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Rezension

Dr. Peter Feist 

zu Wolfgang Harich - Der Ahnenpaß        marxismus-online.eu/buch/ahnenpass.html  

 

Einen eigenwilligen Titel trägt sie, diese Neuerscheinung aus dem Nachlaß des 1995 verstorbenen Philosophen Wolfgang Harich. Wie der Herausgeber Thomas Grimm uns wissen läßt, stammt dieser Titel vom Autor selber, der sein Manuskript mit der Bleistiftnotiz "Kommentar zu meinem Ahnenpaß" versah. Aus diesem autobiographischen Text des Jahres 1972 stammt das erste Kapitel dieses dreigeteilten Buches.

Harich arbeitete als 49-jähriger ein gutes halbes Jahr an diesen Erinnerungen, bevor er sie unvollendet abbrach. Inwieweit sie in dieser Form wirklich zur Veröffentlichung gedacht waren, ist fraglich, was der Herausgeber auch andeutet. Trotz der Zweifel ist er zu dieser Veröffentlichung zu beglückwünschen. Was Harich hier als Kommentar seines von den Nazis zum Besuch des Gymnasiums geforderten "Ahnenpasses" auffächert, ist nahezu ein Epochengemälde einer großbürgerlichen Familie der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts. Sachlich, oft mit einem trockenen Humor versetzt, werden die großen Umbrüche der Zeit im Spannungsfeld einer einflußreichen ostpreußischen Familie gezeigt, die mit den Polen erzkonservativer Großvater und humanistisch-pazifistisch denkender Vater charakterisierbar sind.

Denn dies ist der Text auf seinen ersten hundert Seiten vor allem: ein Denkmal für den Vater, den in den zwanziger Jahren sehr populären Schriftsteller Walter Harich. Sein nachwirkendes antifaschistisches Denken ist es, das dem Jungen Wolfgang hilft, sich aus der Einbindung in die Hitlerjugend zu lösen. Der Autor zeigt sehr eindringlich und differenziert diesen Prozeß, der ihn schließlich in eine Widerstandsgruppe führt. 

Er läßt uns an seinen Motiven teilhaben und verrät durch die Schilderung seiner abenteuerlich-chaotischen Aktionen einen Grundzug seines eigenwilligen Charakters, einen Gerechtigkeitsfanatismus, der sich mit einer unglaublichen Naivität paart. So sind auch seine Erlebnisse als Wehrmachtsdeserteur und Illegaler in Berlin zum Teil phantastisch anmutende Räuberpistolen. Daß er dabei meistens Glück hatte, verschärfte seinen Drang zum Abenteurer und zur Verhöhnung jeglicher Konvention, wie er nachdenklich eingesteht. 

Dieser selbstkritische Zug, das feine analytische Gespür für die Ursachen und Antriebe seines Handelns, machen diesen Text so wertvoll. Zu den schönsten Passagen gehört das eindringliche Porträt seiner Freundschaft mit Walter Janka und ihrer gegenseitigen Wechselwirkungen, geschrieben lange vor dem großen Streit der alten Männer. 

Womit verwiesen ist auf den zweiten Teil der autobiographischen Notizen, die ein quirliges Bild der "wilden Jahre" zwischen 1945 und 1955 geben. Inmitten des Strudels Harich, mal nachdenklich, mal politisch zornig-aufbegehrend, mal ironisch alles bekrittelnd. Und natürlich kommen sie alle vor, die Großen der Zeit, mit denen er auf vertrautem Fuß stand: Schauspieler, Schriftsteller, Kulturpolitiker, Besatzungsoffiziere und Theatermacher. So erzählt er vergnüglich, mit welcher Intrige er Brecht/Weigel das Theater am Schiffbauerdamm verschafft hat und mit Brecht um dem 17. Juni herum gegen die Kunstkommission intrigierte...., alles spritzig geschrieben und spannend wie ein Krimi.

Diesem autobiografischen Fragment ist ein Protokoll "Bericht über eine Sitzung des Philosophischen Institutes..." angehängt, das ebenfalls aus Harichs Feder stammt und eines seiner wichtigsten Arbeitsgebiete und Streitpunkte in jener Zeit illustriert - den Kampf zur Verteidigung der klassischen deutschen Philosophie, insbesondere Hegels, gegen den stalinistischen Dogmatismus.

Ein drittes großes Kapitel des Buches, mehr als 100 Seiten, besteht aus Gesprächsprotokollen. Diese Protokolle sind die verschriftlichte Form von mehrstündigen Video- und Tonbandaufnahmen, die der Herausgeber Thomas Grimm im Herbst 1989 aufgenommen hatte. Sie behandeln im wesentlichen die Ereignisse von 1956, in deren Folge Harich unschuldig acht Jahre in Bautzen saß.

Ob diese Wortprotokolle hier abgedruckt werden mußten, läßt sich mit einiger Berechtigung fragen. Vieles ist bekannt, die Videos waren sogar im Fernsehen zu sehen. Vor allem aber hat sich W. Harich selbst zu diesen Dingen umfassend geäußert, in seinem Buch "Keine Schwierigkeiten mit der Wahrheit" (Dietz 1993), und in den im Anhang zu einer umfangreichen Harich-Biographie von Siegfried Prokop herausgegebenen Originaldokumenten von 1956. Lediglich, daß die Interviews vor dem Streit Janka-Harich entstanden sind und sich somit in wichtigen Nuancen unterscheiden, könnte ihre jetzige Veröffentlichung rechtfertigen, dürfte aber nur einige wenige Fachleute interessieren.

Trotz dieser kritischen Anmerkung und einiger, zum Teil sinnentstellender Schreibfehler im Text, ist dieses Buch ein vergnüglich zu lesender, wenn auch leicht verspäteter, Beitrag zum 75. Geburtstag dieses eigenwilligen Philosophen.

 

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