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3  Der reale Sozialismus  

Havemann-1980

 

 

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Der Aufstand der Pariser Arbeiter vor etwas über hundert Jahren, die erste proletarische Revolution, die zur Errichtung der Pariser Kommune führte, eilte ihrer Zeit weit voraus, zu weit. Nach Marxens Theorie sollte die bürgerliche Gesellschaft erst dann reif für die sozialistische Revolution geworden sein, wenn sich nach stürmischer Entwicklung der Produktivkräfte die kapitalistischen Produktions­verhältnisse, d.h. im wesentlichen die Form der privaten Aneignung der gesellschaftlich produzierten Waren, zu Fesseln für die weitere Entwicklung der Produktivkräfte entwickelt haben. 

Aber davon konnte zu den Zeiten Louis Bonapartes nirgends in der Welt die Rede sein. Der tragische Zusammenbruch der Pariser Kommune, der mit so vielen Opfern verteidigten Revolution, dem sich ein entsetzliches Massaker unter den gefangenen Kommunarden anschloß, war darum unvermeidlich und hätte eigentlich der blutigen Unterdrückung durch das französische Militär unter "brüderlicher Hilfe" des siegreichen Preußen-Deutschland nicht bedurft.

Aber auch die russische Revolution, die große sozialistische Oktoberrevolution, das müssen wir heute sechzig Jahre danach feststellen, war ein nicht weniger tragischer Anachronismus dieser Art.

Im Jahre 1917 konnte allerdings niemand auch nur ahnen, welchen gewaltigen weiteren Aufschwung die kapitalistische Wirtschaft noch vor sich hatte, und daß selbst in den industriell am weitesten entwickelten Ländern noch für viele Jahrzehnte keine Rede davon sein würde, daß die kapitalistische Wirtschafts- und Produktionsweise die Entwicklung der Produktivkräfte hemme. Daß die Oktoberrevolution noch dazu in einem Land stattfand, das vom Standpunkt der marxistischen Theorie für die sozialistische Revolution besonders ungeeignet war, war Lenin und seinen Genossen sehr wohl bewußt.

Sie hofften, daß der Sieg der Revolution in Rußland wie ein Fanal auf die internationale Arbeiterbewegung wirken und die revolutionäre Bewegung in den hochentwickelten kapitalistischen Staaten in höchstem Maße aktivieren würde. Die Oktoberrevolution war nur der Funke, der das Feuer der Weltrevolution entzünden sollte. Doch diese Hoffnungen der Bolschewiki erfüllten sich nicht. In Deutschland wurde zwar die Monarchie beseitigt, aber die Weimarer Republik hatte nichts mit Sozialismus zu tun. Die Etablierung der parlamentarischen Demokratie änderte an der Herrschaft der bürgerlichen Klasse nicht das Geringste, im Gegenteil, sie wurde dadurch noch mehr gefestigt. Selbst mit den Überresten der alten Feudalklasse verfuhr man mehr als zahm, indem man ihnen durch die "Fürstenabfindung" eine großzügige Entschädigung für die verloren gegangenen Privilegien gewährte.

 

Den russischen Revolutionären erschien das Ausbleiben der Revolution in Westeuropa als das Werk von Verrätern. Die reformistische Mehrheit der deutschen Sozialdemokratie, so glaubten sie, hatte um den Preis von Regierungs- und Verwaltungs­posten ein opportunistisches Bündnis mit der herrschenden Klasse geschlossen und die revolutionären Kräfte in der deutschen Arbeiterbewegung mit den Ideen des Austro-Marxismus vom schrittweisen Hineinwachsen in den Sozialismus auf dem Wege progressiver Reformen in Verwirrung gebracht. 

Während es Lenin in Rußland gelungen war, in den Stürmen der Revolution die russischen Reformisten, die Menschewiki, zu schlagen und auch alle späteren Gruppen zu vernichten, die gegen die Politik der Bolschewiki opponierten, kam es in Deutschland und später auch in vielen anderen Ländern zur Spaltung der Arbeiter­bewegung in Kommunisten und Sozialisten. Es entstanden die kommunistischen Parteien, die sich von der bestehenden internationalen Arbeiterorganisation, der sogenannten Zweiten Internationale lossagten und sich in der Dritten Internationalen, der Komintern, unter der von allen anerkannten Führung der Kommunistischen Partei der Sowjet-Union zusammenschlossen.

Die Folge dieser Spaltung war eine außerordentliche Schwächung der internationalen Arbeiterbewegung. Ohne den tragischen Bruderzwist, der besonders in Deutschland sich mehr und mehr bis ins Sinnlose verschärfte und dazu führte, daß die Kommunisten noch 1932 nicht in Hitler und den Nazis, sondern in der SPD die Hauptgefahr sahen, die sie als die Partei der "Sozialfaschisten" verhöhnten und verleumdeten, ohne diese ungeheuerliche Verblendung derer, die sich als die Avantgarde des Weltproletariats verstanden, wäre es niemals zu der faschistischen Machtergreifung am 30. Januar 1933 und damit auch nicht zum 2. Welt­krieg gekommen.

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Der eigentliche Verrat an der Sache der internationalen Arbeiterbewegung wurde also mit der Spaltung begangen. Die Schärfe dieser Auseinandersetzung ging von Moskau aus. Dies hing sehr eng mit dem Streit zwischen Stalin und Trotzki zusammen. Trotzki war in konsequenter Fortführung der Einschätzung der historischen Funktion der russischen Revolution durch Lenin der Meinung, daß der Aufbau des Sozialismus in einem einzigen Land, noch dazu einem technisch und politisch so hoffnungslos rückständigen Land wie Rußland, grundsätzlich unmöglich ist. Er war überzeugt, daß ein solcher Versuch zum Scheitern verurteilt sei. Er setzte der Stalinschen Politik die Forderung nach der permanenten Revolution entgegen. Stalin verfolgte Trotzki und ließ ihn schließlich im Exil in Mexiko ermorden. Das war ein sehr zweifelhafter Sieg; denn Trotzki behielt mit seinen Thesen recht, wenn auch auf eine Weise, die wohl nicht ganz seiner Denkweise entsprach.

Daß sich Stalin zum brutalen Alleinherrscher aufschwingen würde, der auch vor massenhaftem Mord an seinen politischen Gegnern und denen, die er dafür hielt, nicht zurückschrecken würde, hat Trotzki nicht nur miterlebt, sondern wohl auch vorausgesehen. Daß die Sowjet-Union unter Stalin schließlich doch mit der Kriegsmaschine Hitlers fertig werden und sich neben den USA zur gleichwertigen Supermacht aufschwingen würde, paßte wohl schon weniger in sein Konzept. Andererseits hat er zwar an der Verbürokratisierung der Sowjetgesellschaft schärfste Kritik geübt, aber ob er seine eigene Verstrickung in den Gang der sowjetischen politischen Entwicklung erkannt hat, ist fraglich.

Die These, daß das Unheil schon in der Oktoberrevolution seinen Anfang nahm, daß bei allem das Entscheidende die Spaltung der Arbeiterbewegung war, die mit Lenins Sieg über die Menschewiki ihren Anfang nahm, dürfte kaum Trotzkis Zustimmung gefunden haben.

Die Spaltung lähmte die revolutionäre Kraft der Arbeiterbewegung nicht nur einfach dadurch, daß sie eine große Bewegung in zwei Teile zerriß, die nun einen großen Teil ihrer Energie im gegenseitigen Kampf verbrauchten und sich daran verunstalteten und zerrieben.

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Das Besondere an dieser Spaltung war, daß die beiden Parteien jede auf ihre Weise gerade diejenigen Gruppen von Menschen und Charakteren in sich ansammelte und dadurch voneinander trennte, deren enges Zusammenwirken für eine revolutionäre Bewegung geradezu lebenswichtige Voraussetzung ist.

So sammelten sich in der Sozialdemokratie die Bedächtigen, die Pragmatiker, die Gewerkschafter, die "Realpolitiker" und natürlich auch die Kompromißler und Opportunisten. Andererseits waren die Kommunisten der Magnet, der alle Radikalen, Kampfentschlossenen und Opferbereiten anzog, besonders aber auch alle diejenigen, die die Theorie des Marxismus studiert hatten und sich nun im Besitz einer alles umstürzenden revolutionären Wissenschaft wähnten. Hier reifte die Theorie von der elitären Avantgarde, die unter den massenhaft in die Partei strömenden kleinbürgerlichen Intellektuellen begeisterte Anerkennung fand. Es war eine merkwürdige, auf jeden Fall sehr ungesunde Mischung von Proletkult, Salonkommunismus und Linksradikalismus, die die kommunistische Szene beherrschte.

Der Sorglosigkeit, ja Gleichgültigkeit, die bei den Sozialdemokraten in allen Fragen der marxistischen Theorie herrschte, stand bei den Kommunisten eine spitzfindige Scholastik gegenüber, durch die der Marxismus mehr und mehr in eine kanonisierte Glaubenslehre verwandelt wurde. Besonders in der Sowjet-Union, wo der von Marx und Engels vertretene dialektische Materialismus zur mit allen staatlichen Mitteln protegierten Philosophie und Weltanschauung gemacht wurde, entwickelte sich ein in Dogmen erstarrender Kathedermarxismus.

Der Marxismus, seinem ursprünglichen Wesen nach die herausforderndste und lebendigste soziale Lehre, entartete zu einem Katechismus von Banalitäten. An die Stelle des dialektischen Materialismus der Klassiker, der sich gar nicht als Philosophie verstand, sondern gerade als die Überwindung der Philosophie als für sich selbst bestehender "Wissenschaftswissenschaft", traten wieder die beschränkten und oberflächlichen Denkweisen des mechanischen Materialismus.

Engels hatte im "Anti-Dührung" und in der "Dialektik der Natur" gesagt, daß "all der philosophische Kram überflüssig und in der positiven Wissenschaft verschwinden werde, wenn erst Natur- und Geschichtswissenschaft die Dialektik in sich aufgenommen" haben.

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Statt nun die Hauptaufgabe darin zu sehen, diesen von Engels erwarteten Prozeß der Bewußtmachung der Dialektik in den positiven Wissenschaften nach Kräften zu fördern, schwangen sich die amtlich bestallten Philosophieprofessoren zu einer Gilde von Gütekontrolleuren auf, die — im Besitz einer alles entscheidenden Heilslehre — darüber zu befinden hatten, was in den einzelnen Wissenschaften wissenschaftlich und was unwissenschaftliche Irrlehre war. Die wichtigsten modernen naturwissen­schaftlichen Theorien bestanden die Prüfung nicht und wurden für Irrlehren erklärt: Die Relativitätstheorie, die Quantenmechanik, die moderne Genetik und die Kybernetik.

Zahlreiche führende sowjetische Genetiker wurden ihrer Posten enthoben und in sibirische Zwangsarbeitslager geschickt. An ihre Stelle trat ein Scharlatan, Lyssenko, der im Verein mit einigen anderen die Partei und die Regierung durch schamlose Lobhudelei für Stalin schließlich zu umfangreichen, aber völlig sinnlosen Maßnahmen in der sowjetischen Landwirtschaft veranlaßte, durch die dem Land Schäden in Höhe ungezählter Milliarden erwachsen sind. Zwei führende theoretische Physiker, Landau und Lifschitz, wurden ihrer Ämter an der Moskauer Universität enthoben und in die Verbannung geschickt.

 

Große politische Erscheinungen, wie der bis zum Exzeß ausartende Stalinkult, sind stets viel komplexer, als es der äußere Anschein erkennen läßt. Sie haben auch komplexere Gründe, die nicht leicht zu finden sind. Aber der äußere Mechanismus, durch den sie im historischen Ablauf rein kausal zustande gebracht wurden, ist nachträglich meist leicht erkennbar.

Die Spaltung der russischen Sozialdemokratie zählt in diesem Sinne nicht zu den tieferen Gründen für die nachfolgende tragische Entartung, sie ist vielmehr ein Glied der sich mit scheinbarer Ausweglosigkeit abwickelnden Kette von Ursachen und Wirkungen, die bis in die Gegenwart reicht und in unseren Tagen als ihr vorläufig letztes Ergebnis die politischen und ökonomischen Zustände hervorgebracht hat, die ihre Repräsentanten selbst als den "realen Sozialismus" bezeichnen.

Die historisch entscheidenden Gründe liegen in den sozialen Strukturen und den Bewußtseinsformen wie auch in der Praxis der durch sie geprägten gesellschaftlichen Institutionen, die sich im Verlaufe von vielen Jahrhunderten im zaristischen Rußland herausgebildet hatten. Diese Formen und Strukturen haben in einem erstaunlichen Maße die Oktoberrevolution überdauert.

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So trat die zugleich bedrohende wie beschützende Vatergestalt des zum Alleinherrscher heranwachsenden Stalin zuerst an die Stelle des "Väterchens Zar", wenn auch in neuer Gestalt, um sich aber dann immer mehr in die furchterweckende Riesengestalt des einen großen Zaren, Iwans des Schrecklichen, zu verwandeln, den die sowjetischen Historiker nun auch in geradezu peinlicher Konsequenz seines herabsetzenden Beinamens entkleideten und ihn mit höchster Billigung schlicht Iwan den Großen nannten.

Die Oktoberrevolution, nach der gescheiterten Pariser Kommune der zweite ungleich folgenschwerere Versuch, dem Lauf der Geschichte zuvorzukommen, führte zu einem Gesellschaftssystem, das man eigentlich, wenn es nicht ein Widersinn wäre, als sozialistischen Feudalismus bezeichnen müßte: Ein Staat mit absolut pyramidaler Hierarchie, mit fast absolutistischer Herrschaft eines einzigen Mannes an der Spitze, mit stufenweise einander untergeordneten Herrschaftsebenen von Großfürsten, Fürsten, Grafen und Landvögten.

Ein Staat, gegen dessen Willkür keine Rechtsmittel existieren außer der erniedrigenden Form der Eingabe, die noch dazu immer genau von derjenigen Stelle "bearbeitet" und dementsprechend beantwortet wird, gegen die sich der Bürger mit seiner Beschwerde gerichtet hat. Ein Staat, in dem Presse-, Rede- und Meinungsfreiheit nur für den existiert, der den Oberen nach dem Munde redet.

Ein Staat, in dem alle Rechte und Freiheiten, die sich die Ausgebeuteten in den bürgerlich-kapitalistischen Staaten mit schweren Opfern erkämpft und verteidigt haben, außer Kraft gesetzt sind: Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, Streikrecht, Recht auf Freizügigkeit innerhalb und außerhalb der Grenzen des Landes, Brief- und Postgeheimnis, Informationsfreiheit, Freiheit in der Wahl der Arbeit und des Arbeitsplatzes.

Ein Staat, in dem alle ausländische Literatur verboten ist, sofern nicht in bestimmten einzelnen Fällen bei bestimmten einzelnen Publikationen und meist nur für einen bestimmten Kreis von Personen eine Ausnahmegenehmigung erteilt wurde.

 

Wenn wir heute rückblickend die sechzig Jahre betrachten, die seit der Oktoberrevolution vergangen sind, diese schreckliche schwere Zeit, die mit ausländischer Intervention, weißgardistischer Konterrevolution, mit Hungersnöten und Kriegskommunismus begann, diese Zeit des physischen Opfergangs zumindest zweier Generationen, die für den Aufbau einer gewaltigen Schwer- und Rüstungsindustrie hun-

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gern, schuften und bluten mußten, um dann voller Verzweiflung zu erleben, wie die tief ins Land einbrechenden Hitler-Armeen alles wieder verwüsteten, die Fabriken zerstörten und schließlich sogar die Arbeiter wie Sklaven nach Deutschland brachten zur Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie.

Auch danach, als Hitler geschlagen und Deutschland zwischen seinen Besiegern aufgeteilt war, dauerte für die Völker der Sowjet-Union die Zeit schwerster materieller Opfer an, die der Wiederaufbau des von den geschlagenen Hitlerarmeen noch auf dem Rückzug total verwüsteten Landes erforderte.

 

Aber was ganz besonders schlimm war, war die äußere Bedrohung, noch tödlicher vielleicht als die eben überstandene, war mit dem Feuerschlag der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki in neuer Gestalt wieder erstanden. Je mehr man die Geschichte des von fast allen großen und mächtigen Staaten angefeindeten und gefürchteten ersten sozialistischen Landes bis in die Einzelheiten analysiert, je weniger man sich also den bequemen pauschalen Urteilen überläßt, desto mehr wird man finden, daß die schrittweise voranschreitende Herausbildung der stalinistischen Struktur durch die ungeheueren äußeren Belastungen auf das Nachhaltigste gefördert worden ist. Ich kann mir kein bürgerlich-demokratisches Land vorstellen, das nicht unter solcher Last zusammengebrochen wäre, mehr noch, dessen demokratische Ordnung dann nicht Opfer eines Militärputsches oder sogar eines faschistischen Umsturzes geworden wäre.

Daß staatliche Unterdrückungsmaschinen ihre internen politischen und ökonomischen Schwierigkeiten gern mit angeblicher äußerer Bedrohung erklären und ihre Willkürmaßnahmen mit einem angeblichen Staatsnotstand zu rechtfertigen suchen, ist nichts Ungewöhnliches. Aber für die Sowjet-Union bestand und besteht in erheblichem Maße auch heute noch wirklich eine andauernde massive äußere Bedrohung, die ohne Frage für einen Teil der ökonomischen Schwierigkeiten die Ursache ist, jedenfalls sofern sie das Land zu ungeheuren Aufwendungen für militärische Rüstungen zwang. Hier brauchte die äußere Bedrohung nicht erfunden zu werden, um von den inneren Schwierigkeiten abzulenken.

Das alles vergiftende Mißtrauen des Staates gegenüber seinen Bürgern nährte sich aus ganz realen Quellen, die ganz und gar nicht auf Einbildung beruhten. Daß die Furcht vor Spionen und Verrätern in den eigenen Reihen schließlich zu pathologischem Verfolgungswahn wurde, der keineswegs nur Stalin allein befiel, sondern den ganzen Partei- und Staatsapparat zu zersetzen begann, bedeutete eine weitere gefährliche Schwächung des in seiner Existenz bedrohten Sowjet-Staates.

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Daß das Land diese Exzesse der Selbstverstümmelung, des Massenmordes an treuen alten Revolutionären, an hervorragenden Militärs, an hochqualifizierten Wissenschaftlern und Technikern, daß es den Archipel Gulag überstanden hat, wo ungezählte Millionen verhungerten und von Seuchen hingerafft wurden, mutet heute, zwanzig Jahre danach, fast wie ein Wunder an. Nach dem XX. Parteitag der KPdSU, drei Jahre nach dem Tode Stalins, wurde der Archipel Gulag aufgelöst. Den entscheidenden Schritt dazu hatte Chrustschow getan.

 

Der XX. Parteitag von 1956, dessen Thesen auf dem XXII. Parteitag der KPdSU bekräftigt wurden, wofür in entscheidendem Maße die Gruppe um Chrustschow verantwortlich war, leitete einen großzügigen Selbstreinigungsprozeß ein, die sogenannte Entstalinisierung. Chrustschow versuchte, den ganzen Partei- und Staatsapparat im Lauf weniger Jahre zu erneuern und zu reorganisieren. Natürlich stieß er auf wachsenden Widerstand. Auf die Millionen, deren Befreiung aus dem Archipel Gulag im wesentlichen sein Werk gewesen war, konnte er sich bei diesen Auseinandersetzungen nicht stützen. Nur weithin sichtbare Erfolge seiner Politik, ökonomische und politische, nationale wie internationale, hätten ihm dazu verhelfen können, eine freiere sozialistische Gesellschaft zu schaffen und den katastrophalen Schwund des internationalen Ansehens der Sowjet-Union, der auf die Enthüllung der Verbrechen der Stalinära folgte, schließlich nicht nur rückgängig zu machen, sondern durch die Entfaltung eines wirklich freien sozialistischen Lebens, das allen sichtbar ist, den Beweis der absoluten Überlegenheit des Sozialismus zu erbringen.

Aber diese Erfolge blieben aus, und Chrustschow beging sogar einige sehr schwere Fehler.

"Neuland unterm Pflug" war ein Fehlschlag, der Mais erwies sich als ein unzuverlässiger Genosse und die Installierung von Atomraketen auf Kuba hätte uns beinahe den dritten Weltkrieg beschert. Das Ärgste war seine Chinapolitik. Die Beziehungen zwischen der KPdSU und der KPCh waren, gelinde gesagt, schon zu Lebzeiten Stalins nicht immer frei von Spannungen. Den Chinesen mißfiel, mit guten Gründen, das anmaßende und dünkelhafte Verhalten ihrer sowjetischen Genossen im Verlauf des revolutionären Prozesses in China seit den 20er Jahren.

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Die Beratung der KPCh durch die Komintern hatten die chinesischen Kommunisten mit der schweren Niederlage von 1927 bezahlt, und nach 1945 gab Stalin Mao Tse-tungs Partei keine Chance, den chinesischen Bürgerkrieg zu gewinnen.

Aber nach Gründung der Volksrepublik China im Jahre 1949 (fast gleichzeitig mit der Gründung der DDR) hatten sich die Beziehungen sehr verbessert. Die Sowjet-Union gewährte China erhebliche Kredite zum Aufbau der Industrie. Tausende sowjetischer Spezialisten und Techniker kamen ins Land, um bei dem Aufbau der Werke mitzuwirken, die auf der Grundlage sowjetischer Pläne und Projekte errichtet werden sollten. Ich weiß nicht, ob es wegen dieser großzügigen Hilfe innerhalb der sowjetischen Führung Meinungsverschiedenheiten gegeben hat. Sie könnten möglicherweise erklären, warum die plötzlich einsetzende sowjetische Kritik an der chinesischen Politik der Volkskommunen so heftig war. Die Russen waren der Meinung, daß dies naiver linker Radikalismus sei, der zu schwersten wirtschaftlichen Belastungen führen müsse. Als die Chinesen aber nicht daran dachten, auf die Kritik des großen Bruders auch nur zu hören, brach Chrustschow die Wirtschaftshilfe an China von einem Tag zum anderen einfach ab und beorderte alle sowjetischen Fachleute samt ihren Plänen zurück in die Sowjet-Union. Die angefangenen Arbeiten konnten nicht fortgesetzt werden. Ob Chrustschow wirklich der Meinung war, die Chinesen würden sich auf diese Weise erpressen lassen, kann man sich kaum vorstellen. Eher wäre es denkbar, daß er vor seinen eigenen Kritikern im Lande zurückwich und gleichzeitig den starken Mann spielen wollte.

Das Ergebnis dieser Entscheidung ist jedenfalls bis auf den heutigen Tag die tragische Verfeindung der beiden größten und wohl auch wichtigsten Staaten des sogenannten sozialistischen Weltsystems. Die einzigen, die davon profitierten, waren die USA. Und die direkte Folge dieser Schwächung der sozialistischen Position in Asien war der Vietnam-Krieg. Bei Fortbestand der Einigkeit und Solidarität der Sowjet-Union und Chinas hätten die USA die Invasion in Vietnam niemals wagen können.

Zwölf Jahre nach dem XX. Parteitag, nachdem sich der Versuch der Entstalinisierung längst totgelaufen und sich in den Bahnen des alten ein neues flexibleres System gebildet hatte, kam es noch einmal in einem sozialistischen Land zu einem Versuch, den Stalinismus radikal zu überwinden, dem mit dem historischen Januar-Plenum des Zentralkomitees der kommunistischen Partei der Tschechoslowakei beginnenden "Prager Frühling" des Jahres 1968.

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Zuerst schien es sich nur um eine Palastrevolution gegen den korrupten Staatspräsidenten Novotny zu handeln. Sehr bald zeigte sich aber, daß eine starke Mehrheit im ZK der KPC es mit der Demokratisierung ernst meinte. Die Partei gewann von Monat zu Monat eine breitere Basis in der Bevölkerung. Aber in demselben Maße, wie sie ihre Isolierung im Innern überwand, setzte sehr bald ein sich dauernd steigender Druck von Seiten der sozialistischen "Brüder" in den umliegenden sozialistischen Staaten ein. Es wurde ganz offen von der Möglichkeit einer Intervention gesprochen. In mehreren Konferenzen, zu denen man die Führung der KPC beorderte, hämmerten die aufgeschreckten Stalinisten auf ihre tschechoslowakischen Genossen ein. Es war ganz offensichtlich, daß sie sich vor einer Ausbreitung der Ideen des Prager Frühling fürchteten, und zwar nicht, weil sie diesen Ideen nicht trauten, sondern gerade darum, weil sie wußten, daß diese Ideen den Hoffnungen von Millionen Sozialisten und Kommunisten in aller Welt entsprachen, die sich nichts sehnlicher wünschten, als daß sich der Sozialismus in den sozialistischen Staaten endlich von dem Odium befreite, ein System der Willkürherrschaft einer kleinen Clique von Apparatschiks zu sein.

 

Im Jahre 1968 erreichte auch die Protestbewegung gegen den Vietnamkrieg ihren Höhepunkt. In Frankreich gelang es sogar zum erstenmal, die sektiererische Beschränkung der Bewegung auf die Universitäten und Hochschulen zu überwinden. Es kam zu den riesigen politischen Streiks und großen gemeinsamen Demonstrationen von Arbeitern und Studenten. Die Bewegung, die an den Universitäten noch überwiegend in den Händen ultralinker Gruppen war, erfaßte nun die großen Gewerkschaften, sehr zögernd die KPF, aber dann auch die Sozialisten. Mitterand, der wohl damals zum erstenmal die Notwendigkeit einer Volksfront begriff, die mehr ist als nur ein Wahlbündnis mit den Kommunisten, erklärte seine Solidarität mit der KPC und dem Prager Frühling und bekannte sich zum demokratischen Sozialismus. Es war damals ganz offensichtlich, daß die politische Entwicklung in der CSSR eine weit über die Grenzen hinaus ausstrahlende Wirkung ausübte.

Am 21. August 1968 intervenierten die Truppen von fünf Staaten des Warschauer Paktes. Überwiegend waren es sowjetische Truppen.

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Die Kontingente der anderen hatten mehr symbolischen Charakter. Sie wurden bald wieder abgezogen, während die sowjetischen Truppen bis heute das Land besetzt halten. Die Intervention wurde mit der Behauptung begründet, führende Genossen der CSSR hätten um Hilfe gegen einen konterrevolutionären Putsch gebeten. Bis heute sind die Namen der Genossen, die um Hilfe ersucht haben sollen, nicht bekannt. Ich will die skandalöse Geschichte jener Tage hier nicht im einzelnen herauf­beschwören. Sie ist im wesentlichen allgemein bekannt. Ich will nur daran erinnern, daß die Intervention sofort nach dem 21. August von 15 kommunistischen Parteien Europas verurteilt und nur von drei Parteien, der luxemburgischen, der zyprischen und der bundesdeutschen Partei (damals noch als illegale KPD) gebilligt wurde. Bei Beachtung der Mitgliederzahlen waren diese drei also eine verschwindende Minderheit.

In der DDR und in anderen sozialistischen Ländern setzte sofort eine Welle schärfster Verfolgung aller Personen ein, die auch nur in Andeutungen ihren Protest gegen die Intervention geäußert hatten. Dies galt auch für alle Personen, die es wagten, sich auf die Position der 15 kommunistischen Parteien des Westens zu stellen. Besonders in den Schulen und Hochschulen, aber auch in allen Behörden und Verwaltungen und auch in Industriebetrieben mußten die Arbeiter und Angestellten Erklärungen des Einverständnisses mit der Intervention unterschreiben. Wer sich weigerte, wurde fristlos entlassen. Hunderte wanderten mit hohen Freiheitsstrafen in die Gefängnisse. Niemand von diesen verfassungswidrig Verurteilten wurde bisher rehabilitiert und entschädigt.

 

Wo steht die kommunistische Bewegung in Europa heute, acht Jahre nach dem konterrevolutionären Überfall auf die CSSR? Es gab im Jahre 1976 ein außerordentlich bedeutsames Ereignis, von dem man hoffen kann, daß es die endgültige Überwindung des Systems der Unfreiheit, Entrechtung und Unterdrückung in den sozialistischen Staaten signalisiert: Die Berliner Konferenz der kommunistischen Parteien Europas. Auf dieser Konferenz wurde nur sehr wenig und nur mit wenigen, ganz knappen Worten und auch nur von einigen Delegierten — allerdings den wichtigsten — von der Intervention in der CSSR gesprochen. Aber gedacht wurde um so mehr an jene schlimmen Tage, in denen die nackte Angst um die persönliche Macht die Mächtigen jener fünf Länder dazu gebracht hatte, dem internationalen Ansehen der Kommunisten einen neuen furchtbaren Schlag zu versetzen.

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Die Konferenz war auf Betreiben der sowjetischen Partei zustande gekommen. Die Vorverhandlungen über ein zu beschließendes Dokument dauerten fast zwei Jahre. Wenn die sowjetischen Genossen geglaubt hatten, sie könnten auf dieser Konferenz die Wieder­anerkennung ihrer führenden Rolle erreichen und, indem sie als führender Sprecher aller Kommunisten in Europa erschienen, sich damit auch von dem Makel befreien, der ihnen seit dem 21. August 1968 als dem "Weltpolizisten" im Bereiche des Sozialismus anhing, so sahen sie sich gründlich getäuscht. Stattdessen kam es zu einer definitiven Verurteilung jeder Art von Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Landes. Die Konferenz kam zu der ausdrücklichen Feststellung, daß keineswegs jede Kritik an der Politik einer kommunistischen Partei oder Regierung, von außerhalb wie auch von innerhalb eines Landes, als "Antikommunismus" diffamiert werden kann.

Die Vertreter der größten europäischen kommunistischen Parteien, der französischen und der italienischen Partei, legten die Grundzüge ihrer Politik dar, die auf die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft gerichtet ist, in der nicht nur alle Freiheiten der bürgerlichen Gesellschaft fortbestehen, sondern darüber hinaus durch die Abschaffung der Ausbeutung diesen Freiheiten ein ganz neuer Inhalt gegeben wird. Die Genossen Georges Marchais, Vorsitzender der französischen Partei, und Enrico Berlinguer, Vorsitzender der italienischen Partei, forderten die uneingeschränkte Aufrechterhaltung der Rede- und Versammlungs­freiheit, der Freiheit der Publikation und Information, des Streikrechts und des Rechts auf freie Wahl der Arbeit, des Rechts auf Freizügigkeit auch über die Grenzen des sozialistischen Landes und des Rechts auf Bildung politischer Parteien, auch oppositioneller selbstverständlich, einschließlich der Möglichkeit, daß eine sozialistische Regierung abgewählt wird und eine nichtsozialistische an ihre Stelle tritt.

Solche Worte hat man in den Staaten des realen Sozialismus noch nie von der Tribüne einer Konferenz kommunistischer Parteiführer vernommen. Aber sie wurden ohne Kürzung in den Spalten der Partei­zeitung der kommunistischen Partei der DDR, dem "Neuen Deutschland", abgedruckt. Indem ich statt der offiziellen Bezeichnung "Sozialistische Einheitspartei Deutschlands" geschrieben habe "kommunistische Partei der DDR", wird mir besonders deutlich, wie wenig beide Bezeichnungen den tatsächlichen Charakter dieser Partei zum Ausdruck bringen.

Und doch habe ich die Hoffnung, daß auch diese Partei in den wenigen Jahren oder vielleicht auch Jahrzehnten, die uns noch bleiben, daran mitwirken wird, die ungeheuren Aufgaben zu bewältigen, die – wie ich überzeugt bin – nur der Sozialismus lösen kann.

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