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Einleitung

 

Am Anbeginn war Kunze mit sich eins, daß Hinze zu seinem Glück gezwungen werden müsse. Denn selber schien der nicht zu wissen, was ihm gut tut. Er stand an seiner Maschine, man mußte ihn mit der Nase auf den Plan und die Prämie stoßen. Als Kunze aber in entwickelter Phase wieder an die Maschine trat, sah er Hinze nicht klüger geworden; jetzt lief ohne materielle Hebel nichts mehr. Der Zwang hatte nicht angeschlagen. Es half nicht durchzugreifen; irgendwie griff die Methode nicht. Er schlich in seine Etage zurück, von einem fantastischen Gedanken verfolgt: <Es gab vielleicht keine Macht auf Erden, die Hinze wider Willen befreien - ihn ohne sein Wissen glücklich machen konnte.>! 

Volker Braun: Fantastischer Gedanke   wikipedia  Volker_Braun *1939 in Dresden

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Der vormundschaftliche Staat — mit diesem Titel will ich an das hierzulande stillgelegte Unternehmen Aufklärung erinnern. Denn spätestens seit dem "Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse" sind die Hoffnungen aus den Gründerjahren des Staats­sozialismus verflogen, daß geänderte Eigentums­verhältnisse an den Produktions­mitteln und ein aufrechter Gang des Menschen automatisch zusammengehen.

Wenn diese Hoffnungen sich aber nicht erfüllt haben, dann ist erst einmal wieder die Frage zu klären, worin unser Leiden im Staatssozialismus besteht. Schließlich muß das Verstehen und Innewerden des wahren Leidens immer der erste Schritt eines Weges sein, der zur Aufhebung des Leidens führt. Jedenfalls lehren es uns so die <Vier Vortrefflichen Wahrheiten>.

Bilanzieren wir einmal unvoreingenommen die für eine aufgeklärte, selbstbestimmte Existenzweise verfüg­baren objektiven und subjektiven Möglichkeiten, dann ist der Widerspruch zwischen der heute schon lebbaren und der tatsächlich verwirklichten menschlichen Verfassung gar nicht zu übersehen. Ganz allgemein können wir deshalb sagen, wir leiden an dem Unvermögen, das Prinzip der Selbstbestimmung in unserem Handeln zu verwirklichen. Und der vormundschaftliche Staat ist der krasseste Ausdruck dieses Unvermögens.

Wer sich in das Gedächtnis ruft, wie Immanuel Kant die epochale Frage "Was ist Aufklärung?" beantwortet hat, dem wird schlagartig das hier angesprochene Defizit praktischer Vernunft bewußt, das den Alltag des Sozialismus so geleithammelt erscheinen läßt. Welche Gedanken würden wohl wachgerufen, läse man den zumeist gelangweilten Hörern einer beliebigen Philosophie­vorlesung an unserer hauptstädtischen Alma mater den berühmten einführenden Absatz der Kantischen Antwort auf die Aufklärungsfrage vor?

"... Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen."1

Und wer hätte den Mut, nach Sätzen solchen Zuschnitts noch den pikanten Einwand J. Hamanns vorzubringen, der den brandaktuellen Gesichtspunkt der "selbst­verschuldeten Unmündigkeit" spinozistisch wendet, indem er von "einer allerhöchst selbstverschuldeten Vormundschaft" spricht?

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Wie kümmerlich die Vernunft ist, die unter sozialistischen Verhältnissen waltet, veranschaulicht diese kleine Spekulation nur annähernd. Nichts wäre allerdings verhängnisvoller, als in diesen Zuständen ausschließlich die Objektivationen des Kräfte­parallelo­gramms einer totalen Macht im Staatssozialismus sehen zu wollen. Ohne die das moralisch-praktische Handeln lähmende "Angst vor selbständiger, freiheitlicher Lebensführung" oder allgemeiner: ohne die subjektive Rückendeckung der Politbürokratie durch die Machtunterworfenen in den Blick zu nehmen, sind die Voraussetzungen der "allerhöchst selbstver­schuldeten Vormundschaft" nicht aufzuklären.

Die wehleidige Selbsteinschätzung, wir allesamt seien "Opfer der politischen Macht", übersieht geflissent­lich, daß derjenige, der diesen Schluß für sich gezogen hat, selber meist durch Unterlassen zur Erhaltung eines Systems der Verunselbständigung beihilft. Die martialischen Drohgebärden der Sicherheits­apparate im Staatssozialismus sind natürlich nicht zu übersehen. Unter diesen Umständen wird es dem einzelnen wie nirgendwo sonst leichtgemacht, sich vor sich selber zu entschuldigen.

Die Opfermentalität ist eine Form des Selbst-Betrugs. In dieser Form erscheinen die Verhältnisse im Sozial­ismus stets wie mit einem Schleier der Negativität überzogen. Anderen dagegen erscheinen dieselben Verhältnisse grundsätzlich positiv. Die tatsächlich vorhandenen guten Seiten müssen in dieser zweiten Einstellung herhalten, damit wir uns einreden können, auch die übrigen Dinge, von denen wir längst Gegen­teiliges wissen, seien gar nicht so schlimm, wie wir denken.

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Ich glaube nicht, daß meine Betrachtungsweise frei von Selbstbetrug ist. Ich hoffe aber, die gegebene Darstellung des Sozialismus sei letztendlich weniger selbstbetrügerisch als andere; womit lediglich gesagt sein soll, daß diese Darstellung für sich in Anspruch nimmt, besser zum Verstehen des Staatssozialismus beizutragen. Wäre das der Fall, dann hätte das vorliegende Buch seinen Zweck erfüllt. Denn Verstehen ist ja immer auch ein Modus des bewußten Seins. Und im Verstehen wurzelt die Sicht, in der sich uns die Wirklichkeit darstellt.

Im Begriff <Vormundschaftlicher Staat> fasse ich meine Kritik am zeitgenössischen Sozial­ismus zusammen! Diesen Begriff verdanke ich der Lektüre des leider vergessenen Eduard Gans, des akademischen Lehrers von Karl Marx. Hegel überdenkend stellt Gans in seiner Gegenüberstellung der Staatsphilosophie einerseits und der preußischen Verfassungs­wirklichkeit andererseits fest, daß weder die Kategorien des absoluten noch des patriarchalischen oder des konstitutionellen Staats auf Preußen Anwendung finden könnten, weshalb die Rubrik gesucht werden müsse, die ihm eigentümlich sei. 

"Es kann nur eine solche sein", so die Antwort von Gans, "die von allen diesen Seiten eine Beimischung enthält, die am absoluten, väterlichen und verfassungs­mäßigen Staat teilhat, die den östlichen und westlichen Bestandteil zu verbinden und die Grundsätze der Allein­herrschaft in der Wirklichkeit einer mäßigen Freiheit auszuüben sucht. Diese Kategorie ist die des vormundschaftlichen Staates."2

Die Konsequenz aus dieser Begriffsbestimmung besteht für Gans wie bei der familien­rechtlichen Institution der Vormund­schaft darin, daß die dieser staatsphilosophischen Kategorie entsprechenden Verhältnisse immer nur vorüber­gehenden Charakter tragen können.

* (d-2015:)  wikipedia  Eduard_Gans  1797-1839 (42, Schlaganfall)   wikipedia  Vergleichende_Rechtswissenschaft 

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Denn die Staatsgewalt, die anstelle des Bevormundeten entscheidet, kann natürlich nur so lange berechtigt sein, wie sie begründet für diesen und nicht etwa zu eigenen Gunsten gebraucht wird. Hindert die Staatsgewalt den Bevormundeten daran, mündig zu werden und selbstbestimmt zu leben, wird sie reaktionär. In dieser Weise benutzt, soll der Begriff des "vormundschaftlichen Staates" von vornherein an die in der Aufklärung entworfene Perspektive des mündigen Menschen erinnern.

Der Status des Menschen im Sozialismus, wie er sich zwischen Oder und Elbe herausgebildet hat, ist genau noch der eines Mündels! Der einzelne Mensch ist hier an sich frei, ja er ist nicht einmal mehr abhängig von irgendwelchen Produktions­mitteleigentümern, da er ja Miteigentümer des Volkseigentums ist, wie es heißt; allein die Praxis, die Praxis sieht ganz anders aus; was der Mensch da längst selber tun könnte und worüber er allein entscheiden sollte, das vollführt in der Regel ein anderer, weil man unterstellt, die Menschen seien noch nicht reif genug.

Wie das im einzelnen aussieht, werde ich später zeigen. 

Hier will ich lediglich noch einmal unterstreichen: Wenn staatliche Autorität, wie wir sie erleben, in ihrer paternalistischen Form überhaupt noch möglich ist, dann hängt das ebenso mit frühkindlichen Empfindungen der Hilflosigkeit zusammen wie mit massenhaften Regressionen des Selbstwerterlebens, die das praktisch erlittene Schicksal der Ohnmacht bei den Machtunter­worfenen auslöst. 

Viele dürstet geradezu nach der Sicherheit und Geborgenheit versprechenden Autorität. Nicht die strikt und unpersönlich das Gesetz vollstreckende Autorität wird gewünscht. Menschlichen Wunsch­vorstellungen kommt offenbar nicht selten die polternde, etwas altmodische Bürokratie näher, die in der Wut ihre Fähigkeit unter Beweis stellt, uns in Schutz zu nehmen, deren noch deutlich sichtbare "menschliche" Schwächen aber zugleich unser Selbstwert­erleben spürbar entlasten.

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Wer wissen will, in welcher Form sich diese subjektive Verfassung widerspiegelt, muß sich nur richtig vor Augen fuhren, welches Zeremoniell gilt, sobald der Generalsekretär der Staatspartei irgendwo in der Öffentlichkeit aufkreuzt. Lackschwarze Staatskarossen, schwerbewaffnetes Gefolge sowie Geheim­polizisten vor und hinter den Kulissen bilden den Rahmen für die versteckt drohende Selbst­darstellung der Autorität — deren Bedrohlichkeit jedoch sogleich gemildert wird durch die organisierte Einbeziehung von Kindern in das Empfangsritual: Der alte Mann ist ansprechbar, er reagiert mit freundlichen Verhaltens­weisen der Kinderfürsorge, tätschelt die lieben Kleinen, kann sich schwer von ihnen losreißen. Wer kennt das nicht?

Doch welche über die übliche Gängelei hinausgehenden Phänomene sind es nun, für die der Begriff "vormundschaftlicher Staat" im folgenden einstehen soll?

Was die DDR anbelangt, so ist damit zunächst die "östliche Beimischung" angesprochen. Der vormundschaftliche Staat ist hier ja in gewisser Weise selber ein "bevormundeter" Staat. Der "vormundschaftliche" Einfluß der Sowjetmacht ist nicht zu übersehen, denn er ist offiziell in staatsrechtlicher Form gesichert. Jenseits aller parteiamtlicher Idealisierungen des "Bruderbundes" (der übrigens notwendiger denn je ist!) besteht wenigstens in diesem Punkt eine Interessen­gemeinschaft zwischen der Politbürokratie und den ihrer Macht unterworfenen Menschen, die allzuoft einfach vergessen wird.

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Doch der Einfluß der Sowjetmacht ist tiefer dimensioniert als allgemein angenommen. Das ist ein erster Grund, warum ich in diesem Buch abermals das unter Marxisten heißumstrittene Problem der "asiatischen" Produktionsweise / Despotie aufwerfe. Erst diese Überlegungen ermöglichen es nämlich, die zeitgenössische "östliche Beimischung" als "Formations­verdrängung" genauer zu erklären. Vor dem Hintergrund dieser Darstellung werde ich dann zeigen, in welcher Weise das staatssozialistische Herrschaftssystem — weit über die industrielle Arbeitswelt hinausgreifend — ehemals relativ autonome Lebens­verhältnisse mit Macht vormundschaftlich strukturieren will.

Ein weiterer Grund, über die von Marx so genannte "asiatische" Produktionsweise zu sprechen, betrifft die Legitimation der politbüro­kratischen Herrschaftsform. Unsere politische Klasse fühlt sich zu einem ganz bestimmten Handeln berufen und berechtigt, da sie der Meinung ist, mit ihrer Politik das Gesetz der Geschichte zu vollstrecken. Bei ihrem Tun mangelt es den Führern der politischen Klasse gewiß nicht am guten Willen, aber sie sind, wie wir sehen werden, in ihrem Handeln gefährlich eingeschränkt, weil die "Grundlügen" des Systems um jeden Preis aufrechterhalten werden müssen.

Von daher erklärt sich die dogmatische Sicht der für die historische Legitimation wichtigsten Ereignisse, besonders der Oktoberrevolution (und davon abgeleitet des Vorgangs der "Formationsverdrängung" in den osteuropäischen Ländern). Wollen wir die Verwirrtheiten des politischen Denkens klären, wird es darauf ankommen, den Blickwinkel vor allem im Hinblick auf diese angeblichen Schicksals­ereignisse wieder zu erweitern. Dies soll in der vorliegenden Schrift exemplarisch versucht werden. Damit will ich zugleich andere ermutigen, ebenfalls mit einer eigenen Sichtweise zur historischen Wahrheitsfindung beizutragen.

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Wenn wir uns klarwerden wollen über die heutigen Verwirklichungs­chancen des "Unternehmens Aufklärung", dann kommen wir an einer systematischen Kritik des Staatssozialismus nicht vorbei. Dieser Kritik ist der zweite Teil des Buches gewidmet. Die Gründer des ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaates hatten seinerzeit viel Gutes im Sinn, und der Gesellschaftsbau, der ihnen vorschwebte, war erklärtermaßen auf ein "besseres Deutschland" gerichtet. In ihrem Traumland sollte es keine Klassen­unterschiede und keine Sorge um den Lebensunterhalt mehr geben.

Gefragt, wodurch der erwünschte Gesellschaftsbau zusammengehalten werden sollte und was der wichtigste Inhalt des neuen Lebens sein könnte, hätten die Aktivisten der ersten Stunde nicht gezögert, sich einer Voraussage Georg Lukács' anzuschließen. "Auf diese Frage", meinte Lukács,

"können wir nur von der Seite der Moral eine Antwort erhalten. Die radikale Ausmerzung der Klassenunterschiede hat bloß dann einen Sinn gehabt, wenn dadurch alles aus dem zwischenmenschlichen Leben verlorenging, was die Menschen voneinander getrennt hat: jeglicher Zorn und Haß, jeglicher Neid und Hochmut. Mit einem Wort: wenn die klassenlose Gesellschaft die Gesellschaft der gegenseitigen Liebe und des Verständnisses sein wird."3

Heute sind wir uns unserer Sache unsicher geworden. Wer könnte schon ruhigen Gewissens behaupten, wir seien auf dem Wege in eine Gesellschaft gegenseitiger Liebe und menschlichen Verständnisses? Aber die Unsicherheit und die Enttäuschung über unsere gesellschaftliche Wirklichkeit können heilsam sein, wenn wir über dieses Empfinden nicht hinwegreden. Indem wir unsere Zweifel offen aussprechen, wenden wir uns ja bereits von einem "Wissen" ab, welches vor lauter Arroganz vergessen hat, "daß es nichts weiß".

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Wir beseitigen damit wenigstens einen Teil des ideologischen Schleiers. Und auf uns selber zurückver­wiesen, lernen wir wieder, die Frage nach dem wahrhaft Guten mit eigenen Worten zu stellen. Diese "praktische" Frage werde ich an den verschiedensten Stellen und in den unterschiedlichsten Zusammen­hängen und Formen aufwerfen.

Schon bei der Formulierung "praktischer" Fragen geraten Marxisten gewöhnlich von Hause aus ins Stottern. Bereits Marx übernahm von Hegel die Abneigung gegen alles Seinsollende und den Satz, daß allein das vernünftig ist, was wirklich ist; obschon dieses immer in seiner Entwicklung — gewissermaßen im Werden und Vergehen — begriffen werden sollte. Das klassische Werk von Karl Marx bleibt allemal bedeutsam für das Verständnis der Politökonomie in unserer Zeit.

Aber weder aus der Analyse des Warencharakters der menschlichen Arbeit noch aus der von Marx untersuchten Produktionslogik lassen sich kulturelle Werte und Normen herauslesen. So kann der funktionalistische Marxismus-Leninismus bis heute das Problem der Begründung praktischer gegenüber der Begründung theoretischer Fragen offenhalten, ohne damit erkennbar gegen die kanonisierten Schriften verstoßen zu müssen. Indem er die Richtlinien praktischer Politik und handlungsorientierende Werte allein aus dem Faktum des Bestehenden herzuleiten versucht, bestätigt er dieses nur. Die das öffentliche Leben im Sozialismus prägende Machtanbetung straft alle anderslautenden Versicherungen Lügen.

Dabei war gerade die interessengeleitete Verkleidung der Sachzwänge des Arbeitsprozesses in moralisch-praktische Normsätze einmal der ureigenste Angriffspunkt der marxistischen Kritik.

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Diese aber operierte bei allen Zweideutigkeiten von der ersten Stunde an unter dem kategorischen Imperativ, wonach "alle Verhältnisse" zu zerschlagen sind, ich unterstreiche noch einmal, alle Verhältnisse, "in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist"4.

Wohin sind wir eigentlich gekommen, wenn uns die Glossatoren des Marxismus-Leninismus inzwischen rüdeste polizeiliche Ordnungs­vorstellungen und eine sklavische Arbeitsdisziplin unter Berufung auf Marx als die höchsten Güter der Menschheit preisen dürfen? Man hat schon der alten Arbeiterbewegung nicht zu Unrecht angekreidet, daß sie sich selber kaum jemals moralkritisch befragt hat. Zunächst klangen angesichts der Verelendung des Proletariats ihre Forderungen nach Abschaffung der Ausbeutung ja auch derart überzeugend, daß der Klassenkampf mitsamt den dabei angewandten Mitteln gerecht­fertigt erscheinen mußten.

Seit der Marxismus jedoch in Gestalt des Leninismus zur ideologischen Staatspartei geworden ist, muß er dazu herhalten, die Anwendung einer Doppelmoral zu stützen. Mit Marx und Engels wird begründet, warum man diejenigen Menschen, die das Bestehende bessern wollen, in einer Weise behandelt, wie man selber nicht behandelt werden möchte. Es gehört zur Tragik der marxistischen Idee, daß sie genau das, wogegen sie sich einst gewandt hatte, heute auf höherer Stufenleiter mit reproduziert: ein System der Politökonomie, welches nur noch gewaltsam aufrechterhalten werden kann.

Das alles ist mir Anlaß genug, um anhand des kategorischen Imperativs nach der "Tugend des Systems" zu fragen. Die mit dieser Frage verbundene normative Negation des Bestehenden kann aber nur dann richtig sein, wenn sie niemals den Zusammenhang aus den Augen verliert, der zwischen der Herausbildung des eigenen (falschen) Ich und der Erhaltung des Systems besteht.

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Denn oftmals ist es nicht "Der Große Bruder", sondern das "Große Ich", welches uns erfolgreich daran hindert, entsprechend dem Prinzip der Selbst­bestimmung zu leben. Grundlegend wird jeder soziale Wandel deshalb immer erst dann, wenn sich die Menschen selber durch die Erneuerung ihres Geistes wandeln.

Heute stehen wir an einem Punkt in der Entwicklung des Staatssozialismus, wo die Erkenntnis reift, daß die weitere Wirksamkeit der marxistischen Aufklärung wesentlich davon abhängt, ob es ihr gelingt, philosophisch wieder den Blick zu öffnen auf "das eine", das kein "zweites" leidet. Dieses ewige, eine, ungeteilte Sein, davon die großen Weltreligionen in allen Sprachen reden, kann aber alleine der wahrhaft schauen — und das gilt unterschiedslos für Christen und Marxisten —, dessen Auge "einfältig" ist, wie es bei Matthäus heißt. Fragen dieser Art stehen im dritten Teil des Buches im Vordergrund. Dabei geht es keinesfalls um eine Flucht vor der Wirklichkeit des Staatssozialismus in ein religiöses Scheinleben. Ganz im Gegenteil: Um der Befreiung des "inneren Menschen" willen bedarf es eines natürlichen Zugangs zu den Urbildern des Lebens. Erst aus seinem religiösen Wesen fließen dem Menschen die Kräfte zu, die zusammen mit der Vernunft das Vermögen zur Selbstbestimmung begründen.

Um die Suche nach Antworten auf diese Zukunftsfragen soll es im Schlußteil des vorliegenden Buches gehen.

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Dabei besteht jedoch eine Schwierigkeit. Während der gegebene politökonomische Handlungs­rahmen im Staatssozialismus mit einiger Genauigkeit rekonstruiert werden kann, lassen sich die künftigen globalen Handlungs­bedingungen für ein selbstbestimmtes Leben nicht mit Gewißheit vorhersagen. Nur eines wissen wir ganz sicher: die Zukunft wird uns Unvorhergesehenes bringen.

Mag sein, daß den Industriegesellschaften in Ost und West gleichermaßen ein abruptes Ende bevorsteht, wenn sie weiter so wirtschaften wie bisher — ohne Rücksichtnahme auf das soziale und ökologische Gleichgewicht des Planeten, bar jeglichen Mitleids mit sich selber und den Verdammten dieser Erde. Vielleicht wird eines Tages <Stalin für die Welt> mindestens ebenso überlebens­notwendig sein wie <Brot für die Welt>, um den erwirtschafteten Mangel unter der Aufsicht einer despotischen Weltregierung gerecht zu verteilen.

Der Realismus einer solchen negativen Prophetie wird entscheidend davon abhängen, ob und wann es uns in den produzierenden und verbrauchenden reichen Ländern des Nordens gelingen wird, zunächst einmal im Inneren unseres Herzens und im Inneren unserer Gesellschaften Solidarität zu stiften — damit die Kriegsgefahr gesenkt, die drohende ökologische Katastrophe abgewendet und ein weitgehend gewaltfreier Konsens mit den Armen im Süden gefunden wird.

Wir sollten uns nichts vormachen: Es ist höchst unwahrscheinlich, daß die beängstigenden Menschheits­probleme global gelöst werden. 

Für sich genommen ist das dennoch kein Grund, die Versuche abzubrechen, um die Verhältnisse zum Besseren zu wenden. Gemessen an den vorherrschenden System­strukturen waren soziale Umwälzungen allemal unwahrscheinlich. Das ist heute nicht anders als etwa am Ausgang des Mittelalters.

Niemals in der Geschichte hat es eine Gesellschaftsformation gegeben, die sich selber als Provisorium begriffen hätte. Lediglich der Sozialismus kokettierte kurzzeitig in der akademischen Selbstreflexion mit dem Begriff der "Übergangsphase in den Kommunismus", ohne daß dies allerdings irgendwelche Konsequenzen nach sich gezogen hätte. Und dennoch hat der geschichtliche Wandel stets Unwahr­scheinliches wahrscheinlich werden lassen. Der Mensch kann anders, wenn er will!

Welcher immense Aufwand notwendig sein wird, um menschlichere und demokratische Strukturen auszubilden, kann man sich vor dem Hintergrund der steinzeitlichen Freiheitsbeschränkungen, des verbreiteten Paternalismus usw. schnell vergegenwärtigen. Gerade in der heutigen Entwicklungsphase des Staatssozialismus, wo wir in Moskau den wohl aufgeklärtesten industriellen Despoten amtieren sehen, den wir uns jemals hätten wünschen können, dämmert es mancherorts, daß die Probleme des Staats­sozialismus mit einem Kaderwechsel an der Spitze ganz sicher nicht gelöst werden.

Zudem ist bisher nicht entschieden, worum es den Reformern um Michail Gorbatschow zu tun ist; ob das weitere Wachstum der sowjetischen Industrie für sie Vorrang hat, wozu ja allein schon Antriebskräfte in großem Stil — einschließlich der dazu gehörenden politischen Motivation — erschlossen werden müßten, oder ob es den Reformern um ein "gelungenes Leben" im ethischen Sinne geht.

Sicher, wir wissen wenig darüber, was in einer sozialistischen Gesellschaft als gelungenes Leben gelten darf. Was ich dazu sagen kann, ist nicht viel mehr, als daß uns ein Leben in der Wahrheit so lange verwehrt sein wird, bis wir mündig sind, die klassische Frage nach dem wahren und guten Leben angstfrei und öffentlich zu stellen.

Das Mündig-Werden des Einzelmenschen ist ein historischer Prozeß innerhalb der bestehenden Verhältnisse und darüber hinaus. Das gilt in jeder Hinsicht! Das "gewöhnliche Leben" aber, in dem dieser Prozeß seinen Ausgang nehmen soll, ist in der Gegenwart zerfurcht vom Gegensatz der politischen Systeme, die sich um den Ost-West-Antagonismus herum gruppiert haben. 

Fragen wir also zuerst einmal danach, wie es zu diesem Widerspruch gekommen ist. Für den Marxismus ist diese Frage identisch mit der Frage nach dessen Vorläuferformationen des Staatssozialismus und dessen eigener Stellung in der formativen Stufenfolge.

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Der vormundschaftliche Staat. Vom Versagen des real-existierenden Sozialismus