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9  Abschließender Brief

 leicht gekürzt von detopia-2013 

 

Berlin, den 21. Mai 1975

203-207

Blitzartig wurde mir klar: Genau wie Ihrem Herrn Vogel ist auch Ihnen Ihr sogenannter Demokratischer Sozialismus mit seinen friedlichen Reformen, bei denen doch nichts herauskommt die nur den Sinn haben, Revolutionen zu verhindern immer noch wichtiger als das Überleben der Menschheit. 

wikipedia Hans-Jochen_Vogel  *1926

Wie soll ich da den Verdacht loswerden, daß Sie meiner Wachstumskritik im Grunde nur deswegen zur Publizität verhelfen, weil Sie damit, im Sinne Ihrer Parteioberen, eine neue Variante oppositioneller Haltung innerhalb des sozialistischen Lagers zu fördern hoffen? Seien Sie versichert: Daraus wird nichts.

Männer wie Kapiza, Rytschkow, Medunin usw. stellen auch keine Opposition dar, und mit ihnen weiß ich mich einig in der Überzeugung, daß die Aufrecht­erhaltung der politischen Strukturen und der Eigentumsverhältnisse des sozialistischen Lagers sowie der Fortgang der kommunistischen Weltrevolution die elementare Voraussetzung für die Bewältigung der ökologischen Krise, für die globale Bändigung des zügellosen Wachstums sind. 

Bleiben aber Ihre Bedenken gegen das Wachstum so schwach und inkonsequent, daß sie bereits an der unbedingten Solidarität mit Herrn Bundesminister Vogel ihre Grenze finden, dann müssen in Zukunft eben auch Sie als Stütze des Wachstumsfetischismus bekämpft werden. 

Ich hatte in Ihnen etwas Besseres gesehen: den Förderer und Organisator des ökologischen Problembewußtseins in der ganzen Linken, über alle Partei­schranken hinweg, von Illich über Mansholt und Steffen bis zu Kapiza, Rytschkow und Fjodorow.

Zweitens: Ich könnte mich nachträglich ohrfeigen dafür, daß ich mich von Ihnen habe überreden lassen, auf die Stelle mit dem scharfen, kritischen Ausfall gegen die USA zu verzichten. Inzwischen habe ich noch einmal in Ihrem analogen Interview mit Sicco Mansholt geblättert und dabei festgestellt, daß auch er — ein sehr prominenter Sozialdemokrat wohlgemerkt — einen Beitrag zur Lösung der fälligen Probleme eher von Westeuropa erwartet als von den USA, weil ihm dort die politischen Voraussetzungen dafür zu fehlen scheinen.

Was meint er damit? Natürlich den Mangel einer politischen Arbeiterbewegung in den USA. 

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Und genau davon bin auch ich ausgegangen, als ich zu Ihnen hinsichtlich der Perspektiven der USA äußerte: 

«Da bin ich völlig ratlos. Ich kann nur vage auf die Traditionen der Vernunft, des Demokratismus und eines ausgeprägten Realitätssinns aus der amerikanischen Geschichte hoffen. Vielleicht ist irgendeine ökologisch orientierte Neuauflage des New Deal oder etwas Ähnliches denkbar. Befürchten muß man von den USA das Schlimmste. Sie sind die destruktivste Macht der Welt, durch ihren Rohstoff- und Energieverbrauch für die Biosphäre tödlich, durch ihre militärische Stärke, bei Abwesenheit einer ernstzunehmenden politischen Arbeiterbewegung, zugleich eine ständige Gefahr für den Weltfrieden. Wahrscheinlich werden Europa, Asien, Afrika, Lateinamerika gemeinsam, Schritt für Schritt, diesen Pestherd isolieren müssen.» 

Sie haben darauf bestanden, daß diese Meinungsäußerung von mir aus dem sechsten Interview herausfliegt. Ich bestehe jetzt darauf, daß sie hier, im Kontext meines abschließenden Briefes, stehenbleibt. 

Die Formulierung «destruktivste Macht der Welt» ist übrigens ein Plagiat; sie stammt von dem US-Bürger Herbert Marcuse. Mal sehen, ob der Rowohlt-Verlag sich, was die Gewährung von Meinungsfreiheit betrifft, von der destruktivsten Macht der Welt beschämen läßt.

 

Drittens die gestrige Kontroverse zwischen uns, die mit unserem Thema direkt sehr wenig, indirekt sehr viel zu tun hat: Portugal. Sie bangen, daß dort der politische Pluralismus erhalten bleibe und nicht etwa einem volksdemokratischen Regime weiche, wobei Sie all ihre Hoffnung auf den — mir höchst suspekten — Soares setzen. Nachträglich ist mir eingefallen, wie erschüttert, wie verzweifelt Sie seinerzeit über das Schicksal der Regierung Allende in Chile gewesen sind.

Ist denn die etwa nicht an ihrer Respektierung des Pluralismus gescheitert? An ihrer selbstmörderischen Loyalität gegenüber einem politischen System, das sie zwang, einerseits die gegen sie organisierten Komplotte einer nach Mord gierenden Reaktion zu dulden und andererseits sich das Wohlwollen kurzsichtiger, politisch unaufgeklärter Teile des Proletariats mit volkswirtschaftlich noch gar nicht zu verkraftenden Lohnerhöhungen zu sichern? 

Dabei war Chile der in der Geschichte bisher einzige ernstzunehmende Versuch, mit den Methoden des Demokratischen Sozialismus eine tiefgreifende Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse durchzusetzen. Wäre es nicht an der Zeit, aus dieser Erfahrung die nötigen Lehren zu ziehen? Und muß man nicht angesichts der chilenischen Tragödie hoffen, daß es in Portugal der Macht der progressiven Militärs und den Kommunisten, die sie nach Kräften unterstützen, gelingen möge, von ihrem Volk ein ähnlich grauenhaftes Schicksal abzuwenden, auch wenn die Herrlichkeiten des Pluralismus dabei mit über Bord gehen?

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Die Vergesellschaftung der Produktionsmittel kann gegen den unvermeidlichen Widerstand der Bourgeoisie nur durch despotische Eingriffe in das Eigentums­recht erzwungen werden, zu denen allein eine sich auf das Proletariat stützende revolutionäre Diktatur imstande ist. Auch das können Sie der «Kritik des Gothaer Programms» entnehmen, und an den sich darauf beziehenden Sätzen gibt es heute, hundert Jahre später, nichts zu revidieren. 

Im Gegenteil, gerade die ökologische Krise verleiht diesen Sätzen heute noch mehr Gewicht, da sie dem Kommunismus ja zusätzlich Maßnahmen abverlangt, die notwendig unpopulär sein werden. Ich erinnere Sie an die zu unterdrückenden natur- und gesellschaftsfeindlichen Bedürfnisse, auf die ich mich oben, — in meiner Brieffortsetzung vom 29.4. — bezogen habe. Wie will der politische Pluralismus damit erst fertig werden, nachdem er sich bereits als unfähig erwiesen hat, irgendwo auf der Welt die Macht des Kapitals zu brechen? 

Im Rahmen des pluralistischen Systems bleibt den Parteien nichts anderes übrig, als von einer freien, geheimen Wahl zur nächsten den kurzsichtigsten Sonder­interessen hinterherzurennen, die es gar nicht zulassen, daß die politische Macht sich effektiv mit Weitblick und Kontinuität auf die globalen Zukunfts­probleme der Menschheit konzentriert. Worauf hofft heute die Regierung in Bonn? Auf die Wiederbelebung der Konjunktur. Den Club of Rome hat sie aus ihren Köpfen verdrängt. Helmut Schmidt, der Wachstumsfetischist an ihrer Spitze, soll sogar der Industrie zuliebe vorhaben, die ohnehin unzulänglichen Umweltschutz­maßnahmen noch weiter einzuschränken.

Verteidigen muß, nach wie vor, die Linke den Pluralismus gegen autoritäre Anschläge von rechts. Ausnutzen muß sie ihn, so weit er das zuläßt, um ihren eigenen politischen Einfluß zu mehren und zu stärken.

Aber sobald ihr — sei es auf friedlichem Wege, sei es durch gewaltsamen Umsturz — die Macht im Staat zufällt, dann schleunigst weg mit diesem System und her mit der wahren, der ursprünglichen Demokratie, die in Europa als erste die Jakobiner, geführt von Robespierre, verwirklicht haben und die Babeuf mit seiner «Verschwörung der Gleichen» wiederherstellen wollte!

Doch ich fürchte, über diesen Punkt werde ich mich mit Ihnen am wenigsten einigen können. Sei's drum, die Gespräche mit Ihnen haben mich nichtsdesto­weniger immer angeregt und oft bereichert. Und so verabschiede ich mich von Ihnen, trotz meines Ärgers über gestern, mit freundlichem Gruß und mit dem Wunsch, Sie bald wiederzusehen.

206-207

Wolfgang Harich

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Wolfgang Harich 1975 Kommunismus ohne Wachstum? Mit Freimut Duve