seinem Einspruch durchkreuzt, als ich sie ihm zu lesen gab. Man könne Situationen und Menschen nicht durch eine Zusammenfassung charakterisieren, mag sie prägnant oder pathetisch sein, meinte er. Damit das Lebendige in der Darstellung seine berührende Wirkung nicht einbüßt, habe ich mich entschlossen, soweit wie möglich Tronje Wagenbrant selbst zu Wort kommen zu lassen.

An fünf Abenden trafen wir uns in seiner Wohnung. Er schilderte mir auf wenige Fragen hin, was ihm widerfahren ist. In diesem Buch möchte ich seine Antworten mitteilen, die wenigen Einwürfe meinerseits aber nicht weiter berücksichtigen. Worum es sich gerade dreht, ist ohnehin aus dem Gang der Berichte ersichtlich. Sie wurden nur äußerst behutsam, zumeist von Tronje selbst, nach der Tonbandaufnahme überarbeitet. Mit der Zeit löste sich die gegenseitige Scheu. Tronje wandte sich mit eindringlichem Blick an mich und seine Erinnerungen brachen hervor, als wären sie frisch durchlebt. Auf diese Passagen wurde nicht verzichtet, obwohl sie stilistisch auffallen. Wörter, die Tronje mit ironischem Unterton äußerte, wurden von mir kursiv gesetzt. Weiterhin haben drei Texte Eingang gefunden, die Tronje mir zum vollständigeren Verständnis mitgegeben hat; sie sind im folgenden besonders gekennzeichnet.

Pfaffstadt, im Mai ..., V.K.

 


 

Abschied vom Ursprünglichen

 

8

Es war ein trüber Novembertag, der erste. Durch den breitkrempigen Lederhut, den ich trug, fiel ich unter den künftigen Soldaten auf, die den Sonderzug erwarteten. Kreischend bremste der Zug, schon nach kurzer Zeit riß uns der Pfiff einer dicken Schaffnerin von Mutter, Vater oder Freundin. Ich lüftete zum Abschied ein wenig den Hut, so daß mein Igel zum Vorschein kam, unter dem weißlich, von grünen Adern zerschnitten wie ein flacher Sumpf von Bächen, die Kopfhaut durchschimmerte. Mein Blick richtete sich auf ein kräftiges, dennoch schlankes Mädchen mit schulterlangen, dunkelblonden Haaren, Monique, die lässig an einem der Pfeiler lehnte, die das Bahnhofsdach stützten. Ich winkte ihr mit dem Hut, sie lächelte kurz, als sie meinen Kopf sah. Gestern noch hatte ich Haare, so lang wie ihre, vielleicht länger — die neue Zeit brach an.

Meine Freundin Elke hatte ich ebenfalls zum Abschied bestellt. Sie hockte wie ein Häufchen Unglück im Wartesaal, zerfressen von Sorgen, ob ich heil die Armee überstehen würde. Ich grinste sie an, sie erkannte mich nicht. Dabei hatte ich sie erst vorgestern eingeweiht, daß ich einige Zeit aus dem Leben verschwinde. Langsam lief ich an ihr vorbei und blickte ihr ins Gesicht.

Sie sah verheult aus. Im Vorbeigehen stieß ich Monique an, die gelangweilt fauchte. Ich gab ihr einen Kuß, den sie in die Länge dehnte. Dann pfiff die Schaffnerin ein zweites Mal. Ich entfernte Monique von meinem Mund, sagte „Tschüß", winkte im Umdrehen Elke zu, die mich erkannte, und stieg mit zwei bösen Blicken im Nacken und einem teils stolzen, teils unbehaglichen Gefühl in den Zug, fand keinen Platz mehr, setzte mich zwischen den scheppernden Waggons auf meinen Rucksack.

Noch ein Pfiff, Türenknallen, ein Ruck. Ich sah kurz Elke, die Monique anstarrte, welche bereits wieder gelangweilt am Pfeiler lehnte, und lächelte über mein Pendelspiel in den letzten Wochen, mein Jonglieren mit Elke und Monique, von dem ich endlich befreit war. Wehmut ergriff mich, dann Wut über diese Befreiung: Wieso hatte ich die Bälle von mir aus weggeworfen? Monique, dachte ich, bemerkt das Ausmaß an Verletzung nicht, das ich ihr zugefügt habe - aber Elke wird es schwer verkraften.

So fuhr ich zur Asche. Ein wütender Schrei, Füßeschurren, Rölpsen drangen aus dem Abteil, ich fühlte mich erleichtert. Es war die Sprache, an die ich mich gewöhnen müßte, glaubte ich, schloß die Augen, drückte meinen Rücken an eine hellgrüne Sprelacartwand. Ein dicklicher Junge mit kurzen strähnigen Haaren, Andreas, sah mich, stellte seinen Koffer ins Gepäcknetz und bot mir den freien Platz an. Als ich den Hut absetzte, bemerkte ich, daß sich Andreas fürchtete. Deshalb vielleicht begann er kein Gespräch. Ich wühlte aus meinem Rucksack einen Gedichtband hervor und tat etwas Sonderbares: Ich las darin, strich mir Zeilen an oder markierte sie mit Buntstiften. Um sie später wiederzufinden, sagte ich zu Andreas. In Wirklichkeit bildete ich mir ein, mich so tiefer mit den Texten zu beschäftigen. Irgendwann verschwammen die Zeichen in der Buchstabensuppe. Ich war nicht mehr fähig zu lesen. Ein Fettauge glotzte mich an. Immer wieder stießen die Verse in mir auf.

Der Zug zur Kaserne bummelte anfangs, nach und nach steigerte er sein Tempo und hielt es durch bis zum Ende. Als würde er einem Ziel folgen, das ihn anzieht und sich zugleich von ihm entfernt. Niemand stieg aus, es war ein Sonderzug. Ohne viel zu sehen, stierte ich aus dem Fenster. Die Landschaften glitten vorbei und standen still, dreckige Bahnhöfe mit verblaßten roten Transparenten wechselten einander ab. Die meisten Bäume waren kahl, graugrün lag das Land ausgestreckt wie ein hingeworfener Filzmantel. Die Sonne stand als grellgelbe Scheibe hinterm Dunst, welcher den Himmel wie eine Zuckerglasur überzog. Manchmal brach sich mein Blick in der Glastür, die so verschmutzt war, daß sie mich spiegelte. In der oberen Hälfte der Tür klebte ein Poster, auf dem ein Liebespaar dargestellt war, das sich unter einem Regenschirm umarmte. In den Pfützen schillerten Jugendstilfassaden. "Besuchen Sie Prag!" stand darunter.

9

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