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Reinhold W. Rausch (2005)

Buchbesprechung  zu  Siegried Petry und  Irene Behrmann 

Siegfried Petry: Erlebnisgedächtnis und Posttraumatische Störungen. Begleitetes Wiedererleben als Therapie. Pfeiffer, 1996

Irene Behrmann: Zurück ins Leben. Erfahrungen mit der ambulanten Regressionstherapie. Leutner, 2002

 

 

Glühbirne, Telefon und Computer — große Erfindungen haben viele Väter. Auch die Primärtherapie wurde mehr als einmal erfunden: auf zwei Bücher möchte ich hinweisen, die unter den Stichworten Wiedererleben und Regression über Zusammenhänge berichten, die jedem, der mit Primel mehr als Blumenbeet assoziiert, sehr bekannt vorkommen. Und auf eine Art ist das Buch von Siegried Petry vielleicht sogar ein ein Grundlagenwerk der Primärtherapie. 

Gegenstand seiner Schrift ist die Darstellung des eigentlichen Bezugspunktes und Objekts aller regressiv-therapeutischen Arbeit, das von ihm so genannte Erlebnisgedächtnis. Mit der Genauigkeit des Naturwissenschaftlers, der er ist, beschreibt Petry, in Abgrenzung und Unterscheidung zum kognitiv-sprachlichen Gedächtnis, von ihm und anderen beobachtete Eigenschaften und Merkmale einer Mensch und Tier gemeinsamen Gedächtnisinstanz für sinnliche Informationen. Sein Anliegen ist, eine erfahrungsgestützte Arbeitshypothese bezüglich dessen, was Erlebnisgedächtnis ist, zu entwickeln und dem psychotherapeutisch wirksamen Verfahren des heilenden " ... Wiedererlebens ein tragfähiges theoretisches Fundament zu geben" (S. 119).

Sein Vorgehen ist phänomenologisch. Er beobachtet ein mit allem Erleben untrennbar mitlaufendes ganzheitliches Erlebnislernen, ein "Lebensprotokoll", das zwanglos und im Prinzip vollständig Sinneswahrnehmungen, Körperzustände, Emotionen, Motorik und auch den jeweiligen kognitiven Zustand aufzeichnet. Erinnerung dieser Protokolle hat die Form des Wiedererlebens. Eine weitere von ihm beobachtete Eigenschaft seiner "Arbeitshypothese" Erlebnisgedächtnis ist "Generalisierung ... durch Verknüpfung ähnlicher Erfahrungen im Erlebnisgedächtnis zu einem immer empfindlicheren und daher effizienteren Frühwarnsystem ..." (S. 116) wodurch es zu den bekannten posttraumatischen Überreaktionen kommen kann.

Diese Beobachtungen stützt er mit Bezugnahme auf die Ergebnisse der klassischen Konditionierungs­forschung - und diese erhellend - ab. Er entwickelt Erlebnisgedächtnis als ein im Tierreich ubiquitäres Phänomen, das im Menschen, kulturell gefördert, von kognitiven Gedächtnisfunktionen nur überlagert wird. 

So kann er zeigen, dass Erlebnisgedächtnis als eigenständiger Gegenstandsbereich jeder regressiven/primären Traumatherapie existiert; welche Eigenschaften es auszeichnen und wie, darauf Bezug nehmend, heilendes systematisches Wiedererleben möglich ist.

 

Seine Arbeit mit Trauma-Patienten, über die er in Fallbeispielen berichtet, zeigt, wie Traumata im weitesten Sinne mit der ganzen, ursprünglich vorhandenen sinnlichen Schärfe und emotionalen Ladung wiedererlebt werden können, und dass dieses Wiedererleben heilt. Sein besonderes Vorgehen dabei ist, ein und dasselbe traumatische Erleben in einer Sitzung mehrfach wiedererleben zu lassen. Seiner knapp zwanzigjährigen Erfahrung mit Trauma- Opfern zufolge bewirkt dies, dass dadurch das Gedächtnisprotokoll im Erlebnisgedächtnis gelöscht wird. Dadurch verschwinden zugleich die angstbesetzten und Vermeidungsverhalten steuernden Symptome. Zurück bleibt ein, typischer weise mit bis dahin "vergessenen" Erinnerungsdetails bereichertes, kognitives Erinnern, ohne aber noch die zuvor gespeicherte emotionale Aufladung zu besitzen.

Das Buch, weit entfernt in ähnlicher Weise die Feinverästelungen der Techniken regressiv-psycho­thera­peutischen Arbeitens zu entwickeln, trifft sich doch mit dem Werk Paul Vereshacks in seinem erfahrungsgestützt kompromisslosen Vertrauen auf die allein heilende Wirkung des Wiedererlebens. Die von Petry beobachteten Ergebnisse von Wiedererlebensprozessen sind den in der Primärtherapie- Literatur beschriebenen und mir teilweise selbst geläufigen vergleichbar: Körpererinnerungen, prä- und perinatales Wiedererleben, Erinnerung an Erleben bei Operationen, Symptomlöschung und oft auch spirituelles Erwachen sind ihm aus praktischer Anschauung vertraut. Dem von der Primärtherapie herkommenden Leser illustrieren sie Petrys tatsächlich eigenständig und unabhängig von Janov entwickelte Vertrautheit mit dem Primärprozess. Durch Erfahrung und Theorie diese im Kern bestätigend und an sie heranführend wurde absichtslos so ein empfehlenswerter Klassiker der Primal-Literatur geschrieben.

 

 

Auch Irene Behrmann hat ein für die Regressionstherapie im deutschsprachigen Raum wichtiges Buch geschrieben. In ihrer Schrift geht es darum, zu zeigen, wie Trauma- Opfern dabei geholfen werden kann, durch Regression und Wiedererinnern an die Quellen der Heilung in sich selbst anzuschließen. Weniger theoretisch ambitioniert wie das Werk Petrys geht es ihr mehr um die Darstellung ihres jedoch prinzipiell identischen regressiv- therapeutischen Verfahrens und um die Heranführung von Professionellen und Laien an diese Art therapeutischer Arbeit mit Klienten. Noch immer löst ja die Selbst-Unmittelbarkeit der Regression bei Interessierten Unverständnis und Ängste aus und bedarf der Erläuterung. Dies leistet die Autorin durch eine einfühlsame und gut zu lesende Darstellung der sozialen Einbettung allen Lebens und Lernens, des vorausgesetzten Menschenbilds ihrer Arbeit, des therapeutischen Verfahrens der Regression sowie nicht zuletzt durch tonbandprotokollierte Aufzeichnungen von ihr beleiteter "Liegungen".

Wie Siegfried Petry kommt Irene Behrmann von der Gestalttherapie her, wobei sie in ihrer Schrift aber auf die bekannten Vorläufer ihrer Arbeit wie Janov, Stettbacher und Hollweg ausdrücklich Bezug nimmt.

Ihr Buch schildert wie traumatisierende Erfahrungen im Körper, in den Emotionen und im Geist Spuren hinterlassen und wie zugleich diese drei Ebenen Zugangswege zu verdrängten Eindrücken in therapeutischem Wiedererleben bieten. Wenn vielleicht gelegentlich der Symptom- Erinnerungszusammenhang allzu linear dargestellt ist, so hat doch ihre Einführung in diese Art psychotherapeutischer Trauma- Aufarbeitung den Vorteil größtmöglicher Anschaulichkeit.

Gefallen hat mir insbesondere auch ihr Verstehen der immanenten Ängstlichkeit der im weitesten Sinn Traumatisierten, sich auf Wiedererleben einzulassen. Der Schutz- und Stützfunktion von Abwehrhaltungen kommt in ihrer Darstellung der angemessen breite Raum zu und sie erinnert wiederholt an die Geduld, die der Klient ebenso wie sein Begleiter aufbringen müssen, um einerseits Wiedererleben zu ermöglichen und andererseits jegliche Re- Traumatisierung durch das therapeutische Wiedererleben zu verhindern. Ihre emphatische Klientenzentrierung kommt auch in einem eigen Kapitel "Arbeitsbeziehung zwischen Klient/in und Therapeut/in" zum Ausdruck