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4. Warum auch der reale Sozialismus die Krise nicht abwenden kann

Havemann-1980

 

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In den Ländern des realen Sozialismus haben weder die herrschenden Parteien noch irgendwelche staatlichen Organe offiziell zu dem Problem der heran­nahenden Krise Stellung genommen.

Soweit Äußerungen einzelner Wissenschaftler, die als parteikonform gelten können, aus diesen Ländern vorliegen, sind sie negativ: Die statistischen Zahlen, von denen der <Meadows-Bericht> ausgehe, seien zum großen Teil falsch, jedenfalls durch neuere Entwicklungen, Entdeckung neuer Rohstoff­reserven und neuer Technologien, überholt. Die düsteren Prognosen brächten nur eine unfreiwillige Selbsteinschätzung der hoffnungslosen Lage des Spätkapitalismus zum Ausdruck. Der Sozialismus werde sich im weiteren Aufbau dadurch nicht aufhalten lassen. Das Gerede von der Notwendigkeit eines Null-Wachstums sei nur der Versuch, die gegenwärtige schwere Rezession zu beschönigen.

Aber es gibt unter den Wissenschaftlern und Publizisten einen, der sich selbst als unbedingt parteikonform versteht und von dieser Position aus einen sehr bemerkens­werten theoretischen Ansatz entwickelt hat, wie die ökologische Krise im Weltmaßstab gemeistert werden könne: Wolfgang Harich.

  Über den Harichschen Kommunismus     detopia:  Harich 1975

Er geht von dem Gedanken aus, daß die Erfahrungen, die wir jetzt mit der Überflußgesellschaft gemacht haben, uns zu einer Revision unserer Vorstellung vom Leben im Kommunismus zwingen. Kommunismus bedeute nicht, wie wir es uns bisher dachten, ein Leben in unbeschränktem Überfluß - "jedem nach seinen Bedürfnissen" -, sondern ein Leben, wo kein Mensch etwas haben könne, was nicht alle Menschen haben könnten, ohne das Leben der Gesamtheit zu gefährden. 

Bei völliger Gleichberechtigung aller Menschen in einer kommunistischen Gesellschaft werde es keinerlei Privilegierte mehr geben, die in ihren Konsum­ansprüchen vor anderen irgendwelche Vorrechte genießen. Dies bedeute aber, angesichts der ökologischen Krise, die Notwendigkeit einer drastischen Senkung des Konsums in den jetzt reichen kapitalistischen Ländern bei gleichzeitiger mäßiger Anhebung des Lebens­standards in den armen Gebieten.

Er beruft sich hierbei auf den sogenannten <Zweiten Bericht an den Club of Rome> von M.Mesarovic und E.Pestel (<Menschheit am Wendepunkt>), wo versucht wird, die Überlegungen und Modellansätze des Meadows-Berichtes fortzuführen, indem die etwas pauschale Betrachtungs­weise Meadows durch eine detaillierte Differenzierung vertieft wird, bei der die großen regionalen Unterschiede in der Welt berücksichtigt werden.

Die Autoren teilen hierzu die Welt in zehn Regionen ein, die sie jede für sich und im gegenseitigen Zusammen­wirken analysieren. Wenn man von Details absieht, kommen die Autoren zum gleichen Ergebnis wie Meadows. Sie schluß­folgern aus ihrer Analyse aber nicht, daß zur Abwendung der ökologischen Krise ein Stillstand des Wachstums erforderlich sei, sondern entwickeln die These vom organischen Wachstum, das an die Stelle des jetzigen undifferenzierten Wachstums zu treten habe. Sie berufen sich dabei auf die biologischen Wachstums­prozesse. So mutet ihre Idee wie ein umgekehrter Spengler an, der den <Untergang des Abendlandes> gerade damit erklären wollte, daß die Kulturen der Menschheit sich wie Lebewesen entwickeln und also auch sterben müssen.

Harich meint, daß diese Phase des organischen Wachstums sich nicht unter den Bedingungen der kapitalistischen Gesellschaft verwirklichen lasse, daß vielmehr hierzu eine diktatorisch herrschende kommunistische Regierungsgewalt erforderlich sei. Diese Art von Herrschaftsstruktur sei zwar in den sozialistischen Staaten bereits vorhanden, so daß hier der Übergang zum Harichschen Kommunismus im Prinzip keine Schwierigkeiten bereiten werde. 

Es könne aber den Völkern dieser Staaten, deren Lebens­standard immer noch erheblich hinter dem der hochentwickelten kapitalistischen Staaten herhinke, nicht zugemutet werden, sich im Interesse der Menschheit eine radikale Konsumreduzierung aufzuerlegen und die kommunistische Rationierungs­wirtschaft einzuführen, während der Westen weiter munter und ohne Rücksicht auf die Folgen in der Zukunft konsumiert und Rohstoffe verschwendet.

detopia:  Spengler    Meadows    Harich    

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Die ökologische Krise kann - nach Harich - also nur dann von der Menschheit abgewendet werden, wenn der Kapitalismus in den großen Industriestaaten gestürzt wird und auch dort das Regime des "realen" Sozialismus etabliert wird. Nach Harich müßte die Welt in ein System kooperierender Polizeistaaten mit reiner Rationierungswirtschaft verwandelt werden. Wenn der Konsum von Staats wegen auf das unbedingt Erforderliche beschränkt wird, läßt sich auch eine rationale Planwirtschaft aufbauen, die keinerlei Rücksicht auf individuelle Bedürfnisse zu nehmen braucht. Unter solchen Bedingungen könne dann auch das Geld abgeschafft und die vollkommene Gleichheit aller Menschen verwirklicht werden. Und was schließlich nach allem dabei herauskommen würde, wäre ganz einfach: der "reale Kommunismus".

In einem Punkte kann man Harich unbedingt recht geben, nämlich daß kein einziges der gegenwärtig bestehenden Regime des realen Sozialismus jemals dazu bereit wäre, den Harichschen realen Kommunismus mit Null-Wachstum und Konsumbeschränkung zu errichten. Aber welcher Staat, welche Regierung in der ganzen Welt wäre dazu bereit! Glaubt Wolfgang Harich wirklich, daß sozialistische oder kommunistische Parteien in den kapitalistischen Industrieländern mit Harichs Losungen für einen realen Kommunismus auch nur einen Hund hinter dem Ofen hervorlocken könnten? 

Es ist doch zum Glück für die internationale Arbeiterbewegung endlich soweit, daß diese Parteien sich von den Leitlinien des realen Sozialismus losgesagt haben. Nach Harich aber soll all das, was selbst die Verteidiger des realen Sozialismus als vorübergehendes, zeitbedingtes Übel zu rechtfertigen versuchen, als einziges Heilmittel für die Menschheit angepriesen und verewigt werden. Harich beruft sich auf Babeuf. Man fühlt sich erinnert an die Sätze von Marx in der Einleitung zum <18. Brumaire> über die Wiederholung der Tragödie in der Gestalt der Farce!

In den sozialistischen Ländern gibt es so gut wie kein Privateigentum an Produktionsmitteln mehr. Außer einem Rest kleiner Handwerksbetriebe sind alle industriellen und landwirtschaftlichen Betriebe in irgendeiner Form gesellschaftliches Eigentum (außer in Polen, wo die Kollektivierung der Landwirtschaft größtenteils wieder rückgängig gemacht worden ist). 

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Die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln bedeutet nun aber nicht, daß die Arbeiter, Ingenieure und Betriebsleitungen selbständig über ihre Produktion und über den Preis ihrer Produkte entscheiden können. Im Kapitalismus vertreten die Betriebsleitungen und in einem erheblichen Maße auch die technischen Leiter die Interessen des privaten Eigners. Aber in einigen Branchen und sogar in sehr großen Betrieben haben die Gewerkschaften Mitbestimmungsrechte erkämpft bis zur sogenannten paritätischen Mitbestimmung, bei der Kapital und Arbeit gleichberechtigt sind.

Im System des realen Sozialismus wird innerhalb der Betriebe nur darüber entschieden, wie die staatlichen Planauflagen mit den vorhandenen Mitteln erfüllt werden können. Die Entscheidungsfreiheit in den einzelnen Betrieben ist wesentlich kleiner als etwa in den Unterbetrieben eines Konzerns. Alle wesentlichen wirtschaftlichen Entscheidungen werden von der Staatlichen Plankommission gefällt. Sie leitet die gesamte Volkswirtschaft des Landes wie einen einheitlichen Superkonzern, der noch dazu, da er es mit keiner Konkurrenz zu tun hat, ein reiner Monopolbetrieb ist. Das ist der Staatsmonopolismus in Reinkultur.

Harich hat völlig recht: In diesem System ließe sich der Übergang zum Harichschen Kommunimus jederzeit ohne große Schwierigkeiten vollziehen. Es käme nur darauf an, das Politbüro dazu zu bringen, daß seine Mitglieder es wollen.

Aber ich nehme an, Harich weiß, daß an dieser relativ geringen Schwierigkeit sein Plan scheitern wird. Das Politbüro wird es nie wollen, einen einzigen Fall ausgenommen: Der Westen macht die Sache vor, und das Politbüro kann es dann nachmachen.

So sieht Harich ja auch den Gang der Dinge voraus. Er kennt seine Pappenheimer. Er weiß, sie brauchen immer ein Vorbild. Und auf dem Gebiet der Wirtschaft, der Industrieproduktion wie der Landwirtschaft, kennen sie nur ein geradezu angebetetes Vorbild, den kapitalistischen Westen. 

*detopia-2014: Lieber Robert Havemann, ich antworte dir aus dem Jahr 2014. Obwohl ihr beide schon hinüber seid, muss ich zwischen euch vermitteln. Ich bin auch ein Fan der Harischen Grundidee; nicht der Diktatur, sondern der 'Gleichmacherei' bzw. 'Babeuf'. Harich hat(te) konsequent nachgedacht. Und das Ergebnis musste er rausposaunen, auch wenn er damit keinen Hund hinterm Ofen vorlockt. Das ging dir und Bahro übrigens nicht anders. Dein Buch Morgen und auch Bahros LdR sind nicht populär geworden. Meine Detopia-Gleichbesitzgesellschaftsordnung ist im Prinzip noch abgedrehter/unrealistischer als Harich sein Babeufscher Weltkommunismus ohne Wachstum; denn ich 'verlange Freiwilligkeit'; und das nicht nur vom Politbüro, sondern gleich vom ganzen deutschen Volke. 

Nirgends wird Wachstum mit mehr Ergebenheit angebetet als in den Staaten des realen Sozialismus. Weil der Lebensstandard immer noch weit hinter dem vergleichbarer kapitalistischer Staaten zurückliegt, etwa der Lebensstandard in der DDR hinter dem der BRD, sind Worte wie "Einholen" und "Überholen" zu Reizworten der politischen Szene geworden, die im gleichen Maße den Eifer der Verzweiflung wie auch peinliche Lächerlichkeit ausdrücken können. 

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Wenn man die vielen offenkundigen Nachteile bedenkt, die das Leben im realen Sozialismus so mit sich bringt, dann fragen sich die Leute selbstredend, worin denn nun die Vorteile bestehen, worin sich die Überlegenheit des Sozialismus zeige, wenn nicht wenigstens in den materiellen Bedingungen der physischen Existenz. Darauf die Antwort: Wartet noch ein wenig, bald werden wir es geschafft haben, und ihr werdet ebenso und sogar besser leben als im Kapitalismus! Das geht aber nur, wenn wir unsere Pläne erfüllen und übererfüllen, wenn wir noch schneller wachsen als der Westen.

Was die materielle Produktion betrifft, die Erzeugung von Gebrauchsgütern und die Bereitstellung von Dienstleistungen, unterscheidet sich die Zielsetzung des realen Sozialismus offenbar wenig oder gar nicht von der Zielsetzung im Kapitalismus. Der Unterschied läge nur darin, auf welche Weise diese Ziele erreicht werden. Im Kapitalismus durch Profitstreben und Ausbeutung, im Sozialismus ohne Ausbeutung durch optimale Planung der Wirtschaft.

Das Merkwürdige ist nur, daß der Lebensstandard des vom profitgierigen Kapitalismus ausgebeuteten Arbeiters so viel höher ist als der Lebensstandard seines sozialistischen Kollegen. Ganz offensichtlich leisten die Arbeiter in kapitalistischen Betrieben mehr als in sozialistischen, obwohl sie für den Ausbeuter arbeiten und im volkseigenen Betrieb nur zu ihren eigenen Gunsten. Aber warum? Ist etwa die Arbeiterklasse noch nicht reif für den Sozialismus, daß sie gleich zu bummeln anfängt statt mit doppelter Kraft und Freude zu arbeiten, wenn die Peitsche des Ausbeuters sie nicht mehr bedroht?

Es gibt eine sehr einfache Antwort auf diese Frage:

Es liegt nicht an irgendeiner Reife oder Unreife der Arbeiterklasse, sondern einfach daran, daß der reale Sozialismus kein Sozialismus und seine Planwirtschaft keine Planwirtschaft ist, sondern manchmal nicht weniger chaotisch als die kapitalistische Wirtschaft. Der Arbeiter kann nicht davon überzeugt werden, daß er für sich arbeitet, wenn er es nicht tut. Und davon könnte nur dann die Rede sein, wenn er in entscheidendem Maße im Betrieb über Produktion und Preise, über Löhne und Gehälter, über Leitung und Verantwortung mitzubestimmen hätte.

Aber er hat nicht einmal das Recht, seiner Kritik an der Planung und Leitung des Betriebes durch Streik den gehörigen Nachdruck zu verleihen. Stattdessen wird Streik wie ein Verbrechen mit Strafe bedroht, d.h. die Arbeiter werden gezwungen, die wirtschaftlichen Entscheidungen der staatlichen Organe bedingungslos zu akzeptieren, selbst dann, wenn sie sehen, wie diese Entscheidungen in ihren Betrieben sich als sinnlos, schädlich und gar undurchführbar erweisen.

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Die Idee, man könnte die wirtschaftlichen Prozesse eines hochindustrialisierten Landes, auch mit einer Bevölkerung von nur 16 Millionen, wie in der DDR, an den grünen Tischen einer überdimensionalen Planungsbürokratie auch nur einigermaßen vernünftig steuern und regeln, ist an sich schon phantastisch.

Aber einmal angenommen, dies wäre mit Hilfe der modernen Großrechner im Prinzip möglich — das hierfür erforderliche Programm würde wahrscheinlich das für die Durchführung der Mondlandung erforderliche um mindestens eine Größenordnung übersteigen —, entscheidend wäre schließlich, daß die Computer auch mit den richtigen Zahlen und Informationen gefüttert werden müßten. Wie aber will man diese Zahlen und Informationen in einer Wirtschaft gewinnen, in der alle Preise, Löhne, Gehälter, Tarife für Transport und Verkehr, Renten und Pensionen usw. in der unglaublichsten Weise durch willkürliche Entscheidungen in ihren Relationen verzerrt und noch dazu in diesen verzerrten Relationen praktisch eingefroren sind.

Der Begriff des kostendeckenden Preises existiert in dieser Wirtschaft nicht mehr. In den Termini der marxistischen Theorie heißt das: Die Preise entsprechen nicht den Werten. Das gilt auch für die Löhne, Gehälter und Renten, die ja die Preise der menschlichen Arbeitskraft darstellen. Diese Außerachtlassung des Wertgesetzes ist nur möglich, weil es keinen die Preise regulierenden Markt gibt. Aber die Folgen der "Verletzung" des Wertgesetzes treten natürlich trotzdem ein, denn das Wertgesetz wirkt immer, wenn nur Waren und Leistungen in irgendeiner Form gegeneinander austauschbar sind.

Bei Mangelwaren entsteht ein schwarzer Markt. Aber auch bei Waren, an denen kein Mangel ist, kann die Außerachtlassung des Wertgesetzes zu schweren wirtschaftlichen Schäden führen. Ist zum Beispiel eine bestimmte Sorte Brot beim Bäcker billiger als das Getreide, aus dem es gebacken wurde, so füttert man seine Hühner besser mit Brot statt mit den ungemahlenen Körnern. Daß das ökonomisch idiotisch ist, ist offensichtlich. Ganz allgemein kann man sagen, daß Waren und Leistungen, die zu niedrig bezahlt werden, immer der Gefahr der Vergeudung ausgesetzt sind. 

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Daß aber die Differenz zwischen Preis und Wert von der Volkswirtschaft in jedem Fall doch aufgebracht werden muß, gerät dabei allzu leicht in Vergessenheit. Verkauft man eine Warengruppe unter ihren Gestehungskosten, so muß man dafür andere entsprechend über ihren Gestehungskosten verkaufen. Denn in keiner Volkswirtschaft kann etwas verschenkt werden; es gilt das Gesetz: Von nichts kommt nichts.

Die subventionierten Niedrigpreise für Grundnahrungsmittel, Mieten, Strom, Gas und Kohle, öffentliche Verkehrsmittel, Zeitungen, Zeitschriften und Bücher werden oft als bedeutende Errungenschaften des sozialistischen Wirtschaftssystems gepriesen. Sie bewirken, daß die elementaren Grundlagen der menschlichen Existenz schon bei ziemlich geringem Einkommen gesichert sind. Die Differenz zwischen den Preisen dieser Waren und Leistungen und den tatsächlich für ihre Erzeugung aufgewandten Kosten müssen die Leute mit den höheren Einkommen bezahlen, und zwar beim Einkauf teurer Luxusartikel, Autos, Waschmaschinen, Kühlschränken, Tonbandgeräten, Textilien, Genußmittel, usw. Der Staat hat sogar besondere Geschäfte, die Exquisit-Läden, eingerichtet, wo man — zu außerordentlich hohen Preisen — alles bekommt, hauptsächlich westliche Waren, was das sozialistische Herz noch begehrt und was eben zu normalen Preisen und für normale sozialistische Arbeiter noch nicht geliefert werden kann.

Eine der wichtigsten subventionierten Waren in diesem grandiosen Niedrigpreissystem ist die menschliche Arbeitskraft der Arbeiter und Bauern selbst. Da die volkseigene Wirtschaft die Arbeitskraft zu Preisen kauft, die weit unter deren Gestehungskosten liegen, können die staatlichen Betriebe mit dieser billigen Arbeitskraft selbst bei rückständiger Technologie noch große Gewinne erzielen, die wiederum unbedingt gebraucht werden, um die Ware Arbeitskraft mit Hilfe des Niedrigpreissystems im Bereich des Existenzminimums und durch ein raffiniertes Prämiensystem zu subventionieren. Es ist offensichtlich, daß in diesem System die tatsächlichen wirtschaftlichen Aufwendungen bei der Produktion nicht mehr an Hand gezahlter Preise und Löhne berechnet werden können. Wenn Waren für den Export produziert werden, so muß man sich natürlich an die Weltmarktpreise halten. Die scheinbar niedrigen eigenen Gestehungskosten verleiten unsere Exporteure dabei sehr häufig zu einem Handels-Dumping, das in Wirklichkeit reiner Selbstbetrug ist. Denn ob man bei einem solchen Geschäft einen echten Gewinn erzielt oder aber mit Verlust arbeitet, ist in den seltensten Fällen auch nur einigermaßen festzustellen.

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Das Niedrigpreissystem ist das ökonomische System des realen Sozialismus. Es macht eine echte rationale Wirtschaftsplanung zu einer praktisch unlösbaren Aufgabe. Die ökonomischen Leistungen sowohl der einzelnen Betriebe wie auch der ganzen Volkswirtschaft werden durch die mit ihnen verbundenen finanziellen Vorgänge bereits so falsch und verzerrt widergespiegelt, daß auf der Basis der Zahlen in den Buchhaltungen und Banken eine Wirtschaftsplanung mit Sicherheit Fehlplanung sein muß. Fehlplanung bedeutet aber immer zuerst einmal sinnlose Vergeudung von Leistungen. In der kapitalistischen Wirtschaft sorgt der Ausgleich von Angebot und Nachfrage auf dem Markt dafür, daß die Preise sich in Bereichen bewegen, die durch den tatsächlichen Wert der Waren bestimmt sind. Deshalb spiegelt hier die "Geld-Seite" der Wirtschaft die ökonomischen Prozesse adäquat wider. Das gilt auch dann, wenn die Marktpreise wichtiger Waren durch indirekte Steuern verzerrt und wichtige staatliche Dienstleistungen wie Post und Bahn subventioniert sind. Die einzige echte Gefahr für das Funktionieren der wirtschaftlichen Selbstregelungsvorgänge besteht in der Bildung marktbeherrschender Monopole, eine Gefahr, von der man sagen kann, daß der reale Sozialismus ihr eben total erlegen ist.

Die Wirtschaftsplaner des realen Sozialismus müßten, um zu den für ihre Planung benötigten Zahlen zu gelangen, in Gedanken und auf dem Papier alle jenen verschlungenen Regel- und Feed-Back-Prozesse durchprobieren und nachvollziehen, die ein freier Markt ohne die Beteiligung von mehr menschlicher Gehirnmasse, als für eine gesunde Mischung aus Habgier und Schläue gebraucht werden, leistet. Kann man den Planern des realen Sozialismus einen Vorwurf daraus machen, daß sie angesichts dieser unlösbaren Aufgabe versagt haben!

Das Niedrigpreissystem ermöglicht eine schrankenlose Umverteilung des Sozialprodukts zugunsten einer bereits recht ausgedehnten Schicht von Partei- und Staatsfunktionären, von Kadern der Wirtschaftsverwaltung und der technischen, wissenschaftlichen und künstlerischen "Intelligenz". Per Saldo läuft es darauf hinaus, daß diese privilegierte Schicht die "Unterprivilegierten", also die Arbeiter und alle anderen Wenigverdiener, ausbeutet. Aber das stimmt nur in der wirtschaftlichen Rechnung. Denn es wäre falsch, diese Schicht als die neue Ausbeuterklasse anzusehen. 

Dazu müßte diese Schicht die herrschende Klasse sein — und das ist sie eben nicht. Die Herrschenden sind die ganz wenigen, die eben in der Parteispitze sitzen. Sie sorgen dafür, daß die Privilegierten gut bezahlt werden, weil ihre Arbeit von den Herrschenden so hoch eingeschätzt wird. Den Herrschenden gegenüber sind die Privilegierten ebenso macht- und rechtlos wie alle anderen Bürger des realen Sozialismus.

Das Niedrigpreissystem hängt auch mit dem fatalen Wettbewerb zwischen dem realen Sozialismus und dem Kapitalismus zusammen. Dieser im Grunde widersinnige Wettbewerb verbietet dem System praktisch jede Erhöhung der Preise des lebenswichtigen Bedarfs. Sie würde von der Bevölkerung sofort als Zeichen wirtschaftlichen Versagens bewertet werden. Gomulka stürzte in Polen bei dem Versuch einer Preisreform, und sein Nachfolger Gierek entging dem gleichen Schicksal nur mit knapper Not, weil er die Preiserhöhungen noch rechtzeitig zurücknahm. In der DDR gab es Preisreformen, die sich jedoch strikt auf interne Preisrelationen innerhalb des industriellen Zahlungs- und Abrechnungsverkehrs beschränkten und die Konsumpreise nicht berührten.

Mit solchen halben Maßnahmen ist natürlich nicht viel zu erreichen. Aber an eine durchgreifende Reform, die alle Preisrelationen erfassen und darüberhinaus Löhne und Gehälter und die Renten völlig umkrempeln müßte, daran wagt niemand auch nur zu denken. Sie müßte ja auch mit der Umverteilung zugunsten der privilegierten Oberschicht Schluß machen, die sinnlosen Importe für die Exquisitläden stoppen und die zu kapitalen Vermögen gehorteten Geldbeträge auf den Konten unserer neuen Millionäre gründlich "umverteilen", — kurz: wenigstens wirtschaftlich vom realen Sozialismus in ersten Schritten zu einem wirklichen Sozialismus vordringen.

Dann wäre es vielleicht leichter, den realen Sozialismus auch politisch zu überwinden. Solange aber in den sozialistischen Staaten der reale Sozialismus mit seiner pyramidalen Hierarchie fortbesteht, solange er das ja auch pyramidenförmige Preissystem mit der billigen Massenarmut und der einsamen Spitze der Warenpreise für die Luxusklasse aufrechterhält, wird er im Wettbewerb mit dem Kapitalismus nur dessen sämtliche ökonomische Widersinnigkeiten zu reproduzieren suchen, ohne auch nur einen einzigen Vorteil dieses Konkurrenzsystems nutzen zu können. 

Seinen historischen Auftrag, nämlich aller Welt zu demonstrieren, daß der Sozialismus sich nicht nur politisch, sondern auch in seinen ökonomischen Zielen grundlegend vom Kapitalismus unterscheidet, wird er hoffnungslos verfehlen.

Und gegenüber der herannahenden weltweiten ökonomischen und ökologischen Krise wird der reale Sozialismus womöglich noch blinder sein als sein angebetetes ökonomisches Vorbild.

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Robert Havemann (1980) Morgen - Kritik und reale Utopie