Gustaw Herling

Tagebuch bei Nacht geschrieben

  Auswahl 1984-1995

1995 bei Gustaw Herling

2000 bei Hanser
Ausgewählt und aus dem 
Polnischen übersetzt von Nina Kozlo.

Tagebuch bei Nacht geschrieben - Von Gustaw Herling (Autor) 

1995  (1984-1995)

449+30 Seiten (*1919)

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Kommbuch 

Günter Kunert Tagebuch 

 

 

 

1971 begann Gustaw Herling sein "Tagebuch bei Nacht" im Exil in Neapel. Es wird hier in einer repräsentativen Auswahl aus den Jahren 1984 bis 1995 vorgestellt, beginnend mit dem Orwell-Jahr bis zu Herlings Trennung von der 'Kultura'. 

Er reflektiert darin die großen Probleme seiner Zeit, die politische und kulturelle Entwicklung in Polen und Russland ebenso wie in Westeuropa. - Ein Hauptinteresse gilt der Entstehung des Totalitarismus in Politik und Kunst, der Frage nach dem Bösen, seiner Banalität oder Dämonisierung.  

Aber er besucht auch die schönsten und abgelegensten Kirchen in Neapel und berichtet über Ausstellungs­besuche oder Lektüreerfahrungen, vor allem über Tschechow und Kafka.

Damit wird die ganze Vielfalt seines Denkens und Schreibens zugänglich, denn die Tagebücher gelten als sein Hauptwerk.  

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Dass die gesammelten Kolumnen eines Autors, der "die Zehn Gebote ernst nimmt" und für seine polnischen Landsleute seit Jahrzehnten schon "lebende Legende" ist, endlich auf Deutsch erscheinen, ist für Stephan Wackwitz ein wichtiges Ereignis.

In diesem Band sind Beobachtungen über das "ängstlich zitternde Europa" zwischen 1984 und 1995 niedergeschrieben, die sich, so der Rezensent, in ihrem "Substanzialismus" und ihrer "Nichtironie" frappierend vom vorherrschenden Diskurs des Westens unterscheiden.

Als Beispiel zitiert Wackwitz einige Notizen zu Erscheinungen der zeitgenössischen Kunst, die den Autor als "Atrophie von Phantasie und Intelligenz" erschüttert haben.

Der seit Jahrzehnten in Italien lebende Autor ist einer jener Intellektuellen, urteilt Wackwitz, die schon früh keine Erneuerung des Sozialismus durch Glasnost mehr erwarteten und sich stattdessen um "wichtigere Fragen" bekümmert haben.

Perlentaucher über FAZ 21.03.2000

 

3. Januar 1988  

149-150

Ich habe meine Zweifel, ob der Begriff »Fanatismus« (selbstverständlich mit dem Zusatz »ideologischer«) für Julia Piatnickajas <Tagebuch der Frau eines Bolschewiken>  - das vor kurzem in der Sowjetunion aufgefunden wurde und in Amerika auf russisch erschien - angemessen ist.

Für mich ist es vielmehr ein Zeugnis für den Wahn der Zeit der Großen Säuberung, um so interessanter, als die umnachtete Autorin stellenweise, in den wenigen kurzen Zwischenspielen geistiger Klarheit, zu verstehen scheint, mit welcher Krankheit Stalin und seine Helfershelfer ganz bewußt »das Land der siegreichen Revolution« ansteckten.

Piatnicki war ein verdienter, der Partei ergebener Bolschewik; im Augenblick der Verhaftung war er administrativer Leiter der Komintern. Seine Frau Julia, ebenfalls überzeugte Bolschewikin, liebte ihn, liebte ihn als Bolschewiken; sie gebar ihm zwei Söhne, die sie zu beispielhaften Bolschewiken erzog.

In diese glückliche bolschewistische Familie schlug im Jahr 1937 wie aus heiterem Himmel ein Blitz: Piatnicki wurde verhaftet, weil er sich kritisch über Jeschows45 »Sondervollmachten« geäußert hatte und seinen Widerwillen gegenüber einer blutigen Abrechnung mit der alten Lenin-Garde, die des »Verrats an der Revolution« beschuldigt wurde, bekundet hatte.

Kurze Zeit später wurde sein ältester Sohn, der sechzehnjährige Igor, verhaftet. Julia wird von da an zur Aussätzigen: Sie verliert ihren Arbeitsplatz, ihre Freunde und Bekannten, es droht der Verlust ihrer Wohnung. Sie lebt mit dem dreizehnjährigen Wowa in Armut, sucht tagsüber nach einer Arbeit, rennt den Staatsanwaltsbüros und Gefängnissen die Türen ein, nachts schreibt sie an ihrem Tagebuch und wartet darauf, daß an die Tür geschlagen wird. 

Piatnicki leistete, wie aus den Anmerkungen zu Julias Tagebuch zu ersehen ist, bei den Verhören ein Jahr lang Widerstand, obwohl er unmenschlich mißhandelt und gefoltert wurde. 1938 wurde er nach zwanzigminütiger »Gerichtsverhandlung« zum Tode verurteilt und sofort erschossen.

     

Ossip ("Hans") Aronowitsch Pjatnizki  

wikipedia  Ossip A. Pjatnizki   *1882 in Ostlitauen bis 1938  

dnb.Person     dnb.Nummer  

nemesis.marxists.org/pjatnizki-aufzeichnungen-eines-bolschewiks1.htm

ähnlich: 

Tagebuch von Frau Julia Pjatnizki 

Tagebuch von Nina Lugowskaja

 

Aus den Anmerkungen erfahren wir auch das weitere Schicksal Julias. In einem Lager in Karaganda zu Beginn des Winters 1940 starb sie isoliert in einer Baracke, die eigentlich für Schafe bestimmt war. Sie wurde als Person, die »den Verstand verloren hat« und infolgedessen nicht unter Menschen leben kann, isoliert und zu den Tieren gesteckt. Ihr »attestierter Wahnsinn« bestand darin, daß sie ununterbrochen Stalin verfluchte. Aber wirklich umnachtet war sie damals gar nicht mehr, ganz im Gegenteil(!), sondern zu jener Zeit zwischen Juli 1937 und Mai 1938, als sie nachts ihr Tagebuch schrieb. 

Der wirkliche Wahnsinn, den Stalin bewußt und kühl berechnend der Partei einpflanzte, ist es nämlich, der den Leitfaden dieser aufgewühlten, in größter Erregung zu Papier gebrachten Aufzeichnungen der gehetzten »Frau eines Bolschewiken« bildet - einer gehetzten und zugleich zerrissenen. 

»Ich glaube Piatnicki, aber noch mehr glaube ich an das strahlende Wirken Jeschows. Sonnenfinsternisse kommen vor, aber nichts kann die Sonne ersetzen. Die Partei ist die Sonne unseres Lebens.«

»Wie sehr möchte ich Jeschow über meine guten Gedanken berichten!« Die »guten Gedanken« beziehen sich auf die Verurteilung Bucharins und seiner Mitangeklagten zum Tod. — »Der Tod ist zu wenig; ich wünsche mir eine grauenvollere Qual für sie: Sie sollten in Käfigen im Museum der Konterrevolution sitzen und die Sowjetbürger sollten sie täglich betrachten, wie wilde Tiere, damit der Haß auf sie niemals verlöschen möge.«

Es kommen auch »böse Gedanken« vor, wenn die Sorge um Mann und Sohn überhand nimmt; dann hetzt sie zum Staatsanwalt und fordert, daß sie als potentielle Verbreiterin der konterrevolutionären Pest »von der Gesellschaft isoliert werde«. — »Mich quält, daß ich Piatnicki nicht hassen kann; zuerst dachte ich, daß ich ihn hassen würde, daß es gar nicht anders ginge, aber nun zweifle ich; obwohl ich kein Recht habe zu zweifeln

Der dreizehnjährige Wowa ist ihr Trost. »Verdammter Vater — brüllt er —, er sollte erschossen werden!« Dies ist für die Mutter ein Beweis, daß der Junge an »die Richtigkeit der Entscheidungen und Aktivitäten des NKWD glaubt, daß er also auch jetzt - unabhängig von dem Gefühl tiefer Bitterkeit - richtig eingestellt ist«.

Piatnickajas älterer Sohn [Igor], der Herausgeber ihres Tagebuches, informiert in einem Kommentar, daß sie in jungen Jahren eine Zeitlang an Schizophrenie gelitten habe, als Erklärung ihrer damaligen Geistesverwirrung. Diese Krankheit war jedoch allgemein verbreitet, Zeichen der Zeit und bolschewistische Methode der Machtausübung.  

Die poststalinistische Kur hat niemals ihre Ursprünge erreicht; deshalb ist es wohl besser, sich vorerst noch mit der Bewertung der Perestrojka  - als Vorstadium völliger Rekonvaleszenz, ohne die Gefahren eines Rückfalls - zurückzuhalten. 

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150


5. Januar 1988

151-151

In Brodskys Nobelpreis-Rede ist sein Glaube durchaus sympathisch, daß »die Menschheit nur durch Poesie gerettet werden kann« (oder weiter gefaßt durch Literatur). Mit einem Augenzwinkern bekennt Brodsky, wiederholt davon geträumt zu haben, den Staat durch eine Bibliothek zu ersetzen.

Weniger scherzhaft klingt seine Versicherung, daß wir glücklicher auf dieser Erde leben würden, wenn wir unsere Vertreter auf Grund ihrer Leseerfahrungen, nicht auf Grund ihrer politischen Programme wählten.

»Die potentiellen Lenker unserer Geschicke« — meint Brodsky — »sollten anstatt über den künftigen Kurs ihrer Außenpolitik über ihr Verhältnis zu Stendhal, Dickens und Dostojewski befragt werden.«   

Bei dem vom diesjährigen Nobelpreisträger unterbreiteten Vorschlag zur Verbesserung unserer Welt, nicht der besten aller Welten, überlief mich ein Schauer. 

Ähnlich reagierte ich einst bei der Behauptung des großen Nobelpreisträgers Thomas Mann, daß man politische Systeme an ihrem Verhältnis zu den »Klassikern der Literatur« messen solle. Silone hat diese Dummheit als »Mandarinat« bezeichnet.

Belesenheit ist ein trügerisches Kriterium für Weisheit, Edelmut und Ehrlichkeit eines Menschen.

Ich vermute, daß Lenin wie auch Stalin, die in jungen Jahren gern die sogenannte »schöne Literatur« lasen, jene von Brodsky erwähnten Schriftsteller kannten. Mit Sicherheit wurden sie von Trotzki gelesen, und er würde viel Interessantes darüber sagen können, denn er war zwar ein einseitiger, aber kluger und scharfsinniger Leser. 

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 Brodski bei detopia (1940-1996) Nobelpreis-Literatur 1987      wikipedia  N. Mahfouz  (1911-2006) Nobelpreis für Literatur 1988    Trotzki bei detopia

151


25. September 1990 

243-246

Solschenizyns <Offener Brief> an die sowjetische Führung vom 5. September 1973 (er erschien in den größten europäischen und amerikanischen Zeitschriften) wurde im Westen mit einem leisen Lächeln gelesen. Aber warum? Es ist mir nie gelungen, eindeutig festzustellen, warum. Wahrscheinlich war es ein Lächeln, in dem sich Sympathie (manchmal auch Bewunderung) mit Ironie und einer Prise Mitleid verbanden. 

Obwohl schon damals offensichtlich war, welches Format Solschenizyn als Mensch und Schriftsteller hat, erschienen die von ihm dem Kreml erteilten Ratschläge vielen als größenwahnsinnig: als ob ein moderner David, ein wehrloser Prophet, einen mächtigen, in eine schwere Rüstung gesteckten Goliath zu überzeugen suchte. Schnell wurde Solschenizyn nach Veröffentlichung seines <Briefes>, vor allem in den Kreisen auch der gemäßigten Linken, das Etikett eines altväterlichen Reaktionärs, russischen Nationalisten und Kirchenpredigers angehängt.

Die große römische Wochenschrift <L'Espresso> lud mich damals zur Teilnahme an einer Diskussion, oder vielmehr an einem Dialog über den <Brief> ein. Mein Gesprächspartner war Lucio Colletti, Professor für Philosophie an der Universität Rom, Hegel-Spezialist, intelligenter Kenner des Marxismus und der kommunistischen Problematik, ein brillanter Kopf. Auch bei ihm bemerkte ich dieses sonderbare Lächeln. Bei aller Hochachtung für Solschenizyn und einem äußerst kritischen Verhältnis zur Sowjetunion und zum Kommunismus schien er in dem <Brief> eine Donquichotterie zu sehen, »inadäquat« im Vergleich zu der Macht des angegriffenen Systems. 

17 Jahre sind vergangen, seit der Brief geschrieben und veröffentlicht wurde. Die Reaktion im Westen machte mir bewußt, wie wenig man hier über die Sowjetunion wußte, über die dort schwelende Krise, wie sehr man (unabhängig von eigenen politischen Ansichten) an die Stabilität des Sowjetsystems glaubte, an die endgültige Gestaltung des Sowjetmenschen, des homo-sovieticus. 

Sacharow polemisierte zwar — meiner Meinung nach großenteils zutreffend — gegen den <Brief> aber er hatte keine Zweifel daran, daß Solschenizyn gut Bescheid weiß über das Krebsgeschwür, das den Staat Lenins und Stalins zerfrißt. 

Sacharow warf Solschenizyn vor, die Rolle der Ideologie in der Sowjetunion zu überschätzen (er schrieb, daß »die gegenwärtige sowjetische Gesellschaft von ideologischer Indifferenz und einer pragmatischen Ausnutzung der Ideologie als bequemer Fassade beherrscht wird«) und der unaufhaltsamen Industrial­isierung und Urbanisierung allzu starken Widerstand zu leisten. Er unterstrich das »Utopische« in Solschenizyns Plan zur Krebsbehandlung.

In seiner Antwort darauf konnte sich Solschenizyn des Ausrufs nicht erwehren: »Soll man denn in unserer ausweglosen Situation nicht manchmal auch eine Utopie versuchen?«

Die im Juli 1990 geschriebene und dieser Tage herausgegebenen Broschüre Solschenizyns, die ebenfalls sogleich in viele Sprachen übersetzt wurde und den Titel <Kak nam obustroit Rossiju?> (Wie sollen wir Russland umgestalten?) trägt, ist ein aktuelles Gegenstück zu jenem Brief vor 17 Jahren, wenngleich sie sich nicht an die gegenwärtigen Machthaber in der Sowjetunion wendet.  

Solschenizyn bei detopia

Solschenizyns Aufgabe ist heute einfacher: Er spricht zu Menschen, die überzeugt sind — das leicht ironische Lächeln in den Gesichtern seiner westlichen Zuhörer ist einem Ausdruck des Grauens gewichen; endlich sieht jeder, wie der Gaul beschaffen ist (d.h. die Sowjetunion); was wird (eine besonders häufig im Westen gestellte Frage), wenn das letzte Imperium entweder in einem Prozeß allmählicher Auflösung zusammenbricht oder aber noch in Todeszuckungen mit Hilfe eines Militärputsches eine aggressive, waghalsige Diktatur hervorbringt?

Es ist paradox, daß der russische David jetzt den wankenden, sich kaum auf den Beinen haltenden sowjetischen Goliath stützen möchte. Aus Angst vor Anarchie, vor einer Wiederholung des Jahres 1917, »sollte man im Augenblick ein wenig vom gegenwärtigen Staatssystem beibehalten, ganz einfach deshalb, weil es schon besteht«.

Aber selbstverständlich muß mehr über Bord geworfen als »beibehalten« werden. Solschenizyn empfiehlt im Rahmen seiner Forderung nach »Selbst­beschränkung« das Abstoßen von elf Sowjetrepubliken; er appelliert, aber er appelliert nur, an die Ukraine und Weißrußland, in einer Union mit Rußland zu bleiben. Er meidet keine politische Einflußnahme, tritt aber vor allem als Moralist auf. 

»Das politische Leben ist bei weitem nicht die wichtigste Lebensäußerung des Menschen. Politik ist für die meisten Menschen durch­aus keine ersehnte Beschäftigung. Je mehr das politische Leben in einem Land ausgebaut ist, desto größere Verluste verzeichnet das geistige Leben. Die Politik sollte die geistigen Kräfte und den schöpferischen Atem eines Volkes nicht ersticken.«

Wahrscheinlich werden Berufspolitiker an dieser Stelle mit den Achseln zucken und die Hände ringen wegen Solschenizyns »Naivität«. 

Meiner Meinung nach sind in der Broschüre Solschenizyns moralische Erwägungen am wertvollsten.

Möglicherweise ist es in der modernen industriellen Massengesellschaft bereits zu spät für diese Art von Empfindsamkeit und Weisheit.

Aber wir sollen wenigstens wissen, wohin wir gehen und was uns droht, um zu versuchen, die Würde des Gemeinschaftslebens zu retten. 

Solschenizyn spricht überaus treffend das Lob einer »Demokratie der kleinen Räume« aus, mißt den Provinzen und Selbstverwaltungen der untersten Stufe richtigerweise sehr großes Gewicht bei und versteht den erzieherischen Wert einer unmittelbaren Beteiligung des Menschen in der Entwicklung kleinerer, gesellschaftlich und moralisch geschlossener Gemeinschaften. 

Er beruft sich dabei auf alte russische Muster, verbirgt aber gleichzeitig nicht, wieviel ihm der Aufenthalt in der Schweiz, im Kanton Appenzell, gegeben hat. 

Bezeichnend ist, daß sich bei Silone der Widerwille (um nicht mehr zu sagen) gegenüber maßlos aufgeblasenen, von Anonymität gekennzeichneten gesell­schaft­lichen Organismen und Parteiapparaten eben während des Exils in der Schweiz verfestigt hatte, und zwar zugunsten einer wirklichen Teilnahme des Bürgers an lebendiger, authentischer, nicht nur auf die Fahnen geschriebener, auf eine parlamentarische (oft nur formale) Vertretung reduzierter Demokratie.

243-246

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Tagebuch bei Nacht geschrieben - Von Gustaw Herling (Autor)