Jost Hermand

 

Brennpunkt Ökologie

 

Kulturelle und gesellschaftspolitische
Interventionen

 

 

2020 im Böhlau-Verlag Weimar

Jost Hermand (2020) Brennpunkt Ökologie - Kulturelle und gesellschaftspolitische Interventionen

2020 

262 Seiten  

DNB.Buch 

Bing.Buch

 

detopia:

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Umweltbuch  

Utopiebuch

 

 

Coverabbildung:

»Die deutsche Landschaft stirbt.«

Hg. von Jochen Bölsche, Reinbek: Rowohlt, 1983.
Plakat der Gewerkschaft Druck und Papier.

 

Korrektorat: Patricia Simon, Langerwehe

Einbandgestaltung: Michael Haderer

Printed in the EU

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage

Inhalt         Inhalt + Leseprobe.pdf  

 

Vorwort  (7)

 

  • Zeitübergreifende Nachhaltigkeitskonzepte - Grüne Utopien in Deutschland - Ein erster Überblick  (13)

  • »Erst die Bäume, dann wir!« - Proteste gegen das Abholzen der deutschen Wälder, 1780-1950  (37)

  • Rousseau, Goethe, Humboldt - Ihr Einfluss auf die späteren Befürworter des Naturgartens (55)

  • Gehätschelt und gefressen - Das Tier in den Händen der Menschen  (73)

  • Gerechtfertigte und rassistisch gesinnte Vorläufer der heutigen Grünen - Ungezwungene Natürlichkeit - Die Lebensreformbewegung um 1900 (101)

  • Nationalistische Phrase oder Ausdruck ökologischen Bewusstseins? Das »Heimatschutz«-Konzept um 1900  (115)

  • Technologische Aufrüstung oder grüne Siedlungsexpansion? Nazifaschistische Zukunftskonzepte  (129)

  • Unerfüllte Hoffnungen - Vertreter eines verstärkten Umweltbewusstseins zwischen 1933 und 1945  (147)

  • »Wenn es so bleibt, wie es ist, bleibt es nicht.« - Die Graswurzelrevolution um 1980  (157)

  • Zur gegenwärtigen Situation - Von der Notwendigkeit neuer Meisterdiskurse - Rot-grüne Positionen in den Geisteswissenschaften (173)

  • Naturerhaltende Mitwelt statt zweckdienlicher Umwelt - Biozentrische Überlebensstrategien  (189)

  • Versuch einer Fundamentalkritik am »sachzwanghaften« Progressivismus - Elmar Treptows Entwurf einer »erhabenen« Natur  (197)

  • Für eine Überwindung der abstrakten unverpflichteten Malerei - Wassili Lepantos Postulat einer ökologischen Kunst  (207)

  • Kritik und Utopie - Chancen einer ökologiebewussten Avantgarde  (219)

 

Anmerkungen   237    Bildnachweise   255   Namenregister   257

 

Vorwort

aus der Leseprobe des Verlages

7-10

Noch ein Buch über die ökologischen Gefahrenmomente herauszubringen, die heutzutage die gesamte Welt bedrohen, scheint auf den ersten Blick überfüssig zu sein. Hören wir nicht jeden Tag in sämtlichen uns zur Verfügung stehenden Medien, zu welchen verheerenden Folgen die zunehmende Überindustrialisierung und die drastische Bevölkerungsexplosion in allen Erdteilen geführt haben?

Ist nicht überall von Klimaveränderungen und den dadurch bedingten Dürreperioden, Waldbränden, Orkanen und Überschwemmungen die Rede? Und nimmt nicht dadurch die ihnen zugrunde liegende Erderwärmung von Jahr zu Jahr zu? Lesen wir nicht ständig von Öltankerunfällen, von der Verschmutzung der Meere durch Plastikabfälle, von der Verpestung der Luft durch Treibhausgase, von der Abholzung der tropischen Regenwälder, vom Rückgang der Wildtiere und Wildpfanzen, von der Gefährdung des Grundwassers durch Überdüngung der Ackerfächen usw?

Gut, wir hören das alles, aber was tun die verantwortlichen Regierungen eigentlich dagegen?

Doch seien wir nicht unfair. Es gibt von Zeit zu Zeit durchaus Tagungen und Parlamentsdiskussionen, die sich mit derartigen Fragen auseinandersetzen und manchmal sogar einschneidende, wenn auch meist in die Zukunft verschobene Beschlüsse fassen, mit denen sie all diesen bedrohlichen Entwicklungen entgegenzutreten hoffen. Was jedoch dabei vorherrscht, ist fast immer eine humanozentrische Perspektive, die vor allem sekundäre Phänomene, nämlich die den Menschen betreffende Gesundheit und Ernährung ins Auge fasst, statt auch auf die gegenwärtigen technokratischen Grundlagen der marktwirtschaftlichen Industrialisierung und die sich daraus ergebenden Konsequenzen einzugehen.

Schließlich sind sie es, die all diese Veränderungen bewirken, welche nicht allein durch noch so wohlmeinende Reformen zu verändern sind, sondern einer durchgreifenden Umstrukturierung bedürfen. Wer sich angesichts dieser Situation nicht zu einem grundsätzlichen Umdenken entschließen kann, ist entweder verblendet oder hat immer noch nicht eingesehen, in welchem zutiefst gefährdeten Zustand sich unsere Umwelt oder besser Mitwelt befindet.

Haben nicht einsichtsvolle Naturwissenschaftler, Dichter und Philosophen schon seit dem Beginn der industriellen Revolution im frühen 19. Jahrhundert darauf gedrungen, all diese Phänomene wesentlich umfassender zu sehen, und in ihren manifestatorischen Dringlichkeitspostulaten darauf hingewiesen, dass es nicht genügen würde, diesen Prozess aufzuhalten oder zumindest zu verlangsamen, sondern dass man sich zu einer Rückbesinnung auf die in der Natur vorgegebenen Bedingungen des menschlichen Lebens besinnen müsse?

7/8

Allerdings blieben hierbei, wie etwa in Deutschland, viele dieser Äußerungen im Bereich einer romantischen Natursentimentalität befangen. Andere setzten sich vornehmlich für Bewegungen wie den Vegetarismus, die Lebensreform oder den Heimatschutz ein, ja, verfielen dabei zum Teil sogar einer Tendenz ins Nationalistische, wenn nicht gar Rassistische, empfanden sich aber dennoch in ihren naturschonenden Bestrebungen als utopische Vorboten einer grünen Gesinnung, die zwar schon die Gefahren der heraufziehenden Überindustrialisierung erkannten, aber noch nicht die vollen Konsequenzen der sich daraus ergebenden Naturzerstörung durchschauten.

Und das blieb auch so in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, trotz der von Jahrzehnt zu Jahrzehnt zunehmenden Bevölkerungsvermehrung sowie der steigenden Wohlstandsansprüche der finanziell besser gestellten Ober- und Mittelschichten in allen hochindustrialisierten Ländern der sogenannten Ersten Welt, in denen die industrielle Zuwachsrate als der entscheidende Fetisch des Fortschritts gilt.

Zu einem zögerlichen und dann immer vehementer einsetzenden Umdenken in dieser Hinsicht kam es erst, als in den siebziger und achtziger Jahren durch die nicht mehr zu übersehenden Klima­veränderungen, die Abnahme der natürlichen Ressourcen, die Atomkraftwerkkatastrophen, die Ölpest der Meere sowie die Zunahme der Treibhausgase in vielen Industrieländern der Erde eine ökologische Besorgtheit einsetzte und sich schließlich Bewegungen formierten, die auf ein grundsätzliches Umdenken in unserem Verhältnis zur Natur bestanden.

Seitdem werden in manchen dieser Länder die ersten Sonnenkollektoren und Windmaschinen aufgestellt, eine naturverträglichere Landwirtschaft gefordert, gegen das Abholzen der Wälder protestiert, eine Reihe von Pestiziden verboten, Gesetze gegen einen übermäßigen Verbrauch von Dieselkraftstoffen erlassen, eine vegane Ernährung propagiert, die auf jegliche Fleischnahrung verzichtet, eine Stilllegung der Atomkraftwerke gefordert und viele derartige Maßnahmen mehr.

Dadurch stieg zwar das ökologische Bewusstsein weitester Bevölkerungsschichten in diesen Ländern merklich an, aber die daraus resultierenden Einschränkungen erwiesen sich letztlich als ein Tropfen auf den heißen Stein. Trotz alledem stieg die Temperatur weiterhin an, trotz alledem nahm der Fleischbedarf weiterhin zu, trotz alledem vergrößerte sich der Massenumsatz technologischer Gebrauchsartikel und die damit verbundene Abnahme natürlicher Ressourcen, trotz alledem nahm die Elektrifzierung weiterhin zu, trotz alledem kam es zu einer fortschreitenden Besiedlungsausweitung und dem sich daraus ergebenden Rückgang landwirtschaftlicher Nutzfächen usw.

Mit zwar wohlgemeinten, aber bisher ineffektiven Maßhalteparolen oder Reformen ist diese Entwicklung, wie viele der mit den diesbezüglichen Fakten und Statistiken Vertrauten wissen, nicht aufzuhalten. Dazu ist dieser Prozess schon zu weit fortgeschritten.

8/9

Um ihm wirkungsmächtig entgegenzutreten, wäre letztlich eine Ökodiktatur nötig, die jedoch gegen das wohl­begründete Demokratie­verständnis weitester Bevölkerungs­schichten sowie das damit verbundene Vertrauen in die bestehende kapitalist­ische Markt­wirtschaft verstoßen würde.

Und so befnden wir uns gegenwärtig in einem ideologischen Schwebezustand zwischen Anpassung und Besorgtheit, auf den die Mehrheit der Bevölkerung in den führenden Industrieländern keineswegs verzichten möchte. Schließlich lebt sie weiterhin in der besten aller Welten, in der es nach wie vor eine Fülle industriell erzeugter Konsumgüter gibt und in der die sogenannte Umwelt immer noch grün ist.

Doch wie lange wird sich dieser Zustand noch erhalten lassen, falls es nicht zu einer verstärkten Rücksichtnahme auf die lebenserhaltenden Naturzustände kommen sollte?

Um ein grundsätzliches Umdenken in dieser Hinsicht in Gang zu setzen, müssten erst einmal die zwei Hauptgefahren ins Auge gefasst werden, die einen Fortbestand der gegenwärtigen Verhältnisse in Frage stellen: die rapide Bevölkerungszunahme sowie der steigende Energieverbrauch auf allen Gebieten.

Gegen beide dieser Gefahren sind bisher noch keine wahrhaft eingreifenden Maßnahmen unternommen worden. Der Bevölkerungsabnahme stehen immer noch sowohl religiöse Vorurteile als auch die Bestrebungen der großen Konsumgüterkonzerne entgegen, ihren Proft steigernden Massenumsatz durch eine ständige Vermehrung der Konsumentenschichten auszuweiten.

Die gleiche Tendenz liegt dem rapide zunehmenden Energiebedarf zugrunde, der ebenfalls auf jene ökonomischen Wachstumshoffnungen zurückgeht, die mit der konzerngesteuerten Überindustrialisierung zusammenhängen. Beide dieser Entwicklungen werden nach wie vor von fast allen konzern­abhängigen Regierungen mit Kindergeldern und Wachstums­versprechungen gefördert, ohne einzusehen, wie problematisch solche Maßnahmen im Hinblick auf eine lebenswerte Zukunft sind, in der sich ein besseres, das heißt natur­verträglicheres Verhältnis von Mensch und Mitwelt verwirklichen ließe.

Dazu wären letztlich Parlamentsbeschlüsse erforderlich, die bei dem gegenwärtigen Stand der ideologischen und sozioökonomischen Verhältnisse noch undenkbar sind. Ein Recht auf Kinder und ein Recht auf einen wohlstandssteigernden Konsum lassen sich in den heutzutage bestehenden Wirtschafts­demokratien nicht außer Kraft setzen. Schließlich ist in ihnen das Selbst­verwirklichungs­bestreben des Einzelnen noch immer das höchste Gebot.

Doch was wird einmal geschehen, wenn gerade diese Rechte, für die man im Zuge aller sich als liberal gebenden Bewegungen der letzten zwei bis drei Jahrhunderte erfolgreich gekämpft hat, sich als den Fortbestand der Menschheit in Frage stellend erweisen sollten?

Wenn sich dieses ungehemmte Durchsetzungs- und Selbstverwirklichungsverlangen durch die unvorhergesehene Bevölkerungs­vermehrung und die zunehmenden Wohlstands­bedürfnisse als naturgefährdend und damit höchst bedrohlich zu erkennen gibt?

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Wenn sich selbst die bisher als »unterentwickelt« bezeichneten Länder in Industriestaaten verwandeln? Wenn immer mehr Ackerfächen und Wälder verschwinden? Wenn im Zuge der durch die Treibhausgase verursachten Erderwärmung die Polarkappen abtauen und die Meere die flachen Küstengebiete überschwemmen werden? Wenn die bedrohlichen Unwetter zunehmen? Wenn das Grundwasser verseucht wird? Und noch viele weitere solcher »Wenns«

Einhaltgebietende Antworten auf alle diese und ähnlich geartete Fragen sind bisher relativ selten. Schließlich wollen die in den bereits überindustrialisierten Ländern lebenden Ober- und Mittelschichten noch intensiver an der allgemein proklamierten Wohlstandserweiterung teilhaben, weshalb es selbst die ärmeren Bevölkerungsschichten innerhalb der als Erlebnis- oder Leistungsgesellschaften ausgegebenen Wirtschaftsdemokratien als durchaus gerechtfertigt empfinden, auch ein eigenes Haus zu besitzen, auch ein Auto zu haben, auch auswärts zu essen, auch zu reisen, auch über alle technischen Gadgets zu verfügen, auch an kostspieligen Events teilzunehmen, auch Wellnesscenter aufzusuchen und vieles andere mehr.

All das gilt momentan als systemimmanent und damit so selbstverständlich, dass es schwerfällt, dagegen zu polemisieren.

Falls sich daher ökologiebewusste Parteien oder Bewegungen lediglich auf den Slogan »Runter vom Wohlstand« beriefen, würde sie sicher niemand unterstützen oder gar wählen. Wohlgemerkt, ein gesicherter Wohlstand, und zwar für alle Menschen, sollte durchaus gewährleistet bleiben. Aber in welcher Form? Nicht im Hinblick auf eine maßlose Konsumerweiterung, sondern in einer sinnvollen Beschränkung auf die Grundvoraussetzungen einer naturverträglichen Lebensweise. Wie das durchzuführen wäre, bleibt demzufolge angesichts der heraufziehenden Gefahren die wichtigste Frage. So drastisch es auch klingt, dafür wären erst einmal eine Beschränkung der Kinderzahl und eine Reduzierung des Energieverbrauchs vonnöten.

Mögen die dafür verantwortlichen Regierungen endlich die in dieser Hinsicht erforderlichen Maßnahmen ergreifen. Ansonsten sähe es schlimm für die Lebenserwartungen kommender Generationen aus.

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