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9   Die Lage der Arbeiter        Von  Professor I. Iljin  

 

 

 

    Die Diktatur des Proletariats   

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Wie bekannt, besteht in der Sowjetunion eine "Diktatur des Proletariats". Im Namen des letzteren wurde der Umsturz vorge­nommen; in seinem Namen wurde die großartige Enteignung durchgeführt und wird jetzt die kommunistische Lebens­ordnung aufgebaut. 

Dementsprechend nennt sich auch die Regierung — "die Arbeiter- und Bauern-Regierung", womit aber in Wirklichkeit nicht alle Bauern, sondern nur "die Ärmsten", das Landproletariat, gemeint ist. "Der Arbeiter ist der Diktator und der Herr im Lande der sozialistischen Sowjetrepubliken", schreibt Maxim Gorki.1) ... 

Wohl "muß der Arbeiter in der Werkstatt sich den Vorschriften und der Disziplin fügen. Aber außerhalb der Werkstatt, nach verrichteter Arbeit, beginnt er seinen öffentlichen Beruf, als Herr der Wirtschaft, auszuüben", erklärte feierlich der bekannte Kommunist Ginsburg in der Sitzung des fünften Plenums des Gewerk­schafts­rats.2) Augenscheinlich sind es die Arbeiter, die in Sowjetrußland "herrschen": ihre "Herrschaft" ist als Klassen­herrschaft gedacht; ihre Partei soll eine Klassenpartei sein;3) ihr Staat ist ein Klassenstaat. 

Nimmt man aber an, daß in Sowjetrußland eine "Diktatur des Proletariats" wirklich besteht, so wird man doch feststellen müssen, daß diese Diktatur von einer kleinen Minderheit der Bevölkerung ausgeübt wird. Im Sowjetstaat "macht das Proletariat eine kleine Minderheit der Bevölkerung aus", behauptet Lenin; die Kommunisten selbst gleichen aber "einem Tropfen im Meere".4) ... Daraus entsteht für die Kommunisten die "Hauptaufgabe" — "die Mehrheit des Proletariats auf ihre Seite zu bringen".5)

Wenn man in Betracht zieht, daß die Mitgliederzahl der Kommunistischen Partei auf 1,2 Prozent, und die Zahl des angestellten Proletariats auf 8 Prozent der gesamten Bevölkerung erst jetzt gestiegen sein soll,6) so wird es leicht einzusehen sein, daß die Kommunisten auf das Proletariat, als ihr politisches Werkzeug und ihre politische Reserve, einfach angewiesen bleiben. Eine entschiedene Unzufriedenheit der Arbeiterklasse könnte auf die Dauer für die Herrschaft der Kommunisten gefährlich werden: die enteignete Mehrheit des Volkes könnte dann eine ganz verhängnisvolle Unterstützung bei der enteignenden und sozialisierenden Arbeiterklasse bekommen, und die Lage wäre fatal.

1)  Iswestija, 1929, 18. Juli.
2)  Siehe Trud, 1928, 29. November, Nr. 227.
3)  Lenin, Werke, XVIII, Teil I, S. 64 (russ.) u. a.
4)  Lenin, Werke, XVIII, T. l, 42, 118, 157, 221; T. 2, 51. 
5)  Lenin, XVIII, l, S. 351.
6)  Siehe die Berichte des XVI. Kommun. Kongresses vom Juni-Juli 1930.


Daraus ist schon leicht zu verstehen, warum die Kommunisten alle Probleme des Arbeiterwohlstandes so ostentativ besprechen und so feierlich behandeln; warum sie so nervös werden, wenn ihnen etwas wichtiges mißlingt, und warum sie dann die Schuld an diesem Mißlingen von sich abzuschütteln suchen, von "Verschwörung", "Sabotage" und dergleichen mehr zu reden anfangen und die angeblich "Schuldigen" hart bestrafen oder einfach hinrichten lassen.

Wie lebt nun aber die Arbeiterklasse des Sowjetstaates in Wirklichkeit?

 

   Der Kriegskommunismus    

 

In der ersten Periode des sogenannten "Kriegskommunismus" ging es ihr sehr schlecht. Es wäre genug festzustellen, daß zu Beginn des Jahres 1921 der reale Arbeiterlohn bis auf 10 Prozent des Vorkriegslohnes gefallen war und 3 Rubel 36 Kopeken monatlich betrug, von denen etwa 23 Kopeken in barem Geld und der Rest in "Ware" ausgezahlt wurde.7) ... Die Sowjetindustrie produzierte damals nur 6 Prozent des Vorkriegsquantums.8) Die industrielle Stadt hatte der Landwirtschaft nichts zu geben, außer durch Inflation entwertetes Papiergeld; die Bauern konnten dafür nichts liefern, und die Kommunisten sahen sich genötigt, einen Proviantkrieg gegen die Bauernschaft zu führen; dieser Proviantkrieg brachte wenig ein; das Proletariat hungerte und floh ins Dorf, um sich irgendwie zu ernähren. 

In den Jahren 1918-1920 verlor Moskau bis 45 Prozent seiner Einwohner, Petersburg bis 71 Prozent, Jaroslawl 43 Prozent usw. Lenin selbst schilderte die ersten 4 Revolutionsjahre folgendermaßen: "Die Diktatur des Proletariats in Rußland hat der herrschenden Klasse, dem Proletariate — solche Opfer, solche Not und solche Entbehrungen auferlegt, wie sie die Geschichte noch nie gekannt hat; und es ist sehr wahrscheinlich, daß auch in jedem anderen Lande die Sache genau so vor sich gehen wird."8) "Im Bürgerkrieg der Jahre 1918—1920 hat am meisten doch das Proletariat geblutet."10) "Es hat mehr als alle andern Klassen gelitten, überstanden, sich abgequält, Not und Entbehrungen ertragen."11)

7)  Siehe in der Sowjetliteratur bei Strumilin. Der Arbeitslohn und die Produktivität der Arbeit in der russischen Industrie, Moskau 1923 (russ.).
8)  Lenin, XVIII, 1, S. 444; von Bucharin und anderen führenden Kommunisten mehrmals wiederholt.
9)  Lenin, XVIII, 1, S. 329.
10)  Lenin, XVIII, 1, S. 212.
11)  Ebendaselbst, S. 174. Diese Berechnungen "mehr" und "am meisten" wird die objektive Geschichte vielleicht auch nicht bestätigen können.

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"Vor Hunger liefen die Leute auseinander, die Arbeiter legten einfach die Betriebe still, sie sahen sich genötigt, sich auf dem Lande niederzulassen, und hörten auf, Arbeiter zu sein."12) Noch "nie hat die Arbeiterklasse so eine Unterernährung, so einen Hunger erlebt, wie in den ersten Jahren ihrer Diktatur".13) "Es besteht nun") verzweifelte Not, Hunger und Bettelei",15) "eine niegesehene und unerhörte Verschärfung der Not und der Verzweiflung, die sich jetzt" der Massen "bemächtigt"16) usw.

Die Periode des folgerichtigen Kommunismus endete also piit einer Zerstäubung und Verelendung des Proletariats. Es ist bezeichnend, daß solche Verelendungserscheinungen, wie z. B. die Millionen verwahrloster Kinder,17) von denen rund 75—80 Prozent den "werktätigen" Klassen entstammen, — auf diese Epoche zurückzuführen sind; solche Erscheinungen geben der ganzen Revolution ihr Gepräge. Die Kommunisten hatten versucht, eine allgemeine Enteignung und Sozialisierung kurzer Hand durchzuführen, indem sie das Proletariat zu ihrem politischen Werkzeug machten; die Enteignung wurde wirklich durchgeführt, aber die Sozialisierung scheiterte an dem Widerstand der Bauern. Die grundlegenden Gesetze des sozialen und wirtschaftlichen Lebens wurden rücksichtslos zertreten, und das Proletariat selbst ging an diesem Versuch zugrunde.

 

Die NÖP-Periode

Die Periode der sogenannten "neuen ökonomischen Politik" (nach den ersten Buchstaben "NÖP" genannt) überkam dieses schlimme Erbe und also auch die Aufgabe — das Proletariat wieder zu sammeln, anzustellen und seine Lage nach Möglichkeit zu bessern. Die Periode dauerte etwa bis zum Jahre 1928, und ist jetzt von dem zweiten kommunistischen Versuche Stalins abgelöst worden (1929-1930 ...). Es ist selbstverständlich, daß die Sowjetregierung während dieser Jahre alles mögliche machen mußte, um der Arbeiterklasse einen möglichst großen Wohlstand angedeihen zu lassen. Es ist aber auch von Anfang an festzustellen, daß die unentgeltliche kommunistische Versorgung und Verpflegung des Proletariats mit dem Zusammenbruch des folgerichtigen Kommunismus grundsätzlich gescheitert war, und daß die NÖP-Periode den Arbeiter in den ursprünglichen Zustand eines Lohnarbeiters versetzte, welcher, als richtiger Proletarier, ohne Produktionswerkzeuge dastehend und an sich wirtschaftlich lahmgelegt, sich einen Arbeitgeber zu suchen und seine Arbeitskraft und Leistungsfähigkeit zu "entäußern" oder zu "verkaufen" hat.

 

12)  Ebendaselbst, S. 128.
13)  Ebendaselbst, S. 191; siehe auch S. 175.
14)  Dies galt für den Winter 1921—1922.
15)  Lenin, XVIII, 1, S, 159.
16)  Ebendaselbst, S. 167.
17)  Siehe den Aufsatz von Dr. Axenof im vorliegenden Sammelwerke.

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In den ersten Jahren der NÖP-Periode hatte der Proletarier noch die Möglichkeit gehabt sich eine private Anstellung hier und da zu verschaffen und das Prinzip der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkte zu seinen Gunsten und gegen den Sowjetstaat auszunützen (jedoch in ganz beschränktem Umfang). Nach und nach wurde aber das der privaten Initiative wiedergewährte Freifeld beschränkt und das Monopol im Arbeitgeben immer mehr dem Staate zugesichert. Der Arbeiter wurde zum Lohnknecht des kommunistischen Parteistaates.

 

Das Monopol im Arbeitgeben und die Lohnknechte des Staates

Die Bedingungen der Arbeit und des Lohnes werden ihm nun diktatorisch und monopolistisch vorgeschrieben. Schutz- und hoffnungslos steht er nun da. Es gibt keine freien Gewerkschaften mehr, denn die roten "Gewerkschaften" sind nur Zweige des kommunistisch-bürokratischen Staatsapparats. Die sozialdemokratische Arbeiterpartei ist vollständig unterdrückt und führt ein illegales Dasein. Das Parteimonopol der Presse und die Unterdrückung des Privathandels vervollständigen das gesamte Bild. Der Arbeiter ist dem Gutdünken, den Fehlern und der Unfähigkeit der Sowjetbürokratie preisgegeben.18)

Jedoch hat er jetzt mit einer für ihn "bestmöglichen" Regierung zu tun; mit seiner Regierung. . . . Deswegen hat er die ihm auferlegten Opfer und Lasten schweigend oder gar mit "revolutionärem Pathos" zu tragen und zu ertragen. Jetzt ist es grundsätzlich aus mit "Forderungen", mit "Arbeitseinstellungen" und dergleichen mehr. Es darf nur "Selbstkritik" geübt werden, indem aber die Spitze dieser "Selbstkritik" nicht gegen die Leitung der Kommunistischen Partei gewendet werden darf: denn dann wird sie sofort als "Opposition" oder "Opportunismus" gebrandmarkt, niedergeschimpft und niedergekämpft. Das "herrschende" Proletariat hat nach einem vorgeschriebenen Muster zu leben, zu denken und zu fühlen; es darf weder einer vaterländischen, noch einer sozialdemokratischen, noch einer "kommunistisch-oppositionellen" Einstellung huldigen. Der Arbeiter hat alles hinzunehmen, was verordnet wird: die Auflösung der Familie, die Abschaffung der religiösen Feiertage, die Schließung der Kirchen, die Liquidation der Arbeitslosenunterstützung, die Nachtarbeit in den Betrieben, die sogenannte "freiwillige" Zeichnung der Staatsanleihen, eventuell auch die Enteignung und Verbannung der eigenen Eltern, die vielleicht als hartnäckige "Kulaken" in ihrem "bäuerlichen Blödsinn" an der Privatscholle noch festzuhalten suchen und jetzt das Schicksal der auszurottenden Klasse teilen.

 

18) Siehe den Aufsatz "Kommunismus als Beamtenherrschaft im vorliegenden Sammelwerke.

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Auch dies kommt gar nicht so selten vor, denn es wurde noch unlängst von den Kommunisten festgestellt, daß im Jahre 1928 rund 25 Prozent der Textil- und Metallarbeiter entweder selbst Land besitzen, oder als Mitglieder von bäuerlichen Familien in den industriellen Betrieben arbeiten.....19)

Lehrreich und bezeichnend ist es auch zu verfolgen, wie z.B. einfache Bauern und Arbeiter, ganz besonders Arbeiterinnen, in den Sitzungen des Zentral-Exekutiv-Ausschusses der USSR gegen die Auflösung der Familie und gegen den entsprechenden neuen Gesetzentwurf auftraten und flehentlich baten, die Ehe und die Familie aufrecht zu erhalten und zu schützen; man lies sie reden und nach Hause fahren; dann wurde das Gesetz doch eingeführt.20)

Kurz — die Arbeiterklasse des Sowjetstaates dient der Kommunistischen Partei als politisches Werkzeug und als Reserve für die Sowjetbürokratie; sie verfügt aber unter dem Arbeitgebermonopol und der Diktatur der Kommunistischen Partei über keine äußere und innere Freiheit und genießt dafür die Vorteile und die Nachteile der immer weiter und tiefer durchgreifenden kommunistischen Lebensordnung.

Diese Vorteile und Nachteile sehen etwa folgendermaßen aus.

 

Nominallohn and Reallohn

Vor allem der Arbeiterlohn. Der Nominallohn (in Tscherwonez-Rubel berechnet) stieg im Laufe der NÖP-Periode regelmäßig in die Höhe. Er erreichte im Jahre 1928—1929 durchschnittlich bei den Eisenbahnern 75,40 Rubel, bei den Arbeitern des Wassertransports 82,04 Rubel und blieb durchschnittlich unter diesem Niveau in der Industrie.21) In einer der bestbezahlten Branchen (Maschinenbau in Moskau) machte der Tagelohn eines qualifizierten Arbeiters im Jahre 1929 durchschnittlich 4,75 Sowjetrubel und eines nichtqualifizierten Arbeiters 3,17 Sowjetrubel aus.22) Im ganzen, kann man mit Sicherheit annehmen, daß der Nominallohn der Sowjetproletarier jetzt rund das Doppelte der Vorkriegssätze ausmacht (wobei man bedingungsweise die inkommensurablen Geldeinheiten des Vorkriegsrubels und des Tscherwonezrubels gleichsetzen müßte).

 

19)  Siehe "Bulletenj Statistiki Truda", 1930, Nr. 4.
20)  Vgl. den stenographischen Bericht der Sitzungen in dem "Sbornik statej i materialow po bratschnomu i semejnomu prawu", redigirt vom Volkskommissar Kursky (russ.), Moskau, 1926; siehe auch den geltenden "Kodex der Gesetze für Ehe, Familie und Vormundschaft", 1927.
21)  Siehe das Organ des Arbeitskommissariats "Woprossy Truda", 1930, Nr. 5.
22)  Siehe "Bulletenj Statistiki Truda", 1930, Nr. 4.

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Diesen Betrag seines Nominallohnes bekommt aber der Arbeiter nie voll ausgezahlt, denn es gibt immer "freiwillig" zugestandene Abzüge bei der Auszahlung — bald für eine unter dem Drucke der kommunistischen Parteizelle "einstimmig" bewilligte Staatsanleihe,23) bald für die streikenden Bergarbeiter in England, bald für den Aufbau der Kriegsluftflotte, bald für die Revolution in China usw. Diese Abzüge verschlingen zeitweilig bis 10 Prozent des Nominallohnes. Auch werden die Löhne oft mit Stockungen und Verschleppungen ausgezahlt, was bei der Knappheit an Verbrauchsartikeln und Lebensmitteln und bei steigenden Preisen lästige Folgen zeitigt24) usw.

Wenn wir nun den Index der Kleinhandelspreise den Berechnungen des Sowjetinstituts für Konjunktur entnehmen,25) um uns eine annähernde Vorstellung über den bestehenden Reallohn zu bilden, so stellen wir fest, daß die Kaufkraft eines Tscherwonez-Rubels schon im Oktober 1927 rund 51,8 Prozent seines Nominalwertes ausmachte, um im September 1928 auf 50,2 Prozent und im September 1929 auf 45,9 Prozent herabzusinken. Dies gilt jedoch nur für den sogenannten "allgemeinen" Kleinhandelsindex. Das Bild ändert sich, wenn wir den Kleinhandelsindex des "s o -zialisierten" Handels und des Privathandels gesondert betrachten. Im sozialisierten Handel stand der Kleinhandelsindex auf 183 im Oktober 1927, auf 185 im September 1928 und auf 195 im August 1929 (193 für Industrieprodukte und 200 für Produkte der Landwirtschaft). Im Privathandel haben wir ein schlimmeres Bild zu verzeichnen, nämlich: 226 im Oktober 1927, 262 im September 1928 und 344 im August 1929 (287 für Industrieprodukte und 434 für Produkte der Landwirtschaft) . . .

 

Die Preise

Das bedeutet also, daß der Arbeiter, insofern er die für ihn notwendigen Produkte in einem Staatsladen26) einkaufen durfte und konnte, wo es nur feste Preise gibt, — fast das Doppelte oder genau das Doppelte im Vergleich zu der Vorkriegszeit auslegen mußte. Insofern er aber auf den Privathandel angewiesen blieb, galt sein Tscherwonezrubel (schon

 

23) Siehe den Aufsatz "Staatsfinanzen, Währung und Kredit" im vorliegenden Sammelwerk. In der Sowjetpresse werden nur die seltenen Fälle des Nicht-Zeichnens notiert und scharf verurteilt, z. B. Trud, 1930, 7. Juli.
24) Z. B. in den letzten Monaten Prawda, 1930, 18. August; "Ukrainskij Proletarij", 1930, VI, 27, und VII, 5, usw.
25) Siehe "Ekonomitscheskoje Obosrenije", 1929, Nr. 8.
26) Die Läden der sogenannten "Potreb-Kooperazija" (Konsum-Genossenschaften) sind auch Staatsläden.

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vor einem Jahre, August 1929) in seiner Kaufkraft nur 35 bis 23 Kopeken, also rund ein Drittel bis ein Viertel im Vergleich zur Vorkriegszeit. Die Nachrichten des letzten Jahres (Oktober 1929 bis Oktober 1930) geben keine weitere Steigerung des Nominallohnes an; im Gegenteil, man liest hier und da über Versuche, den Nominallohn im Kampfe für die Senkung der Selbstkosten der Sowjetindustrie sogar etwas herabzudrücken.

Wenn die "finanzielle Lage der Industrie" schon im Jahre 1928 "sehr gespannt" war, so ist diese Spannung im Jahre 1929—1930 noch größer geworden, und es bestehen kaum Hoffnungen oder Aussichten, daß eine weitere Steigerung des Nominallohnes wird durchgeführt werden können. Würde sie aber doch erfolgen, so könnte sie nur die Bedeutung einer Inflations-Lohnsteigerung für sich beanspruchen, die, wie bekannt, der Kaufkraft des Geldes nachzukommen nicht imstande ist, und dem beglückten Arbeiter nur einen enttäuschenden Trost bringt. Die Arbeiter haben schon jetzt mit einer weiter fortschreitenden Preiserhöhung im Privathandel zu rechnen und zu kämpfen: im August/September 1930 werden Preise für Butter, Fleisch, Eier und sogar Brot und Äpfel gemeldet, die hie und da bis auf das 8-, 10- und 20fache der Vorkriegspreise aufgestiegen sind. 

 

Die Lebensmittelkrise

Die Lebensmittelkrise, die vor einem Jahre die Regierung veranlaßte, eine Rationierung der Hauptprodukte in den Städten einzuführen, hat sich seitdem bedeutend verschärft. Im Juli 1930 wurden in Moskau folgende Lebensmittel rationiert: Mehl, Fleisch, Butter, Heringe, Zucker, Reis, Grieß, Sonnenblumenöl, Seife und dergleichen mehr.28) Alles — nach festen Preisen. In den Sowjetzeitungen "wimmelt es von Nachrichten über die Schwierigkeiten bei der Versorgung, von alarmierenden Aufsätzen über die Herstellung von verschiedenen Surrogaten und über die Ausnutzung von Abfällen usw. Die "Liquidation" der produktiven Kulaken-Wirtschaft und die "Kollektivierung" der Landwirtschaft zeitigten ihre Folgen. Das Land steht inmitten einer akuten Lebensmittelkrise und einer neuen Inflation, die dem Arbeiterstande wenig Gutes zu versprechen haben: die Not der ersten Revolutionsjahre pocht schon an seine Tür.

Es muß noch festgestellt werden, daß nach den sehr bescheidenen und optimistischen Berechnungen der führenden Kommunisten die Arbeiter nicht weniger als 15—16 Prozent ihrer gesamten Lebensmittel,29) oder nach anderen Zusammenstellungen bis 25 Prozent der von ihnen zu verbrauchenden landwirtschaftlichen Produkte30) im Privathandel einkaufen (dies ist öffentlich auch von Stalin anerkannt).31) 

 

28)  Siehe Iswestija, 1930, 3. Juli.
29)  So Gubermann in der Prawda, 1930, 17. Mai.
30)  Prawda, 1930, 24. Juli, Leitartikel.

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Das heißt daß der sozialisierte Handel mit der Aufgabe der Staatsversorgung der "herrschenden" Klasse nicht fertig wird.32) Ln sozialisierten Handel herrscht entweder der Geist eines schlappen Bürokratismus, oder aber der Geist eines auf Gewinn eingestellten Spekulantentums.33) Er beherrscht das Land fast monopolistisch; aber oft "schadet dieses Monopol den Verbrauchern".34) Diesen Schaden hat aber der Arbeiter zu tragen: sein Reallohn bleibt weit hinter dem notwendigen Niveau zurück. Oder mit anderen Worten: die untauglichen Ergebnisse der Leistungen des sozialistischen Handelsapparats, die Mißerfolge der Staatsversorgung, die vorschreitende Inflation und die steigenden Lebensmittelindexe drücken den Reallohn der Arbeiter bedeutend unter das Vorkriegsniveau herab.

Dieser Rückgang des Reallohnes wurde noch am Ende des Jahres 1928 konstatiert;35) seitdem sind die Kommunisten immer besorgt, sich selbst und den Arbeitern zu beweisen, daß der Reallohn doch weiter steigt und sicher noch steigen wird. Nur hie und da liest man in der Sowjetpresse nüchternere Zusammenstellungen, z.B.: "Die Steigerung des realen Arbeiterlohnes hat in den Jahren 1928/1929 und 1929/1930 tatsächlich aufgehört, für das Jahr 1930 aber ist der Reallohn gefallen, hauptsächlich deswegen, weil die Preise der landwirtschaftlichen Produkte im Privathandel gestiegen sind (Fleisch, Milch, Butter, Kartoffel, Gemüse). Die Konsumgenossenschaften aber versorgen die Mittelpunkte des Arbeiterlebens mit diesen Produkten, — besonders diejenigen, wo zehn-, zwanzigtausend Arbeiter zu verzeichnen sind, — äußerst schlecht und in vollständig ungenügender Quantitä t." . . . Die entsprechenden "klaren Richtlinien der XVI. Parteikonferenz" "wurden von uns bisher nicht durchgeführt" und "werden augenscheinlich im Jahre 1929/1930 auch nicht durchgeführt werden.36) ......

 

31)  Große Führerrede in den Sitzungen des XVI. Kommun. Kongresses. Siehe Prawda, 1930, 29. Juni. "Die Arbeiter sind genötigt, etwa 25 Prozent ihres Bedürfnisses an landwirtschaftlichen Produkten durch den Privatmarkt zu decken und Überpreise zu bezahlen."
32)  Vgl. Prawda, 1930, V, 17; V, 19; V, 20; VII, 24; VII, 30; Mikojans Rede VI, 2; Kossiors Rede usw.
33)  Stalin, ebendaselbst: "Der sozialistische Sektor . . . ist von einem nepmännischen Geist vergiftet"; "er meidet es — die Arbeiter mit der weniger einträglichen, obwohl für die Arbeiter notwendigeren Ware zu versorgen." Prawda, 1930, 29. Juni, vgl-"Trud", 1930, 18. November.
34)  Stalin, ebendaselbst. Der Staatshandel verfügt über 99 Prozent des Großhandels und über 89 Prozent des Kleinhandels (Stalin).
35)  Siehe die Konjunkturübersicht des Gosplan für das Jahr 1928.

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Statistik und Wirklichkeit

Dies alles hindert aber die Kommunisten nicht, in ihren Reden und Aufsätzen auch etwas ganz anderes zu behaupten. Noch im Jahre 1928 berechnete ein führender Kommunist, Ginsburg, daß der reale Arbeiterlohn für dieses Jahr auf 127 Prozent des Vorkriegslohnes gestiegen wäre.37) In den Sitzungen des XVI. kommunistischen Kongresses (Juni-Juli 1930) berichtete der neue Leiter des Gewerkschaftsverbandes, Genosse Schwernik, daß der reale Arbeiterlohn im Laufe der letzten 5 Jahre (1925—1930) um mehr als 79 Prozent gestiegen wäre und jetzt 139 Prozent des Vorkriegslohnes ausmache.38) Diese Angabe findet man auch in den Reden Kalinins39) und in anderen maßgebenden Artikeln.40)

Mit der Unglaubwürdigkeit dieser Zusammenstellungen rechnen übrigens die Kommunisten selbst. So führt Kalinin z.B. folgendes aus: "Diese Zahlen können vielen nicht überzeugend erscheinen, wenn man den allgemeinen Mangel an Bedarfsartikeln und besonders an Lebensmitteln in Betracht zieht. Inwiefern werden denn die Bedürfnisse der Arbeiterklasse befriedigt, wenn Zucker, Weizenmehl, Fette, Butter, Milch usw. — nicht ausreichen? Bei uns gibt es ja kein einziges Produkt in genügendem Maße. Wie ist denn das zu erklären?" ... "Wie entsteht dieser augenscheinliche Unterschied zwischen dem zahlenmäßigen Ausdruck der Höhe des Arbeiterlohnes und dem offenbaren Bilde der wirklichen materiellen Versorgung? Das kommt daher, daß wir das Maß der Versorgung der Arbeiter hauptsächlich nach der Versorgung der oberen Arbeiterschicht berechnen."41) ...

 

Die Differenzierung der Arbeiterlöhne

Dieses wertvolle Geständnis verdient beachtet zu werden, da ja eine Differenzierung der Arbeiterlöhne im Sowjetstaate wirklich besteht. In der Zeit des folgerichtigen Kommunismus, wo alles der sozialen Gleichheit huldigen mußte, suchten die Kommunisten eine vollständige Nivellierung des Arbeitslohnes für alle Kategorien der Arbeiter und der Angestellten, vom Nachtwächter bis zum Fabrikdirektor, durchzusetzen. Aus diesem Versuch wurde aber nichts; und die NÖP-Periode brachte eine scharfe Differenzierung der Arbeitslöhne zustande.

 

36) Prawda, 1930. 18. Juni, Aufsatz von Cholopof.
37) Siehe Trud, 1928, 24. Oktober.
38) Siehe Prawda, 1930, VII, 14. Einstimmig angenommener Beschluß des XVI. Kongresses.
3B) Prawda, 1930, 19. Juni. Rede in den Sitzungen der Parteikonferenz des unteren Wolga-Gebietes.
40) Z. B. Prawda, 1930, VII, 24, Leitartikel.
41) Prawda, 1930, 19. Juni, Sperrung vom Verfasser.

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Es ergaben sich krasse Unterschiede zwischen den Löhnen der qualifizierten und unqualifizierten Arbeiterschaft. Nach Angaben des früheren langjährigen Vorsitzenden des Gewerkschaftsverbandes, Tomsky, verschärfte sich dieser Unterschied bis auf 1:8 und sogar auf 1:10; in seinem Berichte erwähnte Tomsky, daß dieser große Unterschied in den Löhnen eine Befremdung bei verschiedenen ausländischen Arbeiterdelegationen, die Sowjetrußland besuchten, hervorrief. Nur in den letzten Jahren suchten die Kommunisten, diesen Unterschied bis zu einem gewissen Grade auszugleichen, erreichten aber nicht viel. In den Hauptstädten und in den großen Industriezentren beziehen die Arbeiter einen weit höheren Lohn als die Arbeiter in der Provinz.42) 

So erhielten z.B. die Arbeiter im Donezbecken im Jahre 1928 nur 79,4 Prozent des Vorkriegslohnes;43) im selben Jahre erhielten die Metallarbeiter in der Provinz nur 86,5 Prozent des Vorkriegslohnes; die Metallarbeiter des Uralgebietes nur 54,7 Prozent.44) Bedeutend ist auch der Unterschied im Lohne bei den qualifizierten und nichtqualifizierten Arbeitern, sogar in Moskau45) usw. Die obere Arbeiterschicht ist also bedeutend besser gestellt, und die Berechnungen des Reallohnes richten sich nach ihren Sätzen.

Eine aufmerksame Analyse der kommuistischen Berechnungen des Reallohnes ergibt aber noch folgendes. Das sowjetstatistische Büro geht von der rein theoretischen Annahme aus, daß der Sowjetarbeiter die Möglichkeit hat, alle Produkte in den Genossenschaftsläden zu festen Preisen einzukaufen; es wird also grundsätzlich der "sozialistische" Klein-handelsindex zum Maßstab genommen. Die daraus entstehende Differenz ist ohne weiteres klar. Des weiteren wird jede Besserung auf dem Arbeitsmarkt auch dem Reallohn gutgeschrieben. Kaum ist die Nachfrage gestiegen und die Arbeitslosigkeit entsprechend gefallen, so wird gesagt, daß damit "der Haushalt einer Arbeiterfamilie im Durchschnitt um 10—11 Rubel zugenommen hat".46) Die national-ökonomische Richtigkeit solcher Erwägungen kann ohne weiteres dahingestellt bleiben.

 

42)  Siehe z. B. Prawda, 1927, Nr. 263.
43)  Trud, 1928, 20. April.
44 ) Trud, 1928, 12. Januar.
45)  Im Tagelohn bei Maschinenarbeitern bekam ein nichtqualifizierter Arbeiter im Jahre 1928 nur 59 Prozent, im Jahre 1929 nur 66 Prozent des qualifizierten Durchschnittslohnes. Siehe Bülletenj Statistiki Truda, 1930, Nr. 4.
46)  Leonofs Bericht in der zweiten Parteikonferenz des Moskauer Gebietes. Prawda, 1930, VI, 20.

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Wirtschaft und Sozialpolitik

Dazu kommen noch alle Vergünstigungen, die der Arbeiterklasse, als der einzig anerkannten und privilegierten Klasse, in sozialer Hinsicht "gewährt" werden. So z. B. werden die verauslagten Summen der Sozialversicherung (Auszahlungen an Mitglieder der Gewerkschaften im Falle der Arbeitslosigkeit, der Krankheit, der Invalidität usw.) pro Kopf geteilt (das macht etwa 10 Rubel monatlich) und dem Reallohn gutgeschrieben, ohne darauf zu achten, daß der Arbeitende diese "10 Rubel monatlich" nicht bekommt, und der Arbeitslose seinen Grundgehalt einbüßt.47) Das gleiche geschieht mit den Auslägen des Staates für den Wohnungsbau, für die Verpflegung kranker Arbeiter in Kurorten und Sanatorien, für die Errichtung öffentlicher Speisehäuser, für den "Mutterschutz", für Kinderasyle usw.48) Wenn diese Auslagen zusammengerechnet und dem Reallohne (pro Kopf geteilt) gutgeschrieben werden, so ergibt sich, daß der letztere sogar auf 167 Prozent der Vorkriegssätze gestiegen ist,48) was zahlenmäßig berauschend klingt. ...

Um dieses statistische Operieren richtig einzuschätzen, müßte man aber folgendes berücksichtigen. Es ist grundsätzlich falsch, die im Haushaltplane des Staates für sozialpolitische Zwecke gewährten Summen pro Kopf der Arbeiterschaft zahlenmäßig zu berechnen und dem Reallohne gut zu schreiben: diese in Tscherwonetz-Rubeln berechneten Sätze bleiben nämlich Nominalsummen, und ihre reale Auswirkung im Leben ist ganz problematisch; aber auch dieser problematische Lebenseffekt bleibt für jeden einzelnen Arbeiter nur als eine Eventualität bestehen — es gibt einzelne Gegenden, Arbeiterschichten und Arbeiter, denen etwas zugute kommt, es gibt aber auch breite Massen, die von dieser sozialen Politik gar nicht erfaßt werden. In Wirklichkeit werden für die gewährten Summen zahlreiche Behörden und Kanzleien geschaffen, die auf das folgerichtige Sozialisieren eingestellt bleiben und das sachliche Fördern und Bedienen vernachlässigen. So werden z. B. immer neue öffentliche Speisehäuser errichtet, um die Privatküche nach und nach ganz auszuschalten und abzuschaffen; daneben wimmelt es in den Sowjetzeitungen von Klagen über den Schmutz und die Mißstände in diesen Speisehäusern. Die Benutzung der Erholungsheime und der Sowjetkurorte wird immer mehr zum Monopol der "Arbeiterklasse"; die Anstalten selbst aber sind auf das niedrigste Niveau herabgesunken:

 

47)  Vgl. Leonofs Bericht. Prawda, 1930, VI, 20; Schwerniks Bericht und den Beschluß des XVI. Kommun. Kongresses. Prawda, 1930, VII, 14; auch in Stalins maßgebender Rede, Prawda, 1930. 29. Juni.
48)  Siehe bei Stalin, Prawda, 1930, 29. Juni; bei Leonof, Prawda, 1930, 20. Juni; bei Kalinin, Prawda, 1930, 19. Juni; bei Schwernik, Prawda, 1930, 14. Juli usw.
49)  Stalin, Leonof, Kalinin, Schwernik.

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Schmutz, Gestank, Wanzen, karge Verpflegung, Diebstähle, Gewinnsucht und unerschwinglich hohe Preise.50) ... In den Kinderasylen sieht es so aus, daß nur vom Lesen der diesbezüglichen amtlichen Berichte einem prominenten Kommunisten die Haare zu Berge aufgestanden sind51) ... usw.

 

Es besteht aber auch kein Zweifel, daß diese Sozialpolitik, die so demonstrativ geführt wird und so geringe Erfolge zeitigt, berufen bleibt, die Lücken der Wirtschaftspolitik auf dem Gebiete des Reallohnes zu flicken und zu schmücken. Die sozialen "Privilegien" der "herrschenden" Klasse werden wirtschaftlich verrechnet und müssen als "wirtschaftliche Eroberungen" der Arbeiterklasse gelten und angenommen werden. Und dann bleibt den kommunistischen Berichterstattern nur noch eine Aufgabe zu lösen, nämlich den Arbeitern klarzumachen, warum es ihnen doch so schlecht geht ...

 

Wechsel in den Belegschaften

Nur wenn man sich das ganze Bild vergegenwärtigt, — besonders die Lebensmittelkrise, die Mißerfolge des sozialisierten Handels und die Differenzierung der Löhne, — wird man die Möglichkeit haben, den ständig steigenden Wechsel in den Belegschaften der Betriebe und die letzten Maßregeln der Kommunistischen Partei gegen diese "Fluktuation" zu erklären. Einmal angestellt, bleiben die Sowjetproletarier nicht ruhig wohnen und bei der Arbeit; es besteht ein andauerndes, und zwar ständig zunehmendes, unruhiges und unzufriedenes Wandern, Irren und Suchen. Diese Erscheinung wird schon in den Hauptstädten beobachtet, steigt aber ganz besonders in der Provinz. So betrug z.B. in Moskau der Prozentsatz der neu besetzten Stellen im ersten Halbjahr 1928/1929 rund 12 Proz., dagegen im ersten Halbjahr 1929/1930 rund 27 Prozent.52) In der Provinz ist dieser Prozeß viel schärfer: so z.B. wurden im Laufe des ersten Halbjahres 1929/1930 im Donezbecken 195.000 neue Arbeiter angestellt, und 167.000 waren abgewandert.53) "Die Abwanderungssucht", führt eine leitende kommunistische Zeitschrift aus, "ist jetzt nicht mehr bloß eine Krankheit einzelner Fabriken oder Bezirke, sondern der gesamten Industrie und Wirtschaft." 54) ... 

Im Uralgebiet werden Fälle verzeichnet, in denen die Anzahl der abgewanderten Arbeiter im Laufe von 7 Monaten 80 Proz. der gesamten Arbeiterschaft beträgt, oder im Laufe von 3 Monaten 44 Prozent.55) Die Sowjetpresse sucht natürlich die

 

50)  Siehe z. B. "Komsomolskaja Prawda", 1930, 29. August.
51)  Bucharin, Stenogr. Bericht des XIII. Kommun. Kongresses, S. 545—546.
52)  Siehe Bulletenj Statistiki Truda, 1930, Nr. 4.
53)  Siehe die Zeitschrift "Sa industrialisaziu", 1930, VII, 29.
54)  "Sa industrialisaziu", 1930, VIII, 2.
55)  Iswestija, 1930, VIII, 18.

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richtigen Ursachen dieser Erscheinung, die nur eine allgemeine Disqualifizierung der Belegschaft, der Produktivität der Betriebe und der Qualität der Erzeugnisse zeitigen kann, festzustellen, und kommt etwa zu folgenden Schlüssen: es hätten nämlich Schuld — "die günstige Konjunktur auf dem Arbeitsmarkt infolge des starken Rückganges der Arbeitslosigkeit; verschiedene Lohnhöhe bei Arbeitern der gleichen Berufe und der gleichen Qualifikation in verschiedenen Betrieben; schlechte Wohnungsverhältnisse, unbefriedigender Stand des Arbeitsschutzes in einzelnen Betrieben, Schwierigkeiten der Lebensmittelversorgung" und dergleichen mehr.56) 

Kurz: die überspannte Industrialisierung des Fünfjahresplans steigert die Nachfrage auf dem Arbeitsmarkte, bietet aber solchen Reallohn, daß die Arbeiter genötigt sind, sich immer wieder nach besseren Lebensbedingungen umzusehen. Noch mehr: die Lebensmittelkrise wird so akut, daß die Arbeiter immer mehr zu einer spontanen aber halblegalen Selbstversorgung greifen müssen, und das "Kleinschiebertum" der sich selbst versorgenden "Metschotschiniki", aus den ersten Revolutionsjahren zur Genüge bekannt, taucht in Sowjetrußland wieder auf.56a) . . .

 

Die Arbeiter lassen sich in einem beliebigen Betriebe anstellen, versuchen sich anzupassen, finden aber die Arbeitsforderungen schwer und die Versorgung schlecht, sehen sich nach besseren Bedingungen um und lassen sich beurlauben oder verschwinden ohne weiteres. Dafür werden sie von den Sowjetbehörden als "Ausreißer" und "Lotterbuben" bezeichnet,57) wobei sie in Wirklichkeit nur die letzte bürgerliche Freiheit — die Freiheit des Arbeits-suchens — für sich in Anspruch nehmen. Sie versuchen, einen Ersatz für die durch den Kommunismus abgeschaffte Konkurrenz im Arbeitgeben herzustellen und die Staatsbetriebe, als Arbeitgeber, gleichsam gegeneinander auszuspielen. Am 3. September 1930 ist nun ein Erlaß des kommunistischen Zentral-Komitees erschienen, demzufolge im Oktober eine Reihe von Verordnungen diese letzte Freiheit auszuschalten oder wenigstens zu unterdrücken sucht. Es handelt sich darum, "die Arbeiter an die Betriebe zu fesseln".58)

 

56) "Sa industrialisaziu", 1930, VII, 29.
56a) Siehe z. B. "Ekon. Shisn", 1930, 22. August.
57) Siehe z. B. Iswestija, 1930, 12. Oktober, "Dowolno podder-shiwatj letunow i lodyrej".
58) Siehe die Zeitung "Sa industrialisaziju", 1930, 22. Oktober.

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Die Unterstützung der Arbeitslosen

Diese letzte Maßregel steht übrigens im nächsten Zusammenhang mit der sogenannten "Liquidation der Arbeitslosigkeit", die zur selben Zeit (Oktober 1930) "dekretiert" wurde.

Die wirkliche Zahl der Arbeitslosen im Sowjetstaate ist unbekannt. Auch die "registrierenden" Sowjetbehörden wissen hier nicht bescheid: weder die Arbeitsbörsen, noch die Gewerkschaften, noch die Unterstützungskassen. Diese Unwissenheit ist auf mehrere Gründe zurückzuführen: erstens darauf, daß die registrierenden Behörden durchaus nicht das ganze Land umfassen; zweitens darauf, daß durchaus nicht jeder tatsächlich Arbeitslose und Arbeitsuchende registriert wird; drittens darauf, daß die registrierenden Behörden das Bedürfnis des arbeitgebenden Staates und nicht des arbeitsuchenden Proletariers im Auge behalten; viertens darauf, daß diese Behörden eine parallele Arbeit und zwar immer nach verschiedenen Prinzipien und Grundsätzen ausrichten. Im Sowjetstaat besteht ein subjektives öffentliches Recht auf Registriertwerden:58) wem dieses Recht nicht gewährt wird, der wird als Arbeitsloser nicht registriert, obwohl er tatsächlich als Arbeitsloser und Arbeitsuchender dasteht. Braucht der Staat neue Arbeiter, so wird der Umfang der zu registrierenden Arbeitslosen erweitert: es werden neue Kategorien eingetragen; braucht er keine Arbeiter mehr, so wird die Registrierung wieder begrenzt oder gesperrt.60) Demzufolge bleiben unzählige Arbeitslose im Lande, ohne eingetragen und gezählt zu werden. Es ist z. B. bezeichnend, daß im Jahre 1928 rund 3,9 Millionen Menschen als Arbeitsuchende vom Lande in die Städte gekommen sind, und im Jahre 1929 rund 4,2 Millionen;61) man kann sich leicht vorstellen, wie groß diese Menschenzahl im Jahre 1930, nach der großen Bauernenteignung und Zerrüttung der Landwirtschaft, geworden ist.62) Die Zahl der angestellten Lohnarbeiter (in körperlicher Arbeit beschäftigt) belief sich im Jahre 1927—1928 auf 7 404 000, im Jahre 1928—1929 auf 7 758 000, im Jahre 1929—1930 auf 8 533 000 Menschen;63) d. h. daß sogar die überspannte In-

 

59)  Vgl. z. B. den Erlaß des Zentralkomitees der Kommun. Partei vom 20. Oktober 1930 Punkt 2 über "Die Kategorien der Werktätigen, denen bisher ein Recht auf Registriertwerden zustand . . ." "Sa Industrialisaziu", 1930, 22. Oktober. Die geschichtliche Entwicklung dieses Rechtes müßte in einer speziellen Untersuchung erörtert werden, wovon wir hier leider absehen müssen.
60)  Vgl. z. B. über die verhältnismäßige Erweiterung des zu registrierenden Kreises in der "Prawda", 1930, 11. Mai; "Sa Industrialisaziu", 1930, 22. Oktober. Dies nur für die letzten Monate.
61)  Iswestija, 1930, 15. Juni.
62)  Dieser Zuzug der proletarisierten und halbproletarisierten Landbevölkerung wurde von den Kommunisten zuerst in den Jahren 1926—192? festgestellt und dauert seitdem weiter fort.
63)  Stalin, Prawda, 1930, 29. Juni.

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dustrialisierung den Betrieben nicht mehr als eine halbe Million Menschen jährlich neu aufzunehmen gestattet; die übrige Masse bleibt auf dem Arbeitsmarkte, teilweise als Saison-Arbeiter, teilweise als ständige Arbeitsuchende. Zum 1. Mai 1930 zählten aber die registrierenden Sowjetbehörden nur 639 500 Arbeitslose,84) darunter 297 100, die zum ersten Mal als Arbeitsuchende auftraten. Stalin hat im Juni 1930 im ganzen rund 1 Million Arbeitslose angegeben, bezeichnete aber die Zustände und die Berechnungen auf diesem Gebiete als einen "großen Wirrwarr", aus dem man gar nicht klug werden kann . . .e5) Auf Grund weiterer authentischer Angaben66) dürfte man mit Professor Prokopowitsch67) feststellen, daß die Zahl der registrierten Arbeitslosen in den Jahren 1927—1929 durchschnittlich über ein Fünftel der Gesamtzahl der angestellten Arbeiter ausmachte; daß die Reserve der unregistrier-ten Erwerbslosen die Zahl der Registrierten weit übertraf; und daß nur 25—30 Prozent der registrierten Arbeitslosen eine Erwerbslosen-Unterstützung beziehen konnten.68) Und noch eins, nämlich, daß die Hauptmasse der Erwerbslosen der nicht-qualifizierten Arbeiterschaft angehört, dagegen der Mangel an qualifizierten Arbeitern groß ist und die Nachfrage nicht gedeckt werden kann.69)

Um so unerwarteter erscheint es, daß im Oktober 1930 ein Parteierlaß70) und eine Verordnung des Arbeitskommissariats71) erschienen sind, in denen eine "vollständige Liquidation der Arbeitslosigkeit" dekretiert wurde, die Auszahlungen an Erwerbslose ohne weiteres eingestellt und breit angelegte Maßregeln getroffen wurden, um die Arbeiter an ihre Betriebe zu fesseln.

Die ganze Arbeit des Arbeitskommissariats und der registrierenden Behörden wurde als "ungewandt, bürokratisch, schlapp und opportunistisch"72) verurteilt und verworfen. Die Listen der Arbeitslosen wurden grundsätzlich revidiert, und es wurde festgestellt, daß bis jetzt unzählige "vermeintlich Ar-

 

64)  Diese Zahl gilt für 26 professionelle Gruppen. Statistitsches-koje Obosrenije, 1930, Juni.
66)  "Poprobuite ka rasobratsa w etoj nerasberiche . . ." Prawda. 1930, 29. Juni.
66)  Statistitscheskoje Obosrenije, 1929, Nr. 6 und Nr. 12. 0 67) Bulletenj Ekonomitscheskago Kabineta, 1930, April, Nr. 78, S. 22-26 (russ.)
68)  Im Jahre 1928—1929 nur 875 000 von 2 912 800. Statistitscheskoje Obosrenije, 1929, Nr. 12, S. 13, 16, 17.
69)  Stalin, Prawda, 1930, 29. Juni; Leonof, Prawda, 1930, 20. Juni, u. a.
70)  "Sa Industrialisaziju", 1930, 22. Oktober.
71)  Iswestija, 1930, 11. Oktober.
72)  Iswestija, 1930, 20. Oktober.

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beitslose",73) "Schinder",74) "Ausreißer",75) "Lotterbubejt"76) uncj "Simulanten"77) die Erwerbslosen-Unterstützung bezogen hätten; solcher hätte es mehrere hunderttausend Menschen gegeben.78) Damit wäre die registrierte Arbeitslosigkeit wie ein Eisklumpen zusammengeschmolzen und verschwunden. Die Erwerbslosen-Unterstützung hat seit Oktober 1930 aufgehört Die Arbeitsbehörden sind verpflichtet, allen Arbeitslosen, zu allererst denjenigen, die bis jetzt ein Recht auf Unterstützung hatten, eineArbeit zuzuweisen, ohne die Berufsspezialität zu berücksichtigen. Der Arbeitslose darf sich nicht weigern; er ist verpflichtet, jede ihm zugewiesene Arbeit ohne weiteres anzunehmen; auf eine Unterstützung darf er nur noch wegen einer, durch strenge Untersuchung erwiesenen Krankheit Anspruch erheben.79)

Es handelt sich jetzt darum, den Arbeitsmarkt gebieterisch zu beherrschen und "die Betriebe planmäßig mit Arbeitskraft zu versorgen".80) Das Recht, registriert zu werden, wird etwas erweitert; die zugewiesene Arbeit gilt aber als obligatorisch; der Arbeitslose, der sich weigert, die Arbeit anzunehmen, verliert sein Registrationsrecht. Jeder Betrieb bekommt eine ihm zugesicherte Belegschaft; die fleißigen und ansässigen Arbeiter werden privilegiert — ihnen werden von nun an alle sozialpolitischen Vergünstigungen in Aussicht gestellt; die "Ausreißer" werden sofort aus ihren Wohnräumen hinausgesetzt. Das Arbeitskommissariat ist nun befugt, die Arbeiter in Massen aus einer Gegend und Branche in die andere zu versetzen. Daneben wird eine große sozial-politische Säuberung der angestellten Arbeitermasse angeordnet und Revision der Lohnstufen in verschiedenen Betrieben durchgeführt.81)

Diese Verordnungen entsprechen vollkommen der Idee einer kommunistischen Planwirtschaft: das führende wirtschaftliche Zentrum kann nur soweit die Produktion des Landes organisieren und leiten, als es den vorhandenen Vorrat der Arbeitskräfte beherrscht. "Eine Planwirtschaft ist

 

73) Iswestija, 1930, 12. Oktober.
74) russ. "rwatsch", Iswestija, 1930, 20. Oktober.
75) russ. "letun", Sa Industrialisaziju, 1930, 22. Oktober; Iswestija, 1930, 20. Oktober.
76) russ. "lodyrj". Iswestija, 1930, 12. Oktober.
77) Sa Industrialisaziju, 1930, 22. Oktober. Erlaß des Zentralkomitees der Kommun. Partei.
78) Ebendaselbst.
79) Dekret des Arbeitskommissariats, auf telegraphischem Wege eingeführt. Iswestija, 1930, 11. Oktober.
80) Iswestija, 1930, 20. Oktober.
81) Parteierlaß vom 20. Oktober 1930; Erlaß des Wirtschalts-rates vom 18. Oktober 1930.

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ohne Arbeitspflicht undenkbar", führte Trotzky aus: "die Fiktion der Arbeitsfreiheit" muß "beseitigt" werden, und die Pflicht wird "durch die Realität des Zwanges unterstützt"; "die Arbeit wird militarisiert."82) Auch Lenin hat bestimmt, daß "die Müßiggänger durch Gefängnisstrafe zur Pflichterfüllung erzogen werden müssen", und daß die Verteilung der Produkte als Anspornung zum Mehrleisten benutzt werden darf.83) Die Kommunisten handeln nur folgerichtig, wenn sie den Arbeitsmarkt zwangsmäßig zu organisieren suchen. Uebrigens versuchen sie auch hier, wie überall, durch ihre Parteizellen eine "freiwillige Selbstbefestigung" der Arbeiter an die Betriebe vorzuführen.84) Was aber diese ganze Reform den Arbeitern verspricht, ist ohne weiteres klar.

Was die übrigen Revolutionseroberungen der Arbeiterklasse anbetrifft, so sehen sie etwa folgendermaßen aus.

 

Der Arbeitstag

Von Anfang an, noch in den ersten Revolutionstagen, veröffentlichte die Sowjetregierung ein Dekret, demzufolge der Achtstundentag für alle Arbeiter und Angestellten prinzipiell festgesetzt wurde. In lebensgefährlichen Betrieben, für Minderjährige (16—17 Jahre) und für unterirdische Arbeiten wurde ein Sechsstundentag vorgeschrieben. Der Achtstundentag wurde offiziell "durchgeführt", obwohl diese Maßregel in wirtschaftlicher Hinsicht vollständig unbegründet blieb: denn, wirtschaftlich genommen, erscheint die Kürzung des Arbeitstages nur insofern begründet, als die produktive Arbeit des Betriebes im allgemeinen daran nicht verliert, die Intensität der Arbeit aber vielleicht noch gewinnt. Die Arbeiterpolitik der Kommunisten geht aber einen eigenartigen Weg: zuerst werden wirtschaftlich unbegründete aber psychologisch effektvolle Maßnahmen durchgeführt, die also als "revolutionäre" Eroberungen" gelten; und dann werden neue Maßregeln ersonnen und erfunden die das Unwirtschaftliche und Unrentable der ersteren auszubessern und irgendwie zu begleichen berufen sind. So ging es auch hier. Der Achtstundentag wurde nominell durchgeführt, und dann wurden Überstunden zugelassen und alle möglichen Mittel angewandt, um die Arbeiter den daraus entstehenden wirtschaftlichen Verlust irgendwie nachholen zu lassen. Nach Mitteilungen des Direktors des Staatsinstituts für Arbeiterschutz, M. Kaplun, haben z. B. im Jahre 1926 rund 30 Prozent aller Arbeiter der

 

82)  Trotzky, Terrorismus und Kommunismus, S. 133 u. a. (rnss.). Siehe den Aufsatz "Ziele und Hoffnungen" im vorliegenden Sammelwerk.
83)  Lenin, Werke, Band XVIII, T. i, S. 249, 253, 293.
84)  Parteierlaß vom 20. Oktober 1930, Punkt 10.

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Ukraine Überstunden gemacht, wobei auf jeden Arbeiter 28 Stunden monatlich entfielen. In der Metallindustrie machteu im Jahre 1928 17 Prozent aller Arbeiter Ueberstunden, wobei auf den einzelnen Arbeiter 40 Überstunden monatlich kamen. Nach Angaben des Zentralrats der Sowjetunion betrug die Zahl der Überstunden 2,4 Prozent der ganzen Arbeitszeit. Die Untersuchungen der "Arbeiter- und Bauern-Inspektion" haben festgestellt, daß die zugelassene Norm der Ueberstunden nicht eingehalten wird und zwar in einem Ausmaße, welches um 5—6 mal die gesetzliche Norm übertrifft.84") Umsonst behaupten die Sowjetbehörden, daß der Mißbrauch der Überstunden -— der Vergangenheit angehört und jetzt nicht mehr vorkommt. Noch im April 1928 erklärte ein führender Kommunist, Limarew, in der Plenarsitzung des Ukrainischen Ausschusses des Bergarbeiterverbandes, daß auf jeden Bergarbeiter Südrußlands im Durchschnitt nicht weniger als 85 Überstunden monatlich entfallen, was bei rund 25 Arbeitstagen im Monat etwa 3,5 Überstunden pro Tag ausmacht.85) Nach einem Jahre stellte eine führende kommunistische Wirtschaftszeitung fest, daß z. B. auf dem Betriebe "Iljtsch" (Röhrenwerk) die Zahl der Ueberstunden im ersten Halbjahr 1928 rund 373 900 Stunden ausmachte und im ersten Halbjahr 1929 auf rund 648 900 Stunden, also um 73,5 Prozent gestiegen ist.86) Eine andere kommunistische Zeitschrift berichtete im Jahre 1928, daß es auf den "Stalinschen" Eisenwerken im Donbecken über 1000 Arbeiter gibt, die eine schwere Verladearbeit leisten und jahraus jahrein 12 Stunden täglich arbeiten. Anschließend klagte die Zeitung darüber, daß eine der "Haupterrungenschaften der Oktoberrevolution", — der Achtstundentag, — schon sieben Jahre lang "zertreten wird".87) Übrigens ist es leicht zu verstehen, was die Arbeiter dazu bewegt, diese Über-Über-Stunden zu leisten: es ist nämlich der unbefriedigende Reallohn.

Auch der angekündigte Sechsstundentag wurde nicht eingehalten. Wir lesen z. B. im Jahre 1929: "Der Sechs-Stunden-Arbeitstag wird in den Bergwerken nicht durchgeführt. Die Arbeiter müssen ein bis zwei Stunden länger, manchmal noch mehr, in den Bergwerken verbleiben. Die Ursachen hierfür sind organisatorische Mängel.88) In den Sitzungen der 7. Tagung der Bahnarbeiter wurde berichtet: "Es gibt keine einzige Bahnlinie, auf der die Vorschriften über die Arbeitszeit eingehalten würden. Die Transportarbeiter werden

 

84a) Siehe "Trud". 1926. 10. Juni. 8ä) Siehe Trud 1928, 14. April.
86) Ekonomitscheskaja Shisn, 1929, 21. Juni.
87) Komsomolskaja Prawda, 1928, 5. Januar.
88) Iswestija, 1929, 20. Juni.

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derart ausgebeutet, als ob es überhaupt keine Arbeitergesetzgebung gab e." . . . Auch der Achtstundentag, der für die Minderjährigen in der Landwirtschaft dekretiert wurde, wird nicht eingehalten: nach Angaben der "Komsomolskaja Prawda" arbeiten in der Landwirtschaft ungefähr 600 000 Jünglinge im Alter von 14—17 Jahren; von diesen arbeiten täglich 8 Stunden nur 0,8 Prozent; 1 Prozent arbeitet 10 Stunden, 17 Prozent arbeiten 12 Stunden, 36 Prozent — über 12 Stunden. . . .89)

 

Sieben Stunden Arbeit  

In diesen Grenzen wurde die erste Kürzung des Arbeitstages durchgeführt. Am 15. Oktober 1927 wurde zu Ehren des zehnjährigen Jubiläums der Sowjetrepublik eine weitere Kürzung feierlich angekündigt, nämlich die Reduktion des Arbeitstages auf 7 Stunden. Diesem Dekret zufolge wurden noch im Wirtschaftsjahre 1927—1928 zwanzig Textilbetriebe und vier Wollfabriken, mit 115 000 Arbeitern im ganzen, auf einen Siebenstundentag umgestellt. Zum 1. Januar 1930 wurden von dieser Umstellung 25 Prozent,90) und gegen Ende Mai — rund 32 Prozent der gesamten Arbeiterschaft erfaßt.91) Im August 1930 hat man mit der Einführung des Siebenstunden-Arbeitstages auf der Südwestbahn begonnen.92)

Es stellte sich übrigens sehr bald heraus, daß diese Maßnahme den Arbeitern wenig Nutzen bringt, die produktive Arbeit der Betriebe aber nicht fördert. "Es hat sich erwiesen, daß die Betriebe auf diese Umstellung nicht vorbereitet sind. Die Betriebe, die den ganzen Tag arbeiten, können nicht gelüftet und abgekühlt werden, wie es früher der Fall war. Infolgedessen verzeichnete man eine erhöhte Temperatur während der Nachtschicht, die in einigen Betrieben sogar bis zu 40° C. stieg. Die Säuberung und die Instandsetzung der Räume und der Maschinen wurde ebenfalls sehr erschwert, da dieselbe oft während der Arbeitszeit durchgeführt werden mußte."93) Daneben sehen sich viele Textilarbeiter infolge der schwierigen Wohnungsverhältnisse genötigt, in den Fabrikbaracken zu wohnen; daher können die Nachtschichten während des Tages nicht schlafen; denn im selben Räume leben oft Arbeiter verschiedener Schichten zusammen, so daß in den Baracken den ganzen Tag über ein Wirrwarr herrscht.94) Diese und ähnliche Schwierigkeiten be-

 

89)  Die Angaben sind leider nicht erschöpfend. Komsomolskaja Prawda, 1929, 27. Mai.
80)  Prawda, 1930, V, 1. Aufsatz von Karlik.
91)  Siehe Prawda, 1930, V, 24.
92)  Iswestija, 1930, VIII, 13.
93)  Aufsatz von Rabinowitsch, "Ekonomitscheskoje Obosrenije", 1928, Nr. 5, S. 45.
94)  Markus im "Bolschewik", 1928, Nr. 8, S. 48.

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stehen in den Betrieben auch jetzt, im Jahre 1930 so^ wie früher: die "organisatorisch-technische Vorbereitung" der Betriebe zum Siebenstundentag ist "vollständig unzulänglich"; eine entsprechende Rationalisierung wurde auch nicht vorgenommen; qualifizierte Arbeiter fehlen; die neuen Arbeiter werden nicht genügend unterrichtet; der Verwaltungsapparat wird nicht umgestellt; die Arbeiter verlieren oft noch bis \lA—2 Stunden wegen verschiedener Organisationsmängel usw.95) Es ist bemerkenswert, daß die Sowjetzeitungen noch im Jahre 1928 schilderten, wie die Einführung des Siebenstundentages die Gesundheit der Arbeiter ungünstig beeinflußt.96) In den Plenarsitzungen des zentralen Gewerkschaftsrates stellte der Volkskommissar für Arbeit, Schmidt, fest, daß die Arbeiter der Einführung des Siebenstundentages gegenüber "sich passiv verhalten"; und die Gewerkschaftszeitung "Trud" berichtete offen über die Unzufriedenheit der Arbeiter und über eine passive Resistenz derselben.97)

 

Der ununterbrochene Produktionstag

Die Unwirtschaftlichkeit dieser, in Wirklichkeit rein demagogischen Maßnahmen muß aber, wie gesagt, auf anderen Wegen nachgeholt und beglichen werden. Der organisatorische und technische Wirrwarr, die verlorenen Arbeitsstunden usw. können die Produktivität der Betriebe nicht fördern; im Gegenteil: sie bedeuten neue Hindernisse für die Durchführung des "Fünfjahresplans". So entstand der Beschluß — einen ununterbrochenen Produktionstag und eine Fünftagewoche in den Betrieben durchzuführen. Der Betrieb hat Tag und Nacht ohne Unterbrechung zu arbeiten, der Arbeiter aber wird jeden sechsten Tag frei, so daß jeden Tag ein Sechstel der im Betriebe angestellten Arbeiter zu Ruhe kommt. Die Schädlichkeit der Nachtarbeit wurde als "Vorurteil" bezeichnet, und die arbeitsfreie Nacht wurde grundsätzlich abgeschafft. Es gilt, die Produktion ohne neue Kapitalinvestierungen zu steigern und den Arbeiter zu weiteren bedeutenden Anstrengungen und zu einer intensiveren Arbeit zu veranlassen; daneben auch die religiöse Heiligung eines festen und gemeinsamen Sonntags grundsätzlich auszuschalten. Diese Maßnahme wird von den Kommunisten selbst als ein "zertrümmernder Schlag gegen die Trägheit, gegen die religiösen Vorurteile und gegen die Traditionen des sonntäglichen Saufens und des zu verbummelnden Montags" geschildert.98)

 

95) Prawda, 1930, 24. Mai. .
96) Trud, 1928, 19. Dezember.
97) Trud, 1928, 4. November.
98) Siehe Prawda, 1930, V, 1.

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Schon zum 1. März 1930 waren 60 Prozent der gesamten Sowjetarbeiterklasse in einem ununterbrochenen Produktionstag beschäftigt;99) in der Schwerindustrie sogar 71 Prozent. Die großen organisatorischen und technischen Schwierigkeiten dieser Umstellung beiseitelassend, können wir jedoch feststellen, daß erstens diese Neuerung die Lage der Arbeiter bedeutend verschlimmert und erschwert hat; daß zweitens in dem größeren Teil der bisher untersuchten Betriebe die Arbeiterschaft diese Umstellung mit einer riesigen Steigerung der Zahl der Bummeltage beantwortet hat (bis 170—200 Prozent); und drittens, daß es nur in den besteingerichteten Betrieben gelingt, die Produktivität auf diesem Wege zu steigern.100) Im o-anzen verliert der Arbeiter dadurch wenigstens so viel, wie er durch die Kürzung des Arbeitstages zu gewinnen imstande ist. . • • Geschichtlich ist noch hinzuzufügen, daß die russische Arbeiterschaft in der Vorkriegszeit 278 Arbeitstage und 87 freie Tage hatte; nach der von den Kommunisten vorgenommenen Streichung vieler religiöser Feiertage verzeichnete sie 300 Werktage und 65 Feiertage; die letzte Umstellung wird ihr nur noch 61 freie Tage im Jahre belassen.

 

Die Betriebsunfälle

Das ganze Bild ist nichts anderes als ein hoffnungsloser Versuch, eine großartige, intensiv produzierende Industrie zu schaffen ohne genügende Technik, ohne genügende Organisationsfähigkeit und ohne qualifizierte Arbeiterschaft. Ein Sachkenner hätte sofort vorausgesetzt, daß die Zahl der Betriebsunfälle unter diesen Bedingungen nicht gering sein kann. Dem ist auch in Wirklichkeit so. Die statistischen Angaben der Versicherungskassen stellen fest, daß im Jahre 1926 auf je 1000 Arbeiter durchschnittlich 69 Unglücksfälle kamen; im Jahre 1927 stieg diese Zahl auf 175, im Jahre 1928 auf 220,8 pro Tausend.101) Auf dem Gebiet der Metallurgie war die Zahl der Unglücksfälle noch höher — 325,6; und in der Kohlenindustrie sogar 369 pro Tausend.101") Der "Trud" bemerkt dazu: "Jedes Jahr werden große Kredite bewilligt, jedoch sind wir noch weit von den erwünschten Resultaten auf diesem Gebiete entfernt." Uebrigens gibt eine andere führende Zeitschrift102) ohne weiteres zu, daß m den neu aufgebauten Betrieben, die anscheinend mit allen technischen Neuerungen ausgestattet sein müßten, zum Schutze der Arbeiter doch sehr wenig getan wird. Im Betriebe "Komintern" wurden z. B. im ersten Halbjahre 1929 mehr als tausend Unfälle registriert, womit die Zahl des vor-

 

99) Prawda, 1930, V, 1: vgl. "Sa Industrialisaziu", 1930, V, 22.
100) "Sa Industrialisaziu", 1930, V, 22.
101) Trud, 1929, 25. August. . 
101a) Das Blatt "Sowjetskaja Sibirj" vom 27. August 1930 bringt über die Unglücksfälle in den Kohlengruben ganz ungeheuerliche Angaben.
102) Woprossy Truda, 1927, Dezember, S. 7.

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angehenden Halbjahres um das Zehnfache überstiegen wurde.103) "Im sozialistischen Aufbau nimmt der Arbeiterschutz die allerletzte Stelle ei n", behauptet die führende Parteizeitung im Jahre 1930; und schildert dann in einem langen Aufsatz die wirklich entsetzlichen Bedingungen der Arbeit in verschiedenen Betrieben: die bewilligten Geldmittel werden nämlich von der kommunistischen Bürokratie anderweitig verbraucht.104)

 

Der Arbeiterschutz

Daneben wächst auch die Zahl der Berufskrankheiten. "Der Zustand der Arbeitstechnik ist in vielen Betrieben sehr schlimm", lesen wir im "Trud": "die Mehrzahl der Räume wird unglaublich schmutzig und unordentlich gehalten. Die Fenster und die Laternen sind von einer dichten Schicht Staub und Schmutz bedeckt, und lassen nur sehr wenig Licht durch. An vielen Stellen fehlt die Ventilation. Sägen, Messer, Treibriemen werden entweder gar nicht geschützt, oder die Schutzvorrichtungen sind bei Seite geschoben. In Sibirien steht es mit dem Arbeiterschutz besonders schlecht. Die Räume können gar nicht gelüftet werden. Die in der Luft schwebende Staubwolke ist so dicht, daß die Arbeiter einander im Abstand von zwei Schritten nicht erkennen können.105) Eine führende kommunistische Zeitung berichtete unlängst über einen Dialog zweier Arbeiter: "Es ist eine Schande, Genossen .. Der Schmutz liegt unter dem Werktische wie ein Bär . . . Wir pflegen die Maschinen schlechter, als man ein einäugiges Pferd pflegt!" -— "Was ist da noch zu pflegen, die Maschine gehört dem Staate, sie wird es schon ertragen können. . . ."106)

Vor ein paar Jahren, als das Problem der Nachtarbeit besprochen wurde, behauptete Genosse Kaplun, Direktor des Moskauer Staatsinstituts für Arbeiterschutz, die Nachtarbeit der Frauen (die Schwangeren und die Stillenden ausgenommen), wäre etwas durchaus zulässiges.107) Tomsky, der damalige Vorsitzende der Gewerkschaften, erhob laut seine Stimme auf der Tagung für Arbeiterschutz gegen "die Sentimentalität und Philantropie" der Arbeitergesetzgebung und behauptete, daO es bis jetzt noch niemanden gelungen ist, die Unzulässigkeit der Nachtarbeit der Frauen überzeugend zu beweisen.108) In einer Sitzung wurde dem führenden Kommunisten Kroll die Frage gestellt, warum die Kommunisten eigentlich die Nachtarbeit in den Bäckereien nicht abschaffen,

 

103)  Trud, 1929, 20. September; vgl. Trud. 1930, 15. Juni. 1M) Prawda, 1930, 30. Mai.
105)  Über den giftigen Staub in den Betrieben siehe auch Prawda, 1930, 30. Mai.
106)  Prawda, 1930, 11. Mai.
107)  Trud, 1928, 3. April.
108)  Trud, 1928, 11. Februar.

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da sie doch in anderen Ländern die entsprechende Forderung aufstellen? Er antwortete: "Unsere Forderung — die Nachtarbeit im Auslande einzustellen, ist eine von unseren revolutionären Losungen, die eine Desorganisation der kapitalistischen Wirtschaft bezwecken. Wir aber arbeiten für die Interessen der gesamten Arbeiterschaft und müssen mit den realen Möglichkeiten rechnen."109)

In den nächsten Jahren (1929—1930) wurde die Nachtarbeit allgemein eingeführt ("ununterbrochener Arbeitstag").

 

Die Wohnungsfrage

Die Arbeiterwohnungsfrage ist ein Kapitel für sich, und kann hier leider nicht eingehend behandelt werden.110) Es sei nur folgendes festgestellt:

Der Prozeß der allgemeinen Proletarisierung wird in Sowjetrußland in einem solchen Tempo betrieben, daß die Zahl der zu versorgenden Proletarier gleich einer Schneelawine anwächst. Noch vor wenigen Jahren zählte die Sowjetregierung bis 6 Millionen organisierter Arbeiter, wogegen im Jahre 1930 ihre Zahl auf 11 % Millionen gestiegen ist (Gewerkschaften).111) Diese 11K Millionen bilden augenblicklich den angestellten und registrierten Kern des Sowjetproletariates, hinter dem noch eine, nicht zu berechnende, proletarisierte "Reserve" der kommunistischen Industrie steht. Wie diese Reserve wohnt, lebt und durchkommt, ist nicht zu beschreiben; in Hunger und Not, gleich den verwahrlosten Kindern, hat sie sich selbst privatwirtschaftlich zu versorgen, und das in einem Lande, wo die gesamte Privatwirtschaft systematisch erdrosselt wird. So betrifft auch das kommunistische "Wohnungsproblem" nur den registrierten und angestellten Grundkern des Proletariats, dem allein auch der "sozialistische Wohnungsbau" der Sowjetregierung gilt.

Diesem "sozialistischen Wohnungsbau" wurden, laut Berichten maßgebender Kommunisten, im Laufe der letzten zwei Jahre 1330 Millionen Sowjetrubel zugewiesen.112) Bei der steigenden Menge des Proletariats und bei der hoffnungslosen Unwirtschaftlichkeit des Sowjetwohnungsbaues würde vielleicht nur das Dreifache dieser Summe ausreichen, und zwar nicht länger als für ein halbes Jahr: denn im Abstand von einigen Monaten würde sich wieder herausstellen, daß die Versorgungsfähigkeit des Sowjetstaates der im rasenden Tempo betriebenen Proletarisierung des Landes nicht nachkommen kann.

 

109)  Siehe "Pischtewik", Nr. 1. S. 49.
110)  Siehe den Aufsatz von Dr. Höffding im vorliegenden Sammelwerk.
111)  Siehe Prawda, 1930, 29. Juni; Stalin rechnet sogar mit 13 129 00ü Arbeitern. Prawda. 1930, 29. Juni.
112)  Bericht von Schwernik in den Sitzungen des XVI. Kommun. Kongresses, Prawda, 1930, 14. Juli.

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Wohnungspolitik und Wohnfläche

Bei diesen Verhältnissen bleibt die Arbeiterwohnungsfrage unlösbar. Es muß aber noch beachtet werden, daß im Laufe der ersten 6 Revolutionsjahre in den Städten gar nicht gebaut wurde (es wurden nur gut bewohnbare Häuser aus Holz niedergerissen, aus Anlaß der Brennstoffkrise),112a) und daß in den Jahren 1923—1926 für Neubauten nur 475 Millionen Rubel im ganzen ausgegeben wurden.113) Die Wohnungskrise war schon im Jahre 1922 so groß, daß die massenhaft durchgeführten Versetzungen der Arbeiter in die beschlagnahmten Häuser und Wohnungen des hinausgesetzten Bürgertums auch nicht helfen konnten. Seitdem fällt in den Städten die Wohnfläche (pro Kopf gezählt). Für das Jahr 1929 machte sie durchschnittlich 5,86 qm pro Person aus (in manchen Städten viel weniger). Nun wurde aber für das Jahr 1930 ausgerechnet, daß von allen sozialen Gruppen der Sowjetunion (Arbeiter, Angestellte, Unternehmer und sonstige Gruppen) — die Arbeiter am schlechtesten mit Wohnfläche versorgt sind (durchschnittlich 4,91 pro Kopf gegen 6,96 pro Kopf der Angestellten-Gruppe).114) Diese durchschnittliche Zahl bedeutet natürlich, daß viele Arbeiter (vielleicht die meisten) sich mit einer niedrigeren Quote begnügen müssen. So steht es auch in Wirklichkeit. Im Donezbecken ist diese Durchschnittsquote im Jahre 1929 auf 4,75 qm gesunken. Im einzelnen findet man oft solche Schilderungen: "Eine lange schmale Baracke. Die Bettstellen stehen in mehreren Reihen. Auf einigen liegen Haufen schmutziger Wäsche, auf anderen sind nur von Kohlenstaub schwarze Bretter zu sehen. Trotz des starken Frostes sind keine Doppelfenster vorhanden. Die Bettstellen sind nie leer. Sie sind für zwei Schichten bestimmt: auf jede Bettstelle kommen zwei Personen. . . . — Wie lebt ihr denn hier? — fragen die Neuangekommenen voller Entsetzen, denen so ein freies Bett zugewiesen wird. — Dies scheint nur anfangs schwer zu sein, später gewöhnt man sich an alles — antworten die Altansässigen."115) Dieses Bild, das an die Verhältnisse eines Nachtasyls für Bettler erinnert, ist durchaus keine Ausnahme im Lande, und schildert nicht die schlimmsten Arbeiterwohnungen. "In Beschetzk auf der Fabrik Wiltschensk wohnen in einem Räume von 3 qm ... 18 Personen . . ,"116) "Das Hauptübel des Arbeiterlebens ist die Wohnungsfrage", führt ein einfluß-

 

112a) In "Woprossy Truda", 1930, Nr. 5 offen zugegeben.
113) Woprossy Truda, 1930, Nr. 5.
114) Woprossy Truda, 1930, Nr. 5.
116) Komsomolskaja Prawda, 1929, 14. April, Nr. 86. 116) Trud, 1928, 13. Juni, Nr. 136.

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reicher Kommunist, Solz, aus, "in Koltschugino wohnen bis 70 Arbeiter in einem Räume, und deshalb betrinken sie sich, treiben Unfug und sind allen kulturellen Einflüssen unzugänglich"117) usw. usw. Es sei nur noch hinzugefügt, daß der Versuch der ersten Jahre, den Arbeitern Wohnraum unentgeltlich zu überlassen, schon längst in wirtschaftlicher Hinsicht gescheitert ist, und daß, wie ein sozialistischer Schriftsteller (Jugoff)118) berechnet hat, die Auslagen des Sowjetarbeiters für seine elende Wohnung jetzt durchschnittlich 12 Prozent seines Lohnes in Anspruch nehmen (beim deutschen Arbeiter 15—16 Prozent).

 

Gesundheitspflege

Man kann sich ohne weiteres vorstellen, wie die Gesundheit der Sowjetarbeiter in diesen Verhältnissen leidet,118) und wie stark dieses allgemeine Unwohl die Stimmung der Arbeiter beeinflußt. In dieser Hinsicht wird seitens der Sowjetregierung manches getan, um der Gefahr vorzubeugen. Es wäre genügend, darauf hinzuweisen, daß die Benutzung der Kurorte und der Sanatorien Rußlands immer mehr zum Privilegium des Proletariats wird. Wenn z. B. im Jahre 1928 rund 23 Prozent der Kurgäste zum Arbeiterstande zählten, so ist dieser Satz im Jahre 1930 auf 80 Prozent gestiegen:120) es heißt, daß die Angestellten, die Ingenieure usw. das "Klassenrecht des Proletariats" nicht mehr für sich in Anspruch nehmen dürfen, und daß das "Klassengefühl" des Gesundheitskommissariates diesen Mißbrauch nicht mehr dulden darf.121) Dasselbe gilt auch für die Sanatorien und Erholungshäuser.122) Es ist möglich, daß ein scharfsinniger Ausländer doch nicht ganz unrecht hatte, als er sagte, daß die Sowjetregierung die Arbeiter etwa so behandelt, wie die Arbeiter selbst ihre Maschinen: man läßt sie in Schmutz und Ueberanstrengung zusammenbrechen, um dann an eine kaum mehr mögliche Reparatur zu denken.123)

 

Arbeitsdisziplin

Daß es dem Sowjetarbeiter nicht gut geht, kann auch an dem Sinken der Arbeitsdisziplin erkannt werden. Nachdem die Arbeitsdisziplin in den Jahren 1922—1927 gewissermaßen hergestellt wurde, begann sie im Jahre 1928 wieder zu sinken. Die Sowjetzeitungen fingen an, wieder über Nachlässigkeit, unbegründete Versäumnisse, Zusammenhocken in den Rauchzimmern usw. zu klagen. Im Jahre 1928 erreichte in der Leningrader vertrusteten Industrie die versäumte Zeit 8,2 Prozent der gesamten Arbeitszeit.124)

 

117)  Trud, 1928. 2. August, Nr. 178.
11S)  Jugow, Die Volkswirtschaft der U. S. S. R., 1928.
119)  In einzelnen Kohlengruben sind bis 10 Prozent der Arbeiter krank. "Sowjetskaja Sibirj", 1930, 27. August.
120)  Prawda, 1930, V, 10.
121)  Komsomolskaja Prawda, 1930, 4. August.
122)  Prawda, 1930, 10. Mai.
123)  Der tatsächliche Zustand der Sowjetsanatorien wurde von toir schon geschildert.

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Im selben Jahre wurden in der gesamten Industrie der RSFSR 18 Millionen versäumte Tage registriert. Auf den Werken der Jugostal wurden in der ersten Hälfte des Jahres 1929 rund 100 000 Vergehen gegen die Arbeitsdisziplin zusammengezählt. Das erste Quartal 192« brachte auf den Make jewschen Werken 394 solche Vergehen, wogegen das erste Quartal 1929 schon 820 Verletzungen brachte.124*) Schon in den Jahren 1928—1929 klagten die Zeitungen (z. B der "Trud") fortwährend über freiwillige Arbeitsverlassungen über Krankheitsvortäuschung, Beleidigungen der Aufsichtsbeamten, Schlägereien, Beschädigung der Maschinen usw. Die Sowjetregierung muß immerfort neue Mafiregeln erfinden um die Arbeiter zu disziplinieren: bald heifit es — freiwilliger "sozialistischer Wetteifer" einzelner Betriebe miteinander und gegeneinander;125) bald — Organisation von "Stoßtrupps" oder "Arbeiterbrigaden", welche berufen sind, einzelne Betriebe zu kontrollieren und ihre Leistung zu fördern;126) dann liest man wieder, wie Kinderorganisationen ("die roten Pioniere") ganze Betriebe "überfallen",127) in den Papieren der Verwaltungen herumwühlen, die Arbeit "kontrollieren", die Arbeiter überführen, "beschämen" und denunzieren; in der letzten Zeit werden noch "Bataillone der Enthusiasten des sozialistischen Fünfjahresplanes" formiert128) usw.

 

Arbeitsversäumnis 

Diese und ähnliche Maßnahmen haben bestimmt einen gewissen Einfluß auf die Arbeiter ausgeübt: die äußerlich kontrollierbare "unbegründete Arbeitsversäumnis" hat etwas nachgelassen.12") Der Arbeiter sieht sich gezwungen, öfter im Betriebe zu erscheinen und länger zu bleiben. Dies auch nicht überall: noch im November 1929 klagte ein führendes Wirtschaftsblatt über das andauernde Sinken der Disziplin im Moskauer Bezirk; wird die "unbegründete" Arbeitsversäumnis seltener, so kommt dagegen eine "begründete" Versäumnis immer öfter vor; und die allgemeine Zermürbung erfaßt auch die "ältere Arbeitergeneration".130) Über "schlechte Arbeitsdisziplin" wird auch weiter immerfort geklagt;131) sie wird "immer bedrohlicher", es gibt Betriebe, wo die Arbeitsversäumnis jeden Monat um 2 Prozent durchschnittlich zunimmt

 

124)  Komsomolskaja Prawda, 1929, 26. Februar. 124a) "Trud", 1929. 14. April.
125)  Vgl.: "nach der durchgeführten Selbstkontrolle ist der Wetteifer abgestorben". Prawda, 1930, 5. Juli.
126)  Z. B. Prawda, 1930, 31. Mai.
127)  russ. "Naljot". Siehe eine genaue Beschreibung in der Prawda, 1930, 31. Mai.
128)  Trud, 1930, 22. August.
129)  "Biilletenj statistiki Truda", 1930, Nr. 4.
130)  Ekonomitscheskaja Shisn, 1929, 15. November.
131)  Prawda, 1930, 17. Mai, Aufsatz von Gubermaim; Prawda 1930, 10. Juli.

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(Tuni-August 1950).132) Neuerdings wurde festgestellt, daß dieses Sinken der Disziplin sich auch auf den Sowjeteisenbahnen verbreitet133) usw. Es ist ohne weiteres klar, wie die Quantität und die Qualität der gesamten Produktion des Sowjetstaates dadurch leiden.

Die herrschende Stimmung der Arbeiterklasse des Sowjetstaates wäre dadurch zur Genüge geschildert.

 

Die Hervorgeschobenen

Der Arbeiter fühlt sich mit dem über ihn herrschenden kommunistischen Staate durchaus nicht identisch. Diese Identität" erlebt er gar nicht; er hat keine guten Gründe, an sie zu glauben. Umsonst ist alles Zureden; umsonst bemüht sich die Kommunistische Partei, immer neue Tausende von Arbeitern "hervorzuschieben"134) und sie zu bürokratisieren: die "Hervorgeschobenen "werden in den Behörden unfreundlich aufgenommen — weil sie nichts verstehen, sehr wenig können und anspruchsvoll auftreten; bei den Arbeitern stehen sie in schlechtem Rufe wegen ihrer Liebedienerei. Die Arbeitermasse des Sowjetstaates bleibt "kleinbürgerlich" eingestellt, schon deswegen, weil sie in einer sehr engen Beziehung zum Bauernstande steht.135) Die Kommunisten selbst schildern diese "Ideologie" folgendermaßen: "Das Haus ist mir heimisch, der Betrieb ist fremd, — Einnahmequelle, und nichts weiter";136) oder noch: "Der Hausherr (russisch: Chosjain), sieht sofort, wenn er in sein Haus kommt, wo und was fehlt, wo gefegt, wo geräumt werden muß, wer von den Angestellten zu ersetzen wäre. Ein angestellter Söldner dagegen ist eben nur ein Söldner; ist er mit seinen Arbeitsstunden fertig — so ist er schon zufrieden, und das übrige ist ihm Wurst. Er empfindet keine Verantwortung der Arbeiterklasse gegenüber."137) Kurz — die gesamte sozialistisch-kommunistische Einstellung bleibt den Arbeitern grundsätzlich fremd. Zur Wirtschaft und zum Eigentum gehört ein Eigentümer, der Hausherr in eigener Person (Chosjain); wo der letztere fehlt (z.B. im Kollektiveigentum), da gehört die Sache, nie mandem und allen; da sind auch weder Wirtschaft, noch Arbeit ernst zu nehmen. 

 

132)  Iswestija, 1930, 10. September.
133)  Prawda, 1930, 9. September.
134)  Siehe den Aufsatz "Kommunismus als Beamtenherrschaft" im vorliegenden Sammelwerke.
135)  In verschiedenen Industriezweigen zählen die sogenannten «krbproletarier" nur 30—70 Prozent des gesamten Bestandes. Vgl. Raschin, "Sostaw fabritschno-sawodskago proletariata SSSR"; Prawda, 1930, V, 11; 1930, VII, 13 usw. In einem interessanten Aufsatz von Karlik lesen wir: "Die Arbeiterklasse wird aus der Bauernschaft und aus dem städtischen Kleinbürgertum komplettiert, und diese Schichten bringen ihr die eigenen, nicht abgelebten, mit dem Privateigentum zusammenhängenden Vorurteile; sie unterstützen damit das Alte." Prawda, 1930, V, 1.
136)  russ.: "dorn rodnoj, sawod postoronnij" etc. Prawda, 1930, iL Mai. Aufsatz von Kuschner.
137)  Prawda, 1930, 26. Mai. Aufsatz von Strogowa.

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Die Diebstähle

Hieraus sind die zahlreichen Diebstähle in den Betrieben zu erklären. "Die Arbeiter bestehlen ihren eigenen Arbeiterstaat", seufzt eine führende kommunistische Zeitung: "viele Millionen sind auf dem Gesamtterritorium der Sowjetunion in diesem Jahre (1929) gestohlen worden. Die Arbeiter schweigen hierüber und boykottieren die Denunzianten, obwohl die Diebe die schlimmsten Feinde ihrer eigenen Klasse sind. Gestohlen wird alles: Schlüssel, Schlösser, Maschinenteile, Erzeugnisse des Betriebes" usw.138) Ein Arbeiter wurde ertappt, als er einen Kommutator stehlen wollte; um sich zu verteidigen, führte er aus: "Ich arbeite bereits zwei Jahre in diesem Betriebe; also bin ich doch berechtigt,, mir etwas anzueignen."139) . . . Die Bekämpfung dieser Diebstähle fällt den Kommunisten "recht schwer: den geltenden Gesetzen zufolge darf man einen Arbeiter nicht vors Gericht stellen, wenn der Wert des gestohlenen Gegenstandes 15 Rubel nicht übersteigt. Aus diesem Grunde gestatten sich die Arbeiter, solche Erzeugnisse und Halbprodukte aus den Betrieben mitzunehmen, die nach der Taxe des Betriebes nicht so viel kosten, auf dem Markte aber sehr hoch bewertet werden".140) Diese Schilderung gewährt einen guten Einblick in das Rechtsbewußtsein der Arbeiter, in die Höhe des Reallohnes, in die Zustände des inneren Marktes und in die Rechnung, welche die Kommunisten der "öffentlichen Meinung" der Arbeiter tragen müssen.

 

Die Enttäuschung 

Der Arbeiterstand in Sowjetrußland erlebt im großen und ganzen eine tiefe Enttäuschung. Was er gelitten hat, noch leidet und weiter noch leiden wird — liegt auf der Hand. Was er aber eingebüßt hat, bringt er sich nur langsam zum Bewußtsein. Er sieht sich in Not und weiß sich nicht zu helfen. Die "Stoßbrigaden" verachtet er, als "Schulen für Lotterbuben".141) Die "Kulturarbeit" der Kommunisten imponiert ihm durchaus nicht.142) Seine leidende Unzufriedenheit findet keinen Ausgang. Er fühlt sich unglücklich — und trinkt. Darüber klagt die Sowjetpresse unaufhörlich. Es wurde z. B. berechnet, daß die Arbeiter der Textilfabrik "Kowrowo" im Jahre 1928 rund 1,5 Millionen Rubel vertrunken haben (90 Rubel pro Kopf). In "Gussj Chrustalnij

 

138)  Komsomolskaja Prawda, 1929, 20. Juni. 13°) Ekonom. Sbisn, 1929, 24. Juli.
140)  Ekonom. Shisn, 1929, 15. November.
141)  Prawda, 1930, 11. Mai, Kuschner.
142)  "Unsere Kulturfront hat keine Autorität weder für die Arbeiter, nocb für andere Organisationen"; ein "wirkliches Interesse bringt uns der Arbeiter in unserer Kulturarbeit nicht entgegen • Rede der Kommunistin Nikitina. Prawda, 1930, 4. Mai.

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(Gouvernement Wladimir) wurden im Jahre 20 Prozent des Arbeitslohnes vertrunken. "Häufig stehen Mädchen den Männern hierin nicht nach", berichtet eine führende Zei-tung.143)

Im Laufe der letzten zwei Jahre hat diese Unzufriedenheit der Arbeiter auch andere Formen angenommen. Die berüchtigten Arbeiterversammlungen werden schlecht besucht; es wird immer schwerer, das notwendige Quorum in diesen Versammlungen zusammenzubringen. Die Versammlungen werden zwei- dreimal einberufen, und dennoch erscheinen nur 10—15 Prozent der eingeladenen Mitglieder. Es werden Fälle verzeichnet, wo zu den Wahlen des "Fabrik-Komitees" von 550 Mann nur 75, von 800 Mann nur 70 erscheinen.144) Auch die Arbeiterklubs werden sehr schlecht besucht; warum? — "Dort ist es langweilig, da hat man nichts zu tun, es ist alles langweilig geworden."145) "Es ist eine große Mühe, die Leute in die Klubs zu schleppen. Wenn Sie beim Eingang in einen Klub gelangweilte Gesichter, schlendernde Gestalten und unterdrücktes Gähnen erblicken, so können Sie sicher sein, daß hier ein politischer Vortrag gehalten wird."146) Daneben bringen die Sowjetzeitungen, besonders für das Jahr 1929/1930, immer häufiger Nachrichten von Staatsanleihen, die von den Arbeitern nicht gezeichnet wurden; von Beschlüssen, einen bestimmten revolutionären Feiertag (1. Mai) nicht zu feiern; von Geldsammlungen für den Bau einer neuen Kirche usw.

Im Juli 1929 wurde eine Rundfrage unter den Arbeitern der "Gluchowskaja"-Manufaktur über die Hebung der Qualität der Arbeit durchgeführt. Es wurden viele bemerkenswerte Antworten verzeichnet. Eine lautete z. B.: "Fort mit den Arbeiterorganisationen und mit den Betriebsausschüssen! Wer den Mittelbauer und den Kulak erfunden hat — ist ein Dummkopf und versteht nichts vom Leben. Wir halten es für richtig — die Fabriken den früheren Besitzern und überhaupt erfahrenen Menschen zurückzugeben, damit die Arbeiter sich in die Betriebsangelegenheiten nicht zu mischen hätten!" Eine andere Antwort war noch ausdrücklicher: "Schert euch zum Teufel! Wir wollen einen echten Chosjain, den Arsenij Morosof, haben! Ihr habt uns zu Grunde gerichtet! Schwanzloses Vieh! Zweibeinige Stuten!"147) . . .

 

143)  Komsomolskaja Prawda, 1929. 6. Juli.
144)  Trud, 1929, 29. März.
145)  Komsomolskaja Prawda, 1929. 16. Januar.
146)  Leningradskaja Krasnaja Gaseta, 1928, 8. Oktober. Diese Klubs haben sich einfach überlebt und werden von den kommunistischen Behörden selbst geschlossen. Siehe "Trud", 1930, 21. November.
147)  Komsomolskaja Prawda, 1929, 27. Juli.

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Im Frühjahr 1930 brachte ein sozialdemokratisches Blatt den Brief eines Sozialdemokraten aus Sowjetrußland. Stöhnend und fluchend schildert der Brief die Lage des Proletariats im kommunistischen Staate und bezeichnet dann die Einstellung der Kommunisten mit folgenden Worten: "Aber was geht sie das alles an? Sie krepieren ja nicht — sie beaufsichtigen nur die Krepierenden. ... Und das ist ja bedeutend leichter." ...

Als im Jahre 1926, zur Zeit einer verhältnismäßigen Besserung der Lage der russischen Arbeiter, der schweizerische Sozialist Fritz Schneider Sowjetrußland besuchte, stellten ihm mehrere kommunistisch gesinnte Arbeiter die Frage: "Wann werdet ihr endlich eine Revolution in der Schweiz machen?" Er antwortete: "Sobald die schweizerischen Arbeiter ebenso schuften und leben müssen wie ihr."148) Damit wollte er das Leben des Proletariats in Sowjetrußland als unerträglich bezeichnen. 

Das Leiden und Dulden eines Entrechteten besitzt aber keine festen, im voraus zu bestimmenden Grenzen; und die Geschichte ist hart. — Dies wäre im Gesamtüberblick die Lage der Arbeiter im kommunistischen Staate.

 

 

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148)  F. Schneider: "Von Leningrad nach Kiew", Basel, 1926.

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