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Teil II   Leben im Mutterleib, Erinnerung und Imprint  

 

 

Die Einprägung der Erinnerung  

 

In diesem Werk verwende ich durchgehend den Begriff Imprinting ((Einprägung, Prägung)) um zu beschreiben, wie Ereignisse dem Nervensystem dauerhaft eingeprägt werden und wie die Auswirkungen überall im übrigen Körper zu spüren sind. Aktivierende Chemikalien wie die Katecholamine, einschließlich Dopamin, liefern den „Klebstoff" für die Einprägung. Strukturen des Limbischen Systems und des Hirnstamms, in die frühe Traumen eingeprägt werden, sind reich an Dopamin, besonders wenn sich die rechte Hemisphäre mit tiefer gelegenen Strukturen verbindet. Der locus caeruleus, eine Struktur des Hirnstamms, ist eine dieser Strukturen. Das Gehirn benötigt Dopamin für synaptisches Wachstum. Ein Mangel an diesem Hormon bewirkt, dass das Gehirn weniger fähig ist, gewisse Aufgaben wie Erinnerung, motorische Fertigkeiten und Koordination zu bewältigen. Großer Stress über einen längeren Zeitraum scheint Dopaminzellen "ausbrennen" zu lassen.

Die Einprägung kann jederzeit nach den ersten paar Monaten der Schwangerschaft stattfinden, wenn das Nervensystem des Fetus noch ziemlich unversehrt ist. Es geschieht primär während der kritischen Periode, wenn sich die Nervenzellen des Gehirns in hohem Tempo entwickeln und bestimmte Bedürfnisse erfüllt werden müssen. Die Einprägung verursacht tiefgreifende Veränderungen in vielen vitalen Systemen, von der Herzfrequenz bis zum Blutdruck, von der Körpertemperatur bis zur Sekretion schmerzstillender Gehirnchemikalien wie Serotonin. Es ist möglich, dass man im Mutterleib unter Schmerz steht, und dass dieser Schmerz für immer als einzelne Erinnerung deponiert wird. Der Fetus macht Bewegungen, als wolle er schreien, er kann zucken und im Falle eines Angriffs das Gesicht verziehen.

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Die zentrale, am Lebensanfang eingeprägte Erfahrung strahlt aus und umfasst alle Arten von Reaktionen, viszerale, muskuläre, vaskuläre, etc. Die Einprägung ist das Ergebnis des „Urknalls", der vielleicht um die Zeit der Geburt oder vorher geschah. Im Alter von vierzig können wir die Nackenspannung messen und die Pegel von Stresshormonen, und wir finden die Auswirkungen jener schmerzhaften Explosion. Wir sehen die Resultate Jahre später in Blutgefäßproblemen oder viszeralen Reaktionen, wie der Sekretion von Magensäure. 

Wir können die weitgestreuten Begleiterscheinungen der Explosion behandeln; physische Manipulation von Kieferspannung, zum Beispiel, aber diese Folgen zu behandeln bedeutet, dass der Körper ein anderes Ventil finden wird, da sich die explosive Kraft noch immer im Kern des Systems befindet. Wenn der frühe Urknall (das Haupttrauma) wiedererlebt wird, kommt es oft zu einem dauerhaften Rückgang in solchen Dingen wie dem Kortisolspiegel. Daher wissen wir, dass der Urknall ein Leben lang andauert und dass er die Ursache von Spannung und Stress Jahrzehnte später ist.

Die Einprägung ist verantwortlich für eine Veränderung in der Anzahl synaptischer Verknüpfungen, für eine Verdickung bestimmter Neuronen und für eine Zunahme der Dendriten (die Botschaften von anderen Nervenzellen empfangen). In einem komplizierten Prozess begründet all das die Entwicklung einer Erinnerungsspur, wobei die Einprägung ihre Tentakeln durch das ganze Gehirn ausbreitet. Die Kraft oder Valenz des Traumas wird zur Kraft der Einprägung. Diese Energie ist ihr Motor und verteilt sich auf viele Orte des Gehirns. Das Ereignis wird nun bestimmten Neuronen eingeprägt, die sich mit anderen verwandten Neuronen verbinden und ausgeformte Bahnen bilden. Sie haben dann eine „Komplizenschaft"; sie verstehen einander und reagieren aufeinander mehr als auf andere Neuronen. 

Wenn sie zusammen feuern, dann verdrahten sie sich miteinander. Sie verstehen den Kode, der sie bindet, und wenn später ähnliche Ereignisse geschehen, ein angewiderter Blick von jemanden oder eine Kälte seitens eines Freundes, dann reagieren die kodierten Neuronen erneut und erzeugen Furcht und Angst. Diese Kodes sind die internen Repräsentanten, die ausgelöst werden, wenn ähnliche Gefühle hervorgerufen werden. Sie erzeugen die Überreaktivität in sogenannten übertriebenen Reaktionen auf Dinge, die eigentlich eine Kleinigkeit sind.

Die Arbeit des Psychiaters William Gray vom Newton Center in Massachusetts, die sich mit Kodierung auseinandersetzt, wird im Brain-Mind Bulletin diskutiert: "In der Kindheit erfahren wir ein grundlegendes Sortiment globaler Gefühle wie Zufriedenheit, Zurückweisung, Zorn und Furcht. Genau wie die Farben Rot, Gelb und Blau in Millionen Farbtönen ineinander übergehen, differenzieren sich diese primären Emotionen durch die Erfahrung in Myriaden von Gefühlstönen."

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Diese Emotionen bilden eine Verknüpfung und verschlüsseln alle Elemente und ähnlichen Szenen miteinander. Sie werden als neuroelektrische Wellenformen verschlüsselt, die durch vergleichbare Frequenzen neuer Erfahrungen hervorgerufen werden. Neue Erfahrung, die dieselbe Art von Gefühl oder Empfindung besitzt, wird die gesamte Kette der Traumen die ganze Wegstrecke hinab bis zur Geburt und zuvor auslösen. Dies ist eine Möglichkeit, wie Erinnerungsspuren ausgelöst und rückübertragen werden. Die Gefühlstöne, so sagen sie, „werden im Limbischen System ausgebrütet." Auf diese Weise werden Myriaden verschiedener Erfahrungen unter derselben Rubrik zusammengefasst. Wir haben einen Weg gefunden, den Kode abzuhören.

 

Die Einprägung geht einher mit starkem Blutfluss, hohem Stresshormon–Spiegel und Dopaminausstoß und hoher metabolischer Aktivität des präfrontalen Kortex. Alle Systeme beteiligen sich daran, das Gefühl zu einer lebenslangen Lernerfahrung einzuprägen. Eines schönen Tages spürt das Kind, dass es nicht geliebt wird, und so wird es in der Tat betrachtet; als jemand, den man meidet. Das Gefühl wird eingeprägt, ohne dass notwendigerweise Gedanken artikuliert werden müssten. Das Kind darf kein Geräusch von sich geben oder Forderungen an Eltern stellen, die wirklich keine Kinder wollen. Es muss nicht einmal darüber nachdenken, wie es handeln soll; die Einprägung erledigt das für ihn. Auf diese Weise fühlt es sich ungewünscht, nicht geliebt.

Ein Kind fühlt, dass es nicht geliebt wird. All das kann durch elterliches Verhalten ausgelöst werden: durch den Mangel an Wärme, wenn sie sich dem Kind zuwenden, durch Ungeduld, Gereiztheit und Mangel an Augenkontakt. Die Eltern können genauso unbewusst sein wie das Kind. Das Gehirn fühlt die Zurückweisung ohne offensichtliche volle Bewusstwerdung. Im Alter von drei Jahren weiß es bereits, wie es reagieren muss, vielleicht nicht mit dem Verstand, aber auf der Basis der ursprünglichen Reaktion, besonders wenn diese Reaktion lebensrettend war. Schlimmer noch, das Gehirn wird allmählich in seinem Wachstum und seiner Funktion geschwächt, und all das wegen des Gefühls, nicht geliebt zu werden.

 

DIE LANGE GESCHICHTE DER ERINNERUNG

Einprägen bedeutet, eine Erinnerung in jeden Aspekt unseres Seins einzuschleusen: in die Blutgefäße, Muskeln, Nervenzellen und Hormone. Jedes Subsystem graviert die Erinnerung auf seine Weise ein – eine Veränderung in den Blutplättchen, weniger Zellen, die Serotonin produzieren, und so fort. Die Auffassung eingravierter Erinnerung zu akzeptieren bedeutet, dass sich Psychotherapie von einer Therapie der Erscheinungen (Phänotyp) zu einer Therapie der Ursachen (Genotyp) wandeln wird. Deshalb würde sich fast jede Technik ändern, wenn dieses Konzept erst einmal der therapeutischen Psyche einverleibt ist. 

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Es bedeutet, dass Erinnerung andauert, eine bleibende Wirkung auf unsere Neurobiologie hat und die Struktur dieser Neurobiologie und unser späteres Verhalten ändern kann. Der Ansatz der Medizin würde ebenso radikaler Veränderung unterliegen. Wir würden nicht nur auf gegenwärtigen Stress schauen, um eine Herzattacke zu erklären, sondern auch in die Kindheit.

Es ist die frühe Einprägung, die Wahrnehmung deformiert und eine Rinne formt für spätere Erfahrung im Erwachsenenalter. Einige Ehemänner sehen in ihren Frauen nach der Geburt ihres Kindes eher Mütter als Frauen und Geliebte. Die Ehefrauen könnten durch diese veränderte Wahrnehmung frustriert werden und beschließen zu gehen, und der Mann steht wieder ohne „Mutter" da, wie damals, bevor er heiratete. Jemand, der sich in der Öffentlichkeit entblößt bis er festgenommen wird, macht das, weil er eine emotionale Reaktion sucht, die er als Kind von seinen Eltern nicht erhalten hat. „Schau mich an!", „Reagiere auf mich!", „Zeig etwas Gefühl!" – und Schock zeigt Gefühl. Er benimmt sich auf diese Weise, weil er in der Vergangenheit lebt und von seiner Geschichte und Erinnerung gezwungen wird, frühe kindliche Bedürfnisse auszuagieren. Seine Einprägung dominiert.

Einprägungen dominieren die meisten von uns und unser Verhalten. Das ist entscheidend um zu verstehen, welche Symptome wir haben. Ohne das Konzept der Einprägung sind wir gezwungen, uns mit dem gegenwärtigen Symptom so zu beschäftigen, als sei es die Krankheit; meistens ist das nicht der Fall.

Zwei der Hormone, die den Zugang zur Einprägung und ihren verdrängten Gefühlen blockieren, sind Adrenalin und Noradrenalin (die Katecholamine). Sie wirken sich auf den denkenden, integrierenden Kortex aus und helfen, das Niveau der Aufmerksamkeit oder Wachsamkeit zu regulieren, die der frontale Kortex ausübt. Wenn der Input zu stark ist, macht der Kortex Überstunden, um den Input zurückzudrängen. 

Die hydraulische Analogie von Sigmund Freud (hier drückst du, und dort kommt’s heraus) wurde in den ersten Jahren der Psychoanalyse kritisiert, aber es stellt sich heraus, dass sie gar nicht so 'daneben' ist. Der Druck aufgrund der Einprägung ist die ganze Zeit da und muss einen Ausgang finden. Die Energie marschiert in den frontalen Kortex und führt dort zur Bildung zwanghafter Ideen, und sie macht sich auf den Weg in den Körper via Hypothalamus, um dort Herzrasen zu verursachen. Das Ergebnis: eine mystische, hyperaktive Person, die an Herzsymptomen leidet. 

Wenn genug Energie „somatisiert" werden kann, steht weniger für Denkstörungen zur Verfügung. Der Mensch geht zum Kardiologen wegen des Herzrasens und zum Psychologen wegen der obessiv – zwanghaften Ideenbildung – und beide können mit genau der gleichen Medizin behandelt werden.......Schmerztötern. Beide erfordern Beruhigung und den Aufbau von Abwehr. Das sind Linderungsmittel, aber sie können funktionieren, weil sie ein mangelhaft verdrängendes Schleusensystem normalisieren, das für beide Leiden verantwortlich ist.

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Neulich stand eine Geschichte in der Zeitung über einen auf Bewährung entlassenen Sexualstraftäter, der klagte, weil der Staat sich weigerte, ihm seine Tranquilizer zur Kontrolle seiner Neigung zu jungen Mädchen zu geben. Der Staat empfahl diese Medikamente zur Kontrolle sexueller Impulse. Warum? Hier ist implizit, dass Schmerz die verursachende Quelle ist. Stelle den Schmerz ruhig und du blockierst oder kontrollierst den Impuls. Dennoch wird selten anerkannt, dass Schmerz einen zum Ausagieren treibt. Der Staat ist noch nicht so weit zu begreifen, dass es notwendig ist, den Schmerz zu entfernen und nicht nur einfach zu kontrollieren. Es ist ein kleiner aber dennoch sehr großer Schritt.

Eine meiner Patientinnen nahm Pillen gegen hohen Blutdruck und Schmerztöter; sie senkten ihren Blutdruck, aber am nächsten Tag hatte sie eine Migräne. Es ist die „Verabredung in Sumatra". (Es gibt eine alte Sage über jemanden, der flieht um den Besuch des Sensenmannes zu vermeiden. Er beschließt nach Sumatra zu gehen, nur um zu entdecken, dass der Tod seine Pläne geändert hat und beschlossen hat nach Sumatra zu gehen.) Wohin auch immer wir uns wenden, der Schmerz wartet auf uns. Wir unterdrücken ihn hier, und dort taucht er auf. Wir eilen nach Europa, um „von all dem loszukommen", und dort ist es wiederum. Wir gehen in die Berge, um uns selbst zu finden und was finden wir? Schmerz. Korrektur. Wenn unser Abwehrsystem noch funktioniert, finden wir keinen Schmerz, sondern mystische Ansichten um ihn zu ersticken. Wir glauben, wir hätten gerade einen magischen Augenblick erlebt; weil es funktioniert, fühlen wir uns besser.

Es gibt drei kritische Faktoren, wenn eine Einprägung erzeugt wird: die Menge des Input, die Reaktion auf das Input und seine zeitliche Steuerung. Alle drei Faktoren konvergieren und schaffen eine dauerhafte Erinnerung, die unsere Neurophysiologie verändert. Wir müssen daran denken, dass ein Teil der Einprägung die Reaktion darauf ist, welche ebenfalls andauert. Der Schmerz und seine Reaktion bilden eine dialektische Einheit. Sie bestimmt die Hartnäckigkeit späteren Verhaltens: zum Beispiel andauernd ein Thema zu diskutieren, das abgetan und erledigt sein sollte. Andere Beispiele beinhalten Paranoia oder schwere Eifersucht mit zwanghaftem Verhalten, das keine Grenzen kennt, die Unfähigkeit den Schmerz der Zurückweisung hinzunehmen und das Bedürfnis, immer und immer wieder um Akzeptanz und/oder Liebe zu kämpfen. Das am weitesten verbreitete Beispiel ist natürlich die Unfähigkeit einzugestehen, dass wir Unrecht haben.

Wenn ein Trauma ganz früh eingeprägt wird, auch schon vor der Geburt, dann ist es der Hirnstamm, der sich damit beschäftigt. Er aktiviert und motiviert auf genau die Art und Weise, wie die Einprägung abgelegt worden war: wie zum Beispiel das Winden und Drehen, das mit der Steißgeburt einhergeht. 

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Mit der weiteren Entwicklung des Gehirns bricht diese präzise Erinnerung – unzureichend geschleust aufgrund ihrer schweren Schmerzlast – in limbische Strukturen durch, wo es symbolische Verkleidung annimmt. Nun fängt die Person an Albträume zu erleben, in denen sie in einer Waschmaschine hin- und hergedreht wird (tatsächlich ein wiederkehrender Albtraum eines meiner Patienten, bis er seine Ursprünge fühlte). Die anatomische und viszerale Einprägung ist nun in Bilder übersetzt worden. Es ist dieselbe Erinnerung mit derselben Kraft wie die Hirnstamm – Einprägung, die sich im Gehirn nach oben auf höhere Bewusstseinsebenen bewegt hat; deshalb hat der Traum oder Albtraum so enorme Wucht. Er ist einfach eine Verkleidung für eine frühe Begebenheit. Grundsätzlich gilt, wenn ein wieder­kehrender Traum oder Gedanke eine Empfindung beinhaltet — Drücken, Quetschen, Ersticken oder Ähnliches —, dann können wir sicher sein, dass der Hirnstamm beteiligt ist.

 

Eingeprägte Reaktionen auf frühen Mangel an Liebe sind zum Andauern bestimmt, weil sie eine Schablone erstellen für zukünftiges Verhalten, besonders für die Reaktion auf Stress. Ein Patient von mir, ein hart arbeitender Mann, scheiterte vor dem Stadtrat mit seinem Antrag, einen Sport- und Saunakomplex zu errichten. Anstatt einzusehen, dass weiterzumachen sinnlos war, blieb er dabei, Appell um Appell, alles ohne Nutzen und mit großen Kosten für ihn selbst. 

Seine Reaktionen waren aus der Vergangenheit geboren, und er erkannte die Lage nicht, weil er sich weigerte sie zu sehen. Alles was er wusste und erwartete, war, dass ständiger Kampf sein Leben retten würde. Seine frühe Erfahrung bei der Geburt hatte zu bleibenden Veränderungen in seinem Wahrnehmungsapparat und seinem Neurotransmitter-System geführt. Er hätte innehalten sollen, über seine Situation nachdenken und die Folgen seiner Handlungen abwägen sollen, aber er konnte nichts dergleichen tun wegen seiner fixierten Schablone, die bei der Geburt errichtet worden war und ihm sagte: „Halt drauf, wenn du leben willst. Mach weiter, egal welche Hindernisse kommen, weil der Tod auf dich lauert." Das ist die Formel, die hinter seinem Antrieb steckte. Aufhören und Aufgeben hätte buchstäblich den Tod bedeutet. Die Einprägung trieb ihn an. Bevor ich das Geburtstrauma vollständig erklärt habe, wird es schwer sein, diese Vorstellungen zu akzeptieren; deshalb bitte ich um Geduld.

Wenn Einprägung stattfindet, verkümmern andere nicht einbezogene Areale des Gehirns und degenerieren mit der Zeit. Die Einprägung steuert die Gehirnentwicklung, um Ressourcen bereit zu stellen, wo sie benötigt werden; mehr Synapsen in bestimmten Bereichen und weniger in anderen. Im wesentlichen wird ein neues Gehirn konstruiert. Beim Wiedererleben früher Szenen ist der Patient „dort zurück". Seine Gehirnwellen sind so beschaffen, dass wir nicht sagen können, ob das Ereignis jetzt geschieht oder einfach eine Erinnerung ist.

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Erwachsene können bleibende Beeinträchtigung erfahren durch die Einprägung der Hypoxie (niedriger Sauerstoff–Status) bei der Geburt. Wachsam und auf der Hut zu sein ist ein natürlich-adaptiver Zustand für angemessenes Funktionieren, viel mehr als energielos zu sein. Das Problem ist, dass viele von uns wegen des hohen Grades innerer Bedrohung zu wachsam und zu sehr auf der Hut sind. Wir finden die Gefahr, wo sie gar nicht ist, oder wir übertreiben die Gefahr, weil wir bereits in einem überwachsamen, angsterfüllten Zustand sind.

Wenn ein bedeutendes Trauma existiert, ist der Hypothalamus involviert. Er ist bekannt als "gemeinsame Endbahn" zu den inneren Organen und übersetzt Mangel an Liebe in körperliche Symptome. Er unterstützt den Prozess der Einprägung durch die Freisetzung von Kortikotropin. Dieses Stresshormon aktiviert das sympathische Nervensystem. Diese Aktivierung hilft die Einprägung zu besiegeln. Es sind die aktivierenden Hormone, die den Klebstoff für fortdauernde Erinnerung liefern. Sie sorgen für die nötige Energie, um ein Gefühl in den Gehirnsystemen zu verankern. Sie liefern den „Schock" für das System, zwingen es zur Aufmerksamkeit und schließen die Erinnerung ein. In dialektischer Manier veranlassen die Stresshormone auch die Sekretion einer morphinähnlichen Substanz, um uns vom vollständigen Bewusstsein des Gefühls abzuschirmen („Sie werden mich niemals lieben"). So setzen wir Stresshormone frei, die alarmieren und mobilisieren, und Opiate, die dieselbe Mobilisierung regulieren und unterdrücken, alles im gleichen Augenblick. Würde dies nicht geschehen, so hätten wir eine unverminderte Fluchtaktivierung.

Es genüge zu sagen, dass wir Sicherheitssysteme haben, um die Sicherheitssysteme zu sichern, all das um das physiologische Gleichgewicht aufrecht zu erhalten, wie z.B. die Körpertemperatur, Blutdruck und geistige Prozesse. Wir müssen Sicherheitssysteme haben, um zu gewährleisten, dass unsere übermäßigen Reaktionen nicht unser Leben bedrohen.

Ganz allgemein kann die Einprägung jemanden antreiben, eine emotional kalte Frau zu finden und darum zu kämpfen, sie fürsorglich und warmherzig zu machen. Wenn sie der mütterliche Typ ist, haben wir Glück; wenn nicht, so ist die Scheidung abzusehen. Dieser ganze Prozess spielt sich unbewusst ab, weil das Bedürfnis und die Einprägung unbewusst sind.

Wir haben die Einprägung betrachtet und ihre lebenslangen Auswirkungen. Nun werden wir unsere Aufmerksamkeit jener Art universeller Traumen zuwenden, denen die Tendenz zur Einprägung eigen ist. Angesichts der geburtlichen Vorgehensweise, wie sie überall in der westlichen Welt praktiziert wird, ist der Mangel an Sauerstoff bei der Geburt ein solches Trauma. Es ist zweifelsohne sonderbar, einen Mangel an Sauerstoff für einen Mangel an Liebe zu halten, aber es ist so. Vielleicht ist es das wichtigste frühe Bedürfnis im Sinne der Gehirnentwicklung.

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Ein Kind mag einen Tag oder so ohne Wasser durchstehen, aber es steht nur wenige Minuten ohne Sauerstoff durch. Es ist möglich, diesen Sauerstoffmangel wiederzuerleben, und dieses Wiedererleben hat ungemein radikale Wirkung, vom Aufhören der Migräne bis zur Senkung des Blutdrucks und Einschränkung der Drogensucht.

Die Bedeutung der kritischen Periode und der Einprägung ist ihre unabänderliche Beschaffenheit. Wenn etwas erst einmal während der kritischen Periode abgelegt worden ist, so ist es für immer da, in dem Sinne, dass wir nicht ausgleichen können, was mit uns während jener Zeit geschah; es sei denn, es gäbe einen Weg, seine Kraft und einige seiner Wirkungen ungeschehen zu machen. 

Die kritische Perioden und die Einprägungen sind wahrlich das Leitmotiv* dieses Buches. Es bedeutet, dass das, was mit uns im späteren Leben geschieht, hinsichtlich der Persönlichkeits­entwicklung weniger wichtig ist als das, was in der kritischen Periode geschah, als sich das Gehirn formte.  

* im engl. Text: leitmotif

Wir übersehen es auf unsere eigene Gefahr; denn ohne das Verständnis der kritischen Periode und der Einprägung können wir das Einsetzen von Herzattacken, Schlaganfällen, Alzheimer und anderer ernsthafter Leiden niemals voll begreifen. Diese Einprägungen sind die verborgenen generierenden Quellen von so vielen späteren Schwierigkeiten. Frühe Traumen verdrehen und verkrümmen unsere Biologie, sodass sie permanent abweichend ist; zuviel Stresshormon, nicht genug Schilddrüsenhormon, zuwenig Serotonin, und so weiter.

Die kritische Periode ist eine Straße mit Gegenspur. Wenn eine Mutter keine Gelegenheit hat, in dieser Zeit „Mutter" zu sein, wird sie Schwierigkeiten haben, später eine Mutter zu sein. Wenn ein Ziegenkitz von seiner Mutter getrennt wird, ehe es geleckt wird, und es ihr dann später zurückgegeben wird, scheint die Mutter nicht mehr ein noch aus zu wissen und hat „keinerlei verhaltensmäßigen Ressourcen mehr ihrem Neugeborenen gegenüber."1)

Michel Odent diskutiert weitere Forschungsarbeiten, um diesen Punkt zu betonen: Wenn ein Lamm bei der Geburt von seiner Mutter getrennt wird und die Trennung länger als vier Stunden dauert, dann kümmert sich die Hälfte der Mütter hinterher nicht um ihre Jungen. Wenn aber die Trennung erst nach einem Tag stattfand, bestand das Problem nicht. Die kritische Periode unmittelbar nach der Geburt war vorüber. Wenn diese Mütter epidurale Injektionen mit Betäubungsmittel erhielten, um die Geburt zu erleichtern, so kümmerten sie sich nachher nicht um ihre Jungen. Mütter brauchen ihre Babys genauso während der kritischen Periode. Wenn sie in der kritischen Periode nicht lieben können, scheinen sie einiges an späterer Liebesfähigkeit zu verlieren. Kurz gesagt kann auch Müttern die Fähigkeit zu lieben oder nicht zu lieben eingeprägt sein. Falls sie keine Mütter sein können, wenn sie es sein sollten, so gibt es einen biologischen Mechanismus, der sie daran hindert, später gute Mütter zu sein. Hierin mag eine wichtige Lektion liegen.

 

1)  Michel Odent, The Scientification of Love (London, Free Association Books, 1999), Seite 7.
Deutsche Ausgabe: Michel Odent, Die Wurzeln der Liebe – Wie unsere wichtigste Emotion entsteht, Düsseldorf, Walter Verlag, 2001

 

ANMERKUNGEN  Quellenverweise 1–3

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KAPITEL  9

WIE DER CODE DER ERINNERUNG

ENTSCHLÜSSELT WIRD

 

 

Die Fähigkeit des Gehirns, Schmerz wahrzunehmen und zu verschlüsseln, beginnt gleich nach dem dritten Monat der Schwangerschaft, wenn bereits ein primitives Nervensystem existiert. Der Unterschied zwischen dem Zugriff auf die kodierte Einprägung und dem verbalen Erinnern eines Ereignisses besteht darin, dass, wenn jemand die erstere erlebt, sie/er sich in genau dem neurophysiologischen Zustand befindet, in dem sie/er ursprünglich war. Diese Art von Erinnerung kann nicht vorgetäuscht werden. Der Code der Erinnerung kann in elektrischen Frequenzen und in der chemischen Zusammensetzung liegen. Neuronen in verschiedenen Teilen des Gehirns beteiligen sich an dem Code und reagieren als Ganzheit, als Nervennetzwerk. Jene Aspekte des Gehirns, die für die Reaktion auf das Trauma nicht notwendig sind, verblassen oder verkümmern. Die Erinnerung wird „eingekerbt", sodass die Gesamtheit der Reaktionen wieder erscheinen kann, wann immer auch nur ein oberflächliches emotionales Ereignis geschieht.

Das kommt daher, dass die meisten – wenn nicht alle – unserer gegenwärtigen Gefühle Weiterentwicklungen der grundlegenden Empfindungen ((sensations)) sind, welche tief im Gehirn organisiert werden. Einprägung bedeutet nicht nur die Schaffung neuer Synapsen, sondern auch die Beseitigung von solchen, die nutzlos geworden sind. Die kontinuierliche Benutzung einer Bahn oder eines Schaltkreises erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass er immer wieder verwendet wird, und so wird es wahrscheinlicher, dass wir ein Verhalten wiederholen. Die Persönlichkeit bildet sich um diese stetigen Reaktionen herum. Es ist meine klinische Beobachtung, dass jene, die schon ganz am Anfang an fehlender Liebe litten, vielleicht weil sie Wochen in einer Anstalt verbrachten, geschwächte soziale Fähigkeiten haben und nicht leicht Bindungen eingehen können.

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Das kann sich ereignen lange Zeit bevor das Kind die Sprache gebrauchen kann. Es kann ein brillanter Psychiater werden und dennoch nicht fähig sein, mit anderen Beziehungen einzugehen. Er mag wohl zu anderen gravitieren, die auch nicht fühlen und nicht lieben können.

In Patienten, die frühe Szenen wiedererleben, erwacht das gesamte Spektrum der Erinnerung wieder zum Leben: die Gerüche, die Bilder, Stimmen und Worte. All das steigt gemeinsam auf und gelangt zur Verknüpfung. Es ist total, nicht nur zerebral; es ist diese Totalität der Erfahrung, die zu tiefgreifender Veränderung führt.

In einem Urerlebnis wird das ganze Gemälde der Erinnerung wieder lebendig und verknüpft sich schließlich mit dem frontalen Kortex. Manchmal ist nur ein Aspekt der Erinnerung offensichtlich – schneller Herzschlag. Ein Mensch kann an einem zusätzlichen Herzschlag (Extrasystole) leiden oder an plötzlichem Herzklopfen. Es schlägt zu, wenn die Abwehr geschwächt ist. Aber diese fragmentierten Reaktionen sind immer noch Teil einer Gesamterinnerung. Auf Grund der Spaltung und Verdrängung kommen nur Aspekte der Erinnerung durch: die primitivsten Überlebensreaktionen wie Herzschlag und Blutdruck. Das sind grundlegende, nicht verfeinerte Aspekte der Erinnerung.

Der hohe Spiegel an Katecholaminen, der den „Urknall" (die ursprünglichen Traumen auf Leben und Tod) wie z.B. das Geburtstrauma begleitet, hilft dabei, die Informationen auf weit gestreute Bereiche des Gehirns – einschließlich des Hirnstamms – zu verteilen, so dass ein großer Teil des Gehirns in seine eigene Verteidigung verwickelt sein kann. Der Angreifer ist die Erinnerung und ihre Leidenskomponente. Abwehr blockiert die Bewusstheit von Leiden. Wenn wir uns in der Gegenwart gekränkt fühlen, greift das gesamte Gehirn in den Kampf ein, weil unterschiedliche Aspekte der Erinnerung vom zentralen Nervensystem zusammengeführt werden. Die versammelten Neuronen kodieren, speichern und reagieren auf Input im Mutterleib.

Deswegen können wir aus einem leicht verärgerten Blick von jemanden in der Gegenwart eine Migräne entwickeln. Oder wenn das ursprüngliche Hirnstammtrauma äußerste Hilflosigkeit angesichts überwältigender Umstände bei der Geburt (massive Anästhesie) war, dann taucht die unartikulierte Hilflosigkeit wieder auf, wenn jemand wieder in eine ähnlich hilflose Situation versetzt wird, zum Beispiel wenn er von starren Regierungsverordnungen eingeschränkt wird, ein Ereignis, das normalerweise nicht so schrecklich ist. Begleitet wird sie vielleicht von Herzklopfen oder Migräne. Die „Kränkung" ist in Strukturen des Hirnstamms verankert. Wenn die Verletzung die Schmerzkette hinabwandert, ruft sie alle ursprünglich mit dem ersten großen Trauma in Bezug stehenden Reaktionen hervor.....in diesem Fall das Zusammenziehen und die Erweiterung von Blutgefäßen, verursacht von Anoxie (Sauerstoffnot) bei der Geburt.

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Demzufolge behandelt ein Doktor eine Migräne bei einem Patienten von vierzig Jahren, während die ganz frühe verursachende Quelle vierzig Jahre alt ist. Es ist kein Wunder, dass Ursachen so schwer zu finden sind. Wenn ein anderer sich aufmacht, um die Ursache zu finden, so wird man sie niemals finden; nur die leidende Person selbst kann sie finden. Und sie kann es niemals vorsätzlich. Es wird widersprüchlich, wenn man versucht unterhalb des Kortex zu gelangen, indem man den Kortex benutzt.

Wenn Ärzte ein analytisches Bluttestverfahren an einem Fetus durchführen, indem sie eine Nadel durch die Haut einführen, steigen die Katecholaminwerte als Reaktion auf den Schmerz beträchtlich an. Erleidet ein Fetus Schmerz, wenn er reagiert, es jedoch nicht in Worte fassen kann ? Natürlich. Sein Stresshormonspiegel steigt um etwa 600 Prozent als Reaktion auf die Nadelpunktur. Und er reagiert!....... für immer. Die Antwort auf den Stress wird nun kodiert und dauerhaft gespeichert. Die Katecholamine katalysieren die Einprägung, bevor das Baby geboren wird. Deshalb ist es möglich, fürs Leben gezeichnet zu sein, noch ehe wir unsere Eltern zum ersten Mal sehen. Unsere Reaktionen auf unsere Eltern können abgestumpft sein, nicht wegen ihres Verhaltens, sondern aufgrund der Zeit im Mutterleib.

Wie die Neurobiologin Lise Eliot herausgefunden hat, ist die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass die Leibesfrucht einer Mutter, die unter Stress steht und hohe Katecholaminwerte hat, an Wolfsrachen leidet. Katecholamine schränken den Blutstrom zum Fetus ein und senken dadurch seinen Sauerstoffpegel. Es ist auch möglich, dass chronisch hohe mütterliche Katecholaminwerte vielleicht die Sollwerte deregulieren, sodass das Baby selbst sein ganzes Leben lang einen anderen Pegel aufweist. Zum Beispiel kann es tatsächlich leichter erregbar sein; es kann eine niedrigere Frustrationstoleranz haben, reizbarer und ungeduldiger sein. Weil das Endokrinsystem, wie ich gezeigt habe, ein System ist, können höhere Kortisol- und Katecholaminwerte die Testosteronwerte des Babys verändern. Wir wissen, dass Stress den Wert bei Männern senkt, aber ich glaube, dass eine gestresste Mutter den Wert in ihrem männlichen Nachkommen senkt. Das Ergebnis kann ein leicht feminines männliches Kind sein. Fügen Sie nun eine distanzierte, unnahbare Mutter hinzu, und das Resultat ist vorhersehbar. (Siehe Kapitel 18 zur ausführlicheren Erörterung dieses Punktes).

Lise Eliot hat aufgezeigt, dass die Katecholamine in Erwachsenen und Babys unterschiedlich reagieren: „Während Katecholamine einen Erwachsenen zum Kampf mobilisieren, indem sie den Herzschlag erhöhen und den Blutfluss zu den Muskeln verstärken, haben sie auf kleine Babys entgegengesetzte Wirkung, indem sie ihren Herzschlag senken, die Atmungsaktivität verlangsamen, ja sogar bestimmte Bewegungen lähmen."

Kaiserschnitt-Babys erhalten nicht den Katecholaminschub, den vaginal entbundene Babys bekommen, und das macht einen Unterschied hinsichtlich der Frage, ob später Atmungsprobleme auftauchen oder nicht. Eliot berichtet, dass die Vaginalgeburt bei dem Baby ein größeres Wohlgefühl hinterlässt, vielleicht aufgrund der höheren Stoffwechselrate.

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Ein jüngst erschienener Bericht über die Langzeiteffekte frühen Traumas von Forschern an der Washington University School of Medicine zusammen mit dem British Columbia Children’s Hospital und Arkansas Children’s Hospital besagt auszugsweise: „Es wurde gezeigt, dass Schmerz und Stress in Neugeborenen physiologische und verhaltensbezogene Reaktionen induzieren, auch bei Frühgeburten." Fran Lang Porter, Forschungsleiter, fährt fort: „Es gibt Beweise, dass diese Ereignisse nicht nur Veränderungen herbeiführen, sondern dass daraus bleibende strukturelle und funktionale Veränderungen resultieren können." (Betonung von mir.)

Es hat etwa dreißig Jahre gedauert, bis die Forschung mit unseren klinischen Beobachtungen gleichgezogen hat, aber immer mehr Informationen führen zu dem Schluss, dass es in der Tat infolge frühen Traumas andauernde Veränderungen in unseren Systemen gibt, einschließlich dem Gehirnsystem. Die Forscher kommen zu dem Schluss, dass Kleinkinder und Föten Schmerz wahrnehmen können und dass jene Kleinkinder, die beschnitten werden (etwas, das ich in der Kleinkindphase ablehne, wenn das Baby aus ihm nicht ersichtlichen Gründen verletzt wird), schmerzstillende Mittel brauchen. Frühgeborene Kinder, so berichten sie, die während der Schwangerschaft und Geburt verschiedenen Traumen ausgesetzt waren, waren als Babys im Alter von 18 Monaten weniger reaktionsfähig. Beschnittene Jungen reagierten später stärker auf den Schmerz einer Schutzimpfung als nicht beschnittene. Und was sie finden ist etwas, das ich nachdrücklich betont habe: „Es gibt Beweise, dass die Erinnerung an den Schmerz auf einer biologischen Ebene aufgezeichnet werden kann."

All dies bedeutet, dass Ereignisse auf der physiologischen Ebene registriert werden, bevor intellektuell abrufbares Gedächtnis möglich ist. Das wiederum erklärt, wie gewisse Anfälligkeiten im Mutterleib gesetzt werden, die einige von uns stark auf Stimuli und andere überhaupt nicht reagieren lassen. Eine gewisse Art von Leblosigkeit kann bei der Geburt eingeprägt werden, sodass alle späteren Reaktionen abgestumpft sind. In stark depressiven Patienten sehen wir diese Abstumpfung, verminderter Affekt genannt. Es ist nicht so, dass die Person keine Gefühle hätte; vielmehr sind diese Gefühle verdrängt.

In Hinsicht auf Stress bei Kleinkindern sagt der UCLA-Professor für Neuropsychologie, Allan Schore: „Dieser psycho­neurologische Mechanismus kann die Effekte vermitteln, durch die Situationen, in denen ein Kleinkind emotionalen Traumata ausgesetzt ist, in sensorisch-affektiven, motorischen und emotional-instinktiven Aufzeichnungen der Erfahrung resultieren, die in die Neurotransmitter-Muster des limbischen Systems eingeprägt werden. Dies kann zu permanenten Defiziten darin führen, die Emotionen von anderen zu lesen."

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Mit anderen Worten, die Erinnerung an ein Trauma kann an den Veränderungen in den Neurotransmitter-Systemen des Gehirns beobachtet werden. Die Einprägung — oder das frühe Trauma — verändert die Neurotransmitter, die Boten, die den Fluss wichtiger Informationen — wie Schmerz — zu kortikalen Orten der obersten Ebene, die uns unserer Gefühle bewusst machen, entweder erleichtern oder behindern.

Ein weiteres Ergebnis ist ein unterregulierter Kortex und später, als Resultat, manische Phasen. Beides, Depression und manische Phasen involvieren einen hohes Energieniveau. Letztlich erfordert die Depression Anstrengung, um das Verdrängungssystem intakt zu halten. Manische Aktivität bedeutet, dass die Schleusen löchrig sind. Es ist nicht so, als seien Manie und Depression zwei unterschiedliche Krankheiten. Oft befassen sich beide mit derselben Einprägung. Nur herrscht im Falle der Depression effektive Verdrängung. In manischen Phasen ist das Verdrängungssystem defekt oder „leck" und treibt den Menschen zu frenetischer Aktivität. Sie wechseln sich oft ab in ein und derselben Person. Wenn die Verdrängung einer explodierenden Kraft Platz macht, dann schreibt das manische Individuum Bände über rein gar nichts, kauft ein ohne Grenzen und redet wie ein Wasserfall. Diese explodierende Kraft kann Anoxie bei der Geburt sein.

Wir können diesen Zuständen alle Arten phantasievoller Diagnosen verpassen, wie bipolares Leiden, aber es ist dennoch Schmerz und Trauma. Viel besser ist es nachzuforschen, wie effektiv das Schleusensystem ist. Kriminelle, wie ich später erörtere, haben undichte Schleusen, was für ihre Impulsivität und ihr Ausagieren verantwortlich ist. Ihre kriminellen Ausschweifungen können manchmal als von Manie induziert betrachtet werden. Aber Manie ist keine Krankheit; es ist eine Art, wie wir auf zentrale Probleme reagieren. Wir haben zu viele manische Individuen behandelt, als dass wir anders denken könnten.

*

Wenn die Last ihres Schmerzes weniger wird, nimmt auch die Impulsivität und die manische Aktivität ab. Die Effektivität der Schleusen, wie ich im Kapitel über die Schleusung (Kapitel 14) erörtern werde, hängt weitgehend vom Geburtsprozess ab. Eine Kämpfen-und-Scheitern-Geburt, bei der massive Anästhesie (Betäubungsmittel) das System des Neugeborenen stilllegt, wird mit größerer Wahrscheinlichkeit zur Depression führen („Ich gebe auf. Ich kann nicht mehr."). Der Manische mag eine Geburt gehabt haben, bei der massiver Kampf nötig war um herauszukommen, und er war erfolgreich. Aktivität wird als Überlebensmechanismus eingraviert. Das ursprüngliche Trauma setzt diese Aktivität in Bewegung. Er läuft vor der Einprägung davon, und er läuft wegen der Einprägung. Diese Schleusen sind vielleicht bei der Geburt errichtet worden, als ein Trauma die Entwicklung der sich neu formierenden präfrontalen Gehirnzellen störte, oder im Mutterleib. Das kann geschehen, wenn eine Mutter Missbrauch mit Valium betrieben hat oder mit anderen Schmerzkillern.

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Wie ich aufgezeigt habe, "beschließt" die fetale Physiologie, wenn sie in ihr System eingeführte Schmerz­killer entdeckt, keine eigenen zu produzieren. Das Resultat kann die permanent mangelhafte Fähigkeit sein, Schmerz zu stillen.

Wenn die Stresshormon-Reaktion erhöht ist, kann sie andere Hormonsysteme permanent ändern. Männer, die über chronische Angst klagen, haben eine bis zu 600 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit, den plötzlichen Herztod zu erleiden als diejenigen ohne Angst-Vorgeschichte. Wer deprimiert ist, stirbt mit dreifach erhöhter Wahrscheinlichkeit, wenn sie/er eine Herzattacke erleidet. Wir werden gleich sehen, wie früh diese Reaktionen beginnen. Es genüge zu sagen, dass dieselbe Einprägung, die Angst erzeugt, später auch Herzstillstand verursachen kann. Das Herz und die Eingeweide (Schmetterlinge im Bauch) werden als Gesamtheit kodiert. Es sind keine separaten Krankheiten sondern Teile desselben Syndroms. Es ist schwer vorstellbar, ängstlich zu sein, ohne dass das Herz dabei über Gebühr arbeiten müsste.

Die Forschung hat angezeigt, wie diese Verschlüsselung vonstatten gehen kann. Eine Studie von B.J. Young und anderen, die untersuchte, wie Erinnerung verschlüsselt wird, maßen einzelne Neuronen in der parahippokampalen Region von Laborratten, nachdem die Ratten bestimmten Gerüchen ausgesetzt worden waren. In der Gegenwart eines jeden einzelnen Geruchs feuerten alle zugeordneten Neuronen gleichzeitig, und die Erinnerung wurde verschlüsselt und in der parahippokampalen Region aufbewahrt. Die Forscher hypothetisierten, dass dieses Areal Erinnerung vielleicht auf eine andere Weise kodiert, als es im Hippokampus selbst der Fall ist. Es scheint, dass jedes Neuron ein Stück des Codes in sich trägt. Im Alter von dreißig von einem Lebensgefährten verlassen zu werden, kann ein altes Gefühl der Verlassenheit im Alter von sechs Monaten auslösen. Die Tatsache, verlassen worden zu sein, kann die alte Furcht und ein vages Unwohlsein auslösen. Es kann eine Depression folgen, deren Wurzeln ein Geheimnis sind.

Es gibt neue Beweise für die Bedeutung des Cerebellums (Kleinhirn) bei der kodierten Erinnerung. Vor vielen Jahrzehnten versuchte ein Neurophysiologe namens Karl Lashley, das „Engramm" oder die Erinnerungsspur im Gehirn zu finden. Er war nicht allzu erfolgreich in seinen Bemühungen. Aber nun scheint es, als liege ein wichtiger Teil dieser Erinnerungsspur vielleicht im rückwärtigen unteren Bereich des Gehirns, etwas, das aussieht wie ein Miniaturgehirn, das Cerebellum.

Wenn ich betone, dass unsere Patienten sich im „Dort-und-Damals" befinden und nicht im „Hier-und-Jetzt", so meine ich, dass Vergangenheit und Gegenwart nicht zu unterscheiden sind in Hinsicht darauf, wie das Gehirn reagiert. Manchmal erzeugt die Reizung des Kleinhirns die gleichen Muster, als würde nun ein altes traumatisches Ereignis stattfinden. Eindeutig wird die Erinnerung zum Teil im Kleinhirn aufbewahrt.

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Paul MacLean vom National Institute of Mental Health schlug vor (in einer privaten Kommunikation), wir sollten diese Struktur als Schlüssel ins Auge fassen. In jedem Fall ist Erinnerung die beste Waffe gegen eingeprägten Schmerz. Die Erinnerung wiederzuerleben trennt die Vergangenheit von der Gegenwart, sodass man seine Geschichte nicht mehr im täglichen Leben ausagiert.

Ist das Erwachsenenalter einmal erreicht, kann der Prozess der Einprägung nicht vollständig umgekehrt werden, weil zu viele Jahre spezifischer abweichender Verhaltensweisen vergangen sind, welche nun im System eingebettet sind. Es ist als hätten Sie anfangs im Tennis die falschen Schläge gelernt und würden nun unter Schwierigkeiten versuchen, sie zu korrigieren. Der Code durchforscht weiterhin dieselbe Anhäufung von Zellgruppen, um dasselbe abweichende Verhalten (unkorrekte Schläge) zu produzieren, egal wie sonst der Handlungswille sein mag. Die Einprägung schmiedet bestimmte Nervenbahnen, welche andauern. Wie Schore betont: „Es hat sich herausgestellt, dass die Einprägung von Erfahrungen elektrophysiologische Langzeitwirkungen auf die spontane Nervenaktivität verschiedener Regionen des Gehirns hat."

 

WIE DIE BIOLOGISCHEN SOLLWERTE
WIEDER IN ORNUNG GEBRACHT WERDEN

Die Einprägung kann auch neue Langzeit-Sollwerte grundlegender biologischer Prozesse etablieren: z.B. die Menge an abgesondertem Endorphin und Serotonin und die Höhe der Stoffwechselrate. Erhöhte Stresshormonwerte, zum Beispiel, sind Teil des Codes, der noch immer auf die Erinnerung reagiert als sei sie gegenwärtig. Die Erinnerung hält diese Sollwerte fixiert, und die biologischen Prozesse versiegeln die Erinnerung. Anders ausgedrückt sind diese Veränderungen die Art und Weise, wie Erinnerung fixiert wird.

Wenn wir es schaffen, eingeprägte Erinnerung zu ändern, dann können wir den Energiefluss aufhalten, der gewisse Sollwerte verschiebt. Und wir schaffen es. In meiner Praxis erfahren unsere Hochdruck-Patienten ein permanentes Absinken ihrer Blutdruckwerte um durchschnittlich 24 Skalenpunkte nach etwa 8 Monaten Therapie. Die durchschnittliche Körpertemperatur meiner Patienten beträgt 97,5° F ((36,4°C)). Das ist keine unbedeutende Differenz, zumal die Forschung darauf hinweist, dass bei einem Absinken der Körpertemperatur pro ein Grad mit einer Lebensverlängerung von 10 Jahren zu rechnen ist. Wieso geschieht das? Die Erinnerung wird letztlich mit den frontalen Zentren verknüpft und integriert. Warum ging die Körpertemperatur nach oben? Erinnerung. Der Körper arbeitet härter, um zu verdrängen und erzeugt Hitze. Er reagiert ständig auf interne Gefahr. Wenn die Gefahr gefühlt wird, muss das System nicht länger darauf reagieren. Daher ein systematisches Absinken bei vielen vitalen Körperfunktionen.

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Wenn die Gefühle im Inneren verbleiben, wird dies schließlich seinen Tribut von der Gesundheit eines Menschen fordern. Verdrängung ist eine konstante Kraft, die das System zermürbt, und das führt möglicherweise zu einer verkürzten Lebensspanne. Nach meinen Beobachtungen kann tiefe Verdrängung frühen katastrophalen Schmerzes zu katastrophaler Krankheit führen, nicht zuletzt zu Krebs. Es gibt ein paar vorläufige Beweise, dass ein Trauma im Mutterleib zu einigen Arten von Krebs bei den Nachkommen führen kann. Mütter, die übermäßig trinken, haben ein größeres Risiko, in ihren Nachkommen Krebs zu erzeugen. Je früher die Einprägung, umso wahrscheinlicher das verheerende Resultat Jahre später.

Ein Artikel in der New York Times hat Anteil am beständigen Anwachsen neuer Informationen, die spätere Krankheit mit dem Trauma im Mutterleib in Verbindung bringen. „Die Beweise häufen sich, obwohl die Forschung noch im Anfangsstadium ist, dass die Perioden vor und gleich nach der Geburt, die Kindheit und frühes Jugendalter viel bedeutender für das Brustkrebsrisiko sind als man vermutet hatte", stellte Dr. Karin B. Michels, Epidemiologin von der Harvard Medical School fest. Des weiteren behauptet der Artikel, dass ein Baby, das bald nach der Geburt schädlichen Substanzen ausgesetzt ist, gefährdet ist, einer späteren Krankheit anheim zu fallen.

Nachdem ich gerade erklärt habe, warum Gefühle Ausdruck brauchen, fällt mir ein Artikel in der London Sunday Times auf. Darin werden Statistiken zitiert, um zu erklären, warum es am besten ist Gefühle nicht auszudrücken. (Das scheint alles so typisch Englisch). Sie behaupten, dass die Forschung zeige, dass „Ihrer schlechten Laune Luft zu machen" Sie noch angespannter zurücklässt. Natürlich, wenn Sie nur abreagieren oder einfach die Energie der Gefühle ablassen. Das ist es nicht, was Gefühle auszudrücken bedeutet. Das ist Freisetzung ihrer Energie. Die Autoren stellen fest, dass es besser ist, Zorn zu kontrollieren, indem man stattdessen etwas Ruhiges tut. 

Die Los Angeles Time betete in einem Hauptartikel dieselbe Meinung nach. Der Los-Angeles-Time-Artikel betrachtet Zorn als „selbstzerstörerische Gewohnheit". Sie sehen es als süchtig machend an, wie es jede Droge ist. Sie berichteten von einer Blutdruckstudie, in der der Ausdruck von Wut einen Anstieg des Blutdrucks verursachte. Dasselbe fanden wir in unserer eigenen Forschung, wenn Wut ein überlegter, bewusster Akt ist ohne Zusammenhang und ohne Hinabsteigen in ein primitiveres Gehirn. Wenn unsere Patienten auf die Wände unserer gepolsterten Räume im Zusammenhang einschlugen, wiesen sie einheitlich eine Senkung des Blutdrucks und der Herzfrequenz auf. Wir wissen aufgrund des sporadischen Steigens und Fallens der wichtigsten vitalen Körperfunktionen, wann es eine Abreaktion ist. Natürlich ist es kein Zufall, dass die Serotonin-Spiegel in aggressiven Persönlichkeiten niedriger sind (weil sie weniger effektiv verdrängen).

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DAMIENNE – 

FÜLL MICH VOLL

 

Diese Aussage „Füll mich voll" war eine meiner Lebensgeschichten; für mich ist die doppelte Bedeutung ziemlich tiefgreifend, sowohl in meinem Alkoholismus als auch in der Entbehrung, jemals zu bekommen was ich brauchte.

Im Alter von fünfzehn wurde ich offiziell als Alkoholikerin gebrandmarkt, obwohl ich schon mit dreizehn von einer katholischen Mädchenschule suspendiert worden war, weil ich in der Klasse ständig betrunken war und die Schule schwänzte, um in Bars rumzuhängen. Einmal hatte ich mir eine ganze Woche schulfrei genommen, als meine Mutter nicht in der Stadt war, um mit den Jungs herumzuhängen, die nebenan wohnten. Wir tranken die ganze Woche. Das folgende Jahr (im Alter von vierzehn) wurde ich zum Gehen aufgefordert, nachdem man mich auf einem Schulball beim Trinken und Rauchen erwischt hatte. In meinem fünfzehnten Lebensjahr schickte man mich auf ein Adventisten-Internat (laut meiner Mutter war ich unkontrollierbar). 

Nachts schlich ich mich davon, um mit den älteren Jungs von nebenan zu trinken, und besuchte Partys, nachdem ich meine Mutter über meinen Aufenthalt angelogen hatte. Ich sagte gewöhnlich, ich gehe ins Kino, wenn ich tatsächlich mit meinen Freunden in Nachtklubs ging. Meine Mutter war der Meinung, ich bräuchte "Disziplin". Ihre "Ich-treib’s-dir-aus"-Methoden hatten nicht funktioniert, ihre ständigen Drohungen mich an meinen „Scheiß-Vater" abzuschieben, der mich schon zurechtprügeln würde, hatten nicht funktioniert, und ihre Versuche mich wochenlang festzunageln, waren völlig wirkungslos.

In diesem Jahr machte ich mir keine Freunde, ich war eines von jenen schlechten Kids, eine "Unruhe­stifterin." Ich verfluchte alles (einschließlich der Kirche). Ich hielt Alkoholflaschen und Zigarettenpäckchen in meiner Matratze und an anderen Orten versteckt, sodass die Heimaufsichten sie während der wöchentlichen Zimmerinspektionen nicht finden würden. Ich bekam einen Teilzeitjob bei den Pferdeställen unten an der Straße, aber das bedeutete, dass ich Samstag morgens arbeiten musste. Die Schule zwang mich nach drei Wochen zu kündigen, weil ich den Sabbat (Samstag) heilig zu halten hatte. Ich war zerstört. Es war das Einzige, das mich gut fühlen ließ. Zum Ende des ersten Semesters wurde ich suspendiert, weil ich auf der Heimfahrt in die Ferien im Zug getrunken und geraucht hatte. Ich kann mich noch erinnern, wie meine Mutter in der Küche stand und mich anbrüllte, ich sei nichts als ein „nutzloses besoffenes kleines Miststück", während sie mich gleichzeitig ohrfeigte. Das war nichts Neues, mit diesen Worten war ich aufgewachsen, und dass sie mich verabscheute, war nur zu offensichtlich, soweit ich auch nur zurückdenken kann.

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Als ich zum zweiten Semester in der Schule zurück war, wurde ich von der Polizei erwischt, als ich Graffitis über die Schule auf die Wände öffentlicher Toiletten auf dem Stadtplatz sprühte. Ich hatte auch begonnen, mir das Motorrad von der Schulfarm zu nehmen und Freitag und Samstag nachts in die Stadt auszubüchsen, um in Pubs und Klubs zu gehen. Die anderen Kids hielten mein Verhalten für obszön. Was die Sache verschlimmerte: Alles, worüber ich redete, war, wie gemein und grausam meine Mutter war. Einmal ging ich zur Heimleiterin, nachdem mir meine Mutter in meinem Zimmer eine Tracht Prügel verpasst hatte (ein Überraschungsbesuch), nur um gesagt zu bekommen, dass ich es wirklich verdient habe. Zu meinem Unglück passte ich einfach nicht in die Schablone eines „guten christlichen Mädchens" Ich hatte mich wirklich schwer bemüht — manchmal — aber es war mir nie gelungen.

In einer fünftägigen Semesterpause fuhr ich nach Hause. Zuhause sagte ich zu, dem Ehemann der besten Freundin meiner Mutter bei der Reinigung seiner Yacht zu helfen. In jener Nacht waren wir beide wirklich betrunken, und er vergewaltigte mich. Ich schrieb einen Brief an eines der Mädchen in der Schule, in dem ich ihr meine Angst mitteilte, dass ich nun schwanger sein könnte. Ich schickte den Brief niemals los, und ich kehrte zur Schule zurück, ohne jemanden irgendetwas gesagt zu haben; ich schämte mich zu sehr

Ein Monat später bat mich meine Mutter an einem Wochenende nach Hause. Ich war so aufgeregt, weil meine Mutter mich sehen wollte. Meine Mutter nahm mich zum Essen mit in eines ihrer Lieblingscafés, aber als wir an den Tisch gingen, saßen die Freundin meiner Mutter und mein Stiefvater bereits da. Sie hatten mir eine Falle gestellt; meine Mutter hatte den Brief gefunden, den ich, wie ich dachte, in meiner Schublade vergraben hatte. Sie fragten mich aus und machten mich dann für das verantwortlich, was dieser vierzig Jahre alte Mann mir angetan hatte: Ich hätte getrunken und ihn dann verführt; ich war fünfzehn. 

Ich ging zur Schule zurück und wurde dann am Ende des zweiten Semesters hinausgeworfen, nur dieses Mal wegen versuchten Selbstmords. Ich konnte die Einsamkeit und Kränkung, die ich verspürte, nicht länger aushalten. Niemand mochte mich, niemand verstand mich, niemand wollte zuhören. Und wenn, dann glaubten sie mir nicht. Ich wollte nicht sterben, ich wollte jemanden, der sich sorgte und mir helfen würde. Niemand tat das. Der Doktor konnte es nicht glauben, dass meine Mutter nicht ins Krankenhaus kommen wollte und ihm sagte, ich suche nur nach Aufmerksamkeit.

Aus der Klinik kehrte ich auf das Adventisten-Internat zurück, nur um vom Direktor gesagt zu bekommen, dass die Schule mein störerisches Verhalten nicht länger hinnehmen werde und dass ich ein „nach Aufmerksamkeit trachtendes kleines Miststück" sei. Auch er wusste nicht, was meine Mutter mit mir machen sollte. Sein Rat war, „sie in ein Mädchenheim zu stecken."

Ich ging zu meiner Mutter nach Hause, die meinen Anblick hasste. Sie hatte einen neuen Mann in ihrem Leben, einen von vielen seit der Scheidung meiner Eltern vor drei Jahren. Meine Trunksucht verschlimmerte sich ständig. Nun war ich nicht mehr in der Schule, sondern die ganze Zeit bei meiner Mutter zuhause, und es war nicht auszuhalten.

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Mit sechzehn warf mich meine Mutter aus dem Haus, wegen meines Trinkens und Rauchens, und weil sie auch die Pille in meiner Schublade fand. Nach der Vergewaltigung hatte ich die Antibabypille genommen und war sexuell sehr aktiv geworden. Eine Freundin von mir nahm mich auf, und ich blieb bei ihr und ihrem alkoholkranken Vater, während ich die lokale High-School besuchte. Zu dieser Zeit kam mein Vater und fragte, ob ich mit ihm leben und weiter versuchen wolle, auf der Schule zu bleiben.

Ich zog bei meinem Vater ein und begann, auf das lokale College zu gehen (meine vierte High-School), aber jeden Tag nahm ich eine Thermoskanne mit zur Schule, voll mit Gin und Tonic, Southern Comfort und Limonade, oder was ich gerade in die Finger kriegen konnte. Zur Mittagszeit war ich gewöhnlich ziemlich betrunken. Ich lebte jetzt bei meinem Vater, und mein Leben war ein Alptraum. (Er war schwerer Alkoholiker, wie Mami sagte.) Jedes Wochenende ging ich zum lokalen Rugbyverein und sah den Spielen zu. Hinterher betrank ich mich und hatte Sex mit jedem Spieler, der gerade Lust hatte. Die Aufmerksamkeit fühlte sich so gut an.

Nachdem ich wegen Trinkens und Mitnahme von Alkohol schon wieder von einer Schule geflogen war und nachdem mein Vater von meiner extremen Promiskuität gehört hatte, bekam ich eine schwere Tracht Prügel. Der Doktor dachte, mein Schädel sei gebrochen. Gott sei Dank war das nicht der Fall. Ich lief von Zuhause weg und beschloss zu versuchen, einen Job zu bekommen und auf eigenen Füßen zu stehen. Jetzt war ich völlig auf mich alleine gestellt und niemandem rechenschaftspflichtig. Ich war alleine. Ich bekam und verlor in den nächsten acht Monaten drei verschiedene Jobs, entweder weil ich verkatert war, zu spät kam oder erst gar nicht antrat.

Woran ich Sie jetzt teilhaben lasse, ist für mich das Verheerendste im Hinblick auf den Preis, den ich für meine Alkoholsucht zahlte.

Mit siebzehn wurde ich schwanger, was mir zu der Zeit sehr wenig bedeutete. Der Vater und ich, wir trafen uns jeden Tag nach der Arbeit in unserer lokalen Bar und tranken bis zur Sperrstunde. Gewöhnlich wachte ich am Morgen auf und trank ein Bier zum Frühstück um mich besser zu fühlen (Katerfrühstück, sozusagen) und ging dann zur Mittagszeit in die Bar auf einen Drink. Ich rauchte auch fünfzig bis sechzig Zigaretten am Tag und Marihuana, wenn ich es bekommen konnte. Der Vater warf mich raus, als ich im fünften Monat schwanger war, und ich machte mit dem Trinken weiter bis zwei Wochen vor der Geburt. Ich war achtzehn und hatte einen neugeborenen Sohn, um den ich mich jetzt kümmern sollte, obgleich meine Mutter mehrere „reiche" Leute in Aussicht hatte, die kommen wollten um mein Baby zu adoptieren, sogar ein Paar aus Australien. Ich weigerte mich, ihn aufzugeben.

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Zu der Zeit, als mein Sohn drei Monate alt war, trank ich wieder schwer; und das in solchem Maße, dass ich eines Nachts auf eine Party ging und mich so betrank, dass ich ihn bei meiner Rückkehr schreien hörte, und so nahm ich ihn auf, um ihn zu füttern (ich gab ihm noch die Brust); ich ging quer durchs Wohnzimmer, und auf halber Strecke ließ ich ihn aus Brusthöhe fallen. Ich stieg über ihn, setzte mich in einen Sessel und ließ ihn auf dem Boden schreien. Ich hatte total vergessen, was ich gerade getan hatte. Gott sei Dank war er körperlich unverletzt.

Nachdem ich unmittelbar vor der Geburt in das Haus meiner Mutter zurückgekehrt war, zog ich wieder aus, als mein Sohn sieben Monate alt war. Meine Mutter hatte unserem Hausarzt erzählt, welch „unakzeptable Person" ich doch sei, während ich ihn wegen meiner Depression aufsuchte und wegen meiner Trinkerei; ich erzählte ihm von der missbräuchlichen Behandlung, die ich zuhause erhielt. Ich durfte nicht ausgehen. Zuhause kochte und putzte ich und erledigte die ganze Wäsche für die Familie, während ich gleichzeitig versuchte, mich um mein Baby zu kümmern. Ich zahlte 100 Dollar die Woche für Kost und Logis, damit ich überhaupt zuhause bleiben durfte. Ich glaube, mir erging es schlechter, als es Cinderella jemals ergangen war.

Die Heilsarmee nahm mich auf in ein Haus für misshandelte Frauen. Dort ließ ich meinen Sohn gewöhnlich bei den anderen Müttern zurück und ging zum Trinken. Als er zwölf Monate alt war, war ich erneut schwanger. Ich war wie gelähmt. Ich konnte mich um das Kind nicht kümmern, das ich bereits hatte und eigentlich nicht wollte. Was zur Hölle sollte ich mit einem zweiten? Mit neunzehn beschloss ich, eine Abtreibung zu machen. Sobald ich meine Entscheidung getroffen und den Termin vereinbart hatte, machte es mir nichts mehr aus. Auch als der Arzt nach dem Eingriff zu mir kam und mir ziemlich wütend erklärte, dass ich über der Zwölf-Wochen-Frist gewesen sei und dass er „es" in Stücken herausziehen musste, spürte ich nichts. In jener Nacht ging ich geradewegs in den Klub und betrank mich.

Als mein Sohn älter wurde, nahm mein selbstzerstörerisches Verhalten immer größere Ausmaße an. Nachts ließ ich ihn alleine zuhause und ging zum Trinken. Am Morgen wachte ich entweder nicht auf oder kam nicht aus dem Bett, um mich um ihn zu kümmern. Viele Stunden lang lag er in nassen und schmutzigen Windeln. Wenn er sie selbst herunter bekam, krabbelte er im Schmutz herum.

Zusammen mit meiner Trunksucht litt ich an unkontrollierbarer Wut und Tobsuchtsanfällen. Zu der Zeit, als mein Sohn vier Jahre alt war, hatte ich ihn bereits ernsthaft körperlich und seelisch misshandelt. Eines Tages, nachdem ich die ganze Nacht getrunken hatte, konnte ich das unaufhörliche Flehen meines Sohnes nicht länger ertragen. Ich schlug ihn mit einem Baseballschläger aus Plastik. Schließlich griff ich zum Telefon und bat um Hilfe.

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In den nächsten Jahren hatte ich „intensive Psychotherapie". Einmal die Woche sah ich einen Psychotherapeuten, der mir beizubringen versuchte, meine diversen Erinnerungen in einem imaginären Bücherregal abzulegen, weil sie kein Teil meines gegenwärtigen Lebens mehr seien. Einmal pro Woche traf ich einen Elternberater, der mir beibringen wollte, eine bessere Mutter zu sein, und dass ich meinem Sohn nicht antun müsse, was mir angetan worden war. Eine Nacht pro Woche ging ich zur Gruppentherapie und spielte mit anderen Leuten verschiedene Rollen und Situationen durch, aber wir mussten unsere Gefühle im Zaum halten, um die anderen nicht zu sehr zu beunruhigen. Ich ließ mich regelmäßig in Wochenend-Kurse für Zorn-Management einschreiben, durfte aber niemals wütend werden. Es ging darum, meinen Zorn zu kontrollieren, zu lernen positiv zu sein und nette Sachen zu machen. Das machte mich rasend, aber ich ging weiter hin, weil ich dachte, sie hätten Recht und ich sei das Problem.

 

Ich bemühte mich wirklich sehr, mit dem Trinken aufzuhören. Manchmal schaffte ich es mehrere Monate lang. Ich dachte es gehe mir besser. Ich nahm immer noch ein paar Drinks mehrere Nächte pro Woche zu mir, aber ich war nicht mehr obszön betrunken. Das Problem war, dass ich nach Monaten der Abstinenz (oder was es für meine Verhältnisse war) heftiger als jemals zuvor zur Flasche griff. Mein Sohn musste in Pflegeobhut, während ich vierundzwanzig Stunden am Tag trank, sieben Tage die Woche und manchmal für die Dauer von bis zu sechs Monaten. Die Therapie verschlimmerte meinen Zustand. 

Nachdem ich drei Jahren versucht hatte, „meine Vergangenheit hinter mich zu bringen", und immer wieder gescheitert war, explodierte ich buchstäblich. Ich schlug meinen Sohn so übel, dass ich eine Ambulanz rufen musste. Ich dachte, ich hätte ihn getötet. Als die Polizei eintraf, spielte er mit den Sanitätern, grün und blau geschlagen und arg mitgenommen, aber nichts gebrochen. Ich tobte immer noch, aber nun ließ ich es an den Leuten aus, die zu helfen versuchten. Ich hatte keine Ahnung, was mit mir geschah. Mein Sohn kehrte in Pflegeobhut zurück, und ich kehrte zur Flasche zurück.

Alle meine Beziehungen waren voller Falschheit und scheiterten am Ende. Ich kann mich an die ganzen One-Night-Stands, die ich hatte, nicht mehr erinnern. Ich suchte einfach die ganze Zeit nach Aufmerksamkeit. Tatsächlich brüstete ich mich damit, dass ich sogar die erfahrensten Säufer unter den Tisch trinken könne, wodurch ich eine Menge Aufmerksamkeit erhielt.

Am vierzehnten Mai 1996 traf ich den Mann, mit dem ich nun verheiratet bin. Er machte mich mit der Primär­therapie vertraut. Ich las den „Urschrei" in zwei Tagen vom Anfang bis zum Schluss und überflog in dieser Woche noch zwei weitere Bücher von Dr. Janov. Ich wollte diese Primärtherapie machen.

Seit beinahe zwei Jahren bin ich nun in Primärtherapie, und bis zum heutigen Tag habe ich seit zehn Monaten überhaupt nichts getrunken, und auch damals war’s nur eine Nacht, und vor der hatte ich sechs Monate nichts getrunken.

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Zwei Monate vor dem Start der Therapie begann ich Antidepressiva zu nehmen, weil ich es nicht aushalten konnte, machte aber mit dem Trinken weiter. Ich spürte keine Wirkung von den Medikamenten. Dann landete ich in einer Klinik mit einem Zustand, der Pseudo-Tumor Cerebri genannt wird (eine Überproduktion von Rückenmarksflüssigkeit erzeugt immensen Druck auf das Gehirn). Nicht nur, dass ich emotional nicht zu Rande kam; mein Körper reagierte nun auf ein ganzes Leben aufgetürmten Schmerzes. Alles war zu viel.

Der Neurologe erklärte mir, ich könne mit der Therapie frühesten in drei bis vier Monaten beginnen, wenn nicht erst in sechs. Ich war am Boden zerstört. Ich war eine halbe Welt von meiner Heimat entfernt, suchte verzweifelt nach Hilfe, und die sagen mir, dass ich sie nicht bekommen kann. Ich war auf Medikation wegen meiner Krankheit und auch wegen meines emotionalen Zustandes, ich war mit der strikten Verordnung von Lumbalpunktionen konfrontiert und fühlte mich hoffnungslos und hilflos bis zum Äußersten. Ich musste meinen Sohn per Flugzeug nach Hause schicken, weil ich weder körperlich noch anderweitig fähig war, mich um ihn zu kümmern, und mein Mann begann gerade seine dreiwöchige Intensivphase im Institut.

Während dieser drei Wochen meines Mannes musste er soviel Zeit wie möglich in Isolation verbringen, was bedeutete, dass auch ich isoliert war. In dieser Zeit war mir, als würde ich gleich verrückt werden. Jeden Tag rief ich im Institut an, und sie redeten mit mir, manchmal stundenlang, sodass ich mich nicht so alleine fühlte. Sie hatten meine Medikation wieder geändert und die Dosis erhöht, aber wenn ich nachts allein im Motelzimmer saß, trank ich eine dreiviertel Flasche Gin zur Erleichterung. Gott sei Dank konnte ich im folgenden Monat mit der Therapie beginnen.

In den ersten zwölf Monaten der Therapie war ich ernsthaft überlastet und funktionierte nicht auf der Basis tagtäglicher Sitzungen. Ich hatte kein Schleusensystem und keine Abwehrmechanismen, um die Flut von Schmerz, die mich überwältigte, zurückzuhalten. Anfangs benötigte ich viel Unterstützung durch Medikamente, weil ich die Gefühle nicht abstellen konnte. Auch machte man mir klar, dass man mich in eine Anstalt einweisen müsse, wenn ich mit dem Trinken weitermachen würde. Durch die Mischung von Drogen und Alkohol bestand die Möglichkeit eines Gehirnschadens. Einmal war ich auf einer Kombination von Haliperidol, Valium, Temapezam (Schlafmittel) und Clonidin, und manchmal musste ich noch zusätzlich trinken. (Laut meinem Therapeuten bräuchte es weniger Beruhigungsmittel, um einen Elefanten ins Land der Träume zu schicken). Nur durch die ständige Therapie und riesige Unterstützung seitens des Primal Centers war ich schließlich in der Lage, zu begreifen und mein Leben zu ändern.

Die Einsichten kamen zustande durch das Wiedererleben vieler unterschiedlicher Erinnerungen, die sich um meine Mutter drehen, und wie sich mich in meiner ganzen Kindheit behandelte, sowie um die Ereignisse zur Zeit meiner Geburt.

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Die Geburt war der Anfang meines höllischen Lebens. Meine Mutter hatte einen Kaiserschnitt nach sechsund­dreißigstündigen Wehen, während derer ich von der Nabelschnur stranguliert wurde und mich in Steißposition befand. Ich wurde sofort von meiner Mutter entfernt und in die Intensivstation verlegt, weil ich Atmungsprobleme hatte, und meine Mutter hatte eine heftige allergische Reaktion auf das Betäubungsmittel während des Kaiserschnitts; sie wurde zur Genesung ebenfalls auf die Intensivstation gebracht.

Ich erinnere mich, wie ich eines Tages zu einer weiteren Sitzung im Primal Center ankam. Ich fühlte mich nervös, gehetzt, reizbar und einfach unbehaglich. Mein Therapeut maß die Werte meiner vitalen Körper­funktionen, die wirklich hoch waren: Blutdruck 160/110, Temperatur 99,3° F ((37,4°C)). Im Therapieraum begann ich darüber zu reden, wie heiß mir war und wie schrecklich mir zumute war angesichts meiner Angst, dass ich es niemals schaffen würde in L.A. zu leben. Ich konnte nicht arbeiten oder angemessen funktionieren, weil ich immer entweder am Heulen oder Toben war. Auch musste ich versuchen, mich um meinen Sohn zu kümmern, wenn doch mein einziger Wunsch darin bestand, ihn an die Wand zu schmeißen. Der Therapeut fragte nach meinem Sohn. Ich war so wütend, weil ich mich um ihn kümmern musste und kaum in der Lage war, mich um mich selbst zu kümmern. Niemand hatte sich je um mich gekümmert. Warum musste ich mich um ihn kümmern? Es war nicht fair und machte mich stocksauer. Der Therapeut fragte mich, was ich mit ihm tun würde, wenn er hier wäre. Ich fing an, mit den Fäusten auf die Wand einzuschlagen, brüllte und heulte gleichzeitig. „Ich hasse dich, ich hasse dich, ich hasse dich."

Und dann begann ich unkontrolliert zu weinen, und ich verspürte körperlichen Schmerz in meinem Magen und hatte gleichzeitig das Gefühl, als würde mich etwas peitschen. Ich beginne mich an die Wände zu krallen und versuche, an ihnen hochzuklettern; schreiend vor Entsetzen versuche ich, von meiner Mutter wegzukommen. Ich bin zurück im Damals und höre, wie sie mich anbrüllt: „Du verfluchtes kleines Miststück." Ich kann fühlen, wie das alkaline Rohrleitungsstück die Rückseite meiner Schenkel verbrennt und mir die Haut abzieht, als sie wieder und wieder auf mich einschlägt. Ich schreie und schreie und will durch die Wand, und ganz plötzlich kann ich nicht mehr atmen und beginne, in Panik zu geraten. Der Therapeut ermutigt mich „dabei zu bleiben". 

Ich fange an, ein Stück meiner Geburt zu fühlen. Ich kann nicht atmen, und mein Körper krümmt sich nach hinten. Mein Nacken dehnt sich weiter, als würde er nach hinten gezogen. Das bringt mich um! Ich breche aus und gehe geradewegs in die Szene zurück, in der ich von meiner Mutter terrorisiert werde. Der Therapeut berührt mich an der Schulter und sagt, dass es nun gut ist. Um mir Gewissheit zu geben, dass ich nicht noch in der Vergangenheit bin, sagt er zu mir: "Sie kann dich jetzt nicht verletzen." Ich setze mich auf und beginne, ihm von der Erinnerung zu erzählen, die ich hatte. Als ich das tue, erkenne ich allmählich, wie sich das Gefühl durch mein ganzes Leben knüpft.

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Die Verknüpfungen (Einsichten) geschehen als Reaktion auf den gesamten therapeutischen Prozess. Es beginnt damit, wie ich in der Gegenwart emotional so wütend auf meinen Sohn bin, weil er bedürftig ist und von mir fordert, dass ich für ihn sorge und mich um ihn kümmere. Das lässt sich auch an meinem Körper sehen anhand solcher erhöhter körperlicher Messwerte. 

Meine erhöhten Werte sind ein Hinweis auf den Kampf, der sich in meinem System zwischen dem Fühlen abspielt, das nach Ausdruck verlangt, und der Abwehr gegen diesen Ausdruck Der erfahrene Therapeut weiß, dass unter der Wut, die ich in der Gegenwart äußere, irgendwo in der Vergangenheit eine bestimmte Erinnerung an ein unerfülltes Bedürfnis begraben liegt, welche jetzt mein Überreagieren verursacht. Indem er mich ermutigt und, was äußerst wichtig ist, mir erlaubt, diese Überreaktion voll auszudrücken, kann ich zu dem Zeitpunkt zurückreisen, als das Bedürfnis nicht erfüllt wurde. Während meiner Sitzung erkannte ich, dass ich Hilfe brauchte, um meine Mutter davon abzuhalten, mich nochmals zu verletzen; aber ich war völlig alleine und musste ihre ständigen Misshandlungen überleben. Ich kämpfte um mein Leben, gerade als ich doch Hilfe und Schutz brauchte und nicht bekam. Wenn ich mich auf diese Zeitreise zurück begebe, geht das Gefühl sogar tiefer bis zu meiner Geburt. Wieder bin ich in Schwierigkeiten. Ich kann nicht atmen, und die Empfindung, dass mich etwas stranguliert, ist entsetzlich. Ich benötigte Hilfe, aber ich war völlig alleine und fühlte mich, als würde ich sterben. Der Schmerz von all dem ist zuviel, ich kämpfe um mein Leben. Das Endergebnis ist die Erkenntnis, dass das Bedürfnis meines Sohnes nach Hilfe und Fürsorge das Spiegelbild von dem ist, was ich brauchte und niemals bekam.

Primärtherapie funktioniert wie eine Leitung, die meine schmerzvolle Vergangenheit mit meinen gegenwärtigen Handlungen und Gefühlen verbindet. Es geschieht durch diese Verknüpfung ins Bewusstsein, dass ich gesund werden kann; die Verknüpfung bedeutet, dass ich das Gefühl empfunden habe, sodass es nicht länger in meinem System gefangen ist. Das kann man auch am Ende meiner Sitzung sehen. Als der Therapeut wieder meine Werte nahm, waren die Ergebnisse 130/85, Temperatur 98° F – ein wesentliches Absinken der vitalen Körperfunktionen, das zeigt, dass der Druck auf mein Körpersystem nachgelassen hatte. Hierin liegt der Hauptunterschied zwischen Primärtherapie und allen anderen Praktiken. Ein Primärfeeling ist durch das gesamte System hindurch verknüpft. Weinen, Leiden und Wut sind die emotionalen Komponenten; die physischen Schmerzempfindungen sind solche, wie ich sie in meinem Magen verspürte, und die Erinnerung meines Körpers an die Prügel, zusammen mit meiner Geburt. Diese Erinnerungen werden dann in mein Bewusstsein transportiert. Der Schlüssel dafür ist die Erkenntnis, dass „Fühlen" ein neurobiologischer Zustand ist.

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Die Primärtherapie hat mein Leben vollkommen verändert. Das ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass ich jetzt die Fähigkeit besitze, den Schmerz und den Kummer freizusetzen und mein System von diesen Gefühlen zu entleeren anstatt zu vergessen oder so zu tun, als seien sie nicht länger Teil von mir. Ich habe gelernt, dass ich die Traumen meiner Vergangenheit wiedererleben muss, um das zu fühlen, was mein kindliches System zu jener Zeit nicht aushalten konnte. Als Kind soviel Schmerz zu fühlen, hätte mich töten oder psychotisch machen können. 

Weil ich mir dessen bewusst war, konnte ich zu Erinnerungen und Zeiten zurückgehen, als meine Mutter mich verletzte, und ich fühlte, dass sie mich hasste, aber jetzt kann ich die absoluten Höllenqualen fühlen, allein, ungeliebt und missachtet zu sein. Nachdem ich kleine Stückchen dieses Feelings aus meinem Inneren entleert habe, ist nun Platz, um guten Gefühlen Einlass zu gewähren, wie z.B. von anderen zu hören, dass sie mich mögen und dass ich ein freundlicher und großzügiger Mensch sei. Ich kann fühlen und glauben, dass es aufrichtig gemeint ist. Ich bin nicht mehr das kleine Mädchen, das alleine war und verabscheut wurde, was wiederum mein Verlangen nach ständigem Alkoholkonsum weniger werden lässt, weil ich nicht versuche, die Leere, die ich fühle, aufzufüllen oder mich vor meinem Elend zu verstecken, weil ein Teil davon verschwunden ist.

Es ist schwierig, die Wucht eines Feelings zu beschreiben. Nachdem ich Dr. Janovs Bücher gelesen hatte, glaubte ich, ich wüsste es. Tatsächlich hatte ich keine Ahnung, bis ich mit der Therapie begann. Meine Gefühle sind in meiner Psyche, meinem Körper, meiner Persönlichkeit, in meinem ganzen Sein enthalten, und deswegen ist es nicht genug, über alles zu weinen und zu reden, wie andere Therapien mich glauben machten. Ich habe mein Leben damit verbracht, auf meine Vergangenheit zu reagieren. Ich habe geglaubt, ich sei eine schreckliche Person und niemand könne jemals dieses hartgesottene Miststück lieben, das immer zum Angriff bereit war. 

Ich erkannte nicht, dass ich in Wirklichkeit noch immer das verängstigte kleine Mädchen war, das einfach versuchte sich selbst zu schützen und nicht zulassen wollte, dass man es noch einmal verletzte. Ich laufe nicht mehr herum wie ein tollwütiger Hund, der versucht, alle auf Distanz zu halten und der in Situationen überreagiert, die ihn erschrecken. Ich kann unterscheiden zwischen der Realität, dass jemand etwas sagt, das verletzend ist, und dem Gefühl, das von meiner Mutter herrührt, dass man mich halb totschlagen will. Das bedeutet, ich beginne ein Leben zu gründen, das darauf aufbaut, dass ich eine erwachsene Frau bin, und lasse nicht meine persönliche Geschichte bestimmen, wie ich dieses Leben führe.

Ich habe nun auch die Fähigkeit, auf die Bedürfnisse meines Sohnes zu sehen und zu hören, ich kann ihm zuhören und ich kann geben, wozu ich vor der Primärerfahrung niemals imstande war. Er war für mich der Sündenbock und Lückenbüßer. Jetzt sein Lachen zu hören und es zu genießen, ihn zu halten, wenn er Angst hat, ohne ihm zu sagen, er solle erwachsen werden, weil ich damit nicht umgehen kann, oder ihn weinen zu lassen, wenn er traurig ist, ohne ihm zu sagen, er solle ruhig sein, weil ich es nicht hören will, das ist für mich beinahe schon ein übernatürliches Meisterstück.

Jetzt habe ich die Fähigkeit zu „FÜHLEN", was vor so langer Zeit schief gelaufen war, und kann von innen heraus gesund zu werden. Es gibt keinen anderen Weg, das zu erreichen.

ANMERKUNGEN  Quellennachweise 1 – 12

 

181-182


  

10.  DER AUSLÖSENDE 

EFFEKT 

 

 

Ein Patient von mir, Joe, wurde um 7 Uhr durch einen Telefonanruf aufgeweckt. Die Person am anderen Ende sagte "Oh, Verzeihung. Falsche Nummer", und legte auf. Mein Patient verfiel darauf in eine Depression. Zuerst wusste er nicht warum. In unseren Sitzungen ließ ich ihn jene Depression erfahren, ein Prozess, den ich ein Gefühl fühlen nenne. Mein Patient fühlte: „Niemand ist an mir interessiert."

In seiner Vorstellung wusste die Anruferin sofort, dass er nicht derjenige war, den sie wollte. Das brachte ihn in seine Kindheit zurück, wo Unglück und finanzielle Sorgen seiner Familie Vorrang vor seinen Bedürf­nissen gewannen und in ihm das Gefühl zurückließen, er werde völlig übergangen. Seine Eltern waren voll damit beschäftigt, über die Runden zu kommen und den Tod eines Familienmitglieds zu bewältigen. Er entdeckte, dass er aus ein- und demselben Grund die meiste Zeit seines Erwachsenenlebens deprimiert war.

Als er den Anruf der Person erhielt, die sich verwählt hatte, löste das jenes verborgene Gefühl aus. Mein Patient wurde nicht abgelehnt, aber er glaubte das. Das Gefühl war in seinem Gehirn lebendig geworden und änderte seine Wahrnehmung. Glücklicherweise war er in der Lage, sich damit zu befassen, indem er es fühlte, es mit dem frontalen Kortex verknüpfte und einen Teil davon auflöste. Aber wie werden diese Gefühle in unser System eingeprägt? Warum leben sie fort, und wo?

In unseren Sitzungen offenbarte Joe, dass er eine Frau wollte, die ihm unter Ausschluss aller anderen ihre totale Aufmerksamkeit schenken würde – ein Bedürfnis, das unmöglich zu erfüllen ist. Dies half, die Serie seiner misslungenen Beziehungen zu erklären.

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Er wollte eine aufmerksame „Mutter", sodass er sich nie wieder übergangen fühlen würde, eine Rolle, die nie jemand erfüllen konnte außer seiner eigenen mittlerweile verstorbenen Mutter. Sie hätte das Bedürfnis nur während der kritischen Periode erfüllen können.

Wenn sie jetzt zurückkäme und ihn völlig liebte, so wäre es zu spät. Es könnte die Prägung abschwächen, nicht jedoch umkehren. Dieser Patient musste als Erwachsener fühlen, was er als Kind nie wirklich fühlte: dass niemand an ihm interessiert war. Sie kümmerten sich nur um sich selbst und ihre Probleme. Er muss zeitlich zu einem primitiveren Gehirn zurückgehen und mit diesem Gehirn erfahren, was er zu jener Zeit nicht erfahren oder fühlen konnte.

Das Ausagieren dieses Patienten bestand darin, eine Mutter/Frau zu finden. Und als jemand abrupt den Hörer auflegte, wurde er in die realen Gefühle gestürzt, die er sein Leben lang verbarg: Niemand will mich. Anstatt jedoch sich selbst zu erlauben, das Gefühl zu fühlen (meine Mutter will mich nicht haben), verdrängte er es und bekam deshalb eine Depression. Er hatte die Hilfe vieler Chemikalien, die jenes einfache und dennoch qualvolle Gefühl von seinem Bewusstsein fern hielten.

Wenn wir bestimmte Prinzipien der Gehirnfunktion untersuchen, kann uns das begreifen helfen, warum wir deprimiert werden, warum wir ängstlich sind, warum wir nicht schlafen oder mit anderen auskommen können. Was hat das Gehirn damit zu tun? Können Sie gesund werden, ohne das Gehirn zu ändern? Ich denke nicht. Sich besser zu fühlen erfordert mehr, als sich selbst von Rückenschmerzen oder entzündeten Muskeln zu befreien. Sie müssen überall gesund werden, weil sich die Erinnerung überall befindet. Wir haben dahin tendiert, die Patienten zu fragmentieren und sie stückchenweise zu behandeln. Zu oft nehmen wir eine Migräne und versuchen, die zu bessern, oder hohen Blutdruck und versuchen, den zu bessern, oder eine Phobie und versuchen, die zu bessern. Wir behandeln jedes Symptom, als würde es nicht zu einem ganzen Menschen gehören. Spezialisten werden zu Experten für Symptome und nicht für Ursachen.

Die konventionelle Psychotherapie ist durchdrungen von dem Glauben, dass Sie im Geist gesund werden können — in Ihrem denkenden präfrontal-kortikalen logischen Verstand — dass Sie sich Ihren Weg zu Gesundheit denken können. Ich glaube, es ist unmöglich, auf diese Weise gesund zu werden und berufe mich dabei auf folgerichtige neurologische Grundsätze. Wir mögen denken, dass wir gesund werden, aber das ist nicht dasselbe wie gesund zu sein. Das Gehirn ist wohl in der Lage, sich selbst zu täuschen. Was ist „gesund"? Wenn es nur eine Angelegenheit dessen wäre, was wir über uns denken, dann wären all die religiösen Bekehrungen, die Auferstandenen und die göttlichen Erscheinungen genauso gültig wie jede Psychotherapie, und der Anspruch auf Heilung in vielen Sekten käme demjenigen in jeder Psychotherapie gleich.

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Ein Patient erzählte mir, dass er als kleiner hyperaktiver Junge in der Klasse ständig ausagierte und unfähig war, still zu sitzen und sich zu konzentrieren. Als er acht war, beschlossen seine Eltern, ihn auf ein Internat zu schicken, damit er „Disziplin" lernen würde. Eines Tages saß er im Direktorat seiner Mutter gegenüber. Er hatte keine Ahnung, was er falsch machte. Er sah in die zornigen Augen seiner Mutter und wusste, dass er von ihr nie wieder Hilfe bekommen würde. Es war die endgültige Ablehnung. Er war sich seiner ständigen Bewegungen und seiner Unfähigkeit still zu sitzen nicht bewusst. Es hatte fast ganz am Anfang seines Lebens begonnen.

Dann schickte man den Jungen zur Begutachtung zu einem Psychologen. Man legte ihm den Rorschach-Test vor. Nach jedem Bild bat er inständig den Psychologen, er möge es ihm sagen, wenn er die richtige Antwort gab. Keine Reaktion. Keine Bestätigung. Er fühlte schreckliche Angst, weil er glaubte, dass es ihm nie erlaubt sei, nach Hause zu gehen, wenn er die falsche Antwort gäbe. Und so war es; jahrelang wurde ihm nicht gestattet, nach Hause zu kommen. Er konnte nicht fragen, ob er nach Hause gehen dürfe, weil er spürte, dass es niemanden gab, den er fragen konnte. Seine Eltern besuchten ihn kaum im Internat.

Später als Erwachsener brauchte er ständige Aufmerksamkeit und Gewissheit. Immer wenn seine Frau das Haus verließ, um Einkäufe zu machen, wurde er ängstlich und fühlte sich abgelehnt. Er war überzeugt, dass sie einen anderen traf. Die Beziehung scheiterte letztendlich. 

(Der renommierte George Miller-Preis für Psychologie aus Hand der American Psychological Association wurde 1998 an eine Frau vergeben, die behauptet, dass Kindheitsereignisse, welche die Eltern betreffen, uns nicht ins Erwachsenenalter folgen!)

 

 

KOMM EINFACH DARÜBER HINWEG !

Warum konnte dieser Mensch nicht einfach „darüber hinweg" kommen und mit seinem Leben weitermachen? Er brauchte seine Mutter so sehr, dass sich in seiner Seele alles verbog. Verbiegt sich das Gehirn tatsächlich? Ist es umkehrbar? Ja. Was wir früher für ein genetisches Gesetz gehalten haben, kann in Wirklichkeit darauf zurückzuführen sein, was während unserer neun Monate im Mutterleib geschah. Unsere Erfahrungen im Mutterleib können für viel mehr verantwortlich sein, als wir uns vorstellen können, von Drogensucht und Alkoholismus bis zur Psychose und sexuellen Abweichung. In diesem Buch werde ich eine Reihe von Forschungsergebnissen zitieren, die meinen Standpunkt bekräftigen. Nehmen Sie beispielsweise eine schwangere Frau, die chronisch ängstlich ist, vier Tassen Kaffee am Tag trinkt, raucht und niemals aufhört herumzuflitzen.

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Ihre geschwinde Biologie kann sich auf ihren Fetus auswirken, ihn mit Erregung, Reizung und Impulsen überfluten, die sich anhäufen und die sich neu entwickelnden integrierenden Zentren des Babygehirns bedrohen. Später dann werden dem Kind viele Aufgaben zugeteilt, es darf nicht ausrasten und wird gezwungen, in der Schule sehr gute Noten zu erzielen. Es fühlt sich chronisch überwältigt, nicht nur durch die Aufgaben, sondern auch durch die ganze Überreizung, die es während der Schwangerschaft erhielt; und die hatte das Kind tatsächlich überwältigt, nicht in abstraktem sondern in biologischem Sinne. Diese Faktoren bauten sich auf und versahen es angesichts der kleinsten Aufgaben mit der wahren Empfindung, die Sache sei ihm über den Kopf gewachsen.

Dieser Prozess ist eine physiologische Einprägung tief im Gehirn, welcher später der nun gereifte Kortex lediglich einen Namen verpasst: „über meinen Kopf". Bis dieser Kortex ins Spiel kommt gibt es ein grenzenloses Ausagieren der Empfindung, nicht in der Lage zu sein mit etwas Kompliziertem umzugehen. Die Person muss ausagieren, damit sie ein Gleichgewicht im System — Homöostase — herstellen kann. Das System kann nur ein beschränktes Maß an Eingaben aufnehmen. Diese Art von Mensch steht schon just an der Schwelle, wo ihm die Dinge über den Kopf wachsen. Lassen Sie mich nochmals wiederholen: Ausagieren ist ein Teil des homöostatischen Mechanismus. Wir sollten uns da nicht einmischen, bis wir wissen, was die zugrunde liegenden Kräfte sind. Zu viele der heutigen Therapien — körperliche und psychologische — sind Pfuschwerk. Sie versuchen, die kompensierenden Mechanismen zu korrigieren anstatt die Kräfte, die Kompensation erfordern.

Neues Beweismaterial aus Ultraschall-Fotos weist darauf hin, dass der Fetus im späteren Teil der Schwangerschaft die unmiss­verständliche Mimik des Schreiens zeigt. Besonders offensichtlich ist dies bei Müttern, die rauchen. Das Baby leidet – ein lautloser Schrei. Wenn es nach der Geburt wunderlich ist und Koliken hat, so wissen wir jetzt warum. Es hatte schreckliche neun Monate. Wenn wir gezwungen wären, still zu sitzen, während jemand neun lange Monate Rauch in unser Gesicht bliese, wäre das ein schweres Trauma. Der Organismus hat keine andere Wahl als sich vor dem Angriff des Sauerstoffentzugs zu verschließen. Genau wie bei der Pflanze, über die wir zu Anfang dieses Buches gesprochen haben, die nur ein gewisses Maß an Sonnenlicht aufnehmen konnte, muss das Niveau der Verdrängung oder Hemmung ansteigen, um der Bedrohung entgegenzutreten.

Selten sagt ein Mann zu sich selbst: „Ich will, dass sich jemand um mich kümmert." Vielmehr wird das Bedürfnis sofort ohne vollständiges Bewusstsein ((conscious-awareness)) ausagiert. Für ihn ist es „einfach ein gutes Gefühl", dass man sich um ihn kümmern sollte; sein Verhalten entspricht seinem unbewussten Bedürfnis und scheint logisch. Die Vergangenheit ist das Vorspiel. Er sagt: „Bring mir einen Kugelschreiber." Sie antwortet: „Hol ihn dir selbst. Ich bin nicht dein Dienstmädchen."

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Jetzt beginnt die Zankerei. Sie reagiert darauf, dass ihr ständig von ihrem Vater gesagt wurde, was sie zu tun hatte. Er agiert seine Abhängigkeit aus, weil früh in seinem Leben niemand zu Hause war, der sich um ihn kümmerte. Sein Vater und seine Mutter arbeiteten außer Hause. Seine Bedürfnisse gerieten mit denen seiner Eltern in Konflikt. Es kann mit der Geburt angefangen haben, als seine Mutter krank war und in der Klinik bleiben musste. Er hatte damals niemanden, der sich um ihn kümmerte, noch hatte er jemanden danach. Er braucht es, dass man sich um ihn kümmert, und nur das kann er sehen – das Bedürfnis. Das Teuflische an der Sache ist, wenn wir sagen würden: „Du agierst das Bedürfnis aus, dass deine Eltern dir helfen", so hätte er nicht die leiseste Ahnung, wovon wir sprechen.

Das Bedürfnis ändert sich nicht, nur das Ziel. Das Individuum ist in einer Zeitkrümmung gefangen und ist wütend, weil seine Freundin nicht seine Mutter sein will. Das Ausagieren ist so unbewusst und automatisch wie das Bedürfnis.

Etwa im Alter von zwei Jahren ist der Kreis des Fühlens vollständig: Hirnstamm-limbisches System-Thalamus-orbitofrontaler Kortex. In der bestmöglichen Welt ist dies die Route, die Gefühle nehmen. In den meisten Fällen jedoch reisen die Gefühle nicht auf dieser Strecke. Stattdessen werden sie abgeblockt und schwingen in einer geschlossenen Neuronenschleife endlos und ein Leben lang zurück; Bettnässen, chronische Angst, Depression und sexuelle Zwänge sind allesamt Wirkungen des Gefühls. 

Das Problem an dem Reverbieren ist, dass wir zu allen Zeiten anfällig sind für den auslösenden Effekt. Der Neuronenkreis wartet nur auf einen Auslöser. In dem soeben diskutierten Fall löste ein Telefonanruf — eine falsche Nummer — eine Depression aus, weil das reverbierende Gefühl lautete: „Niemand ist an mir interessiert." Hier konnte seine Depression durch Verknüpfung mit den realen Gefühlen und Szenen der Vergangenheit allmählich gelöst werden. Verknüpfung beendet das Zurückschwingen und verringert deshalb die Anfälligkeit für Depression. Depression und Angst sind keine eigenen Krankheiten; vielmehr repräsentieren sie die Art, wie mit Gefühlen verfahren wird. Gute Verdrängung entspricht der Depression. Schlechte Verdrängung entspricht der Angst. In beiden Fällen mögen die gleichen Todesgefühle auf der Lauer liegen, aber der Depressive ist von dem Gefühl umklammert und ergibt sich ihm, während die Angst-Person vor ihm davonläuft.

Weil das, worüber ich schreibe, nicht vorherrschenden psychologischen Theorien folgt, ist es wichtig, dass wir all diesen Dingen gegenüber Aufgeschlossenheit bewahren. Insbesondere deshalb, weil nun die Genetik Einzug in den gegenwärtigen Zeitgeist hält. Wenn wir die neun Monate Leben im Mutterleib, das Geburtstrauma und die ersten Monate des Lebens übersehen, haben wir zweifelsohne keine andere Wahl als Probleme im Erwachsenenalter den Genen zuzuschreiben. Es läuft darauf hinaus zu sagen: „Da können wir nichts tun. Es ist alles vorherbestimmt. 

Ist es nicht! Oder vielleicht doch, aber möglicherweise ist es nicht durch die Gene vorherbestimmt, sondern durch die Einprägung. Und da können wir etwas tun.

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Abbildung 5

Mögliche Kreisbahn eines reverbierenden
((zurückschwingenden)) Feelings

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In der gegenwärtigen Praxis besteht die einzige Alternative in der Behandlung dieser Störungen darin, das Problem zu diskutieren. Das ist, als würde man evolutionäre Stufen überspringen. Es kommt dem Versuch gleich, eine Hirnstamm-Einprägung durch Gedanken loswerden zu wollen. Das ist eine endlose Aufgabe und der Grund, warum die Analyse Jahre dauert.

Der frühe Schmerz, den dieses Individuum erfuhr, wird zu einem reverbierenden Kreisprozess; das Gefühl ist gefangen und kreist in endloser Schwingung durch das Gehirnsystem. Das geht so, bis es verknüpft wird. Der UCLA-Professor für Neuropsychologie, Allan Schore, beschreibt, wie Gefühle im Gehirn zurückschwingen. Was Schore vorschlägt, ist eine mögliche Neuronenschleife für dieses Reverbieren, die uns dauernd angespannt und ängstlich sein lässt. Es sind diese reverbierenden Kreisprozesse, die im Unbewussten Raum beanspruchen und Gehirnschaltkreise ständig überaktiv sein lassen. (Bitte beachten Sie in dieser Hinsicht die Arbeit von Post.)

Der Prozess des Reverbierens ist eine beständige Mahnung an unsere unerledigten Angelegenheiten. Ausführliche Forschungsarbeiten zeigen, dass sich wiederholende ähnliche Ereignisse wie z.B. Vernachlässigung oder Mangel an Aufmerksamkeit früh im Leben bestimmte Bahnen verstärken und so die Mittel schaffen, durch die in späteren Jahren Gefühle über diese Ereignisse ausgelöst werden. Ich habe den reverbierenden Kreisprozess und die Bedeutung der neun Monate Schwangerschaft diskutiert. Wir sehen, warum wir selbst durch harmlose Vorfälle so leicht provoziert werden können. Je gestörter der Mensch ist, je mehr die reverbierenden Kreisprozesse mit Schmerz aufgeladen sind, um so weniger braucht es, ihn auszulösen. Und so ist bei der Psychose gar kein Stimulus notwendig. Einer von meinen gestörten Patienten ging an einem Parkplatzkiosk vorbei und war sich sicher, dass der Wächter hinter seinem Rücken über ihn lachte. Er aß gerade ein Sandwich und war überzeugt, dass der Wächter nicht wollte, dass er im Gehen esse.

Lassen Sie uns nun mit dem Leben im Mutterleib weitermachen und sehen, warum es so wichtig ist. Ich werde eine ganze Reihe von Forschungsergebnissen zitieren, die meine Ansichten untermauern, aber ich muss bekennen, dass ich diese Ansichten schon Jahrzehnte vertrat, ehe die Forschung vorangekommen ist. Die Beobachtung von Patienten ist eine gültige Form der Forschung, solange da nur wenige vorgefasste Vorstellungen sind, die Wahrnehmungen verfälschen könnten. Ich notierte einfach, was ich beobachtete, und entwickelte daraus eine Theorie. Ich habe keinesfalls eine Theorie entwickelt und sie dann meinen Beobachtungen übergestülpt.

 

189


ANOXIE: 

EINE EINPRÄGUNG FÜRS LEBEN

Zur Erläuterung des Sauerstoffmangels bei der Geburt und seiner Auswirkungen auf das Gehirnsystem greife ich zusätzlich auf Gedanken aus meinem früheren Werk Warum Sie krank werden und wie Sie gesund werden zurück. Das Experiment, das ich hier diskutiere, ist die wichtigste Forschungsarbeit, die wir jemals geleistet haben, um die Existenz der eingeprägten Erinnerung zu verifizieren. Es kann und sollte das Angesicht der Psychotherapie verändern helfen, weil es ein gewichtiger Beweis für die Erinnerungseinprägung ist und wie sie unser Leben leitet.

Die Studie über Blutgase wurde im UCLA Lungenfunktions-Labor in Zusammenarbeit mit dem Direktor Dr. Donald Tashkin und seinen Kollegen, den Lungenforschern Dr. Eric Kleerup und M.B. Dauphinee durchgeführt. Sie wurde gefilmt. Zwei Patienten wurden an Messgeräte angeschlossen, unter anderem zur Bestimmung der Sauerstoff- und Kohlendioxidwerte. Dann brachte man sie durch ein simuliertes Primal (Urerlebnis). Während der Simulation wurde beiden Patienten schwindlig, und sie hatten „klauenförmige" Hände, typisch für das Hyperventilationssyndrom.

Mit einem eingeführten Katheder nahmen wir häufige Blutproben währen der Wiedererlebnis-Episoden der Versuchspersonen (alle zwei bis drei Minuten in einem Zeitraum von eineinhalb Stunden) und während der freiwilligen Hyperventilation. Wir maßen die Sauerstoff- und Kohlendioxidspiegel im Blut und ebenso die Körperkerntemperatur, Herzschlag und Blutdruck. Die Simulation und das Wiedererleben waren einander ziemlich ähnlich hinsichtlich der angestrengten körperlichen Aktivität und des tiefen schnellen Atmens.

Während der Simulation waren die Kohlendioxid- und Sauerstoffwerte im Blut so, wie es zu erwarten war. Es gab klare Anzeichen des Hyperventilationssyndroms nach wenig mehr als zwei Minuten tiefen Atmens, einschließlich Benommenheit, kribbligen Händen, Steifheit der Extremitäten, bläulichen Lippen, derartigen Energieverlust, dass die Versuchsperson kaum noch eine Anstrengung unternehmen konnte, und beträchtliche Erschöpfung.

Beim Wiedererleben des Sauerstoffentzugs bei der Geburt jedoch trat kein Hyperventilationssyndrom auf. Trotz tiefen, schnellen, an eine Lokomotive erinnernden Atmens von 20- bis 30-minütiger Dauer gab es keine Benommenheit, zusammengezogenen Lippen oder kribblige Hände. Die UCLA-Forscher konnten sich das Fehlen des Hyperventilationssyndroms nicht erklären: „Hier muss ein anderer Faktor am Wirken sein", schlugen sie vor. Ich glaube, dieser Faktor ist eingeprägte Erinnerung.

Warum verhinderte das Verweilen in der Geburtserinnerung das Hyperventilationssyndrom, und welche Bedeutung hat das für den Ursprung und die Heilung menschlichen Leidens? Wir wissen, dass das lokomotivähnliche Atmen, dessen Zeuge wir in dem Primal wurden, tief im Hirnstamm organisiert wird, höchstwahrscheinlich von der Medulla. Es scheint wahrscheinlich, dass die Lokomotiv-Atmung Teil der eingeprägten Erinnerung der Anoxie oder Hypoxie ist. Es war ein echtes Bedürfnis und ein echter Impuls zu atmen vorhanden, auch wenn es während der Geburt nicht möglich war. Wenn diese Erinnerung später im Leben ausgelöst wird, kommt die ursprüngliche damit verknüpfte Atmung zum Vorschein.

190


In der UCLA-Studie hatten wir beinahe direkten Zugang zur Medulla und zu anderen Strukturen des Hirnstamms, ein Phänomen, das in der psychologischen Literatur noch nie erwähnt worden ist. Diese Art von Zugang wurde von einigen Neurologen als der Heilige Gral bezeichnet. Ein Beweisstück für diesen Zugang zu tieferen Gehirnebenen ist das Fehlen des Hyper­ventil­ationssyndroms. Nur wenn jemand inmitten der Erinnerung steckt, kann es vermieden werden.

Wenn tiefes Atmen wie in unserer Simulation als Willensakt vollzogen wird, dann wird es weiter oben im Gehirn, nämlich im Kortex reguliert. Es ist ein Beschluss höherer Ebene und keine Einprägung tieferer Ebene. Es ist die Beteiligung der höheren Gehirnebene, die zur Hyperventilation beiträgt. Aber in der eingeprägten Erinnerung eingeschlossen zu sein, automatisierte das tiefe Atmen und führte nicht zu Erschöpfung. Das gesamte System, Gehirn und Körper, war wieder dort zurück in der Erinnerung. Es war kein Nachdenken über die Erinnerung; es war die totale Versunkenheit in ihr.

Während einer schwierigen Geburt schinden sich die Rücken- und Bauchmuskeln des Fetus und erzeugen enorme Mengen an Energie und Milchsäure. Wenn man als Erwachsener diese Erfahrung wiedererlebt, involviert das genau die gleichen Muskeln zusammen mit einem enormen Ausstoß an Laktat. Das haben meine Kollegen und ich bei unserer Forschung im UCLA-Lungenlabor herausgefunden. Erinnerung ist in allen Aspekten präzise. Wenn man in einem Feeling Zugang zu ihr hat, so muss sie in allen psychophysiologischen Bereichen präzise sein.

Heutzutage gibt es Schulen für tiefes Atmen, wie zum Beispiel Holotropes Atmen, das für sich beansprucht, es könne alle möglichen Probleme durch Tiefatmungs-Übungen lösen. Das ist nichts anderes als der Glaube an Magie. Tiefes Atmen meidet die Frage nach dem „Warum". Vorübergehend kann es Spannung und Symptom lindern, aber es hat nichts mit Erinnerung zu tun. Das kleine Wörtchen „Warum" wird vernachlässigt, und wir werden zu falschen und trügerischen Prozeduren gezwungen.

Lassen Sie mich klar Stellung beziehen zum UCLA-Experiment. Das System der Versuchsperson reagiert auf Zellen, die Jahrzehnte zuvor nach Sauerstoff geschrieen hatten. Es ist wahrlich der lautlose Schrei, genau wie unser Körper nach Liebe schreit, auch wenn wir eine liebevolle Frau oder einen liebevollen Mann zuhause haben.

In einem anderen Syndrom wiedererlangter Erinnerung, wenn eine Patientin ein Trauma wie Inzest wiedererlebt, und zwar psychophysiologisch anstatt das Trauma mit ihrem kortikalen Apparat wieder abzurufen, tauchen all die ursprünglichen Reaktionen unversehrt wieder auf. Dadurch können wir nachprüfen, ob die Erinnerung real ist. Etwas ins Gedächtnis zurückzurufen bedeutet, sich auf Worte und Gedanken zu stützen-ein kortikales Ereignis. Erinnerung bedeutet, dass man eine tiefsitzende wortlose Verletzung aufdeckt und sie wieder erfährt, als würde sie gerade geschehen.

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Es impliziert dieselbe Freisetzung von Stresshormonen und dieselben Gehirnwellenmuster. Es ist der Unterschied zwischen einem totalen physiologischen Zustand, einer Erfahrung, und einer gedanklichen Übung des präfrontalen Kortex. Schmerz wird nicht als Gedanke niedergelegt, sondern als Erfahrung.

Inzest kann eine völlig wortlose Erinnerung sein, genau wie Anoxie bei der Geburt oder das Fehlen engen menschlichen Kontakts in den ersten Wochen des Lebens. Im Verlauf einer konventionellen Psychotherapie könnte sich die Patientin vielleicht überhaupt nicht an den Inzest erinnern, bis sie Zugang zu der tief im Gehirn registrierten Verletzung hat und sie freisetzen kann. Ich habe die ineinander verkrallten Hände einer Patientin gesehen, mit Handgelenken wie zusammengebunden, als sie wiedererlebte, wie sie im Alter von elf Jahren vom Freund ihrer Mutter während eines sexuellen Übergriffs festgehalten wurde. Da sie jeden Aspekt des Inzest wieder und wieder erlebte, war dieselbe Handgelenksposition klar ersichtlich geworden.

 

SAUERSTOFFMANGEL UND LEBENSLANGER STRESS

Sauerstoffmangel bei der Geburt nötigt den Fetus, große Mengen an Stresshormonen, Katecholaminen (Adrenalin und Noradrenalin) zu produzieren. Diese Hormone bereiten das System bei Gefahr auf Kampf oder Flucht vor. In diesem Fall ist die Gefahr der Tod durch Sauerstoffentzug, und später ist die gleichwertige Gefahr das vollständige Bewusstsein davon. Das Ereignis und sein vollständiges Bewusstsein ((conscious-awareness)) sind exakt dieselbe Gefahr mit derselben Hormon­ausschüttung und denselben Werten der vitalen Funktionen. Das Gehirn geht mit der Gefahr auf dieselbe Weise um, indem es die Kampf-oder-Flucht-Reaktion in Gang setzt, als würde es jetzt gerade geschehen. Es geschieht im wahrsten Sinne des Wortes gerade wieder, aber diesmal ist der Patient älter und stärker; das Gehirn wird sich nicht sofort gegen die Gefahr verschließen.

Die Katecholamine beschleunigen den Herzschlag und helfen dabei, Blut von den peripheren Organen abzuzweigen und den zentralen Organen wie z.B. Herz und Lungen zuzuführen; das System bereitet sich auf den Kampf vor. Das Immunsystem eilt zu den Waffen und produziert bestimmte Immunzellen, wie z.B. natürliche Killerzellen, um gegen das Fühlen anzukämpfen, als sei es ein tödlicher Virus. Die Stresshormone sind nicht nur während der Geburt hilfreich, sondern unterstützen auch die Anpassung nach der Geburt. Die Katecholamine unterstützen die Absorption der Lungenflüssigkeit bei der Geburt und helfen auch dabei, die Alveolen (Luftbläschen) der Lunge zu reinigen, und gestatten ihnen dadurch, offen zu bleiben. Kaiserschnitt-Babys neigen später im Leben weit mehr zu Atmungsproblemen, weil ihnen die notwendige Kompression bei der Geburt fehlt.

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Einige meiner Patienten, die ihre Geburt wiedererleben, erbrechen eine Tasse voll Flüssigkeit, sobald sie sich in der Sequenz befinden. Ihre Reinigungsmechanismen waren offensichtlich defekt. Diese Patienten erklären, dass bei ihnen ein innerer Schaltknopf gedrückt worden sei, sodass die Flüssigkeit einfach aus ihnen herausströme, und sie berichten einheitlich, dass sie sich fühlen, als würden sie ertrinken. Jedesmal, wenn sie das Ereignis wiedererleben, erfahren sie den gleichen Erguss. Er ist offensichtlich fester Bestandteil der Erinnerung. Die Produktion von Flüssigkeit ist noch eine andere Art, wie sich der Körper erinnert; weshalb ich darauf bestehe, dass Erinnerung nicht dasselbe ist wie bewusstes angestrengtes Abrufen. Beim Abrufen fehlt das Erleben.

In unseren Stresshormon-Untersuchungen scheinen neu aufgenommene Patienten noch immer auf ein früh eingeprägtes Trauma zu reagieren. Studien mit Infrarotkameras an unseren Patienten ergaben besseren Blutfluss in den peripheren Gefäßen nach einem Jahr Therapie.

Kürzlich wurde berichtet, dass Hypoxie in Lamm-Föten Neuronen des Hirnstamms (subcaeruleus) aktiviert. Diese Hypoxie beeinträchtigt die Atmungsfunktion dieser Tiere und kann mit späteren Atmungsproblemen in Zusammenhang stehen, Asthma nicht ausgeschlossen. Die Implikationen für Menschen sind offensichtlich – Einprägungen im Hirnstamm.

In einer Studie an Schaf-Föten fand man heraus, dass minimale Sauerstoffnot mit der Zeit geschwächte Gehirnstrukturen einschließlich des Hippokampus und Kortex verursachte. Es war kein einmaliger Vorfall unzureichenden Sauerstoffs, sondern vielmehr ein andauernder Entzug, etwas, das auf eine austragende Mutter zutrifft, die viel raucht oder in einer verschmutzten städtischen Atmosphäre lebt. Ratten, die unmittelbar nach der Geburt nicht betreut wurden, wiesen auch verminderte Zellentwicklung im Hippokampus auf.

Das Wachstum des frontalen Kortex nach der Geburt braucht Zeit. Anoxie behindert die kortikale Entwicklung, und das kann den Katecholamin-Ausstoß behindern, was zu mangelhaft kontrollierten Impulsen und/oder lebenslanger Spannung und Angst führen kann. In der Therapie sehen wir das an Patienten, die eine Intrusion der ersten Ebene (Hirnstamm) erleben; das ist ein Aspekt des Geburtstraumas, der das Wiedererleben einer Kindheitsszene durchdringt. Es kommt zu Husten, Würgen, Krümmen des Rückens und Ausfall der Atmung. Wenn der Patient zu sehr frühen Ereignissen zurückkehrt, beginnen sich die fehlerhaften Linien im Gehirns zu zeigen. Das kann in schlechter Kontrolle über präverbale Erinnerungen resultieren.

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Alan Schore betont, dass ein geliebtes Kind die kortikale Fähigkeit besitzt, Erregung vom System abzukoppeln und sympathetische, stimulierende Impulse in parasympathetischen, verlangsamenden Metabolismus überzuleiten. Es ist in der Lage, Herzbeschleunigung abzubremsen und das System zur Ruhe zu bringen. Kurz gesagt hat ein geliebtes Kind das zerebrale Rüstzeug, um innere Agitation aufzuhalten, und es kann Angst unterdrücken und die Herzfrequenz auf angenehmem, gesundem Niveau halten. Der orbifrontale Kortex ist Teil dieses Entkoppelungsmechanismus.

Ein Artikel im Journal der Amerikanischen Medizinischen Gesellschaft berichtete: „Die Gefahren, mit denen der Fetus konfrontiert wird, erreichen während der Wehen einen Höhepunkt. Die Geburt ist die bedrohlichste Erfahrung, denen die meisten Individuen jemals ausgesetzt sind. Auch unter optimalen kontrollierten Umständen ist der Geburtsprozess für den Fetus ein traumatisches, potentiell verstümmelndes Ereignis."

Lagercrantz und Slotkin, zwei Erforscher des Geburtsprozesses, weisen darauf hin, dass „beinahe jedes Neugeborene eine Sauerstoffschuld aufweist, ähnlich der eines Sprinters nach einem Lauf." Katecholamine rüsten das System dafür, Anoxie durch Erleichterung des Atmens zu bekämpfen. Sie beschleunigen den Metabolismus; folglich das hyperaktive Kind, dem der Sauerstoff bei der Geburt entzogen worden war. Wenn das Kind dem Lehrer sagen könnte, warum es nicht auf seinem Platz bleiben kann, so könnte es Folgendes anbieten: „Ich litt während meiner Zeit im Mutterleib an Sauerstoffnot, weil meine Mutter geraucht hat, und ich litt an Sauerstoffnot bei der Geburt, weil man ihr starke Beruhigungsmittel verabreichte. Jetzt leidet mein System noch immer darunter, es gibt Gas, um die Erinnerung abwehren zu können, und stößt mich von meinem Platz, damit ich weiterhin vor der Erinnerung davonlaufen kann. Ich werde glücklich stillsitzen, wenn Sie diese Erinnerung wegnehmen." Wir waren sehr erfolgreich bei kleinen Kindern (bei den wenigen, die wir angenommen haben); nach ihren Primals können sie wirklich stillsitzen. Es braucht nicht viel, um sie von Grund auf zu ändern. Es gibt keine verfestigten Muster, mit denen man sich beschäftigen muss. Sie können leicht in ihre Kindheit gehen, weil sie schon da sind.

Während einer sauerstoffarmen Geburt steigen die Katecholamin-Werte manchmal so enorm an (200-fach), dass die Wahrscheinlichkeit eines Schlaganfalls bestünde, wenn das Neugeborene ein Erwachsener wäre. Nachdem ich den enormen Druck gesehen habe, den Wiedererlebnisse an den Tag legen, bin ich der Überzeugung, dass die Einprägung von Sauer­stoff­mangel im Menschen ein wichtiger beisteuernder Faktor für spätere zerebrale Schlaganfälle sein kann. Wenn wir verstehen, dass im Alter von sechzig die Erinnerung an ein niedriges Sauerstoff-Niveau noch immer da ist, noch immer Kraft hat, dann können die Reaktionen des Kleinkinds in der Tat zu Reaktionen eines Sechzigjährigen werden – und zu einem Schlaganfall.

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In einer Studie an fünfundsiebzig Neugeborenen wurde entdeckt, dass Sauerstoffentzug während der Geburt nicht zu Gehirnschaden führte, wenn keine vorausgehende Notlage im Mutterleib aufgetreten war. Die Not des Fetus war der wesentliche Faktor, der zu neurologischem Schaden beitrug. So stellt es sich heraus, dass das Geburtstrauma nicht die ganze Geschichte ist. Es gibt den wichtigen Hintergrund der neun Monate fötalen Lebens, der die Grundlage dafür bildet, wie auf die Geburt reagiert wird. Das zu verleugnen bedeutet zu verleugnen, dass der Fetus ein Nervensystem hat, das kodieren, speichern und auf Stimuli reagieren kann.

 

Abbildung 6

Frühes Trauma lässt Gehirnverbindungen verkümmern

 

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Bei der Geburt brauchen wir Sauerstoff und Nährstoffe, damit wir Axone bilden können, die Verbindungs­stäbchen zu anderen Nervenzellen; und wir brauchen Sauerstoff für die Entwicklung von Dendriten, den zweigförmigen Sprossen, die Eingaben ((input)) in die Neuronen annehmen. Frühes Trauma behindert die neurale Entwicklung, so dass wir buchstäblich weniger Gehirnkraft für die Auseinander­setzung mit dem späteren Leben haben. 

Wenn wir Anoxie bei der Geburt erleiden oder auch später, durch eine Überdosis Drogen oder durch einen Selbstmord-Versuch unter Verwendung von Barbituraten, so tritt der Schaden wahrscheinlich im Hippokampus auf und möglicherweise in anderen limbischen Strukturen. Das Ergebnis ist schlechte Verdrängung und ständiger Schmerz.

Wie schon erörtert, haben erwachsene Patienten mit Migränen nahezu ausnahmslos unter Sauerstoffausfall bei der Geburt gelitten. Wenn sie die Geburt wiedererleben, laufen sie manchmal rot an und ringen verzweifelt nach Atem. Mit der Zeit, wenn sie den Sauerstoffmangel immer wieder erleben, nehmen ihre Migräneanfälle ab oder verschwinden völlig. Bei jeder beliebigen Anzahl vaskulärer Probleme können wir unser Augenmerk auf Sauerstoff-Deprivation während oder um die Zeit der Geburt herum richten. Migräne ist vielleicht eines von vielen Beispielen für die weitgestreuten Effekte des primären „Urknalls".

Der Mangel an Sauerstoff prägt eine Dringlichkeit auf Leben und Tod in das System ein. Später wird sie dann beispielsweise oft in eine Dringlichkeit auf Leben und Tod übersetzt, unbedingt Drogen haben zu müssen. Drogen wie Heroin sind exzellente Hirnstamm-Blocker, wirken also dort, wo die Prägung auf Leben und Tod eingraviert ist. So ist es keine Überraschung, dass Heroin abhängig macht. Und es ist keine Überraschung für uns, die wir Süchtige behandelt haben, dass so viele von ihnen schwere, traumatische Hirnstamm-Einprägungen aufweisen. Heroin leistet Ersatz für die Defizite an hemmenden Neurohormonen, die durch das Trauma hervorgerufen wurden. Es hilft dabei, das untere Gehirnsystem zu normalisieren.

 

 

ANMERKUNGEN  Quellennachweise 1 – 14

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