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2.5  Die Industrie Sowjetrußlands    Von Dr. A. Melkich 

 

I.  Die russische Industrie vor dem Kriege und 
ihre Beeinflussung durch Krieg, Revolution und "Kriegskommunismus"

 

 

   Aufschwung der russischen Vorkriegsindustrie  

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In den letzten Jahren vor dem Weltkrieg erlebte Rußland einen großartigen Wirtschaftsaufschwung. Die vier reichen Ernten der Jahre 1909, 1910, 1912 und 1913 ermöglichten es, für das Jahrfünft 1909-1913 einen die Ausfuhr des vorhergehenden Jahrfünfts 1904-1909 um 826,2 Millionen Pud übersteigenden Getreideexport zu erzielen, und erbrachten dafür einen um 1075,6 Millionen Rubel höheren Gewinn. Die ganze russische Volkswirtschaft erhielt dadurch eine entscheidende, segensreiche Förderung und bekam einen festen Grund für die industrielle Entwicklung des Reiches. Dank dem Überfluß und der Billigkeit des nach Investierung suchenden Geldes im Lande konnte der industrielle Aufbau bereits des ausländischen Kapitals entraten.

Dadurch unterschied sich der Vorkriegsaufbau von dem industriellen Aufschwung der 1890er Jahre, der fast ausschließlich durch den Zustrom von Auslands­kapital erzeugt worden war. Nach der Berechnung eines hochkompetenten Bankmannes (H. Eppstein) stiegen die Betriebsmittel der russischen Volkswirtschaft im Zeitraum von 1909 bis 1913 um den Betrag von 2.238 Millionen Rubel. Um die Bedeutung dieses gewaltigen Zustromes von Kapital in die russische Volkswirtschaft nach Gebühr einzuschätzen, genügt es, auf Grund des Hinweises desselben Bank- und Finanzsachverständigen festzustellen, daß 

"die kalifornischen und australischen Goldgruben, die seiner Zeit eine vollständige Umwälzung in der Weltwirtschaft hervorgerufen hatten, im Lauf von drei Jahren nach ihrer Entdeckung, und zwar von 1851 bis 1853, nur für 560 Millionen Rubel Gold ergaben, d.h. viermal weniger, als die Zunahme unserer Betriebskapitalien in den Jahren 1909-1912 betrug."1)

Die nächste Folge dieser außerordentlichen Kapitalvermehrung war ein ganz ungewöhnlicher Aufschwung des industriellen Aufbaus. Eine gewisse Vorstellung davon könnte der Vergleich der Gesamtzahl der 1910-1913 neu gegründeten Aktien­gesell­schaften mit der Gesamtzahl der gleichartigen Gesellschaften geben, die in den vorhergehenden Zeitabschnitten 1905-1909, 1900-1904 und 1895-1899, in Tätigkeit traten.

1)  Siehe Prof. S. Perwuschin, , <Die Wirtschaftskonjunktur>, S. 189 (russisch)  


Während in den fünf Jahren 1895-1899 insgesamt 862 oder jährlich annähernd 172 Gesellschaften gegründet wurden und die entsprechenden Gesamtzahlen der nächsten in Frage kommenden Lustren (1900-1904 und 1905 bis 1909) sich in den Ziffern 375 und 400 ausdrückten, wurden in den vier Jahren 1910-1913 712 neue Aktiengesellschaften oder im Jahresdurchschnitt ca. 178 gegründet.2)

Hand in Hand mit dem Aufbau neuer Industrieunternehmungen ging die technische Reorganisation der Betriebe: Erhöhung der Leistung der Kraftmaschinen, Ersatz der Dampfmaschinen, — dort, wo es angängig und wirtschaftlich vorteilhaft war, — durch Verbrennungsmotore oder Elektromotore, schnelle Verdrängung des Schweißverfahrens in der Eisenproduktion durch das Gußverfahren, des Bessemerstahls durch Martinstahl und dergleichen mehr. Dies alles bestätigt den technischen Fortschritt der russischen Industrie in den letzten Jahren vor dem Kriege. Was aber den quantitativen Nachweis ihrer Erfolge anbelangt, so wird er aus folgender kurzen, aber eindrucksvollen Tabelle ersichtlich.

Durchschnittliche Jahresausbeute und Produktion (in Millionen Pud):

von                Steinkohle  /  Eisenerz  / Roheisen /  Gußstahl
1901-1905      218,0 / 55,3 / 33,3 / 29,0
1906-1910     302,4  66,0  34,9  35,2
1911-1913     649,3  167,9  84,2  69,4

Die Textilindustrie war schließlich der einzige Zweig der industriellen Produktion, die einige Schwierigkeiten beim Absatz ihrer Erzeugnisse zu bekämpfen hatte, Schwierigkeiten, die sich besonders in der Periode 1911-1912 bemerkbar machten; aber diese Schwierigkeiten zeugten durchaus nicht von einer Erschöpfung der Kaufkraft, sondern von einer gewissen wirtschaftlichen Verschiebung innerhalb der ländlichen Bevölkerung. Im Zusammenhang mit der Bodenreform Stolypins und dem schon geschilderten Zuwachs an Kapital legte nämlich die russische Bauernschaft eine verstärkte Bautätigkeit an den Tag und verausgabte jeden Überschuss an Geldmitteln für die Anschaffung von Wirtschaftsinventar, wobei sie beim Einkauf reiner Konsumware in jeder Weise sparte.3) Dies alles bereitete zweifelsohne einen neuen, noch entschiedeneren Aufschwung der russischen Volkswirtschaft vor.

2)  Zusammenstellungen von Prof. S. Perwuschin (ebendaselbst), siehe auch die erläuternde Denkschrift des russischen Reichsfinanzministers zum Reichsbudgetentwurfe für das Jahr 1914, Teil II, ö. 51 (russisch).
3)  S. Perwuschin, ebendaselbst, S. 188, Anm. 2.

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    Einfluß des Krieges auf die russische Industrie  

Die ersten Kriegsjahre hielten den Verlauf dieses Prozesses nicht auf, änderten aber in radikaler Weise die ganze Entwicklungsrichtung der russischen Volkswirtschaft. Vor allen Dingen spielte in dieser Hinsicht der Kriegsbedarf des Staates eine große Rolle, der sich nicht nur auf die Erzeugnisse der Schwerindustrie, sondern auch auf Konsumgüter wie Textilien, Nahrungsmittel usw. erstreckte. Die Entstehung der ungeheueren Heere, die gegen Ende des Jahres 1916 eine zahlenmäßige Stärke von 14.290.000 Mann erreichten, erforderte eine gewaltige Menge von Bekleidung und Lebensmitteln.

Es genügt zu sagen, daß z.B. der jährliche Fleischverbrauch des Reichsheeres auf reichlich 4 Millionen Pud veranschlagt wurde, was mehr als 60 Prozent des gesamten Vorkriegsverbrauch an Fleisch in Rußland darstellte; daß die Staatsbestellungen an die Textilindustrie 70-80 Prozent ihrer Gesamtproduktion erfaßten, so daß für den Privatverbrauch nicht mehr als 20-30 Prozent übrig blieben. Bei der Zivilbevölkerung herrschte eine unbezweifelbare Neigung zur Erhöhung ihrer Nachfrage. Diese Tendenz wurde einerseits durch die Einstellung des Verkaufes alkoholischer Getränke, andererseits durch die Auszahlung der sogenannten "Pajki" (Unterstützungsgeld) an die Familien der zum Kriegsdienst Ausgehobenen gefördert.

Die Einstellung des Schnapsverkaufs hatte in jeder Beziehung einen segensreichen Einfluß auf die russische Volkswirtschaft, und zwar nicht so sehr deswegen, weil in den Händen der Bevölkerung so riesige Mittel erhalten blieben (diese Mittel wurden späterhin zu einem bedeutenden Teil durch verstärkte Ausgabe von Papiergeld und durch andere Maßnahmen vernichtet), als vielmehr deswegen, weil sie zur Erhöhung der Produktivität der Arbeit, zur Verringerung der Arbeitsversäumnisse, der Feuersbrünste, der Unglücksfälle usw. beitrug. Eine besonders wohltätige Wirkung übte diese Maßnahme auf den Wohlstand der ländlichen Bevölkerung aus. 

Aber eine noch größere Bedeutung hatte für diese die Auszahlung der soeben erwähnten "Pajki" an die Familien der Kriegsdienstpflichtigen. Nach den Berechnungen des Prof. S. A. Perwuschin hat die ländliche Bevölkerung im Lauf des Jahres 1914/15 (August bis Juni), — selbst bei Berücksichtigung des sinkenden Rubelkurses — gegen 270 Millionen Goldrubel auf diesem Wege erhalten. Die materiellen Hilfsquellen der Bauern stiegen auch bedeutend im Prozesse der Umlagerung des Volkseinkommens zwischen Stadt und Land zu Gunsten des letzteren: erstens infolge einer verhältnismäßig größeren Steigerung der Preise für landwirtschaftliche Produkte; zweitens infolge der zunehmenden Abgaben und der Geldemission, die sich mit ihrer Hauptlast auf die städtische Bevölkerung legten.4) 

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Im Zusammenhang mit der Konzentration bedeutender Geldmittel in den Händen der Landbevölkerung erhöhte sich auch bedeutend ihre Nachfrage nach allen möglichen industriellen Erzeugnissen. Besonders wichtig ist es jedoch, die steigende Nachfrage nach landwirtschaftlichen Maschinen, Vieh, und überhaupt nach allem, was auf diese oder jene Weise mit der Verbesserung der Bodenbewirtschaftung zusammenhängt, hervorzuheben. Dank diesen Umständen boten die ersten Kriegsjahre anscheinend keinen Grund, tiefgreifende zerstörende Folgen des Krieges zu befürchten. Jedoch machten sich auch schon beunruhigende Vorzeichen eines kommenden Zerfalls des wirtschaftlichen Organismus des Landes geltend. 

Im weiteren Verlauf des Krieges verwandelten sich diese zuerst wenig bemerkbaren Schwierigkeiten in bedrohliche Faktoren, die sich, in ihrer Gesamtheit, nicht nur für die russische Industrie, sondern auch für den ganzen Staatsorganismus als verhängnisvoll erwiesen. Unter diesen Hemmungen ist es die jähe Verminderung der Arbeitshände, die als Folge der Mobilisationen, hauptsächlich der Mobilisation des Jahres 1916, eintrat, auf die wir die Aufmerksamkeit des Lesers besonders lenken müssen; desgleichen aber auch das Sinken der Produktivität der Arbeit infolge des qualitativ geringeren Arbeiterbestandes, des Ersatzes der Männer durch weibliche Arbeitskräfte, des Niederganges der Disziplin und einer Reihe anderer Umstände, unter denen auch die politische Agitation keine geringfügige Rolle spielte.

 

Eingriff der Regierung

Bei der Beurteilung der Verhältnisse, unter denen Rußlands Industrie zur Kriegszeit arbeitete, muß auch noch ein Faktor hervorgehoben werden — das waren die weitgehenden Eingriffe der Regierung in das wirtschaftliche Leben des Landes überhaupt und insbesondere in das Leben der Industrie. Die Regulierung der Produktion, des Konsums und der Preise, eine Reihe von Beschränkungen der Unternehmer und anderer, am wirtschaftlichen Leben Beteiligter, der mit Rußland kriegführenden Mächten angehöriger Personen hatten den denkbar abträglichsten Einfluß auf das ganze Wirtschaftsleben des Reiches. Diese Maßnahmen bereiteten in hohem Grade den Boden für das System und die Politik in der Wirtschaftsverwaltung vor, die von der Sowjetregierung eingeführt und von ihr mit dem Namen "Kriegskommunismus" belegt wurden. Unter anderem kann mit Bestimmtheit gesagt werden, daß die Praxis, — für Unternehmungen, welche Staatsangehörigen der mit Rußland Krieg führenden Mächte gehörten, Regierungsinspektoren zu ernennen, — der kommunistischen Regierung in den ersten Monaten ihrer Existenz als Muster diente, um nunmehr aber durchweg für alle Unternehmungen und für alle von ihr nicht aufgehobenen Institute "Kommissare" zu ernennen.

4)  Prof. S. Perwuschin, ebendaselbst, S. 213-217

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Einfluß der Revolution und ihrer kommunistischen Vertiefung

Jedoch weder der Krieg an sich, noch die mißlungenen Regierungsmaßnahmen der Kriegszeit übten auf die Volkswirtschaft eine derartig vernichtende Wirkung aus, wie sie die Revolution und besonders ihre "Vertiefung" durch die Kommunisten, die sich bis zum Frühling 1921 hinzog, verursachte. Das Chaos, das, als Ergebnis der Besitzergreifung der Fabriken und Werke durch die Arbeiter, in der Industrie entstand — (die Besitzergreifung, die schon im Sommer 1917 begonnen hatte, wurde später von den Kommunisten unter dem Namen "Nationalisierung der Industrie" durch das Enteignungs-Dekret vom 28. Juni 1918 sanktioniert) — bezeugt kein anderer, als der Volkskommissar der Arbeit Schljapnikof.

Schon im November 1919 stellt er fest, daß

"die schwierige Lage, in der sich die russische Industrie befindet, vor allen Dingen durch die Disziplinlosigkeit und die fehlende Ordnung in den Betrieben verursacht worden sei. Die Betriebskomitees, die zur Wiederherstellung der Ordnung in den Fabriken errichtet worden sind, haben ihre Mission nicht erfüllt. Im Gegenteil beseitigten sie die letzten Reste der Disziplin und räumten außerdem mit dem Fabrikinventar auf."5)

Vergebens versuchte die Sowjetregierung, die Leitung der Unternehmungen in ihre Hände zu nehmen und die Produktion in Ordnung zu bringen. Weder die Auflösung der Betriebskomitees, noch die Militarisierung der Fabriken und Werke, noch auch verschiedene Maßnahmen zur Anspornung der Arbeiter zu produktivem Fleiß, ja, nicht einmal die Einführung der Arbeitsdienstpflicht (Dekret vom 5. Februar 1920) vermochten die Industrie zu retten. Die Verpflegungsschwierigkeiten, die sich nicht nur als Ergebnis des Bürgerkrieges und der Nationalisierung des Bodens und des Handels, sondern in noch höherem Maße als Folge des Fehlens von Fertigfabrikaten und der Entwertung des Geldes bemerkbar machten, — (einer Entwertung, der die Sowjetregierung bewußt zustrebte), — und die gleichzeitige Regulierung des Verkaufs der Lebensmittel, zeitigten die Flucht eines bedeutenden Teiles der Arbeiterschaft in die Dörfer — es ging ihnen um den freien, wohlfeilen Lebensunterhalt. Ein anderer Teil der Arbeiter zog es vor, "Sackträger" zu werden, d.h. er trieb, zuweilen unter Lebensgefahr, Lebensmittelschmuggel aus dem Dorf in die Stadt.

5) Siehe Ekonomitscheskaja Shisn vom 19. November 1919.

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Diejenigen Arbeiter aber, die aus verschiedenen Gründen in den Betrieben verblieben, benutzten fortwährend deren Ausrüstung und Materialien, um Gegenstände anzufertigen, die bei den Sowjeteinwohnern großen Absatz fanden, aber nichts mit der ursprünglichen Produktion der betreffenden Unternehmungen gemein hatten. So kam die Anfertigung von "Feuerzeugen" auf bedeutenden Metallwerken zu großer Entwicklung, die in Ermangelung von Streichhölzern immer eine gesicherte Nachfrage fanden. Aus allen diesen Gründen verblieben nach den Berechnungen von Sowjetsachkundigen in den Betrieben der erzeugenden und verarbeitenden Industrie Rußlands im Jahre 1921 im ganzen nur 1.152.200 Mann, anstatt der 3,024 Millionen, die man 1917 zählte. Nach Lenins eigenen Angaben produzierte die gesamte Industrie nicht über 6 Prozent des Vorkriegsquantums.

Mit diesen Zahlen erschöpfen sich jedoch die Ergebnisse der Sowjetherrschaft in jenem Zeitraum, dem in der Folge der Name "Periode des Kriegskommunismus" gegeben wurde, nicht. Besonders bezeichnend ist aber für die "nationalisierte" Sowjetindustrie dieser Periode, daß sie, als ausgesprochene und unzweifelhafte "Defizitwirtschaft", einen passiven Posten im Staatsbudget bildete und jahrelang (1919—1922) dieses Defizit "aus dem ihr (nach der Nationalisierung) übergegebenen Kapital deckte".7) Somit zerrte sie am geerbten Grundkapital der "bourgeoisen" Epoche und fristete ihr Leben aus der Quelle der geschmähten Vergangenheit. Das bezeugt auch einer der hervorragendsten Sowjetfinanzmänner, A. Storn. Es war eine Verlustwirtschaft, die dennoch "Einnahmen" zu verzeichnen hatte; es war eine sozialisierte Industrie, die ihr Defizit auf dem Papier in einen "aktiven Posten" des Staatsbudgets zu verwandeln verstand; wie hoch die Bedeutung dieser vermeintlichen Einnahmen für die Sowjetfinanzen war, ist schon daraus zu ersehen, daß z. B. im Staatsbudget für das Jahr 1919 "die Einnahmen vom WSNH. (Obersten Rat der Volkswirtschaft, dem die nationalisierte Industrie unterstellt war) und vom Narkomprod (dem Volkskommissar für Verpflegung) 68 Prozent der Aktiva des Budgets bildeten.8) Die Sowjetregierung nährte sich und existierte bis zur NÖP. hauptsächlich von den früher von der Bourgeoisie angehäuften Werten.

7) Siehe Em. Quiring, "Skizzen der industriellen Entwicklung der russischen Sowjetunion 1917—1918", S. 133 (russisch).
8) Ebenda, S. 134.

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 II.  Die Sowjetindustrie während der "NÖP" und ihre Organisation  

Nachdem die Sowjetregierung "im Ernst und auf längere Zeit die neue Wirtschaftspolitik" verkündet hatte, stellte sie ihr zur Hauptaufgabe, die russische Volkswirtschaft überhaupt und die russische Industrie insbesondere wieder aufzubauen. Der zum Wiederaufbau der Volkswirtschaft gewählte Weg war der einfachste und natürlichste. Es war der Weg der privat-wirtschaftlichen Selbständigkeit. Dieser Weg stellte natürlich keine Evolution der kommunistischen Theorie dar. Das war einfach ein eiliger Rückzug aus den wie es doch schien, vom Kommunismus eroberten Stellungen unter die Deckung bürgerlicher Prinzipien. 

Die Periode des "Kriegskommunismus" hatte eine volle und folgerichtige Verneinung jeglicher wirtschaftlichen Selbständigkeit und Selbstbetätigung gebracht. Sie baute sich auf dem Prinzip einer vollen und ausschließlichen Monopolisierung, einer zentralisierten Wirtschaft auf. Hier gab es keinen freien Markt; Absatz und Anschaffung wurden durch Versorgung und Verteilung nach Anordnungen und laut Order ersetzt. Der wirtschaftlichen Produktivität eines Betriebes wurde nicht im geringsten Rechnung getragen; das Staatsbudget (wenn hier von einem Budget überhaupt gesprochen werden darf) baute sich nach dem Prinzip der baren Ausgaben auf, und wurde zu seinem wesentlichen Teile, wie schon bemerkt, auf Kosten der früher angehäuften Substanz, im übrigen aber durch Enteignung der Bevölkerung — entweder im buchstäblichen Sinne des Wortes, oder auf dem Wege verstärkter Papiergeld-Emissionen — gedeckt. Die Losung "Raube das Geraubte", wie Lenin die marxistische "Expropriation der Expropriatoren" in eine für die Massen zugängliche Sprache übersetzt hatte, war tatsächlich das fundamentale Leitprinzip, der ersten, "heroische n", — wie man sie jetzt nennt, — Herrschaftsperiode der Sowjetmacht. Selbstverständlich wurde in dieser Periode jegliches Eigentum nach Bedarf als "Diebstahl" bezeichnet.

Die "neue Wirtschaftspolitik" der Jahre 1921-1923 wollte von diesen Methoden des Kriegskommunismus grundsätzlich abstehen. Die wirtschaftliche Selbständigkeit erschien damals den Führern des Proletariats als das einzige Mittel, das die Lage allenfalls noch retten konnte. Indem sie sich nur die sogenannten "Kommandohöhen" vorbehielten und diese behaupteten, räumten sie dem "privatwirtschaftlichen Element" eine bestimmte, begrenzte und überwachte Freiheit ein. Der echte Kommunist mußte jetzt nach Lenins Gebot den "Handel lernen". "Kapitalbildung" für den weiteren sozialistischen Aufbau — wurde zum Leitmotiv der Tätigkeit aller Sowjetbetriebe, die (mit Ausnahme einiger weniger Betriebe der Schwerindustrie) sich selbst überlassen wurden und schon infolge dieses Umstandes das unbezwingbare Bedürfnis empfanden, sich zum Zweck des Absatzes ihrer Produktion und der Selbstversorgung mit den nötigen Waren und Lebensmitteln — zu Gruppen zusammenzuschließen.

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Erst später nahm die Sowjetregierung Rücksicht auf diese eigenmächtige Selbstorganisierung der halbbefreiten Unternehmungen, und suchte allmählich ihr Dasein zu legalisieren und ihre Tätigkeit zu regulieren, anfangs jedoch in ganz allgemeinen und verschwommenen Linien. Die Verfügung des "Rats für Arbeit und Landesverteidigung (STO.)" vom 12. August 1921 "Über die Maßnahmen zum Wiederaufbau der Großindustrie und zur Förderung der Produktion" erkannte nur in der Form eines Leitprinzips an, daß "die größten, technisch ausgerüsteten, zweckmäßig organisierten und entsprechend gelegenen Betriebe einer Branche auf der Grundlage einer ertragswirtschaftlichen Rechnungsführung zu einer Sondervereinigung zusammengeschlossen werden dürfen". Und erst im September 1922 wurde in der Verordnung des W. S. N. H. "die Musterordnung für die Vereinigungen" veröffentlicht, wobei diesen Vereinigungen zum ersten Male die offizielle Bezeichnung "Trust" beigelegt wurde.

Zum Januar 1923 bestanden laut dem Quellenmaterial, das dem XII. Kongreß der Kommunistischen Partei vorgelegt wurde, im ganzen 459 Truste, die 4426 Betriebe mit 818 790 Arbeitern umfaßten, wobei in dieser Zahl die Vereinigungen der Steinkohlen- und Naphtaindustrie nicht mit einbegriffen waren. Bei Berücksichtigung der Zusammenschlüsse auch in diesen Industriezweigen erreichte die Anzahl der Truste 465 bis 470 mit einer Arbeiterzahl von über 1 Million Mann.8) Beinahe die Hälfte (47 Prozent) dieser Truste bestand aus ganz unbedeutenden Betrieben mit einer durchschnittlichen Arbeiterzahl von 38 Mann auf einen Betrieb und 221 Mann auf einen Trust. Die Betriebe schlössen sich ganz plan- und sinnlos zusammen, bildeten auf Schritt und Tritt Vereinigungen, weil sie, ihrem Schicksal überlassen, das Bedürfnis nach irgendeiner Leitung oder Beaufsichtigung fühlten und sie bei einzelnen, besonders energischen Vorständen dieses oder jenes Nachbarbetriebs zu finden hofften. Meist stellten sich dann auch diese Führerpersönlichkeiten an die Spitze der Organisationen. Da sich zu Beginn des Jahres 1923 schon fast die gesamte Industrie, sofern sie aus der kriegskommunistischen Zerstörung in leistungsfähigem Zustand hervorgegangen war, als vertrustet erwies, fand es die Sowjetregierung zeitgemäß, das Wesen der zur Teilnahme am Sowjetwirtschaftsleben zuzulassenden "Betriebsvereinigungen" zu bestimmen.

9) Siehe "Woprossy promyschlennosti i torgowli" — Quellen-material zum XII. Kongreß der Kommun. Partei.

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Dekret vom 10. April 1923

Mit dem Dekret vom 10. April 1923 "Über die staatlichen Industrie-Unternehmungen (Truste), die auf der Grundlage einer kommerziellen Berechnung ihre Tätigkeit ausüben" und dem dieses Dekret ergänzenden vom 17. Juni desselben Jahres "über die Truste mit lokaler Bedeutung", wurden die Truste definiert als: "staatliche Industrieunternehmungen, denen der Staat Selbständigkeit in der Durchführung ihrer Operationen gemäß den jeweilig bestätigten Satzungen gewährt, und die auf der Grundlage einer ertragswirtschaftlichen Berechnung zwecks Erzielung eines Gewinnes wirken".

Auf diese Weise mußten die sogenannten "Truste" zu einer eigenartigen Verwaltungsform der verstaatlichten Industrie werden, in der sich die Prinzipien der Staatssouveränität absonderlich mit den Grundlagen der privatwirtschaftlichen Betätigung vermengten. 'Es waren grundsätzlich Staatsbehörden; dementsprechend standen an ihren Spitzen lauter prominente Kommunisten, die dem kommunistischen Programm huldigten und dem Zentral-Komitee, sowie dem Politbüro unterordnet blieben. Diesen kommunistischen Behörden war nicht nur das Recht zugestanden, sondern auch die Pflicht auferlegt — alle Möglichkeiten und Vorteile eines privaten Unternehmers und Händlers auszunutzen. Eine spätere Verordnung Pjatakoffs, des Vorsitzenden des W. S. N. H.,10) die eine große Verwirrung in den Reihen der Kommunistischen Partei selbst hervorrief und eine lebhafte Diskussion nach sich zog, erläuterte mit aller Bestimmtheit: "Als Grundprinzip der Verwaltung wird der Gewinn der Wirtschafts-Einheit, d. h. des Trustes angenommen, und unter diesem Gesichtspunkt der Gewinnerzielung wird die ganze Tätigkeit des Trusts geleitet und die Tätigkeit der Trustverwaltung bewertet."

 

Die Resultate der ersten Jahre der NÖP

Die Möglichkeit einer Gewinnerzielung bei kaufmännischen Umsätzen auf einem freien und während der Periode des Kriegskommunismus ausgehungerten Markte — erwies sich als ein so mächtiger Ansporn zur Entwicklung der Tätigkeit der industriellen Sowjetbetriebe, daß es schon in der kürzesten Zeit gelang, die Produktion der Industrie bedeutend zu heben. Aber dieser Erfolg wurde teuer erkauft. Infolge der geringen Produktivität der Arbeit, der hohen Organisations- und Vertriebskosten stellte sich der Selbstkostenpreis der Industrieerzeugnisse dermaßen hoch, daß sich der Markt weigerte, die auf dieser Basis berechneten Verkaufspreise zu bezahlen. Um flüssige Mittel zu gewinnen, mußten die Sowjetbetriebe ihre Produktion unter dem Selbstkostenpreis absetzen. Das führte nur zu einer weiteren "Vertrödelung" der Rohstoffe.

10) Siehe A. Ginsburg-Naumold, "Gesetzgebung über Truste, Syndikate und Organe der Industrieregulierung", S. 3, Befehl vom 16. Juni 1923 (russisch).

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Nach den Berechnungen eines Fachblattes") beliefen sich im Jahre 1921 die Betriebsmittel der Industrie auf 500 Millionen Goldrubel; im zweiten Jahre der NÖP. ging diese Summe bis auf 250 Millionen Goldrubel zurück. Der derzeitige Vorsitzende des Rates der Volkskommissare, Rykof, schilderte die Tragik der Lage, die sich als Ergebnis des ersten Jahres der NÖP. herausgebildet hatte, folgendermaßen:12) "Wenn man die Frage stellt, auf wessen Rechnung die Produktion während der ,neuen Wirtschaftspolitik' erhöht worden sei, so bestätigen hier alle Nachforschungen auf dem Gebiete unserer Industrie, alle Angaben der verschiedensten Quellen die Schlußfolgerung, daß die Erhöhung der Produktion auf Kosten einer weiteren Erschöpfnug unserer wirtschaftlichen Ressourcen und unseres Grundkapitals erfolgt ist."

Aber die "Vertrödelung" der Rohstoffe und die Verschleuderung des Grundkapitals waren dabei nicht die einzigen Umstände, die die Aufgabe des Wiederaufbaus der Industrie erschwerten. Noch beunruhigendere und, vom Standpunkt der Leiter der Sowjet-Wirtschaftspolitik, bedrohlichere Momente traten im wirtschaftlichen Leben des Landes hervor. Das Steigen der Preise für Industrieerzeugnisse und das Sinken der Preise für landwirtschaftliche Produkte (die sogenannte "Schere") schmälerten außerordentlich das Fassungsvermögen des ländlichen Marktes und bedrohten den Geldumlauf und die Währung. Im Zusammenhang mit der Verteuerung der Erzeugnisse der Sowjetindustrie machte die bäuerliche Hausindustrie in einigen Gebieten derartig große Fortschritte, daß die Sowjetindustrie mit ihr nicht mehr zu konkurrieren vermochte. Schließlich begann die Tätigkeit der privaten Industrieunternehmer und der privaten Handelsvermittler, die wesentlich wohlfeiler als die staatlichen Sowjetorganisationen zu arbeiten wußten, einen solchen Umfang anzunehmen, daß die Sowjetregierung ungeachtet ihrer Beherrschung der "Kommandohöhen" die ihr drohende Gefahr einsah, vom "privatwirtschaftlichen Element überschwemmt zu werden".

Unter dem Eindruck aller dieser Umstände unternahm die Sowjetregierung aufs neue den Versuch, die Leitung des gesamten Wirtschaftslebens des Landes zu übernehmen und zwar hauptsächlich auf dem Wege über die industrielle Produktion. Schon das Dekret vom 10. April 1923, das die Rechtsfähigkeit der Sowjettruste festlegte und ihre Tätigkeit bis zu einem gewissen Grade reglementierte, hatte ihre Selbständigkeit einigermaßen beschränkt. Die auf Grund des Erlasses vorgenom-

11)  Ekonomitscheskaja Shisn, Nr. 251, 1922.      12) Ekonomitscheskaja Shisn, Nr. 221, 1922.

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mene Revision der Sowjettruste in Zusammenhang mit ihrer Einteilung in Truste der Allunion, in Truste der "Föderativen Republiken", in Gebiets- und Bezirks-Truste verstärkte außerordentlich die Macht des Obersten Volkswirtschaftsrats, be- I sonders deswegen, weil die juridische Anerkennung der Truste, d. h. die Bestätigung ihrer Satzungen durch den "Rat für Arbeit und Landesverteidigung" (für die Truste der Allunion) und folglich die Gewährung der weiteren Tätigkeit nur nach einem Gutachten des Obersten Volkswirtschaftsrats erfolgen konnte.

 

Syndikate und Konventionen

Von besonderer Bedeutung war aber das Bestreben der Sowjetregierung, die Industrie und hauptsächlich die wirtschaftlichen Verbände der Staatsindustrie wieder ihrer Leitung unterzuordnen — in der Preispolitik und der Organisation des Absatzes. Ohne sich auf die Einsetzung einer "Kommission für Binnenhandel" (Dekret vom 17. Juni 1923) zu beschränken, der das Recht der Preisfestsetzung und sogar der zwangsweisen Verteilung eines Teils der Trustproduktion zugestanden wurde und die späterhin den Namen "Birmenhandelskommissariat" erhielt, unternahm es die Sowjetregierung, die kaufmännische Tätigkeit der Truste durch Bildung von Syndikaten, oder durch Abschlüsse von Syndikatsverträgen (Konventionen) zwischen ihnen, zu vereinheitlichen.

Offiziell wurden diese Syndikate und Konventionen für durchaus freiwillige Vereinigungen und Vereinbarungen der Truste unter sich, zwecks Beseitigung einer ungesunden Konkurrenz, ausgegeben. Aber ihrem Wesen nach waren sie von vornherein Zwangsvereinigungen,13) die den Zweck hatten, nicht nur den Handel der Truste entsprechend den Absichten der Sowjetregierung zu regeln, sondern auch ihre Produktion selbst zu beeinflussen. Letzteres wurde durch die Art der Beschaffung der erforderlichen Rohstoffe und Materialien für die Truste, durch Festsetzung des allgemeinen Umfanges der betreffenden Produktion und durch Anpassung der Produktionsprogramme an die Marktforderungen erreicht.

 

General- und Typenabkommen und das System der Vorausbestellungen

Die Anforderungen des Marktes wurden übrigens im August 1925 auf Grund einer Vereinbarung zwischen dem W.S.N.H. der U.S.S.R. (Oberster Wirtschaftsrat) und dem Zentrosojus (Zentral-Genossenschafts-Verband) nach dem System der General- und Typenabkommen ersetzt, die von den einzelnen Syndikaten und den stärksten Monopoltrusten (z.B. dem Gummitrust oder dem Zuckertrust) mit den zentralen Konsumgenossenschaften, den Verbrauchern und Abnehmern von Industriewaren, getroffen wurden. Als Weiterentwicklung dieses Systems erschien das System der "Vorausbestellungen", zu dem am 1. Januar 1928 erst die Textilindustrie und nach ihr auch die übrigen Branchen übergingen. 

13)  Siehe Prof. A. Wenediktof, "Die rechtliche Natur der Staatsunternehmen", Nachrichten der Ökonomischen Fakultät des Leningrader polytechnischen Instituts, Leningrad, 1928, S. 33.

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Gosplan

Diese Maßnahmen, welche die Sowjettruste volltändig der Leitung der Zentralorgane unterstellten und die Möglichkeit ihrer unmittelbaren Fühlungnahme mit dem Markt fast ausschalteten, wurden durch die Verstärkung der Bedeutung und die intensivere Betätigung der Gosplan (der Staatlichen Planierungskommission) gekrönt, die schon im März 1921 mit der bescheidenen Aufgabe konstituiert worden war, dem Parallelismus und der Unstimmigkeit" zu steuern, und hierauf den Auftrag erhielt, einen "einheitlichen gesamtstaatlichen Volkswirtschaftsplan" auszuarbeiten.

 

Erlaß über die Truste vom 29. Juni 1927

So gelangte die NÖP, die von der wirtschaftlichen Selbständigkeit der Industrieunternehmungen ausgegangen war und die Zentralisation ihrer Verwaltung ("Glawkismus") entschieden verurteilte, schließlich wieder bei der Verneinung dieser Selbständigkeit und bei der Wiederaufrichtung des Zentralismus a n. In dem Erlaß über die Staatlichen Industrietruste vom 29. Juni 1927,14) der an die Stelle des ursprünglichen "Reglements über die Truste" vom 30. Juni 1923 trat, kam ihre Abhängigkeit von den Zentralorganen in völlig eindeutiger Weise zum Ausdruck, und zwar in der Bestimmung, daß die Truste sich "unter der Leitung einer in den Satzungen angegebenen Staatsbehörde" befinden und sich "in Übereinstimmung mit den von der genannten Behörde bestätigten Planaufgaben betätigen" (P. 2). Und nicht wir, sondern ein im ganzen sehr objektiver Sowjetforscher fällte das vorsichtige Urteil, daß ■— "beim Trust unserer Tage • . . nicht die wirtschaftliche und rechtliche Selbständigkeit einer am privatwirtschaftlichen Verkehr beteiligten Organisation, sondern die staatliche Natur eines Organs in den Vordergrund tritt, das Planaufgaben des Staates ausführt".16) 

Die Selbständigkeit der Geschäftsführung, die den Trusten in der oben angeführten Bestimmung vom 29. Juni 1927 (P. 2) zugebilligt ist, bleibt, angesichts der planwirtschaftlichen Leitung m allen Zweigen des Wirtschaftslebens und der behördlichen Preis- und Marktregelung, selbstverständlich nur ein leeres Wort. Ein ebenso leeres Wort ist auch die in vielen Punkten des Erlasses verkündete Selbständigkeit der Direktoren in der Verwaltung der ihnen unterstellten Betriebe und Werke. Dennoch war diese "Selbständigkeit" innerhalb der Kommunistischen Partei selbst lange Zeit hart umkämpft.

14)  Siehe die "Sammlung der Gesetze und Verfügungen", SSSR., JNr. 39, vom 13. Juli 1927.
15)  Prof. A. Wenediktof, ebendaselbst, S. 38.

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Wiederaufbau der Industrie  

Dabei blieb jedoch der Prozeß der neuen Zentralisation in der Verwaltung der Industrie nicht stehen. Indem die Sowjetregierung feststellt, daß die Syndizierung die Truste nach und nach der Funktionen, derentwegen sie geschaffen worden waren, beraubt, und sie nunmehr schon fast ganz unnötig und überflüssig gemacht hat, — plant sie bereits die Uebergabe der ganzen Industrieverwaltung an die Syndikate. Damit werden diese nur als Abwandlungen jener "Glawki" (Hauptverwaltungen der einzelnen Industriebranchen) erscheinen, — und tun es bereits — von denen, beim Aufkommen der NÖP, selbst die Kommunisten mit geringschätzigem Lächeln sprachen. Das bestätigt auch das Organ der Berliner Handelsvertretung.18)

"Die Monopolisierung der Versorgung und des Absatzes der wichtigsten Industriezweige brachte die Syndikate in unmittelbare Berührung mit den Nöten und Bedürfnissen der Industrie und gestattete ihnen, die realen Entwicklungsmöglichkeiten der Industrie richtig einzuschätzen. Auf diese Weise eroberten die Syndikate Stück für Stück jene Funktionen, die den Hauptkomitees innerhalb des Obersten Volkswirtschaftsrates (Glawki) zugedacht waren, welche aber diese Haupt-komitees, die nicht genügend mit dem Wirtschaftsleben der Industrie verknüpft waren, nur unvollkommen erfüllen konnten."

Als natürliche Folge dieser Zentralisation zeigt sich selbstverständlich eine Verstärkung des Einflusses der erschreckend ungebildeten Sowjetbürokraten und des Sowjetbürokratismus, unter deren Führung nach dem Zeugnis des Leiters der Bauern- und Arbeiterinspektion, Ordschonikidse, "das Papier für das Allrettungsmittel gehalten wird" und die "Arbeit" in solche Seltsamkeiten ausartet, daß "der Mensch mit sich selbst einen Briefwechsel unterhält", die Unternehmungen aber genötigt sind, spezielles Personal zu beschäftigen, um sich von allen Forderungen, Enqueten, Anfragen und anderen an sie gerichteten Zuschriften "loslügen zu können.17)

16) Siehe Artikel "Organisation der Industrieverwaltung'' von R. Anders — "Die Volkswirtschaft der Union der sozialistischen Sowjet-Republiken", Nr. 17/18, 1929, S. 21. 
17) Siehe "Ekonomitscheskaja Shisn", Nr. 290 vom 15. XII. 1926. Siehe den Aufsatz "Kommunismus als Beamtenherrschaft" im vorliegenden Sammelwerke.

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III.  Die Ergebnisse der Sowjetherrschaft in der Industrie  

 

Der Bürokratismus und seine Folgen  

Die Grundaufgabe, die sich die Sowjetregierung bei der Ankündigung der NÖP gestellt hatte, war die Wiederherstellung der zerstörten Volkswirtschaft. Bei der Verwirklichung des sozialistischen Aufbaus aber maß sie der Wiederaufrichtung der Industrie eine besondere Bedeutung bei, denn nach der Ansicht der Sowjettheoretiker "schreitet die Industrie an der Spitze der Entwicklung der Produktionskräfte - die Industrie bewegt, treibt die Produktions-Entwicklung aller Wirtschaftszweige an".18) 

Sehen wir einmal zu, inwieweit ihr das gelungen ist. Vorerst müssen wir jedoch feststellen, was unter dem Wort "Wiederaufbau" zu verstehen ist. Wir nehmen an, daß ein Wiederaufbau der Industrie dann stattfindet, wenn nicht nur die Quantität und Qualität der Produktion wieder erreicht, sondern auch der ganze Produktionsapparat auf so eine Höhe gebracht wird, daß der Herstellungspreis einigermaßen dem früheren Stande entspricht (wobei natürlich einer Änderung des Geldwertes und der Rohstoffkosten Rechnung zu tragen ist).

 

Die Quantitätsindikatoren

Nehmen wir vor allem die Quantität der Warenerzeugung als Merkmal der Wiederherstellung der Industrie, mit dem die Leiter der Sowjetwirtschaft gewöhnlich operieren. Sie behaupten, daß der "Wiederaufbau p r o z e ß" in der Industrie schon in den Jahren 1925/2619) abgeschlossen war, und daß von der Zeit an ein "U m b a u -prozeß" begonnen habe, der es der Sowjetwirtschaft gestatten werde, die an der Spitze marschierenden kapitalistischen Staaten in ihrer Entwicklung nicht nur einzuholen, sondern sogar zu überholen.20)

Die Behauptung, daß die Sowjetindustrie den Vorkriegsstand schon in den Jahren 1925/26 erreicht habe, ist unrichtig; um sich davon zu überzeugen, genügt es, die Tabellen zu überfliegen, die in den "Kontrollzahlen der Volkswirtschaft der USSR." für die Jahre 1926/27 (Seite 320) angeführt werden, und aus denen ersichtlich ist, daß fast kein einziger Industriezweig den Stand des Jahres 1913 erreicht hatte.

Dies bedarf keiner weiteren Beweise. Nun behauptet aber die Sowjetstatistik, daß die "umgebaute" kommunistische Industrie gegenwärtig in vielen (wenn auch nicht in allen) Zweigen den damaligen Stand weit überschritten hätte. So hatte z. B. die Ausbeute an Steinkohle, die im Jahre 1913 — 29 055 000 Tonnen betragen hatte, im Wirtschaftsjahr 1927-1928 rund 36.300.000 Tonnen, im Jahre 1928-1929 — rund 39.658.000 To.

 

18) Aufsatz von A. Eichenwald: "Sowjetökonomik, Oekono-nük und ökonomische Politik der USSR.", mit einem Vorwort von N. Bucharin, 1927, Seite 38 (russ.).
19) Siehe ebenda, Seite 52.
20) Siehe W. A. Basarow "Ueber die Methodologie beim Entwerfen von Perspektivplänen", "Planowoie Chosjajstwo" (Planwirtschaft), Nr. 7, Juli 1926.

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und im letzten Wirtschaftsjahr 1929—1930 gar 46 651 000 To. Die Naphtaausbeute betrug im Jahre 1913 rund 9194 000 To und wäre im Jahre 1928—1929 auf 13 547 000 To., und im Jahre 1929—1930 auf 17 066 000 To. gestiegen. Die Produktion von Baumwollgeweben betrug im Jahre 1913 rund 2 238 000 Meter und hätte im Jahre 1928—1929 rund 2 826 000 Meter und im Jahre 1929—1930 rund 2 353 000 Meter erreicht.21) Andererseits hätte aber die Ausbeute an Eisenerz und die Erzeugung von Gußeisen erst 1929—1930 den Vorkriegsstand (1913) knapp erreicht.22)

Inwieweit jedoch diese Statistik glaubwürdig ist, und mit welcher Vorsicht man sich auf sie beziehen darf, zeigt der Umstand, daß die Produktions- und Ausbeutezahlen für dieselben Jahre in den Veröffentlichungen ein und derselben Behörde verschieden angegeben werden. So ist z. B. die Naphtaausbeute in den Jahren 1925/26 in den "Kontrollzahlen" des Gosplans für 1926/27 mit 8 290 000 Tonnen und in denselben "Kontrollzahlen" für 1928/29 mit 8 486 000 Tonnen angegeben; die Eisenerzausbeute in den "Kontrollzahlen" ist für 1926/27 mit 3 513 000 Tonnen und in den "Kontrollzahlen" für 1928/29 mit 3 317 000 Tonnen berechnet usw. Nicht genug damit, — selbst die Zahlen des Jahres 1913, mit denen die jetzige Produktion verglichen wird, sind von den Sowjetstatistikern anscheinend bei weitem nicht einwandfrei für Rußland in seinen derzeitigen Grenzen berechnet worden, was der bekannte Sowjetstatistiker Groman zugegeben hat, der jetzt im Zusammenhang mit der Einordnung der Sowjetstatistik in den "Gosplan" seines Amtes enthoben worden und verhaftet ist.23) Doch die Hauptsache ist, daß die Zahlen des Jahres 1913 keineswegs kennzeichnend für sehr viele Industriezweige sind, die ein besonderes Wachstum und einen besonderen Aufschwung erst in den Kriegsjahren erfuhren. Weisen wir z. B. auf die Naphtaausbeute hin, die ihr Maximum im Jahre 1916 (9,9 Mill. Tonnen) erreichte, auf den Verbrauch (Verarbeitung) von Baumwolle, der im Jahre 1916 um 4,3 Mill. Pud (70 400 To.)

 

21) Die Zahlen für 1913 sind den "Kontrollzahlen der Volkswirtschaft der U. S.S.R." für 1926—1927, S. 320, entnommen. Die Zahlen für 1927—1928 finden wir in der gleichen Zusammenstellung für das Jahr 1928—1929, S. 466. Die Zahlen für 1928—1929 und für 1929—1930 sind dem Aufsatz F. Pusanoffs "Rabota promyschlennosti wo wtorom godu pjatiletki po predwaritelnym dannym" etc. in der Zeitung "Sa industrialisaziju", 1930, 1. Oktober entnommen.
22) Ausbeute von Eisenerz 1913 — rund 9 230 000 Tonnen; im Jahre 1927—1928 nur rund 5 826 000 Tonnen: im Jahre 1928—1929 rund 7100 000 Tonnen (erwartete Ausbeute) und 1929—1930 rund 10 700 000 Tonnen. (Voranschlag der "Kontrollzahlen", S. 432—433.)
23) Siehe A. Jugof "Die Volkswirtschaft Sowjetrußlands und ihre Probleme", Seite 23 (russ.).

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den Verbrauch des Jahres 1915 übertraf.24) Ferner wurde eine ganze Reihe von Betrieben in Rußland erst durch die Verhältnisse und Bedürfnisse des Krieges geschaffen; dazu gehört die Fabrikation von Farben höherer Qualität, die Verarbeitung von Kokereinebenprodukten, die Herstellung einer ganzen Anzahl von chemischen Erzeugnissen, elektrotechnischen Geräten, medizinischen Instrumenten und einer Reihe anderer Erzeugnisse, deren Entwicklung die Sowjetführer oftmals sich als ihr Verdienst anrechnen.

So veranlassen denn die vorgebrachten Erwägungen, mit äußerster Vorsicht an die statistischen Angaben heranzutreten, welche von der Sowjetregierung veröffentlicht werden, und die Erfolge der Sowjetindustrie schildern sollen, um so mehr, als die kürzlich durchgeführte Reform der Sowjet-Statistik zu den Maßnahmen gehörte, die in Verbindung mit der Aus-merzung des Zentral-Statistischen Amtes (Z. S. U.) als selbständiger Behörde und seiner Eingliederung in den Bestand des "Gosplan" zur Durchführung gelangten. Danach wird man mit noch größerem Mißtrauen als bisher allen von der Sowjetmacht veröffentlichten Angaben gegenübertreten müssen. Aber selbst, wenn wir von der nötigen Vorsicht absehen, so werden die quantitativen Fortschritte der Sowjetwirtschaft denjenigen gar nicht überraschen, der sie mit der industriellen Entwicklung (und dabei nicht nur in quantitativer Hinsicht) des früheren, bürgerlichen Rußlands vergleichen wollte; möge er nur noch bei einem solchen Vergleich berücksichtigen, daß das frühere Rußland neu schaffen mußte und nicht wiederherstellen, und daß die Sowjets beim Wiederaufbau größtenteils früher angesammeltes Kapital (Gebäude, Maschinen usw.) benutzen konnten.

 

Die Qualität der Produkte

Die Erfolge der Sowjetindustrie in quantitativer Hinsicht verlieren übrigens jede Bedeutung, sobald man an die Frage vom Standpunkt der Qualität herantritt. Ihre Bedeutung wird vor allem durch das außerordentliche Sinken der Qualität der Erzeugnisse aufgehoben, was häufig ganz bewußt zugelassen wird (z. B. die Lichtung der Gewebe). Die Sowjetpresse ist gewöhnlich mit Hinweisen und Klagen über die abscheuliche Qualität der Erzeugnisse der gegenwärtigen Sowjetindustrie überfüllt. "Uns richten nicht die Steuern und nicht die Maschinenpreise zugrunde, sondern die Qualität der Fabrikerzeugnisse", schreibt ein Dorfkorrespondent an die Zeitung "Prawda". — "Die alten Maschinen dienten 15 Jahre, die neuen aber nur 1 Jahr. Früher diente eine Sense 5 Jahre, jetzt müssen jedes Jahr 3 Sensen heran, und mit keiner läßt sich mähen. Früher hielt ein

 

24) Die Zahlen sind dem Buch des Prof. Perwuschm "Die Wirt-schaftskonjunktur", Seite 221 (Tabelle) entnommen.

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Dengelstein 2 Jahre, jetzt braucht man 3-5 Steine für eine Heumahd. Sensenhämmer, Messer, Schlösser, Beile, — kurz absolut alles. In den Kesseln platzt die Emaille ab, die Grachen lecken, die Pfannen ebenfalls. Das ist es, was uns zugrunde richtet."25)

Zubehörteile zu Textilmaschinen, die von den Tulaer Werken angefertigt werden, sind derartig schlecht, daß von 4800 Waterspindeln, die der Fabrik "Znamja Truda" ("Arbeitsbanner") geliefert worden waren,26) nach einem Jahre nur noch 856 Stück in Arbeit blieben, während die normale Lebensdauer für Spindeln 20 Monate beträgt. Die imprägnierten Gummimäntel der Sowjetproduktion halten nur 1—13^ Saisons, anstatt der normalen 3.27)

Nicht ohne Humor klagen die Bauern über die geringe Haltbarkeit der zu sehr hohen Preisen gehandelten Jacken: "In dieser Jacke läßt sich nicht abstimmen — der Aermel platzt." In welchem Maße die Qualitätssenkung sowjetrussischer Industrieerzeugnisse mit der quantitativen Produktions -Steigerung zusammenhängt, zeigt folgende Berechnung eines Sowjetforschers. Im Jahre 1913 wurden auf dem jetzigen Gebiet der USSR. 28 Mill. Paar Gummischuhe erzeugt, 1928/29 aber — 41,5 Mill. Paar, d. h. 48 Prozent mehr. Allein, die Lebensdauer der "Galoschen" der Vorkriegsproduktion betrug 8—9 Monate, während die jetzt erzeugten Gummischuhe bereits nach 4—5 Monaten abgetragen sind. Der Sowjetforscher nimmt nun eine dieser Feststellung entsprechende "Korrektur an der Qualität" vor und kommt zu dem völlig richtigen Schluß, daß "die derzeitige Galoschenfabrikation bei Berücksichtigung ihrer (verminderten) Haltbarkeit hinter der Vorkriegserzeugung um 26 Prozent zurückbleibt".28)

Diese Schlußfolgerung ist mehr oder weniger auf fast alle Erzeugnisse der Sowjetindustrie anwendbar. Es ist ganz besonders wichtig hervorzuheben, daß diese "Qualitätssenkung" zu einer ein-

 

25) Siehe Zeitung "Prawda" vom 9. Juli 1926. Ich zitiere nach dem Buch Kondurushkins "Das Privatkapital vor dem Sowjetgericht", Staatsausgabe 1927, Seite 165 (russ.).
26) Siehe "Ekonomitscheskaja Shisn", Nr. 18 vom 22. Januar 1929, "Nedocoty tekstilnago maschinostrojenija".
27) Siehe "Iswestija textilnoj promyschlennosti i torgowli" (Be~ richte der Textilindustrie und ihres Handels), Nr. 10, Oktober 1929, Seite 14 (646).
28) Siehe den Artikel J. S. Kaganofs: "Katschestwo towarow massowago potreblenija" (Die Qualität von Massengebrauchsartikeln) in der Zeitschrift "Ekonomitscheskoje Obosrenije", Nr. 10 vom Oktober 1929, S. 29, 32, 34.

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fachen Übervorteilung des Verbrauchers führt, die einer Fälschung des Maßes und des Gewichts gleichkommt. So läßt — nach den Angaben desselben Forschers — die Leningrader Streichholzfabrik unentwegt Streichholzschachteln herausgehen, deren Inhalt um 4—15 Prozent hinter der vorgeschriebenen Mindestfüllung zurückbleibt. In den die syndizierten staatlichen Tabakfabriken verlassenden Machorka-Packungen (geringste Tabaksorte) erreicht das Gewichtsmanko in einigen Fällen bis zu 20,6 Prozent usw.

"Das Qualitätsproblem" ist im Leben des Sowjetbürgers so aktuell geworden, daß es die Sowjetregierung im Oktober 1930 für unerläßlich befand, eine besondere "Allunions-Kon-ferenz zur Hebung der Qualität bei der Erzeugung von Massengebrauchsgegenständen" (vgl. "Ekon. Shisn" Nr. 190 vom 12. X. 1930) einzuberufen, deren Teilnehmer sich gegenseitig eine Menge noch interessanterer Tatsachen und Berechnungen mitteilten, ohne aber auch nur das geringste zur "Hebung der Qualität" ausfindig machen zu können. So bezeugte beispielsweise der Vertreter des "Zentrosojus" (Zentral-Genossenschafts-Verband), Genosse Pitersky, daß "die Qualität baumwollener Gewebe seit 1925 progressiv fällt". Der Anfall von Ausschuß schwankte, ebenfalls Pitersky zufolge, zu Beginn des Wirtschaftsjahres 1929/30 zwischen 40 und 68 Prozent, und erreichte auf einer Fabrik sogar 92 Prozent. Die Konferenz kam zu dem Ergebnis, daß, obwohl der "Standard" (d. h. ein Warenmuster oder eine genaue Beschreibung des Warenmusters, welches allen vorher festgestellten Anforderungen entspricht) als das "machtvoll wirksamste Mittel im Kampf um die Hebung der Qualität" zu betrachten ist, so wird doch die "Quantität der Qualität vorangestellt selbst auf den Gebieten, für die bereits Qualitäts-Standards festgesetzt sind." Mit Wirkung vom 1. Oktober 1930 wurden von der Sowjetregierung 1958 Standards in Kraft gesetzt. Allein die erlassenen Standards gelangen nicht bis zur Arbeitermasse, enthalten keine klaren Qualitätsbezeichnungen für die Produktion und sind stattdessen vollgepfropft mit völlig überflüssigen und lächerlichen Phrasen, wie etwa: "der Frauenrock ist berufen, die Frau vor den Einwirkungen des Klimas zu schützen" (sic!).

 

Selbstkostenpreis und Verschleißpreise

Die geringe Güte der Erzeugnisse der Sowjetindustrie geht mit einem ausnehmend hohen Selbstkostenpreis ihrer Produktion und einer noch ungewöhnlicheren Höhe der Absatzpreise Hand in Hand. Wir bringen nur einige Zahlen. So waren z. B. die Fabrikationskosten für Baumwollfabrikate im Jahre 1927/28 — 1,77 mal, für Leinengewebe — 1,92 mal und iür Wollwaren (grobes Tuch) sogar 2,72 mal höher als im

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Jahre 1915.28) Die Gestehungskosten einer Tonne Donezkohle betrugen in den Jahren 1927/28 — 10 R. 63 Kop., während ihr Vorkriegs-Gestehungspreis nur 5 R. 86 Kop. betrug; der Selbstkostenpreis einer Tonne Eisenerz des Südrussischen Trustes (JuRT) in den Jahren 1927/28 betrug 394 R. 92 Kop gegen 277 R. 76 Kop. im Jahre 1913 usw.30)

"Auf dem Gebiet der Senkung der Selbstkosten hat die Industrie bis jetzt nur die ersten und äußerst unbedeutenden Schritte getan", stellen bescheiden die "Kontrollzahlen der Volkswirtschaft der U. S. S. R. für das Wirtschaftsjahr 1928/29" fest. Das bedeutet, daß auch hinsichtlich der Produktionskosten die Sowjötindustrie noch lange nicht den Vorkriegsstand erreicht hat. Und dabei muß noch bemerkt werden, daß sehr oft die neuen, technisch vervollkommneten Fabriken ihre Erzeugnisse bedeutend teurer herstellen als die Fabriken früherer Bauart, wobei sie die Kalkulationen der Voranschläge weit überschreiten. So lieferte das Goroblagodatsker Kunststeinwerk im Ural im siebenten Monat seines Betriebs ein Agglomerat zum Selbstkostenpreise von 33 R. 80 Kop., anstatt zu 6 R. 90 Kop. laut Voranschlag; die neue Sensenschmiede in Slatoust erzeugt Sensen zu 1 R. 1 bis 1 R. 10 Kop., während die alte Artinsche Werkstatt sie zu 35—40 Kop. herstellt; die Sjasker Papiermühle produziert Zellulose unvergleichlich teuerer als die alte Kamensker usw. usw.31) Und noch charakteristischer ist es, daß es den Privatunternehmungen gelingt, billiger zu arbeiten als den staatlichen Sowjetbetrieben und Werken, ungeachtet dessen, daß die ersteren mit erhöhten Abgaben belegt werden und daß sie genötigt werden, den Arbeitern einen erhöhten Arbeitslohn zu zah-1 e n.32) Den Sowjetbetrieben helfen keine Neuerungen und keine Vervollkommnungen. "Auf allen Zechen des "Ju. R. T.' (des "Südrussischen Trustes") hat die mechanische Bohrarbeit bedeutende Ausdehnung erfahren, die Anzahl der Kompressoren ist vermehrt worden und die Zahl der Hämmer hat sich gar von 600 auf 1320, d. h. um 112 Prozent erhöht. Die Energiewirtschaft wird in Ordnung gebracht. Und endlich ist da ein neues Kraftwerk (N. E. S.) geschaffen worden....", meldet ein beobachtungseifriger <Reisekorrespondent> der <Ekonomitscheskaja Shisn>... "

29) Siehe den Aufsatz von E. L. Ljubinsky: "Iswestija tekstilnoj promyschlennosti i torgowli" in den Nr. 7—8, Juni-August 1929, Seite 5 (443).
30) Siehe den Aufsatz von J. Moltschanoff in der "Ekonomitsches-koje Obosrenije", Nr. 4, April 1929, Seite 81.
31) Siehe S. Moltsehanoffs angeführten Aufsatz Seite 96.
32) Siehe L. Logwinowitsch, "Torgowo-promyschlennaja Gaseta', Nr. 276, vom 2. Dezember 1927.

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Aber das Gesamtbild bleibt dennoch unverändert. Es findet seinen Ausdruck in dem endgültigen und unvermeidlichen Ergebnis, daß die Zechen gezwungen sind, ihr Erz unter ihren Selbstkosten abzugeben; denn wenn sie es auch ohne Gewinn nur zum Selbstkostenpreise verkauften, so wäre ein solches Erz für den Verbraucher unerschwinglich, für das Gußeisen aber nicht tragbar."33)

 

Die Ursachen der hohen Gestehungskosten

Es lohnt sich, bei der Frage der hohen Gestehungskosten für die Erzeugnisse der staatlichen Sowjetindustrie besonders zu verweilen. Welcher Art sind ihre Ursachen? Ein aufmerksamer sowjetrussischer Forscher, der sich nicht das erste Jahr mit diesem Problem abgibt, weist darauf hin,34) daß "das ABC der Oekonomik eines Industrieunternehmens" die Herabsetzung der Herstellungskosten von folgenden Bedingungen abhängig macht:

1. von der bestmöglichen Ausnutzung der maschinellen Ausrüstung, die automatisch die fixen Kosten verringert,

2. von der größten Sparsamkeit im Verbrauch der materiellen Produktionsmittel ■— der Rohstoffe, der Materialien, Heizstoffe usw.,

5. von der bestmöglichen Auswertung der Arbeitskraft,

4. von der größtmöglichen Verminderung der allgemeinen Unkosten sowohl bei der Produktion, als auch bei der Verwaltung des Industrieunternehmens.

Wie wird nun dieses "ABC der Oekonomik" in der Sowt-jetpraxis befolgt?

Ohne die Schlußfolgerungen S. Moltschanoffs einer eingehenden Prüfung zu unterziehen, wollen wir nur auf einige besonders interessante, von ihm angeführte Beispiele hinweisen.

 

Der Stillstand der Betriebe und Werke

"Als eine sehr wesentliche, die Produktivität der Maschinerie senkende Ursache", sagt er, "sind die Stillegungen anzusehen, die bald auf Mangel an Materialien, an Kraft usw., bald auf den Verschleiß der Maschinerie, auf Nachlässigkeit in der Arbeit, Fehlen der Arbeitsdisziplin, auf das Rowdytum der Arbeiter und die Beschädigung der Geräte durch sie u.a.m. zurückgeführt werden.

Wie beträchtlich die Verluste sind, die durch diese Stillegungen verursacht werden, kann man am Beispiel des Trustes Jugostahl beurteilen, wo auf

 

33) Siehe "Ekonom. Shisn", Nr. 7, vom 28. März 1929, Aufsatz "In den Kriworoger Bergwerken", von Ilowlew.
34) Siehe S. Moltschanoffs angeführten Aufsatz, Seite 88—97. Siehe auch sein Buch: "Isdershki proiswodstwa promyschlennosti S.S. S.R.", Moskau 1926.

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einzelnen Fabriken die Stillegungen 41,28 Prozent der Gesamtarbeitszeit erreichen (Stalin-Werk); im Durchschnitt des Jahres 1927/28 machte aber das Feiern bei diesem Trust 29,55 Prozent der Arbeitszeit aus. Beim Trust "Donugol" arbeiteten von 530 schweren Schrämmaschinen, die am 1. Oktober 1928 vorhanden waren, insgesamt nur 381, d. h. 72 Prozent, und von 177 leichten Schrämmaschinen — 80, d. h. 45 Prozent. "Im ganzen erreichte im Jahre 1927/28", schließt S. Moltschannoff, "die Gesamtzahl der im Zusammenhange mit den Stillegungen verlorenen Arbeitstage in der Industrie 3,7 Millionen, wobei eine Produktion im Werte von 63 Mill. Rubel ausfiel, und an Arbeitslohn ohne Gegenleistung (andere Verluste nicht mitgerechnet) 10,1 Mill. Rubel ausgezahlt wurden."

Die vom "ABC der Industrieökonomik" geforderte maximale Sparsamkeit im Verbrauch der materiellen Produktionsmittel — der Rohstoffe, Materialien und Heizstoffe usw. wird demnach anscheinend in der Sowjetindustrie nicht allzu oft beachtet.

 

Ausschuß in der Produktion

Meistens läßt sich der Ausschuß durch die Fahrlässigkeit der Arbeiter, ihre niedrige Qualifikation (von der wir weiter unten sprechen werden) durch die geringe Qualität der Rohstoffe und Materialien usw. erklären. Als Resultat alles dessen ergibt sich ein ungeheuer großer Prozentsatz Ausschuß in der Produktion. So "kehrt", nach den Beobachtungen der Uraler Kommission, "von zwei aus den Martinöfen kommenden Tonnen Metalls etwa eine Tonne als aller Art Abfall, Ausschuß usw. in die Oefen zurück." Dabei werden fast nirgends die Erzeugnisse, die nach einer ergänzenden Ueberarbeitung brauchbar oder zweitklassig erscheinen, zum Ausschuß gezählt. Die Unkosten, die solche ergänzenden Bearbeitungen erfordern, werden nicht in die Rechnung eingestellt. Und doch erreicht sogar der einberechnete Ausschuß normalerweise 10—15 Prozent und mehr. Ein wie hoher Prozentsatz an Ausschuß unverrechnet durchschlüpft, ist selbstverständlich schwer zu bestimmen, da in vielen Fällen die gehörige Fabrikkontrolle fehlt. Nur durch das Fehlen einer solchen Kontrolle oder ihre Nachlässigkeit läßt sich der nach der Meinung S. Moltschanoffs für sehr viele Unternehmen typische Fall erklären, der von der Charkower Kommission bei der Abnahme landwirtschaftlicher Maschinen beobachtet wurde: "Die Maschine oder ihr Zubehör durchläuft alle Stadien der Bearbeitung, und im letzten stellt es sich heraus, daß sie wegen Holzfehlern nichts taugt."

 

Die falsche Ausnutzung der Arbeitskraft

Alle diese Mängel der Produktion verblassen jedoch gegenüber der ungenügenden und "unrichtigen", — wie sich der Sowjetforscher ausdrückt, — Ausnutzung der Arbeitskraft. Es ließe sich sogar sagen, daß jene Mangel in der Mehrzahl der Fälle ihre Ursache in der unrichtigen Ausnutzung der Arbeitskraft haben:

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"Unbefriedigend sind die Anwendung findenden Lohnsysteme", denn sie fördern erstens das Anwachsen der Stillegungen, da diese wie tatsächlich geleistete Arbeitszeit bezahlt werden, und zweitens die Zunahme des Ausschusses, der ebenfalls voll bezahlt wird. Als ungeheures Uebel für die Produktion erweist sich der fortwährende Wechsel in den Belegschaften, der in vielen Fällen 80-100% und mehr umfaßt."

Bei einer solchen "Fluktuation" der Arbeiterschaft, die in den meisten Fällen durch Wohnungsschwierigkeiten, durch schlechte Lebensmittelversorgung oder durch stark voneinander abweichende Arbeitslöhne benachbarter Unternehmungen hervorgerufen wird, ist es oft unmöglich, irgend welche technische Vervollkommnungen der Produktion einzuführen. Noch schwerer wiegt "der Mangel an Leuten, die genügend qualifiziert wären, um die Produktion nach den neuesten technischen Methoden zu leiten. Fortwährend sieht man sich genötigt, die Leitung solchen Angestellten anzuvertrauen, die die betreffende Maschineneinrichtung nie in ihrem Leben gesehen haben."

Es ist nicht verwunderlich, daß unter solchen Umständen, die heutzutage in Sowjetrußland und auch in der ganzen Welt Methode gewordene Rationalisierung der Betriebe "im Endergebnis nicht zur Verbilligung, sondern zur Verteuerung der Produktion führt", daß "unüberlegte und übereilte Neuerungen" sich "in Wirklichkeit nicht als Vervollkommnungen, sondern als technischer Rückschritt in der Produktion" erweisen.35) "Die neueste Ausrüstung des Jahres 1928", so berichtet K. Oberg36) anläßlich der Neuausrüstung der Fabrik "Krasny Textilschik" (Der Rote Textilarbeiter"), — "wurde sechs Monate nach ihrer Aufstellung immer noch ,durchgesehen' und arbeitete dennoch schlechter als der alte Maschinenpark".

Solche Beispiele gibt es in der Sowjetpraxis sehr viele. Es wäre zu bemerken, daß, wenn es auch vielerlei Ursachen für die Mißerfolge technischer Vervollkommnungen in der Sowjetindustrie gibt, unter ihnen doch wohl die mangelnde Vorbildung der Werkleiter selbst, ihr technisches Analphabetentum, die unzulängliche Ausbildung der Arbeiter und der Mangel an gehöriger Disziplin unter ihnen — durchaus nicht die letzte Rolle spielen. Die Ausschüsse des WSNH., die die Frage der Auswertung der Arbeitszeit in den Unternehmen vor der Kürzung des Arbeitstages prüften, fanden, daß "der achtstündige Arbeitstag als allgemeine Regel eine Fiktion sei; daß er infolge des Schlenderns durch die Fabrikräume, des Rauchens, des frühzeitigen Abbruchs der Arbeit usw. um 20 Prozent und mehr unzureichend ausgenutzt werde".37)

35) Siehe "Ekonomitscheskaia Shisn", Nr. 20, vom 24. Januar 1928.
3e) Siehe "Ekonomitscheskaja Shisn", Nr. 74, vom 31. März 1929.

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Es ist sehr möglich, daß dieser Umstand eine gewisse Rolle beim Beschluß der Sowjetregierung gespielt hat, den siebenstündigen Arbeitstag38) und die ununterbrochene Produktionswoche einzuführen".39)

 

Der siebenstündige Arbeitstag und die ununterbrochene Produktionswoche |

Diese beiden Maßnahmen werden wahrscheinlich bis zu einem gewissen Grade dazu beitragen, die Anzahl der Arbeits-' losen zu vermindern. Aber schwerlich werden sie dazu verhelfen, den Selbstkostenpreis der Produkte der Sowjetindustrie in einem nur einigermaßen bemerkbaren Umfange zu verringern und ihre Qualität zu verbessern. Schon der eine Umstand, daß diese Maßnahmen neue Schichten von Arbeitern einbeziehen und anstellen, die größtenteils nicht nur technisch kaum ausgebildet, sondern auch an die Arbeit gar nicht gewöhnt und schlecht diszipliniert sind, — ist geeignet, alle Hoffnungen der Sowjetregierung auf eine Herabsetzung der Selbstkosten der Produkte zu enttäuschen, auch soweit solche Hoffnung normalerweise mit der Steigerung der Produktion verknüpft ist.40) Wenigstens hat der Versuch mit dem siebenstündigen Arbeitstag, der in der Textilindustrie schon seit zwei Jahren durchgeführt wird, in dieser Hinsicht wenig hoffnungsvolle Resultate gebracht. Wie ein angesehener Fachmann dieser Industrie feststellt,41) zog der Zufluß neuer Arbeitskräfte, "die im proletarischen Kessel nicht durchgekocht worden waren, ein Fallen der Arbeitsdisziplin nach sich, was sich im Anwachsen mutwilliger Versäumnisse äußerte, im Antreten zur Arbeit in betrunkenem Zustande, in Skandalen und groben Beleidigungen einzelner Arbeiter und des technischen Personals, zu denen auch Fälle von Verprügelung des letzteren zu rechnen sind".

 

Das Projekt der Ersetzung der technischen Beamten durch qualifizierte Arbeiter

Auch das Aufrücken qualifizierter Arbeiter auf technische Posten, das wegen des Mangels an technischem Personal zur Verwirklichung der ununterbrochenen Produktionswoche geplant wird, kann einer Ermäßigung der Selbstkosten und einer Erhöhung der Qualität nicht dienlich sein."2)

37) Siehe S. Moltschanoffs angeführten Aufsatz, Seite 94.
38) Siehe "Gesetzessammlung der USSR. vom Jahre 1929", Nr. 61, Seite 613 (Beschluß des ZIK. und SNK. — USSR. vom 2. Januar 1929 und Manifest d. ZIK. — USSR. vom 15. Oktober 1929).
39) Siehe "Iswestija", Nr. 257, vom 5. November 1929 (Bestimmung des SNK. — RSFSR. über den Uebergang zur ununterbrochenen Produktions woche).
40) Das unbedeutende Sinken der Selbstkosten der Industrieprodukte, das bisher beobachtet wurde, erfolgte nach der Erklärung S. Moltschanoffs nur dank der fixen Kosten, die sich bei der Ausdehnung der Produktion, auf die Produktionseinheit gerechnet, vermindern. Siehe Moltschanoffs angeführten Aufsatz, S. 85.
41) Siehe Aufsatz von Jerjomin in den "Iswestija textilnoj promyschlennosti i torgowli", März Nr. 5, 1929, Seite 5 (149).

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Aller Wahrscheinlichkeit nach wird es nur den Bestand an mangelhaft vorbereiteten und wenig Autorität besitzenden Leitern vergrößern.

Es wäre noch interessant festzustellen, daß ein Sowjetwirtschaftler, die Vorteile einer ununterbrochenen Arbeitsweise schildernd, zunächst ihre wohltuende Wirkung auf die Produktivität der Arbeit, auf die Qualität, die Beschleunigung und Verbilligung der Erzeugnisse hinweist und dann doch für seine Pflicht hält, hervorzuheben, daß die ununterbrochene Arbeitsweise, "wie jede stark wirkende Arznei" eine vorsichtige und wohlüberlegte Anwendung finden müsse. "Indessen", bemerkt er, "zeigt die Erfahrung einer Reihe auf ununterbrochene Arbeit umgestellter Betriebe, daß, — da es der Neigung einzelner Betriebe entspricht, sich auf der Linie des geringsten Widerstandes zu bewegen, — die Umstellung auf die ununterbrochene Arbeitsweise eine derart überplanmäßige Anwerbung und Anstellung von Arbeitern nach sich zieht, daß der ganze wirkliche Erfolg der neuen Arbeitsregelung annulliert zu werden droht."43) . . .

 

Sozialistischer Wettbewerb

Seit ein paar Jahren hat die Sowjetregierung ein Allheilmittel gegen alle gegenwärtigen und künftigen Übel — in Gestalt des sogenannten "sozialistischen Wettbewerbs" erfunden. "Der Erfolg des sozialistischen Wettbewerbs läßt sich aus dem prozentualen Steigen der Arbeitsproduktivität errechnen, aus einem Anstieg, wie ihn die Kapitalisten sich nicht einmal träumen ließen" — ruft begeistert ein Barde der Sowjetherrschaft aus. ... 

Das Ganze gründet sich "auf die Liebe zum schöpferischen sozialistischen Schaffen, auf das Trachten, eine Gesellschaft aufzubauen, in der man Menschen, die einen Widerwillen gegen Arbeit haben, als merkwürdige Exemplare der bürgerlichen Gesellschaft in einem Zoogarten zeigt".44) Jedoch gibt es im "Rußland der Arbeiter und Bauern" anscheinend viel weniger "Liebe zum schöpferischen sozialistischen Schaffen", als offizielle Herausforderungen zum Wettbewerb. So stellte man z.B. auf der Textilfabrik "Proletarskaja Pobeda" ("Proletariersieg"), die eine andere Textilfabrik zum "sozialistischen Wettbewerb" herausgefordert hatte, als Ergebnis dieses Wettbewerbs fest: 

42) Siehe Rechenschaftsbericht über die Sitzung der Kommission Rudsutaks in den "Iswestija", Nr. 257, vom 5. November 1929.
43) Vgl. den Aufsatz N. Podorolskys: "Neprerywnoje proi-swodstwo w promysschlennosti SSSR.", "Ekonomitscheskoje Obosrenije", 1929, Nr. 10, S. 28.
44) Siehe Aufsatz von D. Zaslawsky "Nowyj stimul", "Prawda", Nr. 287, vom 7. Dezember 1929.

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"die Verschlechterung der Qualität ihrer Produktion, die Verminderung der Dichtigkeit der Ware, ein wüstes Hantieren mit den Rohstoffen45) und die Unberührtheit des Prämienfonds, da es niemanden gab, den man hätte prämiieren können."46)

Dieses Beispiel steht keineswegs vereinzelt da, und es ist auch nicht das schlimmste. Manchmal nimmt aber dieser "sozialistische Wettbewerb" ganz unerwartete und gefährliche Formen an, die von einem offensichtlich feindlichen Verhalten der Arbeiter gegenüber diesem neuen Mittel, die Produktivität ihrer Arbeit zu heben, Zeugnis ablegen. "Ich habe die Maschine zerbrochen, fordere die übrigen zum Nacheifern heraus", schreibt ein Arbeiter auf die von ihm zerbrochene Maschine. "Wir eröffnen einen Wettbewerb im Zerbrechen von Maschinen!" — schreibt ein anderer.47)

Dieses Beispiel dürfte genügen, um sich vorstellen zu können, welche Ergebnisse der "sozialistische Wettbewerb" zu zeitigen vermag, der auf Anweisung der kommunistischen Führer durchgeführt wird.

 

Die Beseitigung des Wettbewerbs mit dem Ausland

Um aus all dem Gesagten endgültige Schlüsse zu ziehen, wollen wir noch in aller Kürze zwei wichtige Fragen berühren. Erstens möchten wir bemerken, daß die Reihe der Ursachen für die hohen Selbstkosten und die schlechte Qualität der Sowjeterzeugnisse bei weitem nicht vollzählig wäre, wenn wir nicht noch auf eine hinwiesen, die zudem zu den grundlegenden gehört. Wir denken dabei an die völlige Ausschaltung des Wettbewerbs mit dem Ausland, die durch die Monopolisierung des Außenhandels und andere Maßnahmen erreicht wurde, und die es ermöglichte, die Marktpreise auf einem sehr hohen Stand zu halten. Hierfür einige Beispiele: Gußeisen, das in Düsseldorf am 1. Oktober 1927 36,14 Rbl. je Tonne kostete, stellte sich in Moskau auf 63,— Rbl.; gewalzte Ware ("Träger") in Düsseldorf 59,07 Rbl., in Moskau 127,— Rbl.; Baumwollgarn in Stuttgart (Kette Nr. 36) 178,8 Kop. das Kilo, in Moskau (Kette Nr. 32 — ohne Akzise) — 216,5 Kop.; grobes Baumwollgewebe in Augsburg 23,5 je Quadratmeter, in Moskau 48,30 usw.48) Ein im Vergleich zu dem Auslandsmarkte so hphes

 

45) Russisch: "ssamoje dikoje otnoschenije k ssyrju".
46) Siehe "Iswestija textilnoj promyschlennosti i torgowli" ("Nachrichten der Textilindustrie und ihres Handels"), Nr. 9, September 1929, Seite 23 (585).
47) Siehe Aufsatz von B. Galin "Perechod" — "Prawda", Nr. 285, vom 5. Dezember 1929.
48) Siehe Aufsatz von N. Shukowsky: "Towarnija zeny na mirowom rynke" in der "Sozialistitscheskoie Chosjajstwo", Heft 1, 1928.

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Preisniveau für Sowjetprodukte führt, wie die Sowjetfunktionäre selbst zugeben, zu "monopolistischer Fäulnis" in der Sowjetindustrie,*9) zum bekannten "Quietismus" ihrer Leiter, denen keine privatwirtschaftliche Konkurrenz droht, und denen der Anreiz zur Senkung der Selbstkosten fehlt.

 

Die Rentabilität der Sowjetindustrie  

Die anderen Fragen, auf die wir die Aufmerksamkeit des Lesers noch lenken müssen, ist die der Rentabilität der staatlichen S o w j e t i n d u s t r i e und die der gegenseitigen Abhängigkeit von Rentabilität und Staatsbudget. Die Begriffe Rentabilität' und ,Gewinn' sind freilich aus einer ganzen Reihe von Gründen, auf die wir wegen Raummangels hier nicht eingehen, in der Sowjetwirtschaft ganz relativ und bedingt; wie die "Arbeiter- und Bauerninspektion" feststellte,60) differieren die Berechnungen des industriellen Gewinns, die durch die verschiedenen Behörden der Sowjetverwaltung gebracht werden, sehr häufig um recht hohe Beträge. 

Aber auch nach diesem Vorbehalt müssen wir feststellen, daß, ungeachtet der ausnehmend hohen Verkaufspreise für Sowjeterzeugnisse, die Gewinne der Sowjetindustrie im Ganzen so unbedeutend sind, daß sie stets einen Zufluß beträchtlicher Mittel von außen braucht.51) Prof. L. Kafenhaus, der die Frage der Kapitalbildung in der Sowjetindustrie untersuchte, errechnet die Einnahmen der letzteren bis zum 1. Oktober 1927 auf 8,71 Prozent des Stammkapitals, ohne jedoch dabei die Zahlungen an den Fiskus zu berücksichtigen. Stellt man aber diese Abzüge in Rechnung, so zeigt es sich, daß der ganze Reinertrag der Industrie, soweit sie dem W. S. N. H. unterstellt ist, nur 3,7 Prozent des Stammkapitals ausmacht. Diese Rentabilität geht in der Hauptsache auf die Zweige der Leichtindustrie zurück, vorwiegend auf die Textilindustrie, deren Gewinn 51 Prozent des Reingewinns der gesamten staatlichen Industrie ausmacht, und von den Zweigen der Schwerindustrie, — auf die elektrotechnische und Naphtaindustrie.52) Im allgemeinen betrug der Gewinn der Leichtindustrie ohne die staatlichen Entnahmen bis zum 1. Oktober 1927 — 13,7 Prozent des Stammkapitals, der Gewinn der Schwerindustrie aber nur 3,4 Prozent. Nichtsdestoweniger reicht selbst in der Leichtindustrie "die eigene Kapitalbildung aller Art kaum aus, um den Finanzbedarf der Leichtindustrie im Ganzen zu

49) Siehe Aufsatz von J. G. Turowsky in der "Ekonomitscheskoje Obosrenije", Nr. 9, vom September 1929.
50) Siehe "Ekonomitscheskaia Shisn", Nr. 290, vom 15. Dezember 1926.
51) Siehe Aufsatz von Prof. L. Kafenhaus in der Zeitschrift "So-zialistitscheskoje Chosjastwo", 1929, 2. Heft, Seite 119.
52) Siehe ebenda, Seite 118.

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decken", konstatiert Professor Kafenhaus.53) Um so weniger genügt sie in der Schwerindustrie, wo es Zweige mit einem Gewinn von 0,6 Prozent vom Stammkapital gibt, wie etwa die Silikatindustrie; oder wie die Holz- und die Holzbearbeitungsindustrie, die mit einem Verlust von 2 5 Prozent vom Stammkapital abgeschlossen haben.

"Eine der Eigentümlichkeiten der Volkswirtschaft Sowjetrußlands besteht nach Professor L. Kafenhaus54) darin, daß diese privatwirtschaftliche Verlustwirtschaft weder das Wachstum der Produktion, noch die Kapitalakkumulation im volkswirtschaftlichen Sinne hemmt." Unserer Meinung nach aber begünstigt gerade diese'Eigentümlich-keit ammeisten di e h o h en G e s t e h un g s k o s t e n der Sowjetproduktion und die "m onopolisti-sche Fäulnis" der staatlichen Sowjetindustrie, denn sie nimmt den verlustbringenden Industriezweigen jeden Ansporn, der Verlustwirtschaft zu entwachsen, und führt zugleich die Notwendigkeit herbei, den hohen Preisstand in denjenigen Wirtschaftszweigen aufrecht zu halten, die die Verluste decken sollen. Ohne näher auf die Methoden einzugehen, durch die die "Verteilung" der Mittel unter den einzelnen Zweigen der Sowjetwirtschaft erreicht wird, führen wir nur eine kurze Tabelle an, die uns eine Vorstellung davon vermittelt, was die Sowjetindustrie dem Staatshaushalt gibt und was sie von ihm erhält.55)

 

Industrie und Staatsbudget

1925/26  1926/27   1927/28   1928/29 (Kontrollziffern) in Millionen Rubel

Die dem WSNH unterstellte Industrie (ohne Elektrobau und Transport) erhielt laut Budget aus dem Staatshaushalt:  341,1   531,5  664,1 850,0  58)

Für den Staatshaushalt wurden entnommen: 258,6 425,1 448,0 536,5

Saldo zugunsten der Industrie: 82,5 106,4 216,1 313,5

 

Auf diese Weise hat die Sowjetindustrie in den ersten 4 Jahren der "Umbauperiode" aus dem Staatsbudget 728,5 Mill. Rubel mehr erhalten, als sie ihm selbst gegeben hat.

In Wirklichkeit ist der Aufwand für die Industrie bedeutend größer als der angegebene Betrag, da es bei den herrschenden Sowjetverhältnissen gang und gäbe ist, daß rückzahlbare Darlehen zu nicht rückzahlbaren werden,57) und bankmäßige Kredite sich in "Budgetsubsidien" verwandeln, wie die Banken selbst — in "budgetartige Organisationen".58)

Hat wohl die Sowjetindustrie derart gewaltige Aufwendungen gerechtfertigt, die sich als schwere Last auf die gesamte Volkswirtschaft legen? Wer aufmerksam unserer Darlegung gefolgt ist, wird zweifellos nur eine Antwort darauf haben: — Nein, sie hat sie nicht gerechtfertigt!

Sie hat sie nicht gerechtfertigt; denn vom Standpunkt einer gesunden Volkswirtschaft ist die Sowjetindustrie bis auf den heutigen Tag noch recht weit von dem Stand entfernt, auf dem sich die Industrie des vorrevolutionären Rußlands einst befand.

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53) Siehe ebenda, Seite 112.
54) Siehe ebenda, Seite 96.
55) Aus "Die Kontrollzahlen der Volkswirtschaft" für das Jahr 1928/29, Seite 516—517, Tabelle XVI — 9 (russ.).
56) Nach den Angaben der "Kontrollzahlen" für 1929/30 kommt die Finanzierung der Industrie aus dem Staatshaushalt zum Ausdruck in der Zahl — 934 Millionen Rubel, während die Entnahmen für den Staat — 474 Millionen Rubel ausmachten. Demnach stieg der Saldo auf 460 Millionen Rubel zugunsten der Industrie (vgl. "Kontrollzahlen der Volkswirtschaft der USSR. für das Wirtschaftsjahr 1929/30", S. 102.)
57) Siehe E. Bunakoff: "Die Kreditversorgung der Industrie" — "Statistitscheskoje Obosrenije", Heft 1, 1928.
58) "Die Kontrollzahlen der russischen Volkswirtschaft" für das Jahr 1928/29, Seite 32.

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