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    D. Über Psychose  

 

 

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Kürzlich war eine Frau auf dem Fußboden im Wartezimmer des Primärinstituts »ausgeflippt«, während ich gerade in meinem Büro arbeitete. Sie schlug wild um sich, schrie und heulte. Nach etwa einer halben Stunde unterbrach ich mein Diktat, um meine Sekretärin zu fragen, wer diese Patientin sei. Weder sie noch irgend jemand sonst konnte mir darauf eine Antwort geben. Es stellte sich schließlich heraus, daß sie überhaupt keine Patientin war, sondern einfach so hereingekommen war. Sie war unfähig, unsere Fragen zu beantworten, und schlug weiterhin schreiend um sich. Erst da wurde uns dann klar, daß sie eine psychotische Episode hatte, und so riefen wir zu ihrem eigenen Schutz einen Krankenwagen.

Wäre diese Frau unsere Patientin gewesen, hätte sich niemand die Mühe gemacht, stehenzubleiben und sie zu befragen, denn es ist durchaus üblich, daß unsere Patienten ihre Primals so gut wie überall im Institut haben. Ich erwähne diesen Zwischenfall, weil er zeigt, wie sehr sich ein Primal und eine psychotische Episode in ihren äußeren Manifestationen gleichen. 

In gewissem Sinne ist ein Primal eine Art psychotischer Episode, und zwar insofern, als daß der Betreffende nicht »da« ist, sondern eine Szene aus der Vergangenheit erlebt. Der Mensch, der ein Primal hat, wie auch der Psychotiker, sie beide haben ihre Orientierung dritter Ebene verloren, der erstere vorübergehend, der letztere mehr oder weniger ständig. Der Psychotiker hat keine dritte Ebene, die ihm sagen könnte, daß er sich in der Vergangenheit befindet und alte Szenen wiedererlebt, wohingegen ein Mensch, der ein Primal hat, sich willentlich aus diesem Zustand in das Hier-und-Jetzt zurückbringen kann.

Zur Veranschaulichung sei das Beispiel eines Patienten erwähnt, der bei einem Primal zu Hause eine problematische Begebenheit wiedererlebte. Seine Schreie schreckten die Nachbarn auf, die die Polizei herbeiriefen, weil sie glaubten, nebenan geschehe etwas Entsetzliches. Als die Polizei gegen die Tür klopfte und wissen wollte, was da vor sich gehe, tauchte der Patient aus dem Wiedererleben einer schmerzhaften Szene auf, die sich ereignet hatte, als er nur wenige Jahre alt war, und kehrte in die Gegenwart zurück, wie er sagte »in Blitzesschnelle«.


Sein Bewußtsein dritter Ebene war plötzlich wieder ins Spiel zurückgebracht, und obwohl er kaum eine Sekunde vorher noch völlig in den Schrecken der Vergangenheit versunken war, war er sofort in der Lage, zu berichten, was geschehen war, und konnte den beiden Polizisten eine sehr ruhige und vernünftige Erklärung geben. Wäre sein Gefühl tatsächlich ein psychotisches Erlebnis gewesen, wäre er dazu vermutlich nicht in der Lage gewesen. In gewissem Sinne ist ein Primal eine kontrollierte Episode, denn ein Patient weiß, daß ein Kaufhaus zum Beispiel nicht gerade der richtige Ort dafür ist. Ein Psychotiker hingegen sucht sich nicht aus, wo er sein sogenanntes Primal hat. Kommt es dennoch einmal vor, daß ein Primärpatient ein Primal in der Öffentlichkeit hat, wird er sofort ein Kandidat für die Klapsmühle. 

Einer unserer Patienten wurde einmal auf dem Weg ins Primärinstitut von der Polizei wegen Geschwindigkeits­überschreitung angehalten. Der Polizist war ungewöhnlich grob, und der Patient verfiel in ein Primal. Die logische Schlußfolgerung war, daß dieser Mensch psychotisch sein mußte, und prompt wurde er in die nächste Heilanstalt eingeliefert. Es bedurfte vieler Telefongespräche, um ihn wieder frei zu bekommen. Dem liegt zugrunde, daß Gefühle in unserer Gesellschaft etwas so Ungewöhnliches sind, daß ein Mensch, der in der Öffentlichkeit einen Gefühlsausbruch hat, sofort als verrückt eingeschätzt wird. Das vermeintlich Gesunde, was wir alle tun, ist, daß wir unsere Gefühle vergraben halten. Wenn Gefühle wirklich außer Kontrolle geraten, wird ein solcher Mensch hospitalisiert und so lange mit Drogen vollgepumpt, bis er wieder Ruhe gibt. 

Eine Unterscheidung zwischen Neurose und Psychose läßt sich anhand der Fähigkeit oder Unfähigkeit eines Menschen treffen, die dritte Ebene wiederherzustellen. Nehmen wir zum Beispiel an, ein Patient hat nachts im Bett das Gefühl, in seinem Kleider­schrank seien Räuber versteckt, die es auf ihn abgesehen haben. Er macht einen weiten Bogen um den Schrank, wenn er ins Bad geht, und würde am liebsten die Schranktür zunageln. Das würde man als psychotische Wahnvorstellung ansehen — ein Mensch, der nur aus seiner Einbildung heraus handelt. Wenn man diesen Menschen auf seine Wahnvorstellung anspricht und er erwidert: »Sicher, ich weiß, meine Vorstellungen sind verrückt, aber ich kann einfach nichts daran machen«, dann würde eine solche Antwort bedeuten, daß er ein Bewußtsein dritter Ebene hat, das seine falschen Vorstellungen richtig einschätzt und den Realitätsbezug wiederherstellt. Er wäre neurotisch.

Der Psychotiker ist dazu nicht in der Lage, er glaubt tatsächlich, daß Räuber im Schrank stecken, hält seine Vorstellungen nicht für absonderlich oder falsch, nagelt den Schrank zu und kauft sich eine Pistole, um »sie« zu erschießen. Er hat kein separates Bewußtsein dritter Ebene, um Wirklichkeit von Unwirklichkeit zu unterscheiden. Der Psychotiker hat nichts, was ihm helfen könnte, die eine Realität (Vergangenheit) von einer anderen Realität (Gegenwart) zu unterscheiden. Daraus folgt als ein Charakteristikum von Psychotikern, daß sie den Zeitpunkt ihrer Episoden nicht »bestimmen« können.

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Sie können nicht ins Institut gehen, um dort zu fühlen und in die Vergangenheit zu fallen. Sie sind ständig in der Vergangenheit. Sie müssen lernen, in die Gegenwart zu klettern. Sie haben zuviel Schmerz, um nur jeweils ein spezifisches Gefühl zur Zeit zu fühlen; deshalb muß ihr Schmerzniveau zunächst irgendwie gesenkt werden. 

Ich bin der Auffassung, daß Patienten, die unmittelbar vor einem psychotischen Zusammenbruch stehen, von katastrophalem Schmerz erster Ebene überflutet sind. Sie brauchen Hilfe, um das Material zurückzuhalten und um sich auf spezifischeren, später entstandenen, weniger starken Schmerz konzentrieren zu können. Der Psychotiker muß sich ständig mit außerhalb der geordneten Reihenfolge auftretendem Schmerz auseinandersetzen. Er ist derjenige, der bereits in der ersten Woche in der Primärtherapie Geburtsprimais hat, einfach weil seine Schleusenmechanismen überfordert und dadurch stillgelegt sind. Der Neurotiker scheint zu seinem Schmerz in richtiger Reihenfolge zu gelangen - von den geringeren Schmerzen zu den katastrophalen frühen Schmerzen. Die Gründe dafür, daß der Psychotiker unfähig ist, richtig zu schleusen, sind ungemein komplex. Die Grundvoraussetzung ist zunächst ein grauenhaftes Geburtstrauma; Anoxia (Sauerstoffmangel in Geweben) bei der Geburt zum Beispiel wirkt sich auf den Hippocampus des Limbischen Systems aus, so daß das dämpfende System dauerhaft geschwächt sein kann. Hinzu kommt ferner das, was ich als Verbund bezeichne, nämlich daß es auf jeder Stufe der Entwicklungsleiter katastrophalen Schmerz gibt. 

Ein trinkender Vater, Schläge, Armut, Scheidung der Eltern, Internat, Ablehnung durch Gleichaltrige und Lehrer, früh allein gelassen werden, während beide Eltern arbeiten gehen, der Leser kann diese Liste beliebig weiterführen. Alles zusammen überfordert das Schleusensystem, so daß der Schmerz nicht in dem ihm jeweils gemäßen Speicher gehalten werden kann. Schmerz tieferer Ebenen überfällt vielmehr gegenwärtiges Bewußtsein, löscht das Wahrnehmungsvermögen, erzeugt Halluzinationen und Wahnvorstellungen. Infolgedessen löscht die Vergangenheit die Gegenwart aus. Eine Halluzination, die Bilder beinhaltet — wie Blut sehen oder »Visionen« —, ist normalerweise die der Gegenwart aufgepfropfte vergangene Wahrnehmung eines präverbalen Traumas erster Ebene. Eine Patientin hörte beispielsweise ständig ein kratzendes Geräusch in ihrem Kopf. Dieses Symptom wies uns auf die Möglichkeit hin, daß sich ein sehr frühes Trauma den Weg ins Bewußtsein dritter Ebene bahnte. Das wäre ein ungewöhnliches Symptom für einen Neurotiker, dessen Bewußtsein eher dazu neigt, von Gefühlen der zweiten Ebene infiltriert zu werden, was dazu führt, daß seine Vorstellungen und Wahrnehmungen weniger ausgefallen sind als Halluzinationen. Die Schleusen im Neurotiker sind intakt, sie halten katastrophale perinatale Traumata im Schach.

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Die Patientin, die ständig Kratzgeräusche hörte und die zuvor als halluzinierende Psychotikerin diagnostiziert worden war, hatte bereits an ihrem zweiten Tag in der Primärtherapie ein Geburtsprimal, in dem sie fühlte, wie ihr Zangen unsanft über die Ohren kratzten - die Ursache für ihre Halluzinationen. Einen gestandenen Neurotiker kann es über ein Jahr kosten, an den Punkt zu gelangen, den diese Patientin nach zwei Tagen erreicht hatte. Daß sie dieses Symptom hatte und daß sie in der Therapie sofort dazu vordringen konnte, lag an dem geschwächten Schleusensystem. Wir sehen also, daß zwischen dem halluzinierten Symptom und dem wirklichen frühen Trauma eine enge Beziehung besteht. 

Die Patientin in dem oben erwähnten Beispiel hörte das Kratzen weiterhin — nur außerhalb des eigentlichen Zusammenhangs. Es war kaum abstrakte Symbolisierung vorhanden, weil der Schmerz nicht durch eine Reihe gut funktionierender Schleusen völlig blockiert und umgelenkt war. Ich habe bereits darauf hingewiesen, an der Schwelle zu einem »Nervenzusammenbruch« zu stehen bedeutet normalerweise, daß die Abwehrmechanismen zusammengebrochen sind und daß der Betreffende gegenüber seinem Schmerz offen ist. Für den Präpsychotiker bedeutet das oft, daß er für Schmerz erster Ebene offen ist.

Möglicherweise haben wir alle Schmerzen erster Ebene, nur bei dem Präpsychotiker arbeiten die Schleusen unzulänglich, so daß seine frühen Schmerzen nicht länger im Schach gehalten werden können und ständig durchzubrechen drohen. Bei dem relativ gut integrierten Neurotiker sind es Schmerzen zweiter Ebene, die zum Bewußtsein vorzudringen drohen. Einer der Gründe für die unzulängliche Schleusung beim Präpsychotiker ist der Verbund, dessen Auswirkungen ich bereits erläutert habe. Ein weiterer Grund können spätere katastrophale Traumata sein — der gewaltsame Tod beider Eltern zum Beispiel. Ein wieder anderer Grund ist anhaltender Marihuana- oder LSD-Konsum, beide Drogen können eine bleibende Veränderung des Schleusensystems bewirkt haben.

Der Präpsychotiker oder Psychotiker hat unter Umgehung der zweiten Ebene partiellen Zugang zur ersten Ebene. Wir sehen das an Patienten auf vielerlei Weise. Einmal durch das Wiederauftreten von Blutergüssen und Beulen (im Anhang ausführlicher behandelt); das heißt, wenn der Patient in Gefühle gelangt, daß er als Kind geschlagen wurde, brechen auf der Haut plötzlich Blutergüsse durch, und zwar genau an der Stelle, wo das Kind geschlagen wurde. Das bedeutet, es besteht leichter Zugang zur ersten Ebene. Für uns ist das ein Zeichen für großen Schmerz und schwache Schleusensysteme. So hatte zum Beispiel ein Patient vor Beginn der Therapie einen »Nervenzusammenbruch«. Auf seiner Stirn waren zwei rote Stellen aufgetreten, die ihn vermuten ließen, er sei der gehörnte Teufel. Er wurde »ein Teufel«. Er begann alles und jeden zu verdammen. Seine Rolle nahm groteske Formen an, er wurde richtiggehend psychotisch.

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Sehr viel später hatte er ein Primal, in dem er seine Geburt wiedererlebte, und dabei traten diese beiden roten Stellen erneut auf. Es handelte sich um Spuren von der Zange. Folgendes hatte sich bei ihm abgespielt: es waren entsetzliche Geburtsschmerzen aufgestiegen, mit denen er damals noch nicht fertig wurde und die ihn letztlich verrückt machten. Zunächst war lediglich der körperliche Zugang via die Zangenspuren sichtbar geworden. Der Schmerz selbst gelangte noch nicht zum Bewußtsein und zur Verknüpfung, sondern nur die Begleiterscheinungen. Er konzentrierte sich auf die roten Stellen und wurde zum Teufel, weil er gleichzeitig in Gefühlen steckte, daß er nicht geliebt wurde und ein schrecklicher Mensch sei, eben weil er nicht geliebt wurde. In seinem psychotischen Zustand verdammte er alle mit Ausnahme seiner Eltern. Er wurde hospitalisiert und erhielt eine Elektroschock-Behandlung, die sein geschwächtes Schleusensystem natürlich wieder festigte und die frühen Schmerzen wieder zurückdrängte. Die Schocks machten seine Vergangenheit zunächst einmal unzugänglich und schufen derweilen weiteren katastrophalen Schmerz, der später gefühlt werden mußte — der Schmerz vieler schwerer elektrischer Schläge. Die Schocks halfen jedoch, die absonderlichen Vorstellungen zu vertreiben. Hier, was er später sagte: »Nach einer Reihe elektrischer Schocks war ich taub, abgeflacht und kalt. Alles Zerbrechliche, alles, was jüngeren Datums in meinem Geist war, war ausgelöscht. Psychotische Vorstellungen, Belanglosigkeiten und wichtige Erinnerungen waren wie weggeblasen. Verhaltensveränderung war Trumpf.«

Einige Zeit später begann dieser Mann in einem chemischen Werk zu arbeiten. Er konnte die Dünste nicht vertragen. Er verfiel erneut in eine psychotische Episode und weigerte sich, Milch zu trinken. Er war fest davon überzeugt, daß die Milch vergiftet sei. Das wurde zu einer ausgeklügelten Wahnvorstellung, der zufolge seine Familie versuchte, ihn zu vergiften. Erneute Hospitalisierung, erneute Schocktherapie. Jahre später hatte er ein Primal: er saugte im Alter von drei Monaten an der Brust seiner Mutter, und ihre Milch war sauer. Das war ein äußerst unangenehmes Erlebnis, er konnte daraufhin keine Nahrung mehr zu sich nehmen, noch war er in der Lage, das Problem mitzuteilen. Jedesmal, wenn sie ihn fütterte, wurde ihm übel, und niemand wußte, was los war, denn sie hatte reichlich Milch; so nahm man einfach an, er sei quengelig und verwöhnt.

Was hatte die Episode ausgelöst? Fraglos waren es nicht nur die Dünste in dem chemischen Werk. Hören wir, wie er es erklärt: 

»Ich war fünfunddreißig Jahre alt. Leichtfertige Kreditpläne und abenteuerliche Arztrechnungen vom Autounfall meiner Tochter (ebenfalls ein schweres Trauma) hatten mich an den Rand des Ruins gebracht. Ich war völlig in Anspruch genommen von einem extrem schwierigen Abgasproblem, durch das die Firma in eine Krise geraten war. Säuredünste im Werk versäuerten meinen Geschmack und meinen Geruch. Meine Augen tränten; meine Haut juckte, und laute Apparaturen bombardierten meine Ohren, als ich in die Eingeweide des Werks hinabstieg.«

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Er brach zusammen, und die säuerlichen Dünste lösten das frühe Muttermilch-Trauma aus, das, weil es nicht verknüpft war, zu der Wahnvorstellung umgearbeitet worden war, man wolle ihn vergiften. Einige Jahre später hatte er einen Herzanfall, den er die »Psychose des Körpers« nennt. Ich glaube, diese Elektroschock-Therapie, die die Schmerzen tief in das System zurückdrängte, hat zu diesem Herzanfall ihr Teil beigetragen. Sie machte jede andere Spannungsabfuhr unmöglich und war in sich selbst ein schweres Trauma. Dieser Mann führt inzwischen Primals unter eigener Regie durch und hat uns gerade kürzlich geschrieben: »Ich habe keine Angst mehr vor Psychose. Das ist nur ein Schmerzsymptom, das durch Primals behoben werden kann.«

Wir müssen uns vergegenwärtigen, daß psychotische Wahnvorstellungen ihren Ursprung in verdrängten Gefühlen haben. Eine Patientin, die vor der Therapie zusammenbrach, hatte mit Autonummernschildern verbundene Zwangsvorstellungen. Sie suchte auf den Nummernschildern ständig nach der Zahl 4 und glaubte, das sei eine heimliche Botschaft von irgendeiner geheimen Macht. Sie sagte sich, diese Zahl bedeute: »Welchen Sinn hat das alles? Welchen Sinn hat das alles?« Die geheime Macht waren diese geheimen Gefühle, und diese Gefühle waren: »Ich habe es versucht und versucht, und nichts geschieht. Ich bringe sie einfach nicht dazu, daß sie mich lieben; welchen Sinn also hat das alles?« 

»Vier« wurde der Auslösereiz für das alte Gefühl. Der Psychotiker ist so verletzlich, daß fast jeder beliebige Reiz ein altes Gefühl auslösen kann, weil die Schleusen gesenkt sind und das Gefühl permanent nahe der Oberfläche ist. Erst Primals vermochten die falschen Vorstellungen aufzulösen, die sie mit den Nummernschildern und deren Botschaft verband. Diese Patientin fühlte schließlich die frühe verzweifelte Hoffnungslosigkeit, die sie früh in ihrem Leben abgeblockt hatte.

 

Ein Patient, der die Wahnvorstellung hatte, allabendlich säße sein Vater an seinem Bett und unterhalte sich mit ihm, ist seinem wirklichen Bedürfnis sehr nahe, nur ist auch hier wieder die Vorstellung aus dem eigentlichen Zusammenhang gerissen. Das unterschwellige Gefühl kann durchaus lauten: »Bleib bei mir, Papi«, ein Gefühl, das darauf zurückführt, daß er als sehr kleiner Junge von seinem Vater verlassen wurde. Die »Wahnvorstellung« ist eine Realität außerhalb der geordneten Reihenfolge. Hätte er das »damals« fühlen können, würde er vielleicht nicht heute unter der strengen Obhut einer Nervenheilanstalt so denken. Heute bekommt er für sein zeitlich schlecht abgestimmtes Primal (Wahnvorstellung genannt) ein Medikament, das seine Wahrheit — und damit seine Chance, wieder gesund zu werden — unterdrückt.

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Er litt unter sogenannten »Gedankenstörungen«, weil sein Denken bedauerlicherweise mit einer vergangenen Realität über­einstimmte und nicht mit der gegenwärtigen des Psychiaters. Wenn Schmerz durch Medikamente unterdrückt wird, geben sich die »Gedankenstörungen«, weil dieses Denken nur ein Auswuchs aufsteigenden Schmerzes ist. Auch hier wieder sehen wir, wie nahe der Realität absonderliches Denken sein kann. Damit soll nicht gesagt sein, daß psychotische Symbolisierung nicht äußerst komplex sein kann. Das kann und ist sie. Wenn sie es ist, hat ein solcher Mensch weniger Aussicht, gesund zu werden, einfach weil das Ausmaß des zugrunde liegenden Schmerzes eine übermäßig komplizierte und verschlungene Symbolik erzeugt hat. Es sind die spezifischen Verknüpfungen, durch die psychotische Symptome letztlich behoben werden; die Gefühle, um die es dabei geht, sind nicht komplex und zahlenmäßig gering. Mithin löst sich alles auf — einerlei wie verschlungen die Symbolik ist —, sobald das zugrunde liegende Gefühl gefühlt und verknüpft werden kann. Die Patientin, die in ihrem Kopf Kratzgeräusche vernahm, hätte vielleicht ihr Leben lang halluziniert, wäre sie nicht in der Lage gewesen, diese spezifische Verknüpfung zu ihrem Geburtserlebnis herzustellen. 

 

Einer der Gründe, die Menschen dazu bringen, daß sie das Gefühl haben, sie verlören den Verstand, wenn frühe Schmerzen hochkommen, ist der, daß sie sich nicht vorstellen können, daß das, was ihnen als Kind zugestoßen ist — aus der Sicht Erwachsener oft ganz »gewöhnliche« Dinge —, so katastrophal sein kann. Für uns Erwachsene ist es schwer, sich vorzustellen, daß es für uns als Kind eine Katastrophe gewesen sein kann, wenn Vater uns angebrüllt hat; oder daß es für uns ein enormer, katastrophaler Schmerz war, wenn Mutter, als wir sechs waren, sich einen ganzen Tag lang weigerte, mit uns zu sprechen. Wir vergessen, daß sie damals unsere ganze Welt waren und daß ihre Ablehnung für uns eine Frage von Leben oder Tod war. Wir unterschätzen häufig das enorme Gewicht derartiger Erlebnisse. Wenn die Schmerzen aufsteigen, neigen wir dazu, ihnen eine Bedeutung »jenseits von Zeit und Raum« anzuheften, anstatt zu fühlen, wie alltäglich diese furchterregenden Begebenheiten waren.

Wenn ein Trauma erster Ebene reaktiviert wird, kommt auch die exakte ursprüngliche Reaktion auf dieses Trauma mit hoch. Wenn also ein Schmerz zweiter Ebene irgend etwas anderes auslöst, was sehr früh im Leben stattfand, noch ehe das Kind eine richtige Vorstellung von Raum und Zeit hatte, wäre es denkbar, daß dieser Mensch ein Geschehen »jenseits von Zeit und Raum« durchmacht. Weil er den Schmerz des Traumas, das sich ereignete, als er drei Monate alt war, nicht verknüpfen und nicht fühlen kann, hat er seine eigene Realität tatsächlich »transzendiert«. Das Ergebnis kann eine psychotische Wahnvorstellung sein oder auch das Gefühl, verrückt zu werden.

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Bei Psychotikern gibt es oft ein unterschwelliges symbolisches Thema, nämlich daß es »da draußen« irgendeine unsichtbare, nicht faßbare Macht gibt, die sie vernichten wird. Früher waren das oft die Kommunisten, heute ist es oft die Mafia. Diese beiden Gruppen sind für den Psychotiker Symbole, eben weil sie nicht sichtbar sind und weil ihre Macht nicht meßbar ist. Der Psychotiker fühlt sich von einer gewaltigen Macht überwältigt, nur erkennt er nicht, daß es seine Gefühle sind, die diese Macht darstellen, nicht ein äußerer Feind. Die Symbolik kann recht ausgefallen sein — »Es gibt kleine gelbe Männer, die mit einer Zwille auf mich zielen und mein Gehirn zerschmettern wollen« —, aber das ihr zugrunde liegende Thema ist meistens, daß »sie« im Begriff sind, »mich zu verletzen« oder »mich um den Verstand zu bringen«. Er hat in vieler Beziehung recht; er wird tatsächlich verletzt und ist im Begriff, durch den Schmerz seinen Verstand zu verlieren - nur spielt sich dieser Kampf in seinem Innern ab.

 

Betrachten wir einmal die Komplexität paranoider Gedankenbildung, um zu sehen, wie psychotische Gedanken ablaufen. Ein Patient, der kürzlich mit der Primärtherapie begann, entwickelte gegenüber seinem Therapeuten plötzlich ungeheures Mißtrauen — ein Mißtrauen, das paranoide Züge hatte. Bei seiner Bewerbung und in seinen Anfangsinterviews waren keinerlei Anzeichen davon zu merken. 

Aber am zweiten Behandlungstag war er überzeugt, der Therapeut wolle ihn reinlegen. Er wollte wissen, warum ein Stuhl an einer bestimmten Stelle stand; warum eine Puppe gerade in jene Ecke gelegt wurde. Er war überzeugt, die Tatsache, daß das Kopfkissen, das ihm untergelegt wurde, schwarz war, habe eine besondere Bedeutung. »Schwarz« bedeutete bestimmte, undurchschaubare Dinge. All das hatte paranoide Züge. Gleichwohl waren all diese Vorstellungen nach der Sitzung verschwunden. Was war in dieser Sitzung geschehen, das den Eindruck aufkommen ließ, er sei psychotisch? Der Therapeut hatte ihn dicht an seine Gefühle gebracht, aber da sein Schleusensystem unzulänglich war, stand er unmittelbar davor, in Gefühle überwältigenden Schmerzes zu stürzen, die daher rührten, daß er direkt nach der Geburt allein gelassen worden war. Er drohte nicht, in ein Gefühl zu fallen, das er als Achtjähriger hatte, als er zum Beispiel kritisiert worden war, was bei einigen Neurotikern hätte geschehen können. Er spürte vielmehr, daß er Gefahr lief, überwältigt zu werden, und sein Geist rief alle Reserven auf den Plan, um ihn zu schützen. Der Patient machte nichts anderes, als daß er den Therapeuten testete, um absolut sicherzugehen, daß er ihm trauen könne, damit er sich dann sicher genug fühlen könnte, um sich in diese schwarze, namenlose Leere fallen zu lassen. Alles, was er an diesem Punkt sagte und tat, erschien absonderlich, weil großer Schmerz sein Verhalten antrieb.

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Er ersann alle möglichen sonderbaren Fragen, um herauszufinden, ob der Therapeut tatsächlich wußte, was er tat. Wir wären nie dahintergekommen, wenn wir dem Patienten nicht geholfen hätten, von Gefühlen dieser Art und deren Auswirkungen zu wissen, und wenn wir ihm dann nicht ganz behutsam allmählich in diese Gefühle hineingeholfen hätten. Bei einem der üblichen Psychiater hätte man ihn als paranoid eingestuft und ihm Drogen verschrieben, die ihm geholfen hätten, seinen Schmerz und damit auch die Möglichkeit für eine letztliche Genesung zu unterdrücken. 

Ich habe den oben erwähnten Patienten als einen Menschen mit »paranoiden Reaktionen« charakterisiert und nicht als »paranoid schizophren«, weil er in der Lage war, die dritte Ebene wiederherzustellen. Er war fähig, nach einem Gefühl einzuhalten und sich in der Gegenwart wieder neu zu orientieren. Er reagierte unter Streß absonderlich, aber diese Reaktion wies nicht auf einen permanenten Zustand hin. Die therapeutischen Implikationen dessen sind die, daß es bisweilen erforderlich ist, hochgradig gestörte Patienten von ihren frühen Gefühlen abzubringen und ihnen zu helfen, ihre dritte Ebene wiederherzustellen. Es hilft, mit ihnen gegenwärtige Probleme zu diskutieren oder sie über ihre Gefühle, die sie während der Sitzung haben, sprechen zu lassen, um sie zu analysieren und zu integrieren. 

Es gibt eine Vielzahl besonderer Techniken, die von Primärtherapeuten eingesetzt werden, um zu verhindern, daß Patienten von Schmerz erster Ebene überwältigt werden. Im Gegensatz zu dem Neurotiker, dessen Schleusen systematisch abgebaut werden müssen, damit er zu seinen Gefühlen gelangen kann, muß man dem Psychotiker oder Präpsychotiker helfen, sein Abwehrsystem zu kräftigen, damit er sich auf spezifische Schmerzzustände konzentrieren und sie in einem Primal erleben kann und nicht von Schmerz überflutet wird. Ein zu frühes Aufbrechen der unteren Schleusen erzeugt Psychose. Ist das erst einmal geschehen, dann wird es sehr viel länger dauern, den Patienten so weit zu kräftigen, daß er Primals in der richtigen Reihenfolge haben kann. Genau das geschieht durch starken LSD-Konsum, es geschieht aber auch, wenn ein Präpsychotiker (ein Mensch mit einer großen Schmerzlast und unzulänglichem Schleusensystem) über längere Zeit isoliert ist, wenn er von Freunden und Familie ferngehalten wird, wenn er Tranquilizer, Alkohol oder Zigaretten abrupt absetzen muß. Aus all diesen Gründen ist die Vorbereitung für die Behandlung eines Präpsychotikers oft das genaue Gegenteil von der des Neurotikers. Er wird nicht isoliert, noch muß er aufhören zu rauchen. Mit diesen Patienten werden möglichst viele Diskussionen geführt, um so ihre intellektuellen Abwehrmechanismen der dritten Ebene zu stärken. 

Meiner Meinung nach haben der Heroinsüchtige, der psychogene Epileptiker und der Präpsychotiker eine Sache gemein, nämlich die, daß sie sich ständig auf ihre eigene Weise mit aufsteigendem Schmerz erster Ebene auseinandersetzen; mithin können die normalen neurotischen Abwehrmechanismen für sie nicht arbeiten.

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Ich bezweifle, daß der Epileptiker oder der Präpsychotiker, wenn sie unter Heroin stünden, unter ihren geistigen und körperlichen Symptomen leiden würden. Wenn aber der Heroinsüchtige gezwungen wäre, mit seiner Sucht plötzlich zu brechen, dann könnte er entweder Konvulsionen (wie es oft der Fall ist) oder absonderliche Vorstellungen entwickeln. 

Das Substrat für eine prototypische paranoide Reaktion kann bereits sehr früh im Leben entstehen. Wenn es bei der Geburt zu einem Trauma kommt, weil mit dem Fetus grob und unsanft umgegangen wird oder er Schwierigkeiten hat, rauszukommen, kann er die Welt als unsicher und bedrohlich betrachten. Die Welt bereitet Schmerz, und er muß sich dagegen schützen. Noch gibt es keine Worte für ein solches Gefühl, nur ein allgemeines Empfinden, daß die Welt potentiell bedrohlich ist. Später, wenn das Kind über Worte verfügt, mag es sein Gefühl vielleicht in begriffliche Vorstellungen übertragen. Wenn seine Eltern ihn im Grunde ablehnen und ihn verletzen, dann wird seine prototypische Grundhaltung bekräftigt. Wird er hinreichend oft verletzt, kann er paranoid werden und das Gefühl entwickeln, die anderen seien darauf aus, ihn zu verletzen. Und das war ja tatsächlich der Fall, er vergißt nur, welches Jahr es ist. Die paranoide Reaktion auf das Leben kann jedoch eingesetzt haben, lange bevor er denken und sagen konnte: »Sie sind darauf aus, mich zu verletzen.« Er wurde von Anfang an verletzt.

Wenn ich sage, der Psychotiker habe vergessen, welches Jahr es ist, so meine ich das recht wörtlich, denn eine Funktion des Bewußtseins der dritten Ebene ist es, uns in der Zeit zu orientieren. Reines Fühlen hat keinen Zeitbegriff. Träume als Auswüchse von Gefühlen kennen keine Abstraktionen wie Zeit. In einem Traum kann es eine Empfindung vom Warten geben, nicht aber von genauer Zeit. Das erklärt vermutlich, warum es in Träumen selten Kausalzusammenhänge gibt, sondern eher eine Aneinanderkettung von Ereignissen, bei der sich eins an das andere reiht, ohne Verbindungsglieder der dritten Ebene, die uns den Übergang erklären könnten. Wenn der Psychotiker unterhalb der dritten Ebene operiert, ist er jener Funktionen beraubt, die für ihn die Vergangenheit von der Zukunft trennen, und deshalb ist die Gegenwart nur symbolisch für die Vergangenheit. Der Paranoiker muß alle Realität ausklammern, die seinen Wahnideen widerspricht, weil sein altes Gefühl seine gegenwärtige Realität überdeckt. 

 

Ich habe gesagt, daß die Symbolik bei Psychose ungemein komplex sein kann. Zum Beispiel kann ein Patient halluzinieren, er sehe den Tod, wohin er auch schaut, oder er kann Totenmasken sehen, wo gar keine sind, oder vielleicht sieht er Skelette an den Wänden. Der Schmerz, mit dem er es zu tun hat, kann tatsächlich der Tod sein — das heißt, jene lebensbedrohenden Ereignisse um die Zeit der Geburt können aus irgendwelchen Gründen nicht im Schach gehalten werden.

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Die Lebensumstände können irgendwie seine Abwehr herausgefordert haben. Eine lange Krankheit kann einen Menschen, der ständig in Bewegung ist, dazu zwingen, daß er stillsitzt, so daß ihm nichts zu tun bleibt, als zu fühlen. Der Verlust eines Kindes oder des Ehegatten kann ebenfalls zu einer plötzlichen Neurose führen. In jedem Falle aber wird der Betreffende plötzlich von absonderlichen Gedanken beherrscht. Die Ernsthaftigkeit seines Zustands läßt sich normalerweise an dem Ausmaß der Generalisierung ermessen. 

Wenn ein Mensch gelegentlich in den Gesichtern seiner Freunde einen Totenkopf sieht, dann ist er vermutlich weniger krank, als sähe er Totenmasken an den Wänden oder auf Teppichen. Das heißt, wenn er nicht nur falsch wahrnimmt, sondern überall halluziniert, ist der Schmerz größer und die Abwehr schwächer. Wenn seine Wahnvorstellungen noch absonderlicher sind, kann er sich zum Beispiel einbilden, in der Nachbarswohnung sei jemand, der einen Blitz auf ihn schleudern wolle, um ihn zu töten. Er würde sich dann immer noch mit dem lebensbedrohenden Ereignis beschäftigen, nämlich mit dem Gefühl drohenden Todes (letztlich mit dem Urgefühl drohenden Todes bei der Geburt), aber er hat die Geschichte zu einer ausgewachsenen Paranoia ausgeweitet. Die dominierende Beschäftigung mit dem Tod entstammt einer unbekannten Quelle - dem Unbewußten. Da er jedoch keine Ahnung hat, daß frühe Todesereignisse im Geistesleben weiterbestehen, bleibt ihm keine andere Wahl, als sich einzubilden, die Quelle befinde sich außerhalb seiner selbst. Für einen Patienten ist es manchmal schon beruhigend, einfach zu wissen, daß solcherart frühe Schmerzen als Rückkoppelungsschleifen im Gehirn weiterhin bestehenbleiben. 

 

Wenn ein Mensch in seinen Primals Schmerzen erster Ebene wiedererlebt, nehmen alle Reize Bedeutungen erster Ebene an. Das gleiche gilt auch für die zweite Ebene. Zum Beispiel, wenn sich ein Patient in einer Sitzung an die Beine seines Therapeuten klammert, kann er in dem Augenblick fühlen, er klammere sich an Papi, der ihn beiseite stieß, als er gerade krabbeln lernte und sich seinem Vater näherte. Ist der Schmerz einmal gefühlt, setzt sich der Patient aufrecht hin und redet, vielleicht hält er dabei die Beine des Therapeuten noch immer umklammert, nun allerdings ohne daß noch eine Bedeutung dahinterstünde. Der Psychotiker hingegen bleibt in seinen Bedeutungen der ersten Ebene stecken. Ereignisse im Jetzt haben für ihn permanent Bedeutungen erster und zweiter Ebene, und deshalb erscheinen seine Vorstellungen einem anderen, wie zum Beispiel dem Therapeuten, der nur auf der dritten Ebene operiert, so absonderlich. Der Psychotiker kann sich anschließend nicht aufsetzen und sich von der ersten Ebene loslösen und diese Gefühle objektiv betrachten; deshalb ist er ja psychotisch. Primärpatienten, die das Gefühl haben, sie würden verrückt, wissen normalerweise, daß sie sich mit sehr frühen Schmerzen auseinandersetzen und daß sie die Möglichkeit haben, sie zu fühlen.

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Selbst wenn sie diese Schmerzen im Augenblick noch nicht verknüpfen können, so können sie doch vergewissert werden und haben weniger Angst, weil sie wissen, was die Quelle ihrer Spannung und ihrer Schmerzen ist.

Eines der wesentlichen Merkmale des psychotischen Zustands ist die Unfähigkeit, sich zu konzentrieren, und die allgemeine Ablenkbarkeit. Beides ist im Grunde mehr oder weniger das gleiche, nämlich ein Verlust an Kohäsion. Wenn wir uns die dritte Ebene als ein zusammengesetztes Puzzle (das die Kohäsion verkörpert) denken, und wenn wir uns dann vorstellen, wie Schmerz der unteren Ebenen nach oben gegen das Puzzle schnellt und es durcheinanderwirbelt und so die Kohäsion zerstört, dann haben wir ein ungefähres Bild von dem Problem bei einer Neurose. Die Kraft des Hochschnellens bricht das Puzzle auseinander (die dritte Ebene integriert den Schmerz), und dann hat man nur noch eine Vielzahl einzelner Stückchen, die jeweils eigenständige Größen sind und sich nicht mehr zu einem Bild zusammenfügen. Bei mangelnder Kohäsion unter Psychose reagiert der Mensch jeweils auf jeden einzelnen Reiz oder Gedanken, losgelöst aus jeglicher umfassenden, zusammenhängenden Struktur. Er kann zunächst etwas völlig Vernünftiges äußern und dann unvermittelt etwas völlig Abwegiges sagen. Und dazu kommt es, weil ständig tieferer Schmerz nach oben drängt und weil einfach kein angemessenes Abwehrsystem vorhanden ist, ihn zu dämpfen.

Der Psychotiker und der Präpsychotiker wissen überhaupt nicht, daß in ihnen von innen her Schmerz aufbricht oder Druck emporsteigt; sie erleben vielmehr die Ergebnisse dieses Druckes in Form einer Gedankenerschütterung. Sie können ihren Verstand nicht bei ein und derselben Sache halten, eben weil dieser Druck dazwischentritt und ihren Geist anderswohin treibt, vielleicht auf das direkte Derivat eines alten Gefühls zu. »Ich weiß, warum Sie heute eine Brille tragen. Damit ich Ihnen nicht in die Augen spucken kann«, mag als ein Beispiel gelten.

Die dritte Ebene ist beim Psychotiker (und beim Präpsychotiker) so schwach, daß er, wenn er morgens aufwacht, zunächst oft nicht weiß, wer oder wo er im Augenblick ist; der Neurotiker hingegen wacht allenfalls mit einem leichten Gefühl der Angst oder des Unbehagens auf. Psychosen (und die daran angrenzenden Zustände) können auf vielerlei Weise behandelt werden. Eine Behandlung der dritten Ebene läuft darauf hinaus, daß man ihn in eine ruhige, stabile Umwelt versetzt, fernab von allem Streß - normalerweise in ein Sanatorium oder in eine Nervenheilanstalt. Beschäftigungstherapie (Ablenkung von Schmerz) ist eine weitere Form der Therapie der dritten Ebene. 

Das Problem eines Ortswechsels, wodurch der Druck dritter Ebene beseitigt wird (das ermöglicht manchmal die Entwicklung von Abwehrmechanismen dritter Ebene), liegt darin, daß der Betreffende gleichzeitig auch von sei-

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nen Lieben entfernt wird (oder von seiner Familie, die ihn zwar vielleicht nicht gerade liebt, aber immerhin doch seine Familie ist). 

Wenn wir bedenken, was es bedeutet, von unserer vertrauten Umwelt und unserer Familie getrennt zu werden und in ein Gebäude oder in ein Wohnheim gesteckt zu werden, das nicht für Individuen, sondern für Massen angelegt wurde, dann können wir uns vorstellen, was für ein enormer Druck auf dem Patienten lastet (auch wenn er ihn in seinem psychotischen Zustand vielleicht nicht wahrnimmt), und warum sich sein Zustand dann oft erheblich verschlechtert. Der Psychotiker ist und bleibt ein Mensch mit menschlichen Bedürfnissen. 

Eine Behandlung der zweiten (und ersten) Ebene könnte durch Drogen erfolgen, wie bereits an anderer Stelle erläutert, oder durch eine Vielzahl kathartischer Techniken, zum Beispiel durch eine Gruppenbegegnung, bei der die Patienten brüllen und schreien (vorausgesetzt, sie sind in der Lage, einen gewissen Kontakt zu anderen herzustellen), durch Musiktherapie (Katatoniker Bewegungen zu Musik ausführen lassen) oder durch Gymnastikprogramme. Ich halte Gymnastik bei Psychotikern für eine sehr wichtige therapeutische Technik, sie schafft eine Art von Spannungsabfuhr der ersten Ebene und ermöglicht es, die Spannung erheblich zu reduzieren. 

Es ist möglich, daß der Psychotiker oder Präpsychotiker durch Laufen oder Kniebeugen so viel Spannung abbaut, daß der enorme Druck auf seine dritte Ebene nachläßt. Das kann ihm zu Schlaf verhelfen, und der wiederum ist für seine allgemeine Kräftigung wichtig und gewährt der dritten Ebene eine gewisse Ruhepause, um sich zu sammeln. Megavitamine scheinen unter anderem deshalb zu helfen, weil sie die körperlichen Kräfte eines solchen Menschen ganz allgemein stärken, so daß er mit Schmerz besser fertig werden kann. Keine der hier genannten Entspannungsmethoden befaßt sich jedoch mit den eigentlichen Ursachen; keine beseitigt den Schmerz. Ohne Primals wird der Urschmerz ein Leben lang bestehenbleiben. Daher auch ihre Gefährdung für weitere Zusammenbrüche, selbst wenn sie sich im Augenblick erholen und eine zufriedenstellende soziale Anpassung erreichen.

Ein psychotischer Zusammenbruch ist ein Zusammenbruch des Schleusensystems. Der Unterschied zwischen ihm und einem Primal liegt darin, daß bei letzterem die Schleusen allmählich und systematisch geöffnet werden. Gleichwohl befinden sich der Neurotiker wie auch der Primärpatient, wenn die Schleuse einmal geöffnet ist, in der Vergangenheit. Der Psychotiker befindet sich in dem Zustand eines permanenten, unverknüpften Primals. Der Primärpatient verknüpft die erste und zweite Ebene mit der dritten. Er hat die Vergangenheit mit der Gegenwart integriert. Die Gegenwart des Psychotikers wird durch seine Vergangenheit desintegriert. Die langsame Integration von Schmerz ist die notwendige und hinreichende Behandlung für Psychose.

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E. Über Sexualität und Perversionen 

 

Sexualität und Sexualverhalten gehen nicht immer Hand in Hand. Sexualität ist eine Sache des Fühlens, sexuelles Verhalten hingegen ist mit und ohne Fühlen möglich. Sexualität ist nur ein Teil einer allgemeinen Fähigkeit, in unseren Körpern zu fühlen. Sie ist Teil des Körpers, nicht eine davon losgelöste Aktivität. Wir sehen daher, wie das Abblocken irgendeines Schmerzes im Körper sich auch auf unsere Sexualität auswirkt, denn Schmerz abblocken heißt Fühlen abblocken. 

Ein Neurotiker hat per Definition sexuelle Probleme, ob offen oder verdeckt, weil jeder Neurotiker verdrängten Schmerz und somit eine verminderte Fähigkeit zu fühlen hat. Der Grad der Verdrängung bestimmt, wie tief unsere Sexualität in Mitleidenschaft gezogen wird. So gibt es unterschiedliche Grade von Frigidität und Impotenz — keinerlei sexuelles Verlangen und keinerlei Fähigkeit, sexuell zu funktionieren; geringes sexuelles Verlangen, aber kein Orgasmus; ein gewisses sexuelles Verlangen mit gelegentlichem Orgasmus; Orgasmus durch Masturbieren, nicht aber durch Penetration mit dem Penis; und schließlich voller Orgasmus mit voller Penetration. Das Problem wird dadurch noch komplizierter, daß viele Männer und Frauen beim Geschlechtsakt zwar einen Orgasmus haben, sich aber nicht bewußt sind, daß diese Orgasmen nicht das Ergebnis einer erfüllten sexuellen Begegnung sind, sondern lediglich eine Abfuhr erotisierter Spannung. Statt den ganzen Körper zu erfassen, sind diese Orgasmen meistens lokalisiert.

Selbst wenn jemand ein besonderes Sexualproblem hat, wie zum Beispiel frühzeitige Ejakulation, braucht die eigentliche Wurzel des Problems keineswegs im sexuellen Bereich zu liegen. In den meisten Fällen ist das Problem das Resultat einer Vielzahl schmerzhafter Erlebnisse, die noch vor jeglicher Sexualität lagen. Wie ich bereits an anderer Stelle sagte*, kann es keine Sexualität geben, ehe nicht Sexualität vorhanden ist — mit anderen Worten nicht vor Erreichen der Pubertät, nicht ehe die Sexualdrüsen arbeiten.

Die Auffassung, daß sexuelle Funktionen unmittelbar durch die Fähigkeit zu fühlen beeinflußt werden, ist keineswegs eine esoterische Theorie; sie ist das Ergebnis von Beobachtungen an Hunderten von Patienten mit allen möglichen sexuellen Problemen. Wir haben erlebt, wie diese Probleme durch Primals gelöst werden können, die in keiner unmittelbaren Beziehung zur Sexualität stehen. So hatte zum Beispiel eine Patientin Primals über ihre Unfähigkeit, zu einem Orgasmus zu gelangen, wenn sie mit einem Mann schlief, obwohl sie diesen Punkt sehr leicht erreichte, wenn sie allein masturbierte. Die Verknüpfungen, die sie herstellte, zeigten, daß der ursprüngliche Schmerz nichts mit Sex zu tun hatte.

* Das befreite Kind, S. Fischer Verlag, Frankfurt 1974.

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Es hatte sich für sie als äußerst unsicher erwiesen, in Gegenwart ihrer Eltern die Kontrolle zu verlieren oder spontan zu sein, so daß sie später, als sie älter wurde, unfähig war, sich so weit gehenzulassen, daß sie in Gegenwart eines anderen Menschen zum Orgasmus kam. Der Gedanke, Sexualität sei etwas von der körperlichen Fähigkeit zu fühlen Losgelöstes, und die Auffassung, das sexuelle Erlebnis könne den Körper transzendieren und habe ein eigenständiges Leben, beruhen auf mystischen und falschen Vorstellungen. 

Bei reifem Sex sind alle drei Bewußtseinsebenen mit einbezogen, und der Körper funktioniert ungehemmt. Das beinhaltet den richtigen Hormonausstoß und ein ausgewogenes hormonelles Gleichgewicht (Ebene 1), eine emotionale Beziehung zu einem anderen Menschen (Ebene 2) und die sexuellen Techniken (Ebene 3). Bei Neurotikern sind diese Ebenen nicht ineinander integriert, bei ihnen dominiert vielmehr meistens eine der drei Ebenen über die beiden anderen, so daß ihr Sexualleben nicht ausgewogen ist.

Der Mensch, bei dem die erste Ebene dominiert, gilt gemeinhin als »animalisch«. Er läßt sich jederzeit und unterschiedslos mit jedem ein, weil seine Sexualität ausschließlich nach innen gerichtet ist. Er bezieht sich nicht auf andere Menschen, oder allenfalls nur insofern, als daß sie sein Bedürfnis befriedigen. Er bezieht sich auch auf sich selbst. Zwanghaftes Masturbieren ist ein weiteres Beispiel dafür. Das ist reine Spannungsabfuhr, keine Sexualität. Der Penis ist lediglich das Ventil, durch das aus einer Vielzahl von Quellen gespeiste Spannung entladen wird. Einer unserer Patienten berichtete, daß er beim Masturbieren manchmal den Drang verspürte, gleichzeitig zu erbrechen, zu urinieren und zu defäkieren. Mit seinen eigenen Worten wollte er, »daß alles aus ihm herausfließt«, genauso wie er sein Leben lang immer gewollt hatte, daß seine Gefühle aus ihm herausflössen, und genauso wie er ursprünglich aus dem Uterus seiner Mutter hatte heraus»fließen« wollen. Seine vermeintliche sexuelle Aktivität hatte mit Sex herzlich wenig zu tun.

Der Mensch mit dominierender zweiter Ebene verharrt in symbolischem Sex: er verfällt in Perversionen, die es ihm ermöglichen, Schmerz zweiter Ebene zu agieren. Er kann sich »verkleiden«, exhibieren, obszöne Telefonanrufe führen, seine Sexualpartner durchpeitschen und so weiter. Er agiert seine Kindheit in der Gegenwart, allerdings braucht er gewisse äußere Umstände, um erregt zu werden, um »in Fahrt zu kommen«. Er braucht sein Kleid, oder er muß seinen Penis in der Öffentlichkeit zeigen. Ein Mann, der Frauenkleider anzieht, kann dadurch unter Umständen versuchen, einer Frau (seiner Mutter) nahezukommen, da aber seine Mutter kalt und abweisend war (und dadurch seine spätere Unfähigkeit erzeugte, als Erwachsener mit Frauen Freundschaften zu schließen), muß er sich selbst in die nie gehabte warme, liebevolle Mutter verwandeln. 

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Ein Mensch mit dominierender dritter Ebene verharrt meistens in Symbolen. Wie der Mensch zweiter Ebene, nur in noch stärkerem Maße, hat er Sexualität aufgespalten — entsprechend der Spaltung von Körper und Geist —, so daß er Bilder und Symbole in seinem Kopf braucht, um Zugang zu seinem Körper zu finden. Ein solcher Mensch muß bestimmte Geschichten oder vielleicht »schmutzige« Wörter hören oder sich »schmutzige« Bilder anschauen. Oder er muß sich den anderen als Filmstar oder dergleichen vorstellen. In diesen Fällen besteht hauptsächlich eine Beziehung zu Symbolen und Phantasievorstellungen und nur ein minimaler sexueller Trieb. Bei einem Menschen dritter Ebene ist Sex meistens intellektualisiert, und die Beziehung, die er zu seinem Partner unterhält, kann als eine »Beziehung dritter Ebene« oder als eine »Begegnung der Geister« bezeichnet werden. Er braucht nicht selten Alkohol oder Drogen, um sexuelle Gefühle zu entwickeln.

Der Verlust der Sexualität beginnt mit der Geburt, vermutlich sogar schon früher. Mütterliche Spannung wirkt sich nachteilig auf den Fetus aus und verändert dessen hormonelles Gleichgewicht. Diese hormonelle Unausgewogenheit kann sich allgemein darauf auswirken, wie das Neugeborene dem Leben entgegentritt; so ist es möglich, daß ein männliches Neugeborenes, aufgrund veränderter Ausschüttung weiblicher Hormone (wenn auch unmerklich), »feminisiert« wird, so daß spätere Traumata eine »weiche«, feminine Reaktion auf das Leben hervorrufen. Oder die hormonelle Unausgewogenheit kann-später den Sexualtrieb unterdrücken (vorausgesetzt, es kommen Entbehrungen und Verdrängungen der zweiten Ebene hinzu) und zu einem asexuellen Menschen führen.* Ich bin der Überzeugung, daß ein intakter Mensch eine sexuelle »Aura« hat; daß er sehr maskulin, beziehungsweise sie sehr feminin ist und daß sich das deutlich zeigt. Neurose ent-sexualisiert den Menschen. Sich »sexy« geben (Sex als Abwehr benutzt) ist etwas anderes als wirklich sexuell sein. 

 

Mit jedem Blockieren von Schmerz in unserem frühen Leben verlieren wir etwas von unserem Fühlen und damit von unserer Sexualität. Wenn der gesunde Mensch einen Geschlechtsakt erlebt, so ist das ein rein sexueller Akt, weil keine Vergangenheit, keine Primäranlage vorhanden ist, die dem irgendeine andere Bedeutung gibt. Beim Neurotiker ist jeder sexuelle Akt immer durch die Schmerzanlage beeinträchtigt. Zum Beispiel haben viele Patientinnen entdeckt, daß sie Sex in ihrem Leben hauptsächlich dahingehend benutzen, um sich im Arm gehalten und gestreichelt zu fühlen. Sex war für sie der Weg, auf dem sie das erhielten, was sie als Kinder brauchten (und nicht bekamen). Da ihre Möglichkeiten für soziale Beziehungen relativ beschränkt sind (normalerweise können sie nicht in dem Maße wie Männer den Beruf als Ventil benutzen), konzentrieren sie sich oft auf das Gebiet der Sexualität, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen.

 

*   Für eine ausführliche Erklärung hormoneller Veränderungen während der Schwangerschaft vgl. Das befreite Kind, S. Fischer Verlag, Frankfurt 1974.

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Selbstverständlich benutzen auch Männer Sex auf neurotische Weise, aber sie können ihren Kampf um Liebe in der Regel gleichzeitig auch in vielen anderen Bereichen austragen. In einer vom Mann dominierten Gesellschaft, in der eine Frau daheim bleibt und darauf wartet, daß ihr Mann abends nach Hause kommt, ist sie sehr stark von ihm abhängig, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen.

Eine Frau mag sich zwar geliebt und in den Arm genommen fühlen wollen, das Problem ist nur, daß sie dafür das Eindringen des Penis in Kauf nehmen muß. Viele Frauen, die durch »äußere« Manipulation der Klitoris durchaus zu einem Orgasmus gelangen können, sind dazu unfähig, wenn es zur Penetration kommt. Das mag viele Gründe haben, unsere Patienten jedoch sehen die Erklärung vor allem darin, daß etwas dorthin eingedrungen ist, wo der Schmerz liegt. Eine feste, trockene Vagina ist als Abwehr zu sehen, die ein totales Abblocken des Fühlens und die daraus resultierende Frigidität bewirkt. 

Wir werden durch unsere Eltern nicht sexuell pervertiert — von einigen seltenen Ausnahmen abgesehen (durch Inzest zum Beispiel). Im großen und ganzen pervertieren sie die Art und Weise, wie wir Liebe ausdrücken und wie wir Liebe zu erhalten suchen. Wie eng Liebe und Sex miteinander verwoben sind, zeigt sich darin, daß eine Perversion der Liebe später zu abweichendem sexuellen Verhalten führt. 

Wenn wir verstehen, daß der Neurotiker versucht, die Vergangenheit durch symbolisches Manipulieren der Gegenwart zu bewältigen, dann sehen wir auch, daß sein sexuelles Verhalten keine Ausnahmeerscheinung ist. Ein Mann kann impotent sein, weil er unbewußt eine »Mutter« geheiratet hat. Dahinter stand das alte Bedürfnis nach Schutz, Umsorgtsein, Geführtwerden etc. Das alte, dominierende Bedürfnis gilt der »Mama«. Erfolgreicher Sex muß jedoch mit jemandem durchgeführt werden, der nicht »Mama« ist. Fast jedes sexuelle Problem ist in meinen Augen ein Primärproblem. Wenn die Organe nicht richtig funktionieren, so liegt das daran, daß der sexuelle Akt symbolisiert wird.

Untersuchen wir einmal den Prozeß, durch den ein Primärgefühl sexualisiert und symbolisiert wird. Zunächst gehen wir aus von dem basalen Bedürfnis des Säuglings nach Körperkontakt, Zärtlichkeit und körperlicher Wärme. Dieses Bedürfnis wird selten befriedigt. Neurotische Mütter können sich und ihren Körper selten ganz und unbefangen geben. Da sie sich nicht ganz selbst haben, können sie sich auch nicht ganz geben. Meistens geben sie symbolische Liebe: Geld, Geschenke, Essen etc. Das kleine Kind klammert sich an das Symbol, weil das alles ist, was es bekommen kann. Doch es braucht wirkliche Zuneigung, und dieses frühe Bedürfnis ist überwältigend. Für ein depriviertes Kind ist allein schon die Vorstellung erregend, daß Mutter gleich kommt und es hochnehmen wird. 

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Wenn es dann die Arme nach ihr ausstreckt, steht es mit jeder Faser seines Seins dahinter. Seine Erregung ist nicht sexueller Natur, weil es noch nicht sexuell ist. Es ist lediglich ein generalisierter Zustand der Aktivierung. Wenn das Bedürfnis nicht befriedigt wird, bleibt es weiterbestehen. Das Bedürfnis und dessen Energie ändern sich nie. Das, was sich ändert, ist einzig und allein die Art und Weise, wie das Kind und später der Erwachsene es zu befriedigen versucht. Wenn er es nicht auf wirkliche Weise befriedigen kann, wird er das Bedürfnis auf unwirkliche Weise befriedigen müssen. 

Der Säugling kann nicht rauchen und trinken oder den Fernsehapparat einschalten. Wenn er in seinen Bedürfnissen frustriert wird, kann er seine Gefühle und Bedürfnisse bestenfalls abblocken, und deren Energie wird dann automatisch in Kanäle erster Ebene geleitet - Erbrechen, Koliken, Bettnässen, Daumenlutschen, Schlagen mit dem Kopf (Vorläufer von Masturbation) oder Einschlafen. Mit dem Abblocken hört er auf, seine Bedürfnisse voll und ganz zu erleben, und das ist der entscheidende Punkt, denn anschließend kann er sich ihnen dann nur noch symbolisch nähern. Gleichwohl sind sie noch immer vorhanden und üben einen starken Druck aus.

 

Wenn das Kleinkind beginnt, sich selbständig herumzubewegen, wird es noch immer versuchen, sich der Mutter zu nähern und sich an sie zu klammern. Doch ist sie normalerweise zu beschäftigt mit Hausputz, Kochen und dergleichen, und alles, woran er sich festhalten kann, sind vielleicht ihre Strümpfe. Mit der Zeit repräsentieren diese Strümpfe dann die Mutter. Sie können unter Umständen zu Symbolen für Liebe werden. In seinen ersten Lebensjahren hat dieser Mensch vielleicht das Verlangen, an Mutters Schublade zu gehen und sich an ihre Strümpfe zu klammern, wenn sie zur Arbeit gegangen ist. 

Später, in der Adoleszenz, hat er dann vielleicht Phantasievorstellungen von Frauen in Strümpfen und masturbiert zu diesen Phantasien. Sein symbolisches Handeln betrifft jetzt die zweite und dritte Ebene. Noch später mag er immer wieder den überwältigenden Drang verspüren, sich beim Masturbieren Frauenstrümpfe (und oft Frauenhöschen) anzuziehen. Es kann soweit kommen, daß dieses Ritual sein Sexualleben bestimmt. Ohne dieses Ritual ist Sex für ihn dann kaum mehr denkbar. Inzwischen ist er von diesen sehr frühen Bedürfnissen Jahrzehnte weit entfernt, und er weiß nicht einmal mehr, daß ein solches Bedürfnis überhaupt vorhanden ist. Er denkt, er brauche Damenstrümpfe. Weil er seine Bedürfnisse nicht fühlen kann, muß er sie denken. Er wird durch sein Ritual genauso erregt wie das kleine Kind bei dem Gedanken an und Bedürfnis nach Liebe. Ja, die Erregung ist mit jenen alten Gefühlen identisch; nur liegt der Brennpunkt jetzt in der Gegenwart. Die Erregung ist jetzt sexuell, weil dieser Mensch jetzt ein erwachsenes, sexuelles Wesen geworden ist. Sex ist offenbar einer der besten Wege, um Spannung zu entladen. Es kann die heftigste und explosivste Art der Spannungsabfuhr sein; und da dem Neurotiker die Mittel fehlen, mit Hilfe derer er wirkliche Erleichterung finden kann, muß er sie symbolisch finden. Und so kommt es, daß Strümpfe ungeheuer erregend werden.

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Gewiß, die Art der symbolischen Entladung ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich; aber der Prozeß, durch den ein einfaches Bedürfnis in ein sexuelles Ritual verwandelt wird, ist mehr oder weniger durchgehend der gleiche. Das Überwältigende an einem Ritual ist das frühe Bedürfnis, das es überhaupt erst entstehen läßt, und nicht etwa das Verlangen nach Strümpfen. Das Bedürfnis ist überwältigend, weil es eine Sache des Überlebens ist. Und deshalb können weder die Androhung von Strafe oder Gefängnis noch der mögliche Verlust des Ehegatten dem Ritual Einhalt gebieten, wenn es einmal in Gang gesetzt ist. Die eigentliche dahinterstehende Triebkraft gilt der Liebe, nicht dem Verkleiden. Die Perversion zu behandeln heißt, an dem eigentlichen Punkt völlig vorbeizugehen.

Es hieße, den falschen Impuls behandeln. Das ist ein ganz entscheidender Punkt. Denn das Bedürfnis, Damenstrümpfe zu tragen, kann in und aus sich selbst kein überwältigendes Bedürfnis sein. Es hat mit den basalen Lebensbedürfnissen nichts zu tun. Erst wenn wir verstehen, daß es das Derivat eines realen Überlebensbedürfnisses ist, können wir auch seine ungeheure Intensität begreifen.

Ein symbolisches Ritual als eigenständige pathologische Entität zu behandeln macht die Sache meistens noch schlimmer. Denn das, was Therapien — wie zum Beispiel Verhaltenstherapien — normalerweise machen, ist nichts anderes, als daß sie das Ventil abschaffen, ohne gleichzeitig auch die zugrunde liegenden Bedürfnisse aufzulösen. Und das schafft nur noch weiteren Druck, nicht weniger, und so wird dieser Mensch gezwungen, früher oder später wieder zu agieren. 

Ich habe mich auf ein Beispiel beschränkt, aber die Möglichkeiten für Bedürfnisperversionen sind endlos. Wir sollten nur immer bedenken, wenn wir von Perversionen sprechen, daß es sich um eine Perversion (und symbolische Diversion) basaler Bedürfnisse handelt. Strümpfe und Höschen sind für einige Männer nur deshalb so erregend, weil sie unbewußt Erfüllung und Befreiung von einem Bedürfnis darstellen. Da das Bedürfnis dadurch nicht wirklich befriedigt wird, wird das Ritual sexualisiert, und die Entladung ist dann ebenfalls sexuell. Er gibt sich selbst die Befriedigung, die ihm seine Eltern nie haben geben können. Dieser Mensch mag eine Weile Ruhe geben, bis irgendein Umstand das alte Bedürfnis erneut auslöst (zum Beispiel, wenn er seine Freundin verliert), und dann setzt das Ritual wieder mit all seiner Kraft ein. Der Betreffende ist sich in den seltensten Fällen bewußt, daß hinter seinem Zwang ein sehr frühes Gefühl steht. Aber selbst wenn er es wäre, würde sich dadurch nichts ändern. Solange er dieses Bedürfnis nicht auf der ersten oder auf der zweiten Ebene zu erleben vermag, hilft ihm das Wissen allein gar nichts.

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Einer unserer Patienten zum Beispiel wußte bereits vor der Therapie um eine Szene in seiner frühen Kindheit, in der er auf dem Fußboden saß und spielte, als sich seine Mutter über ihn stellte, ohne daß sie ein Höschen anhatte. Als er versuchte, an ihren Beinen hochzuschauen, schlug sie ihn, wegen seines Interesses. Wieder und wieder verführte sie ihn und schlug ihn dann, weil er sich interessiert zeigte. Als Erwachsener erregte es ihn am meisten, wenn Frauen mit gespreizten Beinen über ihm standen und er ihnen zwischen die Beine sehen konnte. Er wußte um den Ursprung seines Zwanges. Aber dadurch änderte sich nichts; es blieb für ihn nach wie vor der wichtigste Weg zur sexuellen Erregung.

Das veranschaulicht einmal mehr, daß Einsichten dritter Ebene Traumata und Schmerzen tieferer Ebenen nicht zu ändern vermögen. Rituale bleiben deshalb solange in Kraft, weil sie ständig ein Bedürfnis symbolisch besänftigen. Mit wachsender Frustration kann der Drang nicht länger als einfache Phantasievorstellung im Kopf zurückgehalten werden. Dieser Drang war in der frühen Kindheit körperlich und allmächtig, und das bleibt er auch weiterhin. Das Trauma ereignete sich, noch ehe ein wohlgeordneter seelischer Apparat vorhanden war, um mit ihm fertig zu werden, und deshalb bewirken spätere Rationalisierungen wenig. Ein solcher Mensch kann sich sagen, wie gefährlich es ist, sein Ritual auszuführen, und es dennoch tun, trotz seines Wissens (auf der dritten Ebene). Er bleibt weiterhin ein Leben lang auf ein Symbol fixiert, und schlimmer noch, mit der Zeit kann einzig und allein sein Ritual ihm Befriedigung verschaffen — er wird unfähig, die wirkliche Sache weiterhin zu akzeptieren. Er kann wirkliche Liebe nicht akzeptieren, wenn sie ihm dargeboten wird; im Gegenteil, er wird versuchen, die Frau, die ihn liebt, dazu zu zwingen, sich an dem Ritual zu beteiligen. Er verstrickt sie in seine Neurose und vermag sich nicht hinreichend davon zu lösen, um wirkliche Liebe akzeptieren zu können.

So weit ist es mit einem einfachen Bedürfnis gekommen. Es ist abgeblockt worden, weil es nicht befriedigt wurde, und drängt die dritte Ebene fortan in ein Ritual, wann immer das Bedürfnis ausgelöst wird. Es gibt keinen Halt für diesen Zwang, für keinen Zwang, solange nicht die Verknüpfung zwischen den Bewußtseinsebenen hergestellt wird. Die Zwangshandlung ist deshalb zwanghaft, weil sie eine Sache des Überlebens ist — der Betreffende muß das lebensbedrohende Bedürfnis im Kontext fühlen.

Wir gewinnen ein Verständnis von der ungeheuren Stärke unserer frühen Bedürfnisse, wenn wir uns die hinter einem Zwang stehende Kraft auf den Körper eines Säuglings übertragen vorstellen. Oder ein anderer Weg, die Qualen zu verstehen, besteht darin, sich an Situationen zu erinnern, in denen wir irgendeiner Sache verzweifelt bedurften, zum Beispiel als alles davon abhing, daß wir die Abiturnoten erfahren, einen Studienplatz erhalten, ein Haus kaufen oder beruflich die entscheidende Stellung bekommen würden.

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Wir konnten uns in einer solchen Situation kaum auf etwas anderes konzentrieren. Diese Sache bestimmte in jenen Augenblicken unser ganzes Leben. Und bei diesen Dingen ging es nicht einmal ums Überleben, wie es bei dem Säugling der Fall ist.

Es ist unvermeidlich, daß der Neurotiker Sex symbolisch agieren wird. Was immer er tut — die Art, wie er ißt, wie er spricht und wie er geht —, alles ist eine Widerspiegelung seiner vergangenen Lebensgeschichte. Sein Bedürfnis ist in seinem Muskelsystem, in seinem Blutkreislauf, in seinem Hormonsystem. Es ist überall, einfach weil dieses Bedürfnis total und systematisch ist. Sexuelles Verhalten ist mithin nur eine Art unter vielen, wie der Neurotiker seinen Schmerz und sein Bedürfnis agiert. Der Mann, der seine Sekretärin herumkommandiert, um sich wichtig zu fühlen (gegenüber seinen Eltern), verhält sich qualitativ nicht anders als der Perverse. Ja, eine Sekretärin herumkommandieren ist die Perversion eines Bedürfnisses, nur trägt es keinen sexuellen Bann. Im Bett kann er vielleicht dadurch »in Fahrt kommen«, daß er Frauen schlägt. Ob im Bett oder draußen, das Gefühl ist das gleiche; die Art, wie es agiert wird, verändert sich entsprechend den sozialen Gegebenheiten.

Sich beim Sex schlagen und schlagen lassen ist unter Neurotikern keine Seltenheit, und das hat einen sehr offensichtlichen Symbolgehalt. Viele kleine Mädchen erhielten nur Aufmerksamkeit, wenn sie ungezogen waren, und der einzige Körperkontakt, den sie zu ihren Vätern hatten, ergab sich, wenn ihnen der Vater eins hinten drauf gab. Wenn sie erwachsen und sexuell werden, finden sie Schläge erregend und wissen meistens überhaupt nicht, warum. 

Ähnlich mag der Mann, der Frauen gern schlägt, nie die Beziehung zwischen dem Verlangen nach Rache an der Mutter und seinen gegenwärtigen sexuellen Praktiken sehen. Das symbolische Ritual ist nicht nur ein Derivat eines frühen Bedürfnisses, sondern es ist auch der Weg in dieses Bedürfnis. Es ist der Weg, auf dem der Neurotiker Kontakt zu seinem Körper aufnehmen kann (in dem das Bedürfnis und die Sexualität angesiedelt sind). Will der Neurotiker überhaupt fühlen, dann muß er sein Bedürfnis fühlen; da er zu diesem Bedürfnis nicht in direkten Kontakt treten kann (wie er es in einem Primal könnte), macht er es indirekt. Sein Ritual, um es kurz zu sagen, aktiviert Fühlen, das sofort und automatisch in Sexualität umgekehrt wird, und dann ejakuliert er die Spannung, die durch das aufsteigende Bedürfnis aufgebaut wurde - und während alldem glaubt er, er sei sexuell gewesen. Ja, er kann sogar auf seine Sexualität stolz sein, weil das Bedürfnis so stark ist, daß er jeden Tag oder gar mehrere Male täglich ejakulieren muß. Diese frühe Erregung, von der ich vorhin sprach, ist jetzt voll und ganz in eine sexuelle Erregung umgewandelt worden.

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Die Stärke des Dranges entspricht unmittelbar der Stärke des Bedürfnisses. Nicht das Ritual oder die Perversion sind überwältigend, das Bedürfnis ist es. Sexuelle Rituale entstellen das Bedürfnis nur, aber sie verändern nicht dessen Intensität. Es ist recht erstaunlich, wie viele Neurotiker niemals verstehen, daß das Gefühl der Vergangenheit entstammt, auch wenn die Perversion auf die Gegenwart ausgerichtet ist. Und selbst wenn sie verstehen, daß ein Gefühl aus der Vergangenheit stammt, so haben sie doch keine Ahnung, von wo oder wann in der Vergangenheit. Sie können sich kaum vorstellen, daß sie sich Damenstrümpfe und -höschen anziehen aufgrund von Ereignissen, die in den ersten Wochen ihres Lebens stattfanden. 

Gefühle werden im Erwachsenenalter so automatisch erotisiert, daß der Neurotiker nie erfährt, daß sein sexuelles Verhalten nicht wirklich sexuell ist. In dem unter Entbehrungen leidenden Kind spielt sich offenbar folgendes ab: sein einmal unterdrücktes Bedürfnis wird umgelenkt zu mindestens einem Sexualität vermittelnden Schlüsselbereich des Gehirns dem Hypothalamus. Der Hypothalamus ist die Schlüsselstruktur der ersten Ebene, die an dem allgemeinen Erregungsmuster des Organismus beteiligt ist Hormonausschüttung, Veränderungen des Blutdrucks, beschleunigte Herztätigkeit etc. Erregung und Bedürfnis werden durch den Hypothalamus übersetzt und später sexualisiert. Die gesamte Bedürfniserregung ist immer die gleiche, beim Kind wie beim Erwachsenen, doch wird sie beim Erwachsenen nur als sexuelles Bedürfnis erlebt (das die dritte Ebene dann symbolisch verarbeitet, von der ursprünglich angemessenen Form zu dem frühen ungelösten Trauma).

Hätte ein Mensch nicht sein Ritual, so würde er seinen Schmerz fühlen. Das Ritual ist eine großartige Abwehr, es kann und sollte einzig und allein dadurch beseitigt werden, daß man die Gefühle erlebt, die es repräsentiert. »Erleben« heißt, einen auf einer tieferen Bewußtseinsebene registrierten Schmerz mit der dritten Ebene verknüpfen. Diese Verknüpfung vollendet den Schaltkreis und verwandelt ein registriertes Geschehen in ein total erlebtes. 

Erst das Erleben macht den großen Urschmerz offenbar, nicht einfach das Registrieren. Und das Erleben des Urschmerzes macht das Unbewußte (tiefere Bewußtseinsebenen) bewußt. Ist dieser Punkt erreicht, dann werden Gefühle nicht mehr in pervertierte Kanäle umgelenkt. Den Schmerz erlebt haben bedeutet, nicht mehr von ihm getrieben werden und nicht mehr gezwungen werden, diesen Schmerz zu ritualisieren. Meine These ist einfach: Wenn Zuneigung nicht im Kindesalter gegeben oder empfangen werden kann, dann wird ihr Ausdruck pervertiert; und wenn Zuneigung später mit Sex verbunden wird, wird auch Sex pervertiert. Wenn ein Kind keine Gelegenheit hat, seinen Eltern seine Liebe zu geben, so verlagert sich das Objekt seiner Liebe - auf seinen Hund, auf Mutters Kleider (Symbole von ihr) oder was immer.

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Diese Verlagerung findet oft noch vor dem Alter der Sexualität statt, gs ist also nicht so, daß das Kind in der Adoleszenz pervertiert wird; seine bereits vorhandene Perversion wird vielmehr sexualisiert. Zu diesem Zeitpunkt mag er in Mutters Höschen masturbieren. Sein Kampf um Liebe wird sich unter Umständen sein ganzes Leben lang auf dieser symbolischen Ebene abspielen. Und das unterscheidet ihn nur wenig von denen, die Sex benutzen, um im Arm gehalten und gestreichelt zu werden. Gewiß, im Arm gehalten und gestreichelt werden besänftigt Spannung und ist angenehm, nur sollte man sich hüten, das mit Sexualität gleichzusetzen. 

Darum auch glaube ich, daß Homosexualität, von wenigen Ausnahmen abgesehen, kein sexueller Akt ist. Es ist sexuelles Verhalten, nicht aber Sexualität im primären Sinne. Die Perversion des männlichen Homosexuellen existiert, lange bevor er sexuell ist. Wenn er versucht, von Männern, beispielsweise von seinen Lehrern oder von älteren Schulfreunden, Liebe zu erhalten, weil sein Vater ihm keine Liebe zu geben vermag, so ist das ein Zeichen dafür, daß eine Bedürfnisperversion bereits vorhanden ist. In der Adoleszenz versucht er vielleicht via Sex, diese Liebe zu erhalten. Er will, daß er sich durch einen Mann (seinen Vater) gut fühlt. Er braucht einen Mann, um seine Spannung zu lindern, denn es war ein Mann, der diesen Schmerz ursprünglich ausgelöst hat, indem er versagte, der liebende Vater zu sein, der er hätte sein sollen.

Es gibt fraglos ebenso viele Gründe für Homosexualität, wie es Homosexuelle gibt — zu sehen, daß Papi seine ganze Liebe Mami gibt, und zu versuchen, für ihn eine »Frau« zu sein, ist ein Beispiel von vielen. Es gibt Homosexuelle, bei denen die erste Ebene dominiert, die nur auf körperliche Erleichterung aus sind. Das sind Männer, die einen Penis nach dem anderen wollen. Diese Männer handeln mit Empfindungen statt mit Gefühlen. Das Empfinden, daß jemand den Penis streichelt, ist ein Symbol dafür, daß Papi seinen Sohn liebt und ihm Gutes tut. Es gibt andere Homosexuelle, die fähig sind, eine homosexuelle Beziehung aufrechtzuerhalten. Das Problem dabei ist, daß der Liebhaber oft nur ein »Ersatzmann« ist, und daher sind diese Beziehungen oft so dramatisch. Hier wie in jeder anderen neurotischen Liebesbeziehung werden unbefriedigte Bedürfnisse in die Phantasievorstellungen von Liebe, die dieser Mensch hegt, übersetzt. Ein wirklich liebender Mensch ist um den anderen besorgt, ist rücksichtsvoll und nachsichtig, hört ihm zu und so weiter. Doch kein Mensch vermag im »Jetzt« einzuspringen und zu erfüllen, was neurotische Eltern nicht vermochten, somit muß diese Beziehung ihre Stürme haben. Zu versuchen, diesen anderen zu dem liebenden Vater zu machen (und das geschieht in heterosexuellen Beziehungen selbstverständlich genauso) heißt, ihn nicht das sein zu lassen, was er tatsächlich ist; er muß vielmehr das werden, was der andere braucht. So gesehen sind Enttäuschungen auf der dritten Ebene nichts anderes als umgelenkte Schmerzen zweiter Ebene.

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Sie sind Urschmerz und nichtgefühlte Hoffnungslosigkeit; und dieser ungelöste Urschmerz macht die Beziehung so schwierig. 

Es gibt einige Homosexuelle, die der Auffassung sind, ihre Aktivität sei nicht Ausdruck für das Bedürfnis nach einem Papi. Sie glauben, ihre Entbehrungen hatten ursprünglich ausschließlich etwas mit »Mutter« zu tun, und daß sie dann versucht haben, sich »Papi« zuzuwenden, einfach weil es dort einen kleinen Hoffnungsschimmer gab. Vielleicht war der Vater nur passiv und weich, aber doch freundlich und gütig. Selbst wenn er sich emotional zurückgezogen haben mochte, wurden die Bedürfnisse des Jungen doch auf ihn gerichtet. Es stellt sich also heraus, daß die Bedürfnisse anfänglich zwar einer liebenden Mutter galten, doch leider war keine wirkliche Mutter da, noch überhaupt die Möglichkeit, daß eine hätte da sein können.

Wieder andere Homosexuelle haben das Gefühl, Homosexualität sei eine Krankheit der ersten Ebene, insofern als von vornherein totale Ablehnung und Urschmerz vorhanden waren. Wäre von Anfang an eine liebende Mutter dagewesen, eine warme, zärtliche, umsorgende Mutter, dann wäre es nicht zur Homosexualität gekommen, einerlei was der Vater später gemacht hätte, einerlei wie tyrannisch er gewesen sein mochte.

Nirgends ist die Symbolik abweichender Sexualität offensichtlicher als in dem Bedürfnis des Homosexuellen, an Penissen zu saugen. Einer unserer homosexuellen Patienten hatte die Einsicht (nach einem Primal, in dem er das Bedürfnis fühlte, daß er als Säugling an die Brust genommen und gesäugt werden wollte), daß die Brustwarze zum Mund des Säuglings in dem gleichen Größenverhältnis steht wie der erigierte Penis zum Mund des Erwachsenen. Das heißt, es »fühlt« sich genauso an und ist eindeutig eine Ersatzhandlung.

Bedürfnisse sind wie Pflanzen, die das Sonnenlicht brauchen. Um das zu erlangen, wachsen sie, einerlei wie und einerlei wo. Wenn ein älterer Bruder zu Hause das einzige Liebesobjekt für einen Jungen war und das Elternhaus früh verläßt, dann mag der jüngere Bruder symbolisch agieren und diesen Bruder später in homosexuellen Kontakten suchen.

Bei dem Neurotiker besteht immer der Bedarf nach Symbolen. Entweder ist er selbst symbolisch (wie im Falle von Homosexualität, wenn der Liebhaber »Papi« ersetzt, sei es auch noch so unbewußt), oder die Liebenden benutzen Symbole (Photographien von Nackten, von sadistischen Szenen etc.), um erregt zu werden.

Die allmählich fortschreitende sexuelle Befreiung läßt sich in der Primärtherapie deutlich beobachten. Frauen, die zu Beginn der Therapie völlig frigide sind, beginnen nach und nach mit zunehmendem Fühlen frühen Schmerzes sexuelle Gefühle zu haben. Haben sie erst einmal begonnen zu fühlen, dann trägt sexuelle Stimulierung oft dazu bei, ihren unterschwelligen Schmerz an die Oberfläche zu treiben, so daß ein Orgasmus Schreien oder heftiges, tiefes Weinen auslöst.

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 Oder in vielen Fällen kommt es mit zunehmender Stimulierung zu einer Entladung; nicht zu einer sexuellen Entladung, sondern zu einer Entladung von Schmerz. Männer haben sich beklagt, daß die Ejakulation in dieser Phase der Therapie oft schmerzhaft sei, als würden sie »Schmerz und nicht Lust herausschießen«.

Die Beziehung zwischen sexuellem Fühlen und allgemeiner Schmerzverdrängung wird deutlich, wenn eine Frau feststellt, nachdem sie ein katastrophales Geburtstrauma wiedererlebt, daß ihre Vagina völlig feucht ist, und dann später berichtet, daß sie infolge dieses Primals ihren ersten freien Orgasmus erlebt habe.

Primals auf der zweiten Ebene, selbst wenn sie unmittelbar auf Sex bezogen sind — zum Beispiel, »Mami schlug mich, wenn ich meine Vagina anfaßte« —, führen nicht immer zu spontanem Feuchtwerden der Vagina, wie es »nicht sexuelle« Primals erster Ebene tun können. Primals von sexuellen und nichtsexuellen Traumata auf der zweiten Ebene bereiten den Weg für die erste Ebene, durch die der Patient schließlich seinen Körper zurückerhält. Kurzum, Frigidität und Impotenz sind hauptsächlich Probleme der ersten Ebene. Im allgemeinen gewinnt ein Mensch durch diesen vollen Zugang zur ersten Ebene seine Sexualität zurück.

Aber wie bei allen Verallgemeinerungen gibt es auch hier Ausnahmen. Es gibt fraglos viele Traumata auf der zweiten Ebene - sexuellen und nichtsexuellen Ursprungs -, die ihren Tribut fordern. Wenn solche Traumata ungewöhnlich schwer wiegen, kann es sehr lange dauern, bis sie gelöst sind und der Betreffende sexuell befreit ist. Wenn ein Mensch als Kind regelmäßig geschlagen wurde, wie es bei einer jungen Frau, die unter Frigidität litt, der Fall war, dann hat das mit Sicherheit zur Folge, daß sich ihr Körper abblockt. Im Falle dieser Frau verhalf ihr ein Wiedererleben der alten Schläge zu einer enormen Öffnung ihres Körpers. Ein anderes Mädchen mußte ihrer Mutter täglich die Hände vorführen, die sie dann inspizierte und daran roch, um sicherzugehen, daß ihre Tochter nicht masturbiert hatte. So etwas muß einfach Spuren hinterlassen. Nicht nur daß dieses Mädchen niemals masturbiert hat, sie hatte auch entsetzliche Angst davor, einen Orgasmus zu haben. Diesen Punkt weiter auszuführen, erübrigt sich wohl. 

 

Sexualität ist eine Sache des Körpers. Wenn der Körper blockiert ist, ist auch die Sexualität blockiert. Vor diesem Gesetz gibt es kein Entrinnen. Mögen auch noch so viele schwere Traumata zweiter Ebene vorhanden sein, es gilt die allgemeine Regel, daß, sobald hinreichend traumatisches Material erster Ebene vorhanden ist (wie es bei fast allen Menschen der Fall ist), volle Sexualität nicht möglich ist, ehe nicht ein Großteil des Materials erster Ebene aufgelöst wird. Und das erklärt, warum wir bislang keine Vorstellung von richtiger Sexualität hatten. Es gab einfach keine voll und ganz sexuellen Menschen.

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Gewiß, man könnte dem entgegenhalten, daß eine Vielzahl von Frauen durchaus leicht einen Orgasmus haben. Aber einen Orgasmus haben und jene Sexualität erreichen, die den ganzen Körper umfaßt, ist zweierlei. Sexualität ist nicht einfach eine Sache vaginaler oder peniler Entladung. Es ist vielmehr eine Sache des totalen und uneingeschränkten Feelings. Gewiß, es gibt Männer, die einen Orgasmus haben, sobald sie sich Frauenkleider anziehen. Aber sind sie deshalb sexuell? Sie haben sexualisierte Orgasmen, aber kein sexuelles Fühlen. 

Wenn ein Mensch verdrängt, dann wird sich an dem Punkt sexueller Entladung ein Teil des Körpers damit befassen, zu unterdrücken statt auszudrücken. Der Orgasmus muß partiell sein, denn beim Sex voll zu fühlen hieße, all den unbewußten Schmerz zu fühlen. Mit ansteigendem Erregungsniveau steigt auch das Schmerzniveau, denn Fühlen ist! ein einheitliches Erlebnis. Das Schreien und Stöhnen, das manche Menschen im Augenblick sexueller Entladung von sich geben, könnte, kurz gesagt, weniger sexuell als vielmehr primär sein. 

Ein partieller Orgasmus kann bei Männern eine unvollständige Ejakulation sein, und wenn der Mann nicht schon einmal eine volle Ejakulation erlebt hat, weiß er nicht einmal, daß er überhaupt ein Problem hat. Ja, er wird es vielleicht sogar umkehren und sich besonders maskulin fühlen, weil er innerhalb kurzer Zeit zweimal kommen kann. Bei Frauen kann ein partieller Orgasmus einfach eine starke, aber lokalisierte Entladung im vaginalen Bereich sein; keinen Zugang zum ganzen Körper zu haben bedeutet, auch keinen vollen Körperorgasmus zu haben. So kommt es nur zu einer Empfindung, nicht zu einem Fühlen; und diese Empfindung ist eine umgewandelte Empfindung — von Schmerz in Lust, von Spannung in Entladung. Es stellt sich Lust ein, weil ein Brennpunkt für die Entladung vorhanden ist. Leider verwechseln Neurotiker den Zustand der Lust mit Spannungsentladung, so daß sie wahre Lust gar nicht kennenlernen. Bei den meisten Neurotikern sind die Gefühle abgestumpft, lange bevor sie wußten, daß es so etwas wie Feeling überhaupt gibt, und so ist es kein Wunder, daß sie später keine Ahnung haben, was Sex ist oder sein sollte. 

 

Da die meisten Neurotiker den Orgasmus nur so kennen, wie sie ihn seit der Adoleszenz normalerweise erlebt haben, können sie nicht wissen, was ein normaler Orgasmus ist. Deshalb neigen sie zu der Annahme, sie seien normal. Das ist sehr ähnlich, als habe man nie gewußt, wie ungeliebt man immer war, bis man dann plötzlich wirklich geliebt wird. Das erklärt vermutlich auch, warum Untersuchungen und Umfragen das wahre Ausmaß von Sexualneurosen in unserer Gesellschaft nicht richtig erfassen. Der einzige Mensch, der wahre Sexualität kennt, ist derjenige, dessen Körper nicht mehr mit Verdrängung befaßt ist. Alle Erkenntnisse über normales Sexualverhalten können daher nur aus der Beobachtung eines solchen Menschen gezogen werden. Alles andere ist eine Untersuchung an Neurotikern. 

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So muß die Häufigkeit; sexueller Kontakte — zwei- oder dreimal pro Woche, wie aus diversen Untersuchungen hervorgeht — keineswegs normal sein. Sind Sex und Spannung erst einmal getrennt, dann nimmt die Häufigkeit eher ab, wenngleich die Qualität steigen mag.

Um auf die anfängliche Frage über Sexualverhalten zurückzukommen, es ist für einen Mann durchaus möglich, seinen Schmerz abzublocken und hypersexuell zu werden. Dem äußeren Anschein nach wäre sein Verhalten sexuell. Doch bei näherer Betrachtung sehen wir, daß er der frigiden Frau gleicht, bei der der Schmerz abgeblockt ist und die infolgedessen unsexuell wird. Beider Verhalten ist nicht sexuell. Der einzige Unterschied besteht darin, wie sie den Schmerz und die Spannung agieren. Der Mann mag generalisierte Spannung entladen, die auf eine Ansammlung früher Schmerzen zurückzuführen ist, die dann später erotisiert wurden. Die Sexzentren sind überarbeitet, weil sie die Last lebenslanger Schmerzen tragen. Das ist nichts anderes als der Mensch, der seine Spannung wegißt.

Es gibt viele Gründe, warum Männer in ihrem Sexualverhalten eher »nach draußen agieren«, während Frauen eher »nach innen agieren«. Ein Grund mag einfach in der unterschiedlichen biologischen Ausstattung liegen. Unter dem Streß des Schmerzes kontrahiert sich der Körper - Muskeln, Blutgefäße, Pupillen etc. kontrahieren sich. Für eine Frau kann das eine Konstriktion der Vagina bedeuten und zu Vaginismus führen (schmerzende und angespannte Vagina während des Geschlechtsverkehrs). Beim Mann hingegen kann der gleiche Konstriktionsprozeß zu einer Ejakulation führen, insbesondere zu frühzeitiger Ejakulation. Das ist eine Vermutung, aber die Tatsache, daß Sexualverhalten ein kultureller Modus für Männer und nicht für Frauen ist, muß meiner Ansicht nach auch auf biologischen Tatsachen beruhen. 

In unserer Gesellschaft wird nicht nur Sexualität verdrängt, hinzu kommt sehr häufig auch ein Unterdrücken von Feindseligkeit; Kinder dürfen in der Regel gegenüber ihren Eltern nicht wütend werden, noch über sie schimpfen oder auch nur sich beklagen. So setzt sich im Speicher vergrabener Gefühle auch all die nicht ausgelebte Feindseligkeit ab. Wenn in sexuellen Situationen Gefühle aufsteigen, ist es dann gut möglich, daß auch feindselige Gefühle an die Oberfläche gelangen; zum Beispiel kann ein Mann seine Frau schlagen wollen, um »in Fahrt zu kommen«. Das trifft insbesondere zu, wenn er unterdrückte Wut auf seine Mutter hat. Um überhaupt etwas zu fühlen, müssen seine wahren Gefühle aufsteigen. Was er beim Geschlechtsakt fühlt, sind seine wahren Gefühle, nur sind sie aus dem ursprünglichen Zusammenhang gerissen. Durch seine Freundin »schlägt er seine Mutter« und gelangt so zu einer Entladung der Spannung. Ein solcher Ablauf findet fast immer unbewußt statt, doch dadurch ändert er sich in nichts. 

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Von der Dynamik her gesehen, besteht kein Unterschied zwischen Mord und sexuellem Sadismus. Ein Mann findet Lust an dem Leides von Frauen. Bei Mord tritt einfach ein totaler Verlust der dritten Ebene ein, durch die der Betreffende weiß, daß er ein kontrolliertet Ritual agiert. Bei sexuellem Sadismus ist die Symbolisierung auf einen spezifischen Funktionsbereich beschränkt, und der Betreffende »weiß«, was er macht, obwohl er sich der Schmerzen und Entbehrungen zweiter Ebene, die ihn sein Ritual Jahr für Jahr agieren lassen, völlig unbewußt sein kann. Bei Mord kommt es zu einer völligen Verschmelzung der Vergangenheit mit der Gegenwart, so daß auch nicht! mehr die geringste Abgrenzung besteht. Ähnlich liegt beispielsweise ia vielen Fällen von Exhibitionismus während des Aktes ein nahezu völliger Verlust der dritten Ebene vor. Der Betreffende macht den Ein* druck, als befinde er sich in einem Koma, weil er zurück im »Damals« ist und symbolisch eine Nachricht an seine Eltern agiert; er ist nicht im »Hier-und-Jetzt«.

Das stärkste Bedürfnis zeigt sich im Sexualverhalten als erstes. So kann zum Beispiel eine Frau, die mit einem Mann schläft, während des Geschlechtsaktes Brüste oder sonstige Symbole für Mutterliebe phantasieren müssen, wenn sie unter starken Deprivationen hinsichtlich ihrer Mutter leidet. Brustfütterung bleibt genau so vielen weiblichen wie männlichen Säuglingen versagt. Wenn aber eine Frau später an Brüsten saugen will, muß sie einen homosexuellen Akt begehen und das damit verbundene Stigma auf sich nehmen. Für sie gibt es keinen sicheren Weg, dieses einfache Bedürfnis so zu agieren, wie Männer es tun. Ich glaube, einer der Gründe, warum wir so viele Frauen für bisexuell halten, liegt darin, daß sie genau wie Männer die Liebe einer Frau (der Mutter) wollen, wenn sie die als Kind nicht hatten. Bei primärtherapeutischen Gruppensitzungen kommt es manchmal vor, daß Frauen dieses Bedürfnis mit anderen Frauen in der Gruppe agieren, und diese Patientinnen beginnen dann das eigentliche Gefühl zu fühlen und wissen letztlich, daß es nicht Sex ist, was sie suchen. Andere Patienten zu streicheln ist nicht mit einem Stigma behaftet, denn jeder weiß, daß es nur geschieht, damit der Betreffende zu seinem Bedürfnis und zu seinem Schmerz gelangt. Bei Frauen dauert es oft länger als ein Jahr, bis sie dieses Bedürfnis entdecken und anerkennen. 

 

Die Tatsache, daß ein Gefühl vergraben und unbewußt ist, bedeutet, daß es unbewußt auch das Sexual­verhalten beeinflußt, einfach weil es jegliches Verhalten beeinflußt. Eine Frau, deren Mutter nie freundlich und warmherzig war, trägt dieses Bedürfnis in sich, einerlei wie sie es ins Gegenteil rationalisieren mag. Ihr Bedürfnis nach einer Frau kann so stark sein — ohne daß sie es wahrnimmt —, daß sie beim Sex mit einem Mann einfach überhaupt nichts fühlt; sie kann nichts fühlen, wei sie ihr starkes Bedürfnis unterdrücken muß. Sie kann von ihrem Bedürfnis (und mithin von ihrem Körper) so weit entfernt sein, daß sie es nicht einmal in Form von Phantasien anerkennt.

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Wenn sie es anerkennen kann, könnte sie während des Geschlechtsaktes mit einem Mann durchaus phantasieren, sie schlafe mit einer Frau oder sauge an deren 3rüsten. Mit anderen Worten, um mit einem Mann etwas zu fühlen, muß sie zu ihren wirklichen Bedürfnissen und Gefühlen vordringen. Selbst wenn sie einen Penis in sich hat, ist das Erlebnis in ihrem Kopf (und dort liegt ein Teil unseres Erlebens) das mit einer Frau. Sie würde beim Sex mit einem Mann in gewissem Maße fühlen, weil sie etwas Zugang zu wirklichem Fühlen hat, selbst wenn dieses Fühlen in Phantasie umgelenkt ist.

Eine Frau mit einem derartigen unbewußten Bedürfnis hat vielleicht Cunnilingus lieber, weil das ein undifferenzierter sexueller Akt ist, den ein Mann ebensogut vollziehen kann wie eine Frau. Außerdem kann sie, während ein Mann das macht, gut von Frauen phantasieren. Ähnlich kann ein Mann, der sich vor voller Heterosexualität fürchtet, Fellatio vorziehen, weil auch das ein undifferenzierter sexueller Akt ist. Aufgrund derselben Furcht kann er, wenn er selbst aktiv wird, auch Cunnilingus vorziehen. Ein Mensch, der weder träumt noch sexuelle Phantasien hat, ist normalerweise weiter entfernt als jemand, der zumindest so weit geht, weil es bedeutet, daß er dem Gefühl nicht einmal symbolisch nahekommen kann — er unterdrückt sogar von dem Gefühl abgeleitete Symbole.

In der Primärtherapie ermutigen wir Frauen manchmal zu einer Konfrontation mit ihren Phantasie­vorstellungen, um sie so in ihre Gefühle zu bringen. Sie werden nicht dazu angehalten, diese Phantasien oder ihr Verhalten zu ändern, weil diese Phantasien etwas Reales in ihnen darstellen. Symbole werden in dieser Therapie nicht manipuliert. Die ganze Verhaltenstherapie basiert auf der Manipulation von Symbolen: ein nicht annehmbares Symbol wird durch ein annehmbares ersetzt. Einem homosexuellen Patienten Elektroschocks verabreichen, während ihm Bilder von nackten Männern vorgeführt werden, ist ein Beispiel für diese Methode; Elektroschock-Therapie für Raucher, denen man Bilder von Zigaretten und deren Auswirkungen zeigt, ein weiteres. Wo bleiben das Bedürfnis und die Spannung dann anschließend? Im Falle des Homosexuellen hat der Verhaltenstherapeut die Tatsache übersehen, daß der nackte Mann ein Symbol ist. Dieses Symbol erwuchs aus einem Bedürfnis. Man kann nicht das Symbol beseitigen und dann erwarten, daß damit auch gleichzeitig das Bedürfnis beseitigt ist — es sei denn, man glaubt an Zauberei. Jede Methode zur Behebung sexueller Störungen — wie zum Beispiel die von Masters und Johnson —, die die Lebensgeschichte eines Menschen unberücksichtigt läßt, muß letztlich scheitern. Sie übergeht den ganzen Bereich nichtsexueller Traumata, die die Sexualität beeinflussen. Sie geht nicht auf frühe Bedürfnisse und Deprivationen ein, sondern betrachtet Sex vielmehr isoliert als eigenständige Entität, die mit einigen geeigneten Übungsstunden verändert werden kann.

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Damit soll nicht gesagt sein, daß neue Informationen über Techniken einem gesunden Menschen nicht nützlich sein könnten, nur sind sie bei ernsthaften sexuellen Störungen unsinnig. Ein Mensch, der die alten Gefühle, die seinem neurotischen Sexualverhalten zugrunde liegen, aufgelöst hat, wird instinktiv ein natürliches und freies Sexualverhalten entwickeln und braucht in der Regel keine sexuellen Anweisungen. Experimente mit einem Menschen, der den gleichen Punkt erreicht hat, werden dafür schon Sorge tragen.

Wenn ich sehe, wie ein Mensch über ein Jahr lang fast ständig in Primals erster Ebene mit einem Geburtstrauma kämpft (ein Trauma, das den Körper in den ersten Minuten des Lebens abblockt), dann wird mir bewußt, wie komplex die Behandlung sexueller Störungen ist und wie unmöglich jede andere Methode als die in der Primärtherapie praktizierte ist. Neurotisches Sexualverhalten ist geschichtsbedingt und kann nicht durch eine Methode behoben werden, die ausschließlich darin verwurzelt ist, das Hier-und-Jetzt anzugehen. Die in der Gestalttherapie praktizierte Methode, sich in der Gruppe zu streicheln und manchmal sexuelle Zärtlichkeiten auszutauschen, ist ein Beispiel einer ahistorischen Methode. Man kann einfach nicht ein Leben lang gemachte Erfahrungen übergehen und gleichwohl hoffen, gegenwärtiges Verhalten tiefgreifend zu verändern. Die Lösung eines geschichts-bedingten Problems bedeutet die Lösung eben dieser Geschichte. 

Bei der Behandlung sexueller Probleme sollte offensichtlich sein, daß es sich nicht nur um »sexuelle Probleme« handelt. Man kann Homosexualität nicht heilen, indem man den Betreffenden ermuntert, heterosexuelle Kontakte zu pflegen, und so tut, als sei das Problem der Homosexualität eine Sache einzelner Körperteile wie Penis, Hoden und Vagina. Abweichendes Sexualverhalten ist die Widerspiegelung eines von entstellenden Ereignissen geprägten Lebens, die sich nicht nur auf den Gebrauch des Penis entstellend auswirken und den Rest von uns intakt lassen. Der Penis ist vielmehr Teil unserer gesamten Psychophysiologie, und wie er gebraucht wird, hängt vom Körper ab, dem er zugehört, und von der Geschichte, die ihn geprägt hat. 

Mit einem Sprechproblem — wie Stottern oder Stammeln — verhält es sich nicht anders. Da sprechen wir ja auch nicht von einem Mundproblem und behandeln nur die Zunge und die Lippen (und wenn wir so vorgehen, dann beseitigen wir allenfalls die Ausdrucksform des Problems, nicht das Problem selbst). Wir wissen normalerweise, daß das Problem durch frühe Ereignisse entstanden ist, und befassen uns damit.

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