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6  Aufstieg und Ende des Privathandel?    Von Dr. W. Höffding

 

 

 

  Das erste Experiment  

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In den Jahren 1918 bis 1921 unternahm die Kommunistische Partei, die durch den Umsturz im November 1917 in Rußland zur Macht gelangt war, den Versuch, das Ziel des Kommunismus im Sturmlauf zu erreichen — und zwar in einem rückständigen Agrarlande, dessen Kräfte durch die unerträglich Last eines dreijährigen Krieges bereits stark geschwächt waren.

Der Versuch mißlang und führte zu einem völligen Zusammenbruch der Industrie und zu einem ungeheuren Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion. Er zerriß alle wirtschaftlichen Fäden, welche die verschiedenen Teile des großen Landes miteinander verbanden. Er zerschlug den empfindlichen Mechanismus des Handels, des Kredits und des Geldwesens und unterband dadurch den Warenaustausch, de "Blutumlauf" im komplizierten Organismus der modernen Volkswirtschaft.

Im Frühjahr 1921 stand Rußland mitten in einer wirtschaftlichen Katastrophe, wie sie die neue Geschichte nicht ihresgleichen kennt. Nachdem (Ende 1920) die kommunistische Regierung ihre Feinde im Bürgerkriege niedergekämpft hatte, begann im März 1921 in Kronstadt ein Aufstand der Matrosen, dieser "Leibgarde" des Bolschewismus. 

Bezeichnenderweise lautete eine der Haupt­forderungen der Aufständischen "Wiederherstellung des freien Handels". Lenin erkannte de Ernst dieser Warnung aus den Reihen seiner eigenen Gefolgschaft und warf das Steuerruder scharf herum.

Am 17. März 1921, als die Kanonen von Kronstadt noch donnerten, erschien das erste Dekret der kommunistischen Regierung, das die vorher rücksichtslos durchgeführte Getreide­umlage, die sich eine restlose Enteignung sämtlicher Überschüsse der Bauernwirtschaften zum Ziel setzte, durch eine Naturalsteuer ersetzte. 

Das prinzipiell neue und "umwälzende" dieser Maßnahme bestand darin, daß den Bauern das Recht zuerkannt wurde, die nach Bezahlung der Realsteuer noch etwa verbleibenden Getreideüberschüsse auf dem Markt frei zu verkaufen. Auf dieses erste Dekret folgte im Laufe des Jahres 1921 eine Reihe unmittelbar hintereinander getroffener Maß­nahmen, die eine gewisse Existenzberechtigung des Privathandels anerkannten und ihm allmählich einen weiteren Spielraum gewährten.


    Die NÖP   

 

So wurde die "Neue Wirtschaftspolitik" der kommunistischen Regierung inauguriert, weit über die Grenzen Rußlands unter dem Namen "NÖP" bekannt (nach den Anfangsbuchstaben — "nowaja ekonomitscheskaja politika"; deutsch: neue ökonomische Politik").

Es schien, als ob das Land nach der wirtschaftlichen Lahmlegung und der ihm aufgezwungenen Untätigkeit der vergangenen Jahre in wirtschaftlicher Hinsicht tief aufatmete, fieberall regte sich neues Leben: die Bauern vergrößerten die Anbauflächen und nahmen die Produktion für den Markt wieder auf; in den Städten entstanden überall neue Handelsfirmen; aus dunklen Schlupfwinkeln, in denen sie verborgen gehalten worden waren, kamen unerwartet viele, alte Warenvorräte zum Vorschein; der Warenaustausch zwischen Stadt und Land kam mit Hilfe des neuentstehenden privaten Handelsapparats wieder in Schwung. Es schien tatsächlich, daß auf den Ruinen des "Kriegskommunismus" neues Leben erblühen würde.

Obwohl sich die Befreiung der Wirtschaftskräfte nicht auf die nationalisierte Industrie erstreckte und diese mit ganz geringen Ausnahmen unter Staatsregie oder im Staatsbesitz verblieb, änderten sich die Verwaltungsmethoden auch hier nicht unerheblich im Sinne einer Dezentralisation, einer größeren Bewegungsfreiheit der verantwortlichen Leiter der Betriebe. Das Ergebnis war auch auf diesem Gebiete eine allmähliche Steigerung der Produktion. Auch hier nahm das Tempo der wirtschaftlichen Tätigkeit merklich zu.

Dieses Wiederaufleben des Privathandels wurde nun sowohl von vielen Nutznießern der NÖP im Lande selbst, als auch von manchen bürgerlichen Beobachtern der russischen Vorgänge im Auslande, als der Ausgangspunkt einer entscheidenden "Evolution" des Sowjetregimes und einer Sinnesänderung der führenden Kommunisten in der Richtung einer allgemeinen Wiederherstellung der freien Wirtschaft und des Privateigentums gedeutet.

Tatsächlich begannen sich schon in den ersten Jahren der NÖP die Anzeichen dafür zu mehren, daß die schnell erstarkenden Elemente der Privat­wirtschaft innerhalb und neben dem "sozialisierten Sektor" der sowjetrussischen Wirtschaft zu einer ernsten Gefahr für den letzteren zu werden drohten. Noch wichtiger war wohl die Entstehung von sozialen Elementen und Berufsgruppen, die, vom kommunistischen Staate unabhängig, zu einer immer ernsteren Gefahr für die bolschewistische Diktatur werden konnten.

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Niemand erkannte aber diese schleichende Gefahr schneller als die kommunistischen Führer selbst. Und prompt setzte die Gegenoffensive gegen die wiederauflebenden Elemente der Privatwirtschaft seitens des kommunistischen Staates ein. Was man aber in den ersten Jahren des Kommunismus gleichsam durch einen Kavallerieangriff erstürmen zu können glaubte, versuchte man jetzt durch zähes und systematisches Ringen im Stellungskampf zu erreichen.1

Jetzt mußten auch die "Optimisten", die an eine gewaltlose Umwandlung der Kommunistenführer in friedliche "Bourgeois" und des kommunistischen Staates in einen bürgerlichen Rechtsstaat glaubten, einsehen, daß die Worte von dein taktischen Manöver, mit denen Lenin seiner Gefolgschaft gegenüber die Notwendigkeit der NÖP begründete, keine leeren Phrasen, durch die der Rückzug "wohlschmeckender" gemacht werden sollte, sondern bitterer Ernst waren. Lenin erklärte damals:

"Wir treten jetzt den Rückzug an, aber wir tun es, um nach diesem Rückzug einen besseren Anlauf nehmen zu können und dann mit einem Sprung vorzudringen. Nur unter dieser Bedingung haben wir uns zurückgezogen, indem wir die "Neue Wirtschaftspolitik" durchführten.....um nachher den zähen Angriff wieder aufzunehmen."2

 

   Die Gegenoffensive  

Tatsächlich setzte die angekündigte Gegenoffensive gegen den zu neuem Leben erstandenen Privathandel bereits Anfang 1924 ein. Zum Unterschied von der Sturm- und Drangperiode des Kommunismus wurde jetzt der Privathandel nicht schlechthin verboten; er wurde vielmehr durch die verschiedensten und raffiniertesten Mittel, — von der Sowjetregierung in der Gesetzes- und Verwaltungssprache euphemistisch "Mittel der ökonomischen Regulierung" genannt, — dem Privathändler die Ausübung seiner Tätigkeit faktisch unmöglich gemacht. 

 

1)  Es ist leider unmöglich, im Rahmen dieser Arbeit den interessanten Prozeß des Wiederauflebens des Privathandels und seines darauffolgenden Unterganges auch nur in seinen allgemeinen Umrissen zu schildern. Es ist bezeichnend, daß die Kommunisten diesen Prozeß, in klarer Erkenntnis der hier auf sie lauernden Gefahren, mit außerordentlicher Sorgfalt beobachtet und untersucht haben. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen sind in folgenden Werken zusammengefaßt: 1. Sammelwerk: "Tschasnij kapital w narodnom chosajstwe SSSR", Moskau 1927 (russisch). 2. Sammelwerk: "Tschasnaja torgowlja w SSSR", Moskau 1927 (russisch). 3. M. Girmundsky, "Tschasnij torgowij kapital w narodnom chosajstwe SSSR", Moskau 1927 (russisch). Eine Fülle von außerordentlich interessantem Material enthält das Buch des bekannten Kommunisten Larin, "Tschasnij kapital w SSSR", Moskau 1927.

2) Lenin, Gesammelte Schriften (russisch), Band XVIII, Teil 2, S. 103.

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Abgesehen von einem bis zur Unerträglichkeit gehenden Anziehen der Steuerschraube wurde diese Erdrosselung des Privathandels sozusagen automatisch durch etwa folgende Mittel erreicht: durch das Verbot, die Erzeugnisse der staatlichen Industrie an den Privathandel zu verkaufen und durch diesen zu vertreiben; durch das Verbot, Privatgüter auf der Eisenbahn zu befördern; durch die Weigerung, Geschäftslokale in den nationalisierten und munizipalisierten Häusern aI1 private Firmen zu vermieten oder durch die Forderung eines unerschwinglichen Mietzinses, durch Kreditsperre für Jen Privathandel usw.

Trotzdem der Privathändler mit dem Mut der Verzweiflung für seine mit so großer Mühe wiederaufgebaute Existenz kämpfte, war er doch diesem Zermürbungsprozeß nicht gewachsen. Er mußte sich in diesem ungleichen Kampfe gegen den wirtschaftlich allmächtigen kommunistischen Staat für besiegt erklären. Die "Verlustlisten" des Privathandels schwollen von Jahr zu Jahr an. Allein im Jahre 1926/27 sahen sich 102 898 Privathandelsfirmen genötigt zu liquidieren.3

 

  Das Abdrosseln des Privathandels   

Wir können hier diesen Zermürbungsprozeß des Privathandels nicht in seinen Einzelheiten verfolgen und müssen uns mit der Feststellung begnügen, daß im Jahre 1927/28 der Anteil des Privathandels an den Umsätzen des Großhandels in der Sowjetunion auf 1,4 Prozent zusammengeschrumpft war, und daß der Vernichtungskampf hier also als beendet angesehen werden konnte. Dagegen beträgt der Anteil des Privathandels an den Umsätzen des Kleinhandels im gleichen Jahre immer noch 24 Prozent (gegenüber etwa 50 Prozent in den Glanzjahren der NÖP), was dadurch zu erklären ist, daß auf dem Lande der Kleinhändler und Hausierer sich gegen die Schikanen der Sowjetorgane besser zu wehren vermochten.4) Trotzdem schwindet auch hier der Anteil des im Aussterben begriffenen Privathandels von Jahr zu Jahr, und die Sowjetwirtschaftler rechnen damit, daß es ihnen gelingen wird, den prozentualen Anteil des Privatkapitals am Kleinhandel im laufenden Wirtschaftsjahr (1929/30) auf 10,7 Prozent des Gesamtumsatzes herabzudrücken.5) Der "Fünfjahresplan" sieht den Abschluß dieses Vernichtungsprozesses des Privathandels und den vollständigen Sieg des "sozialistischen Sektors" auch auf dem Gebiete des Kleinhandels für das Jahr 1932/33 vor.

 

Der Staatshandelsapparat

Im Laufe der letzten vier Jahre, insbesondere seitdem die Politik der Liquidierung der NÖP die sogenannte "Anti-NÖP' ', seit etwa 1927 in verstärktem Maße einsetzte, ist der in den Jahren 1921 bis 1924 wiederaufgelebte Privathandel bis zu seiner gegenwärtigen Unbeträchtlichkeit herabgedrückt worden. Gleichzeitig ist ein kolossaler Staatshandelsapparat ins Leben gerufen worden, der das Vakuum, das infolge des Verschwindens des Privathandels entstanden war, wieder ausfüllen sollte.

3) Siehe "Ekonomitscheskaja Shisn" vom 20. März 1928.
4) Siehe "Sowetskaja Torgowlja" (Der Sowjethandel — das Organ des Handelskommissariats), 1928, Nr. 40.
5) Siehe "Sowetskaja Torgowlja", 1929, Nr. 38.

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Es verlohnt sich daher, bei der Frage zu verweilen, ob der neuentstandene Apparat diese Aufgabe tatsächlich erfüllt hat, ob durch seine Vermittlung die Produzenten und die Verbraucher im gegenwärtigen Rußland besser oder wenigstens ebenso gut bedient werden, als es im früheren Rußland unter dem Regime der Privatwirtschaft der Fall war, und als es heute in den kapitalistischen Ländern der Fall ist. 

Eine derartige Untersuchung ist auch vom allgemeinen Standpunkte aus um so interessanter, als bekanntlich die kommunistische Doktrin die privatwirtschaftliche Organisation des Handels immer wegen seines "anarchischen" Charakters scharf kritisierte und behauptete, daß sie eine volkswirtschaftlich unzulässige Verschwendung von Mitteln und Arbeit darstelle. Eine planmäßige Zusammenfassung des gesamten Handelsapparats, so predigte und predigt noch heute diese Lehre, würde in dieser Hinsicht große Ersparnisse ergeben, vor allem dadurch, daß der Weg, den die Ware vom Erzeuger bis zum Verbraucher zu durchwandern hat, infolge der "Rationalisierung" des gesamten Handelsapparats bedeutend abgekürzt werden könnte.

Betrachtet man von diesen Standpunkten aus die tatsächliche Entwicklung und Organisation des Staatshandels und der "kooperativen Genossen­schaften", so wie sie in der Wirtschaftspresse Sowjetrußlands geschildert werden, so ergibt sieh folgendes Bild.

 

  Die kommunistische Warenverteilung   

Die Verteilung der für den Verkauf bestimmten Konsumgüter findet in der Weise statt, daß von den zuständigen Moskauer Behörden für bestimmte Zeitabschnitte (Jahr, Quartal, Monat) umfangreiche "Versandpläne" ausgearbeitet werden. Nach diesen Plänen wird die geographische Verteilung der vorhandenen Warenvorräte geregelt, mit dem Ziele, die "anarchische" Verteilung des Privathandels durch ein "wissenschaftliches" System (sie!) zu ersetzen. — Der Ausarbeitung dieser Pläne werden außerordentlich komplizierte Berechnungen zugrunde gelegt, die von den Verbrauchszahlen, Ernteergebnissen usw. des jeweiligen Bezirks oder der betreffenden Stadt ausgehen.

Die mit diesem System bisher gemachten Erfahrungen haben aber gezeigt, daß dasselbe nicht im Stande ist, den früheren feinfühligen, auf jahrzehntelanger Erfahrung fußenden Privathandel zu ersetzen. Die Aufgabe, die von diesem sozusagen "automatisch" erfüllt wurde, kann hier nur unzureichend und mit ungeheuren Reibungen gelöst werden. 

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Nach den Ergebnissen einer von der Sowjetregierung im Jahre 1926 veranstalteten Rundfrage gelangt nur etwa die Hälfte der nach den Moskauer Versandplänen expedierten Waren gleich dorthin, wo für dieselben ein Bedarf, eine kaufkräftige Nachfrage besteht.6) Dabei ist der Verbraucher — ob Bauer oder Arbeiter — durch den in Sowjetrußland herrschenden chronischen Warenhunger durchaus nicht verwöhnt und alles eher als wählerisch bei seinen Einkaufen; meistenteils ist er genötigt, das erste beste zu nehmen, um nicht mit leeren Händen nach Hause zu gehen. 

Die andere Hälfte dieser "planmäßig" verteilten Waren muß erst mehrere Male von einem Ort zum anderen wandern, bevor sie an den richtigen Verbraucher kommt. So mußten zum Beispiel von den innerhalb eines bestimmten Zeitraums versandten 7.916.000 Pud Baumwollwaren nicht weniger als 4.090.000 Pud, also etwas über die Hälfte, von dem ursprünglichen Bestimmungsort nach anderen Plätzen reexpediert werden. Kein Wunder, daß die endgültige, tatsächliche Verteilung der Warenmassen unter den einzelnen Gebieten Sowjetrußlands von den ursprünglichen "Versandplänen" sehr stark abweicht. So zeigte, nach einer anderen Quelle, die tatsächliche Ausführung dieser Pläne Abweichungen von der vorgeschriebenen Verteilung, die zwischen — 52 Prozent und + 226 Prozent schwankten; mit anderen Worten, während einige Gebiete nur etwa die Hälfte der ihnen zugewiesenen Warenmengen erhielten, konnten andere mehr als das doppelte Quantum unterbringen.7)

Diese Angaben und Schilderungen beziehen sich auf das Jahr 1927. Durch verschiedene, von der Sowjetregierung ergriffene Maßnahmen mag sich die technische Ausführung der Versandpläne etwas gebessert haben. Daß sich die Lage aber grundsätzlich nicht geändert hat, daß die gegenwärtige "planmäßige" Verteilung der für den Handel bestimmten Waren einem Vergleich mit dem "anarchischen"' Privathandel nicht standzuhalten vermag, das hat das offizielle Moskauer Wirtschaftsorgan8) im Jahre 1929 wieder einmal in anschaulicher Weise bestätigt, und zwar in einem Leitartikel, der die bezeichnende Ueberschrift "Die Warenbewegung im Nebel" trägt:

 

6) Die Ergebnisse dieser Enquete sind in der offiziellen Moskauer »Torgowo-Promischlennaja Gazeta" vom 29. Dezember 1926 veröffentlicht worden.
7) Siehe Norowchatof, Die Ergebnisse der Regulierung des Marktes von Fertigwaren (russisch) in "Sowetskaja Torgowlja" (Organ des Handelskommissariats), 1927, Nr. 43, S. 22.
8) Siehe "Ekonomitscheskaja Shisn" vom 11. Mai 1929.

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"Die Warenmasse, die mit außerordentlicher Langsamkeit den Weg von der Industrie bis zum Verbraucher zurücklegt, bewegt sich wie in einem dichten Nebel: ob man die Ware bekommt oder nicht, wann sie ankommt, was ankommt, wieviel ankommt usw. — das ist niemandem innerhalb des Handelsapparates jemals bekannt. Dieser Nebel wird durch ein außerordentlich kompliziertes Abrechnungs­system verdichtet."

Es genügt, die Überschriften einer Reihe Artikel und Notizen, die in derselben Nummer der Moskauer Wirtschaftszeitung (vom 11. Mai) erschienen sind, und sich mit der Organisation des staatlichen und des staatskooperativen Apparats befassen, zu betrachten, um zu erfahren, daß hier im Laufe der letzten zehn Jahre keine grundsätzliche Änderung zu verzeichnen ist. Die Überschriften lauten: "Unsinnige Zentralisierung", "Die monopolistische Zersetzung des Einkaufsapparats", "Bürokratische Auswüchse in der Praxis unserer Kooperative" usw.

 

   Die Zwischenstufen im Staatshandel   

Ähnlich liegen die Dinge in Bezug auf einen anderen angeblichen Vorteil der kommunistischen Verstaatlichung des Handels. Dieser Vorteil soll in einer Verkürzung des Weges bestehen, den die Waren vom Produzenten bis zum endgültigen Verbraucher zurückzulegen haben. Die Verkürzung soll durch eine Eliminierung des überflüssigen Zwischenhandels erzielt werden, der nach der kommunistischen Lehre die Waren beim Privathandel unnötig verteuert. Wie paradox das auch klingen mag, die sowjetrussische Erfahrung hat doch das Gegenteil von dieser Behauptung erwiesen: dieser Weg wurde durch die staatliche Zusammenfassung des gesamten Handelsapparats nicht abgekürzt, sondern, im Gegenteil, ganz erheblich verlängert.

In seinem bereits erwähnten Buche gibt der bekannte russische Kommunist Lärm eine vergleichende Darstellung, die an Anschaulichkeit nichts zu wünschen übrig läßt.9)

Als Beispiel nimmt Larin zuerst die Vorgänge bei dem Einkauf von Rohbaumwolle durch die russischen Baumwollspinnereien. Vor dem bolschewistischen Umsturz besorgten die größeren Moskauer Spinnereien (wobei Larin sich speziell auf die Betriebe des bekannten Moskauer Industriellen Konowalof bezieht) ihre Einkäufe direkt in Turkestan, aus dem bekanntlich über die Hälfte der in Rußland verarbeiteten Baumwolle stammte. Sie kauften die Baumwolle dort bei den kleinen Kaufleuten (Aufkäufer) ein, und expedierten sie dann per Eisenbahn an die Fabriken. Damit war die Sache erledigt.

Im Gegensatz hierzu schildert Larin den Weg, den die Baumwolle jetzt zu durchwandern hat, ehe sie die Spinnereien erreicht, folgendermaßen:

9) Vgl. das Sammelwerk "Tschasnij kapital w SSSR." (russisch) (Das Privatkapital in der L/SSR.), S. 177.

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"Jetzt kaufen die örtlichen <Torgi> (staatliche Handelsbüros), die <Chlopkomy> (Baumwollkomitees) und andere staatliche Organe die Rohbaumwolle von den Privataufkäufern oder unmittelbar von den Bauern. Von diesen örtlichen Staatsorganen wird die Baumwolle durch den "Glaw-rhlopkom" (Hauptbaumwollkommitee in Moskau) abgekauft. Letzterer verkauft die Baumwolle weiter an das "Textil-syndikat" (eine staatliche Handelsorganisation). Das Text.il-syndikat verkauft sie wiederum an die einzelnen staatlichen Textiltrusts, die schließlich die Baumwolle den einzelnen Betrieben zur Verarbeitung übergeben." 

Dieselben Vorgänge spielen sich, nach Larin, in Bezug auf Kohle, Eisenerz usw. ab. "Innerhalb der staatlichen Industrie selbst findet somit eine Reihe von successiven Verkäufen desselben Rohstoffes statt, ehe er überhaupt in Form einer Fertigware die Reise von der Fabrik bis zum Verbraucher antritt."

Diese Reise gestaltet sich, nach Larins Schilderung, auch zu einem Leidenswege im wahren Sinne des Wortes: "Die staatliche Fabrik liefert ihre Erzeugnisse dem Trust ab. Dieser verkauft sie an das Syndikat, letzteres wiederum an den ,Zen-trosojus' (Zentralorgan der kommunistischen Genossenschaften). Der "Zentrosojus" verkauft die Ware an den Bezirksverband, dieser an den Gouvernementverband, dieser an den Kreisverband und dieser letzte endlich an die Konsumgenossenschaft. Schließlich gelangt die Ware von der Genossenschaft an den Verbraucher.

Aus diesen Beobachtungen zieht Larin die sich von selbst ergebende Schlußfolgerung, nämlich, daß die Ware auf dem Wege vom Erzeuger zum Konsumenten "beim Privathandel durch eine kleinere Anzahl von Zwischenstufen geht, als bei unserer verstaatlichten Industrie".

Daß wir es hier nicht mit subjektiv gefärbten Eindrücken oder polemisch zugespitzten Aeußerungen eines zur "Selbstkritik" neigenden Kommunisten zu tun haben, ergibt sich daraus, daß diese Tatsachen in vollem Umfange von der amtlichen Sowjetstatistik bestätigt werden. Diese stellt nicht nur fest, daß die Zahl der Zwischenstufen, die die Ware auf ihrem Wege zu durchwandern hat, sich beim staatlichen Handel höher stellt als beim Privathandel, sondern, was besonders interessant ist, daß dieser Koeffizient im Laufe der Jahre eine steigende Tendenz aufweist.10)

10) Siehe Kaktin, "Vom Handel zur planmäßigen Verteilung" (russisch), "Ekonomitscheskoje Obosrenije", 1927, X, S. 198—199.

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   Die Handelsunkosten   

Ebenso unbefriedigend erscheinen die Erfahrungen des sowjetrussischen Handelsapparates in bezug auf die angebliche größere Billigkeit, die niedrigeren U nkosten des Staatshandels im Vergleich zum angeblich teuren an einer kostspieligen Zersplitterung leidenden Privathandel

In einem Vortrage über "Warenbilanz und Preispolitik" wies ein bekannter kommunistischer Wirtschaftler, namens Sokolowskij, darauf hin, daß während vor dem Kriege im russischen Privathandel der Preisaufschlag des Kleinhandels (auf die Großhandelspreise) zur Deckung seiner Unkosten und seines Gewinns, im Durchschnitt für alle Waren 20 Prozent betrug, betrage gegenwärtig dieser Aufschlag 64 Prozent. "D ie Handlungsunkosten sind also dreimal so hochwie vor dem Krieg e."11)

Berücksichtigt man, daß zu der Zeit, auf die sich die Feststellung Sokolowskij s bezieht (1927), der Gesamtwert der Produktion von Verbrauchsgegenständen der sowjetrussischen Industrie unter Zugrundelegung der Fabrikpreise etwa 8 Milliarden Rubel betrug, und daß der Aufschlag für den Verbraucher statt der früheren 20 Prozent jetzt 64 Prozent von diesen Preisen beträgt, so ergibt sich zwangsläufig eine bedeutende Mehrbelastung des Konsums. Für die Industriewaren allein erreicht diese Mehrbelastung eine Höhe von 3,2 Milliarden gegenüber den Gesamtumsatzkosten des "anarchischen" und "teuren" Privathandels.

Es ist nicht uninteressant das maßgebende Urteil Felix Dsershinskijs über diesen Punkt zu hören. Neben dem Amte des Chefs der Tscheka bekleidete er bekanntlich in seinen letzten Lebensjahren auch das Amt des Vorsitzenden des Obersten Wirtschaftsrates der Sowjetunion. Am 9. Dezember 1925 erklärte Dsershinskij in der Plenarversammlung des Zentralausschusses der kommunistischen Gewerkschaften in Moskau:

"Der prozentuale Aufschlag unserer Handelsorganisationen ist ein ungeheuer hoher. Der Warenvermittlungsapparat ist in der letzten Zeit so angeschwollen, daß er Riesenmengen unserer Fertigwaren verschlingt. Der Weg, den ein Arschin (Elle) Kattun vom Erzeuger bis zum Verbraucher zurücklegen muß, kostet weitere 0,9 Arschin." Damit brachte Dsershinskij zum Ausdruck, daß der Preisaufschlag des staatlichen Handeisapparates 90 Prozent beträgt.

 

  Der Dienst am Kunden   

Um diese kurze Charakteristik der staatlichen Handelsorganisation Sowjetrußlands abzuschließen, wollen wir noch einige Tatsachen und Urteile führender Kommunisten darüber anführen, inwiefern diese Organisation einen besseren "Dienst am Kunden" — um einen in der modernen Handelspraxis geläufigen Ausdruck zu gebrauchen — als der bürgerliche Privathandel zu gewährleisten vermag.

11)  Nach dem Bericht der "Ekonomitscheskaja Shisn" vom 2. Januar 1927.

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Hierbei muß besonders betont werden, daß in dieser Hinsicht — wie in allen anderen — kein grundsätzlicher Unterschied zwischen der staatlichen Handelsorganisation im engeren Sinne und den vom Staate und der Kommunistischen Partei gänzlich beherrschten sowjetrussischen "Kooperativen" besteht. Die ausländische Propaganda weist mit Vorliebe auf die hohen und stets zunehmenden Mitgliederzahlen und die rasch steigenden Umsätze der Erzeuger- und Konsumgenossenschaften Sowjetrußlands hin. In Wirklichkeit sind hieraus ebensowenig irgendwelche Schlüsse zugunsten der Sowjetunion zu ziehen, wie aus der Tatsache, daß fast 100 Prozent der russischen Arbeiter Mitglieder der kommunistischen Gewerkschaften sind.

Ebenso, wie diese Mitgliedschaft eine Zwangsmitgliedschaft ist, ist es auch keine Begeisterung für die genossenschaftliche Idee, sondern der direkte oder indirekte (wirtschaftliche) Zwang, der den russischen Arbeiter oder Bauern veranlaßt, der Konsumgenossenschaft, den "Kooperativen", beizutreten. Die Analogie wird noch dadurch vervollständigt, daß es in Rußland ebensowenig andere als staatlich anerkannte und patronierte kommunistische Gewerkschaften, wie ein freies Kooperativwesen gibt.

Die tatsächliche Unmöglichkeit,die meisten Waren — sei es Textilwaren und Schuhe, oder Saatgut und landwirtschaftliche Maschinen — auf anderem Wege, als durch die staatlich anerkannten Kooperative zu erhalten, zwingt den russischen Bauern oder Arbeiter dazu, Mitglied der Genossenschaften zu werden, die in der Waren Versorgung eine Monopolstellung genießen. Ihrem tieferen Wesen nach ist das Kommunistische Kooperativ nichts anderes als ein Teil, ein Rad des gewaltigen und schwerfälligen, bürokratischen Handelsapparates des kommunistischen Staates.

 

   Authentische Schätzungen  

Treffend schilderte das führende Moskauer Wirtschaftsorgan vor einiger Zeit den Charakter des kommunistischen Kooperativwesens:

"Wir haben eine sehr geringe kooperative Selbsttätigkeit der Bevölkerung bei sehr großen kooperativen Umsätzen."12) Und bei einer anderen Gelegenheit schreibt das gleiche Organ: "Als Regel gibt es in unseren Kooperativen Beamte und andererseits die Masse der Mitglieder, es fehlen aber gänzlich die Treibriemen, jegliche Yerbindungsglieder zwischen der Verwaltung und den Massen."13)

Die Leiter der Kooperative scheinen sich auch wenig um etwas anderes als um die finanziellen Ergebnisse der ihnen

12)  Siehe "Ekonomitscheskaja Shisn" vom 22. September 1926.
13)  Siehe "Ekonomitscheskaja Shisn" vom 5. Februar 1927.

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unterstellten Genossenschaften zu kümmern; ja sie scheinen in ihrer Tätigkeit manchmal durch recht "privatwirtschaftliche" Motive geleitet zu werden. Es ist auf jeden Fall bezeichnend, daß die Klagen über die "Gewinnsucht" (!) der Kooperative in der Sowjetpresse nicht verstummen Avollen.

Kein geringerer als der gegenwärtige Volkskommissar für Handel, Mikojan, dem auch das gesamte Kooperativwesen der Sowjetunion untersteht, fällte in einer am 1. Februar 192? in Moskau stattgefundenen Sitzung zur Erörterung der Frage der Ermäßigung der Warenpreise folgendes harte Urteil über die kommunistischen Genossenschaften :

"Auf dem Gebiete des Kooperativwesens stehen wir gegenwärtig vor folgenden Aufgaben: wir müssen die Gewinnsucht der Genossenschaften eindämmen, deren Handlungsunkosten ermäßigen, den Warenumsatz rationalisieren und demjenigen Geldgewinn ein Ende machen, der nicht in der Arbeit selbst seine Quelle hat, sondern in einem bewußten Herabdrücken des Lebensniveaus der arbeitenden Mass en."14)

Daß die Kooperative in der Sowjetunion ihre äußeren Erfolge und ihr für europäische Verhältnisse erstaunliches ziffernmäßiges Wachstum lediglich der ihnen vom kommunistischen Staate zugewiesenen Monopolstellung verdanken, und keineswegs einer besseren, billigeren Bedienung des Konsumenten, wurde in folgenden interessanten Worten des Vorgängers Mikojans auf dem Posten des Volkskommissars für Handel, dem später in Ungnade gefallenen und entflohenen Präsidenten der Staatsbank der Sowjetunion — Scheimann — zum Ausdruck gebracht:

"Nur der permanente Warenhunger und die besondere Begünstigung seitens des Staates ermöglichen es den Kooperativen mit dem Privathandel erfolgreich zu konkurrieren. Wenn der Warenmangel überwunden sein wird, werden die Kooperative, falls ihre Lage die gleiche bleibt wie jetzt, vollständig außerstande sein, mit dem Privatkapital zu konkurrieren, und es wird ihnen die Gefahr drohen, völlig vom Markte verdrängt zu werden."15)

Diese pessimistische Voraussage Scheimanns in Bezug auf die Zukunft des kommunistischen Kooperativwesens ging von der Eventualität einer gleichberechtigten Konkurrenz der Genossenschaften mit dem Privathandel aus, entsprechend der Politik der Kommunistischen Partei im Jahre 1925. Inzwischen hat sich der Kurs wieder stark geändert, und die Erdrosselung

14)  Nach dem Bericht der "Ekonomitscheskaja Shisn" vom 2. Februar 1927. 
15)  Siehe "Ekonomitscheskaja Shisn" vom i. Oktober 1925. 

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Jes Privathandels kann jetzt als faktisch vollendet betrachtet werden. — Die Monopolstellung der Genossenschaften ist durch das Wiedereintreten einer, nunmehr chronisch gewordenen Ernährungskrise, sowie durch die Wiedereinführung der Lebensmittelkarten (in Form von kooperativen "Bezugsbüchern") ungemein gestärkt worden.

Im Jahre 1930 äußerte sich Stalin in seiner maßgebenden Rede vor dem Plenum des XVI. Kommunistischen Kongresses über den Sowjet-Binnenhandel folgendermaßen. Es gelinge nämlich der Sowjetregierung nicht, den realen Arbeitslohn weiter zu steigern, und "die Schuld daran hätte der Bürokratismus unseres Versorgungsapparats überhaupt und der Bürokratismus unserer Konsum-Genossenschaften insbesondere. Laut den Angaben des Gosplan umfaßt der sozialisierte Sektor im Jahre 1929—1930 im Binnenhandel — 99ProzentdesGroßhandelsund89Pro-zent des Kleinhandels. Das bedeutet, daß die Kooperation den privaten Sektor niederschlägt und auf dem Gebiete des Handels zum Monopolisten wird. Das ist, selbstverständlich, gut. Schlecht ist aber, daß dieses Monopol in einer Reihe von Fällen den Konsumenten schadet. Es stellt sich nämlich heraus, daß die Konsum-Genossenschaften, unbeachtet ihrer monopolistischen Lage auf dem Gebiete des Handels, es vorziehen die Arbeiter mit mehr »einträglicher' Ware zu versorgen, die ihnen mehr Gewinn bringt (Textilware usw.) und es meiden, die Arbeiter mit weniger »einträglicher' Ware, die der Arbeiter aber mehr braucht, zu versorgen (Produkte der Landwirtschaft). Darum sind die Arbeiter genötigt, bis 25 Prozent ihres Bedarfes an landwirtschaftlichen Produkten auf dem Privatmarkte zu decken und höhere Preise zu bezahlen . . . Und so kommt es, daß die Kooperation in diesem Falle nicht als ein Teil des sozialistischen Sektors handelt, sondern als ein eigentümlicher Sektor, der von einem gewissen ,nöpmännischen' Geiste vergiftet ist. Es fragt sich nur, was nützt so eine Kooperation und welchen Vorteil haben die Arbeiter von ihrem Monopol, wenn sie die Aufgabe einer wirklichen Steigerung des reellen Arbeitslohnes nicht löst."15a)

Dieser Bericht ist so klar und erschöpfend, daß er keiner Kommentare bedarf.15b

15a)  "Prawda", 1930, 29. Juni, Abschnitt 6, Seite 3. Der Sperrdruck stammt vom Verfasser.
15b)  Vgl. die Aufsätze "Kommunismus als Beamtenherrschaft" und "Die Lage der Arbeiter" im vorliegenden Sammelwerke.

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Um die oben angeführten Urteile führender russischer Kommunisten über die wesentlichen Merkmale des sowjet-russischen Kooperativwesens durch eine "Stimme aus dem Volke" zu ergänzen, sei noch folgende Schilderung des kommunistischen Kooperativwesens, die von einem Arbeiter der "Proletarierwerke" in Leningrad stammt, angeführt. Naoh seiner Formulierung sind folgende Charakterzüge 'für die Praxis der kommunistischen Kooperative in der Sowjetunion bezeichnend:

"Eigenmächtige Preisaufschläge bis zu 30 Prozent auf die gangbarsten Waren; Verkauf von verfaulten Heringen, die beim Privathändler gekauft werden; Uebervorteilung der Kunden durch falsche Gewichte; Fehlen eines ausreichenden Sortiments der verkäuflichen Waren; schlechte Qualität des Brotes . . ."")

Daß nach Ansicht führender kommunistischer Kreise die allgemeine Lage in bezug auf den "Dienst am Kunden", den der neue Staatshandelsapparat gewährleisten sollte, auch jetzt (1929/30) als höchst unbefriedigend bezeichnet werden muß, und daß dieser Apparat es nicht vermocht hat, die durch die Zerstörung des Privathandels geschaffene Lücke auszufüllen, geht aus folgender zusammenfassenden Darstellung des führenden Moskauer Wirtschaftsblattes hervor:

"Es muß mit aller Entschiedenheit gesagt werden, daß die in dieser Beziehung geschaffene Lage (Verteilung der Produkte unter der Bevölkerung) keinesfalls als befriedigend anerkannt werden kann. Im Gegenteil, zahlreiche Tatsachen bekunden, daß die Verhältnisse auf diesem Gebiet äußerst unbefriedigend sind. Die Einkaufs- und Verteilungsorganisationen haben es noch nicht gelernt, ihre Arbeit in Einklang mit den Bedürfnissen und Interessen der Konsumenten zu bringen. Immer noch erhält die Bevölkerung Waren von schlechter Qualität und zu übermäßig hohen Preisen. Das Netz der staatlichen und kooperativen Läden ist sehr schlecht darauf eingerichtet, den Interessen des Konsumenten zu dienen. Der aus seinen Stellungen verdrängte Privathändler wird durchaus nicht immer genügend und rechtzeitig durch die Kooperative ersetzt. Sehr oft stoßen wir auf kooperative Wüsten' " (d. h. Gebiete, die nach dem Verschwinden des Privathändlers auch

16) Siehe "Ekonomitscheskaja Shisn" vom 2. Februar 1927". In den Jahren 1929-1930 häufen sich die Klagen über die zunehmende Verschlechterung des von den genossenschaftlichen "Brotfabriken" hergestellten Brotes. So z. B. aus dem Donetzrevier: "Die unzulässig schlechte Qualität des Brotes bleibt immer noch auf der Tagesordnung. Im letzten Monat haben nicht weniger als zehn Kommissionen das Revier besucht. Alle haben neue Methoden für das Brotbacken ausgearbeitet, aber nichts hat sich geändert. Wie früher erhalten die Arbeiter ein saures, nasses Brot." (Ekonomitscheskaja Shisn" vom < 17. Mai 1929.) Vgl. im "Trud", 1930, 5. September, Bericht über Brot mit Nägeln, Abfällen, Sohlenleder und Steinen; usw. vom Genossenschaftsapparat nicht bedient werden. Der Verf). 

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Die Bedienung der Kunden durch die genossenschaftlichen Verkaufsstellen ist entsetzlich schlecht. Das <Schlangenstehen> vor den Geschäften zeugt von der Trägheit der Kooperative im Dienst am Kunden. Es müssen auch solche Waren <erstanden> werden, an denen durchaus kein Mangel herrscht.....

Aus Rostow am Don wird berichtet, daß die Bedienung der Konsumenten durch die Kooperative sich in der letzten Zeit zusehends verschlechtert hat. ... In einigen Verkaufsstellen ist das Salz gänzlich verschwunden — trotz riesiger Vorräte in den Zentrallagern."17)

 

Zusammenfassung

Diese, der Sowjetpresse und den Äußerungen führender Kommunisten entnommenen Schilderungen zusammenfassend, kann man sagen, daß der kommunistische Staatshandelsapparat sich durch folgende Merkmale auszeichnet:

1. die planmäßige geographische Verteilung der Konsumgüter nach besonderen zentralisierten "Versandplänen'' bietet keine Gewähr dafür, daß die Waren dorthin gelangen, wo sie verkauft werden können;

2. der Weg vom Produzenten zum Konsumenten ist nicht kürzer, sondern länger geworden; die Zahl der zu durchlaufenden Zwischenstufen hat sich bedeutend vergrößert;

3. die Handlungsunkosten des kommunistischen Handelsapparats übersteigen um ein vielfaches diejenigen des früheren Privathandels;

4. die gesamte Handelsorganisation, und insbesondere das kommunistische Kooperativwesen, zeichnet sich durch eine entschiedene Verschlechterung des "Dienstes am Kunden" aus, sowohl in quantitativer, wie in qualitativer Hinsicht.

 

   Das zweite Experiment   

Die hier kurz umrissenen Vorgänge bedeuten aber viel mehr als den formalen Sieg des qualitativ minderwertigen, aber, durch seine Monopolstellung geschützten kommunistischen Handelsapparats. Die Entwicklung, die mit der Aufhebung der "NÖP" einsetzte, reicht viel tiefer. Zwangsläufig kehrt der kommunistische Staat zum Experiment der Jahre 1918-1920 zurück. Es mehren sich die Anzeichen dafür, daß die Waren-Verteilung in Form des freien Kaufs und Verkaufs durch eine Verteilung in natura nach bestimmten Verbrauchsnormen ersetzt werden soll. Die Einführung von Karten in den Städten nicht nur für Lebensmittel, sondern auch für Textilwaren, Seife usw., und die im Jahre 1929 angefangene und im Jahre 1930 fortgesetzte Zwangskollektivierung der Bauernwirtschaften unter Anwendung "kriegskommunistischer" Methoden der Getreidekonfiskation18) — sind die Anfänge einer Entwicklung, deren tieferer Sinn darin liegt, daß das Experiment einer "Zusammenarbeit" der sozialisierten Wirtschaft und gewisser privatwirtschaftlicher Elemente zu Ende ist. 

Alle diese Erscheinungen weisen darauf hin, daß die Führer des Kommunismus die Zeit für gekommen halten, um nach der Atempause der "NÖP" einen "hundertprozentigen" Kommunismus einzuführen. Es ist nicht zufällig, daß die längst verstummten, aber aus den Jahren 1918-20 wohlbekannten Erörterungen über das "Absterben des Geldes" jetzt wieder auf der Tagesordnung stehen ... Der Kreislauf der "NÖP" ist abgeschlossen. Ein neues Kapitel im großen kommunistischen Experiment hat begonnen.

333-334

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17) Siehe "Ekonomitscheskaja Shisn" vom 6. September 1929. 
18) Siehe die Aufsätze "Das Schicksal des russischen Bauern", "Die wirtschaftliche Differenzierung der Bauernklasse" und "Die deutschen Kolonisten" im vorliegenden Sammelwerke.

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