Breitenstein-2000       Herling Start

"Eine Welt für sich" -  revidiert

Deutschlandfunk-Büchermarkt vom 15.10.2000 von Martin Ebel 

  

Als Karl Marx die Produktionsverhältnisse in der Geschichte untersuchte, definiert er die antike "Sklaven­halt­er­gesellschaft" dadurch, dass der Herr die vollkommene Verfügung über die Person und die Arbeitskraft des Sklaven besaß. Er konnte nicht ahnen, dass ausgerechnet das künftige "Paradies der Werktätigen", die Sowjet­union, Sklaverei in einem bis dahin unvorstellbaren Ausmaß praktizieren würde. 

Zu Stalins Zeiten arbeiteten regelmäßig zehn Millionen Einwohner des Landes in Lagern des "Archipel Gulag", genauer gesagt: schufteten unter schärfstem Druck, unter erbärmlichsten Bedingungen, in Hunger und Eiseskälte, und schunden sich regelrecht zu Tode.

Die Großprojekte der UdSSR, die das Staunen auch der westlichen Welt erregten, Eisenbahnlinien, Kanäle und Fabriken, wurden mit den bloßen Händen der Sträflinge gebaut, die zu großen Teilen dabei ihr Leben ließen. Das Wirtschaftssystem des Landes hing von der Ausbeutung von Arbeitssklaven ab, die die Repress­ions­organe den Lagern immer neu zuführen mussten. 

Stalins Terror war natürlich Auswuchs eines Verfolg­ungs­wahns, aber unter den Bedingungen der Kommando­wirtschaft auch ökonomisch notwendig. Deshalb die Massen­verhaftungen, die summarischen Verurteilungen unter absurdesten Vorwänden. 

Über den Gulag und die dort betriebene "Vernichtung durch Arbeit" wusste Bescheid, wer das wollte. Die meisten wollten nicht. 

"Über den Archipel sind 30 Bände geschrieben worden, aber man hat sie nicht bemerkt", schrieb Alexander Solschenizyn, der im 31. Anlauf dann endlich allen die Augen öffnete.

 

Eines der ersten Bücher über die russischen Straflager erschien 1953, in England, Frankreich und auch auf deutsch. Es stammt von Gustaw Herling, einem polnischen Schriftsteller des Jahrgangs 1919, der zwischen 1940 und 1942 anderthalb Jahre im Lager Jercewo am russischen Eismeer verbrachte. Sein Vergehen: Er hatte illegal die Grenze übertreten, weil er zur polnischen Armee in Frankreich stoßen und gegen Hitler kämpfen wollte. Hitler war aber damals ein Verbündeter Stalins, beide hatten Polen unter sich aufgeteilt. Aus "seinem" Teil der Beute ließ der sowjetische Diktator eine Million Polen deportieren und viele Führungskräfte ermorden, darunter 15.000 Offiziere.

Nach Hitlers Einfall in die Sowjetunion waren die Polen plötzlich wieder wohlgelitten und durften mitkämpfen gegen den einstigen Komplizen. Auch Herling kam so frei — allerdings musste er mit einem Hungerstreik nachhelfen, der ihm, geschwächt wie er war, fast den Rest gegeben hätte. Er schloss sich der in Russland neu aufgestellten polnischen Armee des General Anders an, gelangte über Persien nach Italien, kämpfte am Monte Cassino den Weg nach Rom frei und ließ sich nach dem Krieg in Neapel nieder, wo er die Tochter des berühmten Historikers und Philosophen Benedetto Croce heiratete.

 wikipedia  Wladyslaw_Anders  1892-1970

"Ich bin kein politischer Mensch, ich kann durchaus ohne Politik leben", sagte Herling von sich selbst. 

Lange völlig vergessen (und in Polen bis 1989 natürlich totgeschwiegen), hat ihn erst die Publikation seiner Tagebücher wieder einem größeren Leserkreis bekannt gemacht. In Frankreich sind vier Bände erschienen, in Deutschland immerhin ein Auswahlband unter dem Titel <Tagebuch, bei Nacht geschrieben>

Am 4. Juli diesen Jahres ist Herling in Neapel gestorben.

<Welt ohne Erbarmen>, das jetzt in einer nach dem polnischen Original vollständig revidierten Fassung zum Polen-Schwerpunkt der Frankfurter Buchmesse wieder aufgelegt wird, liest man ein halbes Jahrhundert nach der Niederschrift und zehn Jahre nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems mit unverminderter Erschütterung.

 

"Zum Erstaunlichsten und Bewundernswertesten im geistig armen Leben dieser <Totenhäuser> gehört die hervorragend entwickelte Beobachtungs­gabe jedes erfahrenen Häftlings."  

Auch Herling verfügt über diese Beobachtungsgabe. Darüber hinaus ist er ein glänzender Formulierer. Er lässt die Tatsachen für sich sprechen, verdichtet sie aber, gerade wenn der Leser überhaupt nicht darauf gefasst ist, zu Bildern und Metaphern von eigentümlicher Poesie. Die nächtliche Baracke mit den sich stöhnend herumwälzenden Gefangenen inspiriert ihn zu folgendem Satz: "Wie ein Geisterschiff, hinter dem der Tod her ist, schwamm unsere Baracke über die mondlose See der Nacht und trug die schlafenden Galeerensklaven mit sich fort."

Die (natürlich heimliche) Lektüre von Dostojewskis "Aufzeichnungen aus einem Totenhaus" macht ihm die schreckliche Kontinuität der russischen Straflager über alle Systemveränderungen hinweg deutlich und stürzt ihn in einen Abgrund von Verzweiflung:

"Ich wusste damals noch nicht, dass das einzige, wovor man sich in Gefangenschaft mehr hüten muss als vor Hunger und dem physischen Tod, der Zustand des vollen Bewusstseins über die Ausweglosigkeit der Lage ist. Bis dahin hatte ich wie die anderen Gefangenen dahingelebt und unwillkürlich alles vermieden, was mich zum Nachdenken über mein eigenes Dasein hätte bringen müssen.

Dostojewski jedoch mit seiner stillen und breiten Erzählung, in der jeder Tag der harten Arbeit in der Gefangenschaft sich zu Jahren dehnt, riß mich mit, wie die Wogen eines schwarzen Flusses der Verzweiflung, der durch unterirdische Kanäle fließt und in die ewige Finsternis mündet. Vergeblich versuchte ich gegen die übermächtige Strömung anzuschwimmen. 

An den Steinwänden dieses Höhlenlabyrinths, von denen das Wasser herabtropfte und die im Dunkel seltsam funkelten, sah ich in meinen Fieber­phantasien nur lange Reihen von Namen, die Namen jener, die vor uns hier gewesen waren und die Spuren ihres Lebens in die Felsen eingeritzt hatten, bevor sie für immer von der finsteren, schlammigen Flut mit einem leisen Glucksen verschluckt worden waren. 

Ich sah sie alle, wie sie dort knieten, sich an den glitschigen Steinwänden anklammerten, sich für einen Augenblick erhoben und dann gleich wieder zurückfielen; wie sie mit verzweifelten Stimmen um Hilfe riefen, die aber in der Totenstille des Verlieses ungehört verhallten; wie sie mit den Fingern sich an jedem Felsvorsprung festkrallten, um doch noch dem dunklen Strom zu entgehen, der alles und jedes erbarmungslos in das dunkle Meer der Vorherbestimmung mit sich riß. 

Und wenn sie schließlich wehrlos versanken, spülte die schwarze Woge andere an ihren Platz, die unter der Bürde des Leidens wankten, wie sie es getan, und mit aller Gewalt den verhängnisvollen Strudeln zu entkommen versuchten — und ich wusste, dass wir diese neuen Opfer waren, dass auch wir von dem Strom verschluckt werden würden ..."

 

Ein Dante mit all seiner Höllenphantasie hätte sich die Zustände nicht ausmalen können, die in Jercewo und seinen Nachbarlagern herrschten. Etwa das grausame Regime der "Urkas", der Schwerverbrecher, die nachts Tribunale gegen "Politische" abhielten und die Opfer langsam zu Tode marterten

Zu Herlings Zeit war diese anarchistische "Pionierphase" der Straflager allerdings schon vorbei, übten die Urkas ihr Schreckens­regiment ganz ordentlich unter der Oberaufsicht der Lagerleitung aus. 

In welchem Höllenkreis hätte Dante die Arbeit der Holzfäller angesiedelt, die zwölf Stunden im Wald schuften mussten, bei dreißig Grad minus, die durchnässt und durchgefroren ins Lager zurückwankten mit der Aussicht auf etwas Brot und Suppe und den sicheren Tod durch Entkräftung.

Was hätte Dante für Worte gefunden für die Elendsgestalten der Nachtblinden — nachtblind durch Hunger — und der Wahnsinnigen — wahnsinnig durch Hunger —, oder für die "Leichenhalle", in der diejenigen, die sich durch die Schinderei vollends ruiniert hatte, ihre letzten Lebenstage verdämmerten? Wie hätte Dante die entsetzliche Lage der Frauen beschrieben, die Freiwild für die verrohten Männer waren, wenn sie keinen "Beschützer" unter dem herrschenden Schwer­verbrechern fanden?

"Manche von ihnen gaben sich nicht nur in der Hoffnung hin, sich ihr Leben ein wenig zu erleichtern, sondern auch weil sie sich nach Mutterschaft sehnten. Man darf darin allerdings kaum den Ausdruck eines echten Gefühls sehen. Schwangere Frauen sind nämlich in den Lagern drei Monate vor und sechs Monate nach der Niederkunft von der Arbeit befreit. Sechs Monate hielt man für ausreichend, um das Kind zu nähren und so weit aufzuziehen, daß man es der Mutter fortnehmen und zu irgendeinem ihr nicht bekannten Ort bringen konnte. 

Die Entbindungsbaracke in Jercewo war immer voll belegt mit Frauen, die ihren schwangeren Leib mit feierlicher Würde vor sich herschoben, wenn sie sich in der Küche ihre Suppe holten. Aber von Gefühlen, von echten menschlichen Gefühlen kann wohl kaum die Rede sein, wenn sich der Liebesakt vor aller Augen oder bestenfalls in der Kleiderkammer, zwischen Stapeln von stinkenden, verschmutzten Lumpen vollziehen musste."

Herling beschreibt, wie das eine oder andere schöne, stolze Mädchen ins Lager eingeliefert wird, wie sein Stolz gebrochen, seine Schönheit geschändet wird und dieselben Männer, die Wetten auf den Zeitpunkt ihres "Falls" abgeschlossen haben, sie später als "Lagerhure" verhöhnen. Herling selbst enthält sich des Urteils, in diesem Fall wie in anderen, über das Opfer wie über die Täter:

"Ich habe mich wiederholt davon überzeugt, daß ein Mensch nur unter menschlichen Bedingungen menschlich sein kann, und ich halte es für ein wahnwitziges Unterfangen, ihn nach den Taten zu beurteilen, die er unter unmensch­lichen Bedingungen begangen hat — das wäre genau so, als mäße man Wasser am Feuer und die Erde an der Hölle. Aber ein Schriftsteller, der ein sowjetisches Arbeitslager objektiv beschreiben möchte, muß in die Tiefen der Hölle hinuntersteigen, wo sich für die unmenschlichen Taten keine menschlichen Motive entdecken lassen. Dort blicken ihn die qualvoll verzerrten Gesichter seiner toten und vielleicht noch lebenden Leidensgenossen an, und ihre von Hunger und Kälte blauen Lippen flüstern: <Sag die ganze Wahrheit über uns, sag, was man aus uns gemacht hat.>"

Kreaturen hat man aus ihnen gemacht, die vom Hunger zum Äußersten getrieben werden: 

"Hunger... Hunger ist ein furchtbares Gefühl. Der Körper gleicht einer überheizten, schlecht geölten, auf hohen Touren laufenden Maschine. Unter den physischen Einwirkungen des Hungers verliert die schon schwankende menschliche Würde ihren letzten Halt. Wie oft habe ich mein blasses Gesicht an die vereiste Scheibe des Küchen­fensters gepreßt, um mit einem stummen Blick von dem Koch, dem Leningrader Dieb Fjedka, eine Extrakelle dünner Suppe zu erbetteln.

Und ich erinnere mich, dass mein bester Freund, ein alter Kommunist und Jugendgefährte von Lenin, der Ingenieur Sadowski, mir einmal auf der leeren Plattform vor der Küche meine volle Suppenschüssel entriss, im selben Augenblick mit ihr davonlief und schon, ehe er die Latrine erreicht hatte, das heiße Zeug mit fiebernden Lippen hinunterschlang. Wenn es einen Gott gibt, dann soll er jene gnadenlos bestrafen, die ihre Mit­menschen durch Hunger körperlich und seelisch zerstören."

Die Vernichtung der Persönlichkeit begann bereits bei der Verhaftung und den darauf folgenden Verhören. Herling: 

"Die sowjetische Rechtstheorie beruht auf dem Grundsatz, das niemand unschuldig ist."

Die Aufgabe der Untersuchungsbeamten vom NKWD (so hieß damals jenes Terrorinstrument, das sich vorher GPU und später KGB nannte) war es, dem Häftling ein Verbrechen zu präsentieren und ihn soweit zu bringen, es zuzugeben. Das gelang immer — wenn der Häftling nicht schon unter den Schlägen der Folterknechte starb. Oft waren Schläge aber gar nicht nötig:

"Ein Mensch, der Nacht für Nacht geweckt wird, der während der Verhöre nicht einmal die elementarsten körper­lichen Bedürfnisse befriedigen kann, der stundenlang ohne Unterbrechung auf einem kleinen harten Stuhl sitzen muss, von dem grellen Licht einer starken Birne geblendet, von plötzlichen, hinterlistigen Fragen und phantastischen, aufgebauschten Beschuldigungen überfallen, auf sadistische Weise durch den Anblick von Zigaretten und heißem Kaffee auf dem Tisch vor ihm gequält, ist bereit, wenn dies alles sich manchmal monate-, ja jahrelang wiederholt, alles zu unterschreiben. Das ist aber keineswegs der springende Punkt. Erst dann hält man einen Gefangenen für <reif>, mit seiner Unterschrift dem allem eine Ende zu setzen, wenn seine Persönlichkeit bereits offensichtlich in ihre Einzelteile zerfällt.  

In der logischen Gedankenassoziation tauchen Lücken auf, Gedanken und Gefühle werden in ihrem Gefüge gelockert und klappern gegeneinander wie die Teile einer zertrümmerten Maschine; die Treibriemen, die die Vergangenheit mit der Gegenwart verbinden, rutschen von ihren Rädern und hängen schlaff auf dem Grund des Bewußtseins; alle Gewichte und Hebel des Verstandes und Willens werden verbogen und weigern sich zu funktionieren, der Zeiger des Druckmessers springt wie besessen von Null bis zum Maximum und wieder zurück. Die Maschine läuft zwar noch auf Hochtouren, aber sie arbeitet nicht mehr wie zuvor — alle das, was einem eben noch wie Wahnsinn erschien, wird plötzlich wahrscheinlich, wenn auch nicht wahr; das Gefühl verliert seine Farbe, der Wille seine Kraft."

Der Häftling ist bereit, alles zu unterschreiben — und sogar zu glauben, dass er all das getan hat, was man ihm vorwirft, so absurd es auch sei. 

 

Anlass für die Verhaftung kann eine Lappalie sein. Eine Sängerin trifft es, weil sie mit dem japanischen Botschafter getanzt hat. Einen Schauspieler, weil er in einem Historienfilm einen Adligen zu edel aussehen ließ. Einen einfachen Matrosen wegen einer Nacht mit einer französischen Prostituierten. Herling selbst wegen des Grenzüberschritts und wegen seines Namens: Da die Russen aus einem H ein G machen, glaubte einer seiner Vernehmer, einem Verwandten von Hermann "Gehring" auf die Spur gekommen zu sein! 

Tausende und Abertausende wurden allein wegen ihrer Religion, ihrer Nationalität oder ihres sozialen Status vom Gulag verschlungen. Herling begegnet immer wieder polnischen Landsleuten, vom fast zu Tode geprügelten General bis zu armen Juden, die aus dem Ghetto in die vermeintliche Freiheit des Sozialismus geflüchtet waren.  

Aber der Anlass der Verhaftung ist ohnehin gleichgültig; die Verurteilung erfolgt stets wegen beeindruckender Staatsverbrechen: Verschwörung gegen die Regierung, Spionage für das feindliche Ausland, Sabotage oder ein geplantes Attentat. 

Einmal im Lager, konnte wiederum niemand sicher sein, dass das Strafmaß nicht willkürlich verlängert wurde. Da dies ständig geschah, konnte niemand wirklich hoffen, jemals freizukommen. 

Und wer schließlich doch entlassen wurde, war zu einem Leben in Freiheit vielfach gar nicht mehr fähig. Die systematische Zerstörung des Individuums, die Vernichtung noch verbliebener menschlicher Regungen wird im Arbeitslager vollendet. 

 

"Kann man ohne Mitleid leben?" fragt Herling und gibt selbst die Antwort: "Man kann."

"Die Lebensbedingungen in Jercewo zerstören jede Solidarität schon im Ansatz. Die Gefangenen werden in drei "Nahrungs­klassen" eingeteilt, bekommen je nach Arbeitsleistung also wenig, ganz wenig oder fast nichts zu essen. Die Aussicht auf einen Kanten Brot mehr presst aus den permanent hungrigen Menschen das letzte an Leistungswillen heraus — und beschleunigt zugleich ihr Siechtum. 

Belohnt wird aber immer die Gruppenleistung, was dazu führt, dass schwächere Gefangene auch noch dem Druck ihrer Leidensgenossen ausgesetzt sind. Die Berechnung der Arbeits­leistung, Grundlage der Lebens- und Leidens­verlängerungs­rationen, erfolgt mit skrupuloser Bürokratie, so wie überhaupt jeder Willkür, jeder Grausamkeit ein scheinlegales Mäntelchen umgehängt wird, wie jedem Justizmord nach einem spektakulären Schauprozess ein erpresstes "Geständnis" vorangehen muss. 

Einer der größten Alpträume des Sowjetsystems ist die fixe Idee, seine Opfer mit allem gesetzlichen Zubehör liquidieren zu wollen. Es genügt ihnen nicht, jemandem eine Kugel durch den Kopf zu schießen, nein, er muß noch vor Gericht höflich darum bitten. Es genügt ihnen nicht, jemanden niederträchtig einer Sache zu beschuldigen, die er nie begangen hat; sie müssen auch noch Zeugen haben, die das beschwören."

Und solche Zeugen finden sich leicht. Man muss ihnen bloß drohen, sie dem Todeskommando der Holzfäller zuzuteilen, wenn sie nicht das Gewünschte aussagen. Von einem solchen Fall erzählt Herling ganz am Ende seines Buches. Da erhält er, schon ein paar Jahre wieder in Freiheit, den Besuch eines einstigen Mithäftlings aus Jercewo, der sein Gewissen erleichtern will. Im Lager hatte man von ihm verlangt, vier Deutsche zu belasten und so einen Vorwand zu liefern, sie zu erschießen. Der NKWD-Offizier macht ihm klar, dass er bei einer Weigerung in den Wald müsse. Gezwungen, die vier oder aber sich selbst in den sicheren Tod zu schicken, wählt er den Tod der anderen — und bittet Herling um ein Wort des Verständnisses. Der verweigert es:

"Am Tag nach meiner Entlassung aus dem Lager wäre ich vielleicht fähig gewesen, ohne Schwierigkeit das Wort auszusprechen, um das er mich bat. Ja, vielleicht hätte ich es getan. 1945 jedoch lagen schon drei Jahre in der Freiheit hinter mir, drei Jahre, in denen ich wieder wie ein richtiger Mensch gefühlt, geliebt, Freundschaft und Sympathie gefunden hatte. Die Tage, an denen wir wieder dem Leben zugewandt sind, ähneln in keiner Weise denen, in denen wir ständig den Tod vor Augen haben. Ich war wieder ein Mensch unter Menschen, mit menschlichen Begriffen und Maßstäben. Und sollte ich sie jetzt wieder aufgeben und verraten? Nein, ich konnte das Wort nicht sagen."

Herling lässt den Kameraden unerlöst. Ebenso den Leser: Dem wird deutlich gemacht, dass niemand, der sein Leben in Freiheit und Komfort verbracht hat, sich ein Urteil über das Verhalten in jener "Welt für sich" — so heißt das Buch im Original — erlauben kann. Schwer genug, zu begreifen, dass diese <Welt ohne Erbarmen> von Wesen geschaffen, betrieben und bestückt wurde, die auch Menschen waren.

 

Das sowjetische Lagersystem mit seinen Millionen Sklaven, die sich zu Tode arbeiten mussten, kann man zynisch-rational als notwendige Konsequenz eines mit Terror und Willkürgewalt regierten, ökonomisch nicht lebensfähigen Systems beschreiben. Herlings <Welt ohne Erbarmen> stützt diese Deutung durchaus.

Aber sein Bericht, der den Vergleich mit Dostojewskis <Totenhaus> nicht zu scheuen braucht, gibt dem Archipel Gulag eben noch eine weitere Dimension: die eines zynischen Experiments, eine Welt zu schaffen, in der dem Menschen alles Menschliche genommen wird.

 

Die Wiederveröffentlichung des Buches erinnert daran, dass dieses Experiment nicht nur in Hitlers Konzentrations­lagern, sondern auch im Herrschafts­bereich des Sowjet­kommunismus betrieben wurde; systematisch und system­stabilisierend. Dazu gehörte auch, dass die Existenz der sowjetischen Lager und die in ihnen betriebene Vernichtung durch Arbeit dreist geleugnet wurden. 

Nicht nur die glaubensstarken und naiven "Compagnons de route", die intellektuellen Salon­kommunisten aus dem Westen, wurden getäuscht. Auch Maxim Gorki, der angesehenste Autor des neuen Russland. Der ließ nach einem Besuch in einem für ihn nett hergerichteten Arbeitslager eine Hymne auf den sowjetischen Strafvollzug ab, getreu dem morgensternschen Motto, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. 

Diese Haltung spiegelt sich in zwei Briefwechseln, die Herling seinem Buch hinzugefügt hat. Darin leugnet der legendäre Plansollübererfüller Alexej Stachanow die Existenz von Zwangsarbeit in der Sowjetunion, und ein Mitglied der Akademie der Wissenschaften namens Trainin erklärt, mit Berufung auf das Strafgesetzbuch der UdSSR, Arbeit als humane Form der Bestrafung, die dem im Westen praktizierten Einsperren vorzuziehen sei, zumal alle Bestimmungen des Arbeitsschutzes, der Arbeitszeit und der Ruhetage eingehalten würden. 

Herlings Antwort ist kurz, bitter und sachlich:

"Über das Strafgesetzbuch mit Dr. Trainin zu diskutieren, bin ich darum nicht in der Lage, weil kein sowjetischer Gefangener es kennt oder gar ernst nimmt, denn 90 Prozent der Gefangenen sind ohne Gerichts­verhandlung zu Zwangs­arbeitslager verurteilt worden. Ein Gefangener in einem Zwangsarbeitslager arbeitet täglich zwölf Stunden bei einer Temperatur von minus 30 bis 40 Grad, seine Tagesverpflegung besteht aus zwei Tellern wässeriger Suppe und etwas mehr als einem Pfund Brot. Nach drei Jahren solcher Arbeit werden die Gefangenen in die Sonderbaracke für nicht mehr Arbeitsfähige verlegt. Dort wird den Gefangenen die große Gnade gewährt, in Frieden sterben zu dürfen, ohne noch einmal arbeiten zu müssen. In russischen Lagern sprechen die gebildeteren Gefangenen von sich selber, unter Anwendung des bekannten Wortes aus Dostojewskis "Totenhaus", als Lebendigbegrabenen."

Eine ausführlichere Antwort hat er den Zweiflern mit seinem Lagerbericht gegeben.

Unter westeuropäischen Intellektuellen hielt sich trotz dieses Zeugnisses und etlicher anderer die Meinung, in der Sowjetunion diene Zwangsarbeit nur der Besserung von Straftätern, sei sozusagen ein großherziges Angebot der Parteiführung. Überhaupt dürfe man auf Missstände in der UdSSR besser nicht hinweisen, das diene nur dem Klassenfeind. 

Dieses Verdikt traf viele Kritiker des kommunistischen Systems, besonders die sogenannten Renegaten, von Koestler über Nizan bis zu Manès Sperber. Aber es nahm auch den Zeugnissen der Opfer die Wirkung.

Wer Gustaw Herlings <Welt ohne Erbarmen> heute liest, der kommt aus dem Staunen darüber nicht heraus, welch exquisite Blindheit sich große Teile der selbsternannten geistigen Elite in der freien Welt geleistet haben.

 

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