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6  Kommunismus als Lösung?   

 

 

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Duve: Sie wissen, daß ich Ihren marxistischen Geschichtsdeterminismus nicht teile. Trotzdem ist es für uns interessant, zu diskutieren, welchen Veränderungen der Traum vom Kommunismus unterworfen ist - angesichts der ökologischen Krise.

In unserem vorigen Gespräch bezogen Sie sich bereits mehrfach auf die schon existierenden sogenannten sozialistischen Länder. Hielten Sie es nicht für angebracht, daß zuerst sie den «Kommunismus», ich meine den von Ihnen empfohlenen Rationierungs-Kommunismus, bei sich einführen?

Harich: Ich hätte nicht das geringste dagegen einzuwenden, wenn sie dies täten. Aber der Gang der Geschichte braucht nicht unbedingt so zu verlaufen, daß sie es zuerst tun werden. 
Die ökologischen und ökonomischen Sachzwänge, die Nordamerika, die EWG-Staaten und Japan in die Richtung kommunistischer Lösungen drängen, sind weitaus stärker, und wenn es der Bourgeoisie dieser Länder gelingen sollte, sich ihnen noch lange erfolgreich entgegenzustemmen, sie zu sistieren, so wären die Folgen viel katastrophaler, als wenn die Sowjetunion und die mit ihr verbundenen sozialistischen Staaten Osteuropas, um von den asiatischen Volksrepubliken oder Kuba gar nicht zu reden, sich mit dem Übergang vom Sozialismus zum Kommunismus noch etwas Zeit ließen. 

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Duve: Also wird nicht die Sowjetunion, das Land der Oktoberrevolution, das erste kommunistische Land sein? 

Harich: So bestimmt will ich das auch wieder nicht behaupten. Es könnte durchaus geschehen, daß sie es sein wird. Ich glaube sogar, sie wird es sein. Aber es wäre schematisch gedacht, sich, wie auf etwas Selbstverständliches, auf die Prognose festzulegen, daß sie es unter allen Umständen sein muß. Die westlichen Industrieländer hätten den Kommunismus nötiger als sie. 

 

Duve: Nach dem Urteil Sicco Mansholts müßte es der Sowjetunion leichter fallen als anderen, sich einer Weltwirtschaft ohne Wachstum anzupassen.

Harich: Anzupassen ja. Aber ihr Bahnbrecher zu sein? Nicht zu bestreiten ist, daß die Sowjetunion und die übrigen sozialistischen Länder dafür politisch, strukturell und auch ideologisch die günstigsten Voraussetzungen mitbrächten: Die Arbeiterklasse übt hier, unter der Führung marxistisch-leninistischer Parteien, die Macht aus. Ausgeschaltet sind alle Störfaktoren, die sich im Westen aus dem politischen System der pluralistischen Demokratie, dem Parlamentarismus, der institutionalisierten Opposition usw. ergeben. Die Produktionsmittel sind gesellschaftliches Eigentum. Die Entwicklung der gesamten Volkswirtschaft wird vom Staat geplant und gelenkt und unterliegt grundsätzlich nicht, wie die des Westens, dem Zwang zur erweiterten Reproduktion, kennt aber auch keine Konjunkturschwankungen. 

Die langfristigen Perspektivpläne des Sozialismus könnten leicht darauf ausgerichtet werden, die Erhaltung und Festigung der Biosphäre mit der Befriedigung der Bedürfnisse der Bevölkerung harmonisch zu koordinieren. Der Marxismus ist die Weltanschauung der unwiderruflich an der Macht befindlichen Staatsparteien. Als dialektischer Materialismus läßt der Marxismus keinen Zweifel an der Abhängigkeit der Gesellschaft von der Natur. Als proletarischer Internationalismus geht er davon aus, daß die Grundinteressen der Werktätigen aller Länder identisch sind, und begünstigt so außerordentlich ein von globaler Verantwortung getragenes, an globalen Zusammenhängen orientiertes politisches und soziales Denken, wie der Club of Rome es fordert. Und nicht zu vergessen: Die Verwirklichung des Kommunismus ist das erklärte Ziel der sozialistischen Länder. Es sind kommunistische Parteien, von denen sie regiert werden. 

detopia:  Sicco Mansholt 

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Duve: Zumindest die Sowjetunion betont sogar, daß sie schon dabei sei, den Kommunismus aufzubauen.

Harich: Ja, eben, und bei dieser Formulierung möchte ich gleich einhaken. Begriffe wie «Aufbau des Sozialismus», «Aufbau des Kommunismus» kommen nämlich aus guten Gründen bei Marx, Engels und Lenin nicht vor. Warum nicht? Weil der Sozialismus eigentlich nicht aufgebaut, sondern verwirklicht wird — durch Vergesellschaftung der Produktionsmittel. 

Aufgebaut werden Fabriken, Häuser usw. Und auch der Kommunismus wird verwirklicht — indem die sozialistische Gesellschaft zu einem System der Verteilung übergeht, das, wie die alte Formel lautet, «jedem nach seinen Bedürfnissen» gibt. 

Der erst auf Stalin zurückgehende Sprachgebrauch, der in diesen Zusammenhängen das Wort «Aufbau» mit ins Spiel bringt, spiegelt spezifische historische Bedingungen wider, die nicht verallgemeinert werden dürfen. Er erklärt sich aus der Rückständigkeit, welche die aus der Oktoberrevolution hervorgegangene, kommunistisch geführte Arbeiter- und Bauernmacht in Rußland vorfand und die sie durch gigantische Aufbauleistungen — eben durch den von Stalin konzipierten «Aufbau des Sozialismus in einem Land» — überwinden mußte.

 

Duve: Und die anderen osteuropäischen Parteiführungen haben den so entstandenen Sprachgebrauch dann später aus dogmatischer Autoritäts­gläubigkeit ungeprüft übernehmen müssen. 

Harich: So sehe ich das nicht, obwohl es sich in vielen Köpfen so abgespielt haben mag. Nein, zu ihren Verhältnissen paßte er ebenfalls gut. Einmal handelte es sich, mit Ausnahme der DDR und der CSSR, abermals um überwiegende Agrarländer, die der Industrialisierung bedurften. Zum anderen mußten alle osteuropäischen sozialistischen Länder nach 1945 ja mit den ungeheuren Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs fertig werden. Bloße Verwirklichung des Sozialismus hätte da also wieder nicht genügt. Wieder verknüpfte sie sich unlösbar mit der Notwendigkeit großer Aufbauanstrengung, weshalb der Begriff «Aufbau des Sozialismus» der Sache, um die es ging, angemessen blieb.

Wenn jedoch aus der — nun wirklich dogmatischen — Unart, diesen Sprachgebrauch als schlechthin allgemeingültig zu akzeptieren, Kommunisten in der Bundesrepublik, Frankreich, England, Italien usw. den Schluß zögen, sie würden in ihren Ländern, einmal zur Macht gelangt, erst den Sozialismus und dann nach einer Weile auch noch den Kommunismus «aufbauen» müssen, so wäre das nicht mehr angemessen, sondern abwegig. 

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Aufgebaut zu werden braucht hier so gut wie gar nichts mehr. Im Gegenteil, man täte gut daran, einiges Nutzlose, Schädliche, Widerwärtige schleunigst wieder abzubauen, weshalb eher von «Abbau des Kapitalismus» als von «Aufbau des Sozialismus» gesprochen werden müßte. Ein Großteil dessen, was laufend verbraucht wird — auch da beileibe nicht alles —, müßte laufend reproduziert und im übrigen gerecht verteilt werden, und wenn man sich dazu entschlösse, so wäre das schon nicht mehr Sozialismus, sondern — Kommunismus. Dies meinte ich, als ich in einem unserer letzten Gespräche sagte, die USA, die EWG-Länder und Japan könnten die untere Phase der kommunistischen Gesellschaft, den Sozialismus, einfach überspringen. 

Der Gedanke ist keineswegs kühn, wenn man z.B. bedenkt, daß die Mongolische Volksrepublik von einem finsteren mittelalterlichen Feudalismus in den Sozialismus gesprungen ist, während es sich beim Sozialismus und Kommunismus nur um zwei Entwicklungsstufen derselben Gesellschaftsformation handelt. 

Nun vergleichen Sie aber bitte einmal die MVR oder die Volksrepublik China (mitsamt Tibet) oder Nordvietnam oder Kuba oder selbst ein europäisches Land, Albanien, mit der Bundesrepublik, mit den USA, mit Frankreich, und fragen Sie sich dann, ob die Notwendigkeit, ja auch nur die Wünschbarkeit des Überganges zum Kommunismus allein von der Gunst bzw. Ungunst der politischen, strukturellen und ideologischen Voraussetzungen abhängt, ob nicht vielmehr Faktoren wie der Grad der Industrialisierung, der Stand der Arbeitsproduktivität, das Pro-Kopf-Einkommen, der Pro-Kopf-Verbrauch an Rohmaterialien und Energie usw. ebenso in Anschlag zu bringen sind und sich unter Umständen als wichtiger erweisen könnten. Natürlich kommt der Gedanke, den Kommunismus zu verwirklichen, dem Genossen Jumshaagin Zedenbal in Ulan Bator eher in den Sinn als dem Präsidenten Ford in Washington. Aber bedeutet das, daß die Mongolei kommunistische Verhältnisse schon braucht, daß sie für sie reif ist?

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Duve: Wieder dieser Glaube an den ehernen Ablauf der Geschichte! Wie steht es in der Beziehung mit den Gedanken Breshnews in Moskau, Honeckers in Berlin? Die Sowjetunion und die DDR sind hochentwickelte Industrieländer.

Harich: Ich bestreite ja auch nicht rundheraus, daß sie vor den USA, der Bundesrepublik und Frankreich den Kommunismus verwirklichen werden. Ich behaupte nicht, daß der Gedanke daran auszuschließen sei. Ich sage nur: So muß es nicht sein. Nehmen Sie die Sowjetunion: Sie ist das an Rohstoffen reichste Land der Welt, und an ihren Schätzen partizipieren alle Comecon-Länder, wie man im Westen die Mitgliedstaaten des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) zu nennen pflegt. 

Für diesen sozialistischen Wirtschaftsblock ist folglich die zwingende Notwendigkeit der Rationierung, was die Rohstoffe anbelangt, vorläufig noch nicht aktuell. Die Schwierigkeit besteht hier vielmehr darin, daß die wichtigsten Rohstoffquellen — die in Sibirien — erst noch erschlossen werden müssen, und zwar unter geographisch und klimatisch ungünstigsten Bedingungen, die bei kommunistischer Regelung des Arbeitskräfteeinsatzes ungleich schwerer zu bewältigen wären als unter der Bedingung, daß man das sozialistische Leistungs­prinzip, mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen, vorläufig noch beibehält. 

Hören Sie den Vertreter der DDR im RGW, Gerhard Weiß: «Die Verlagerung des Schwerpunktes der sowjetischen Erdölförderung nach Westsibirien ist mit außerordentlich hohen Belastungen verbunden. Der Aufschluß dieser Vorkommen erfolgt in einem riesigen, nahezu unbewohnten Territorium, wo es weder Verkehrswege noch die notwendigen Versorgungseinrichtungen gibt. Über Hunderte von Kilometern sind in Sumpfgebieten und Regionen des ewigen Frostes Straßen und Eisenbahnlinien zu errichten. Es sind ganze Städte aufzubauen unter für uns kaum vorstellbaren klimatischen Bedingungen. Während im Winter Temperaturen von minus 50 Grad keine Seltenheit sind, muß im Sommer der tief versumpfte Grund unter den Bohrtürmen und anderen Bauten künstlich gefroren werden.» 

Wer arbeitet gerne in einer solchen Umgebung? Wäre die Sowjetunion bereits ein kommunistisches Land, so bliebe ihr nichts anderes übrig, als entweder, unter Appellen an den Heroismus der Arbeiterklasse, freiwillige Arbeitsarmeen für Westsibirien aufzustellen oder, mit entsprechender Beschränkung der persönlichen Freiheit, auf dem Wege der Gesetzgebung einen Arbeitsdienst einzuführen, zu dem jeder eingezogen werden könnte wie zum Militär. Näher liegt es, mit hohen Löhnen und sonstigen Privilegien einen materiellen Anreiz für diese schwere Arbeit zu schaffen.

Und das ist eine sozialistische Maßnahme, gemäß dem Leistungsprinzip; der Kommunismus ließe sie nicht mehr zu. Sie sehen: Der Rohstoffreichtum macht kommunistische Regelungen vorderhand unnötig, und das Problem, an diesen Reichtum heranzukommen, läßt sie sogar als unerwünscht erscheinen.

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Duve: Wie unerwünscht müßte nach dieser Theorie erst der Kommunismus in Alaska sein! Aber wenn die Bodenschätze Sibiriens einmal erschlossen sein werden? Wenn das westsibirische Erdöl durch die Pipelines fließen wird?

Harich: Wenn Sie mich fragen, ich meine, dann wird es darauf ankommen, daß die Länder des RGW damit so sparsam und haushälterisch wie nur möglich umgehen. Denn begrenzt sind diese Schätze ja auch wieder, und alle Erwägungen darüber, daß sie sich eines Tages durch irgend etwas anderes ersetzen lassen könnten, sind entweder vage Spekulationen, oft reine Phantastereien, oder unterschätzen, falls sie einen realen Kern haben, die neuen Schwierigkeiten und Gefahren, die mit den für die Nutzbarmachung möglicher Substitute erforderlichen Technologien und Energie­umwandlungs­prozessen verbunden sein werden. Die Nutzung geothermischer Wärme z.B. könnte Ketten­reaktionen von Erdbeben auslösen. Kernreaktoren beschwören riesige Gefahren herauf, ganz abgesehen davon, daß sie den Trend zum Wärmetod der Biosphäre vervielfachen, usw. usf.

 

Duve: Also Nullwachstum erst, sobald Sibirien erschlossen sein wird?

Harich: Wenn Sie mich fragen, besser noch vorher. Warum mit den kaukasischen, kaspischen, rumänischen Erdölvorräten nicht auch schon knausern? Warum nicht schon ihrer Erschöpfbarkeit wegen den Konsum einschränken, etwa dergestalt, daß ab sofort auf PKWs in Privatbesitz verzichtet wird? Ich fände das vernünftig. Nur: Wird es leicht sein, dies Völkern beizubringen, die für den Sozialismus und Kommunismus schon enorme Opfer haben bringen müssen? 

Denken Sie nur daran, was die Sowjetunion alles hinter sich hat: den Bürgerkrieg gegen 14 intervenierende kapitalistische Staaten; die weltgeschichtlich beispiellose Härte und Brutalität, mit der, von 1929 an, der große Stalin das Land dazu vergewaltigte, die schwerindustrielle Basis seiner nationalen Selbstbehauptung, seines Aufstiegs zur sozialistischen Supermacht zu schaffen; gleich danach den Zweiten Weltkrieg mit 20 Millionen Toten, mit den unvorstellbar verwüsteten Städten und Produktionsstätten, die Hitlers Politik der verbrannten Erde hinterließ. 

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Und als der Sieg über den Faschismus errungen war, da stand der Wiederaufbau im Zeichen des Kalten Krieges, seit Hiroshima mit der amerikanischen Atombombendrohung am Horizont, die das ausgeblutete, zerstörte Land dazu nötigte, Nuklear- und Raketenmacht zu werden, um zu verhindern, daß der Sozialismus doch noch zugrunde ging. 

Über vierzig Jahre lang ist so über die Völker der Sowjetunion eine Welle der Opfer und Entbehrungen nach der anderen hinweggegangen. Jetzt endlich nehmen sie, dank der letzten Fünfjahrpläne, namentlich seit dem XXIV. Parteitag der KPdSU, einen Lichtstreifen am Horizont wahr, hoffen sie auf die Segnungen einer Wirtschaftspolitik, die nicht mehr alle anderen Belange dem Aufbau der Schwerindustrie unterordnet, sondern die dazu übergegangen ist, die Befriedigung der materiellen und kulturellen Bedürfnisse der Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. 

Und da plötzlich sehen diese leidgeprüften Völker sich einer neuen Herausforderung: der katastrophenschwangeren ökologischen Krise, gegenüber, die sie dazu zwingen wird, an dem alten Menschheitstraum Kommunismus, für den sie unsägliche Opfer gebracht, für den sie gekämpft, gehungert, geblutet, gelitten, für den sie Terror und Willkür ertragen haben, enorme Abstriche vorzunehmen, ja seine Verwirklichung mit einer ihnen so vertrauten Scheußlichkeit wie der Rationierung zu verbinden. 

Diese Zumutung ist ungeheuer, ist es um so mehr, als die Kämpfe, Leiden und Entbehrungen jahrzehntelang im Zeichen der Parole gestanden haben, es gelte, die Vereinigten Staaten von Amerika auf allen Gebieten einzuholen und zu überholen, wodurch, in der vorausgreifenden Phantasie des Volkes, die Konsumnormen des reichsten kapitalistischen Landes der Welt, noch in die zweite oder dritte Potenz erhoben, mit der Idee des Kommunismus in eins verschmolzen. 

Betrug? Keineswegs! Stalin und noch Chruschtschow haben fest an die Erreichbarkeit dieses Ziels geglaubt. Oder nehmen Sie die DDR. Die Leiden ihrer Bevölkerung lassen sich mit denen der Sowjetvölker nicht vergleichen.

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Immerhin aber hat dieser Staat, in dem kleineren, weniger industrialisierten, an Rohstoffen ärmeren Teil des ehemaligen Deutschen Reiches, allein, stellvertretend für die ganze deutsche Nation, die Reparationslasten des von Hitler angezettelten und verlorenen Zweiten Weltkriegs tragen müssen, obendrein bei offener Grenze, über die bis 1961 Jahr für Jahr, Monat um Monat zahllose wertvolle Fachkräfte in die Bundesrepublik, das mit Marshallplangeldern aufgepäppelte Wirtschaftswunderland, abwanderten. 

Unter diesen Umständen den Sozialismus aufzubauen war ebenfalls kein reines Zuckerlecken. Auch das Volk der DDR hat Opfer bringen und, immer mit dem Glamour des Westens vor Augen, sich vieles verkneifen müssen. Jetzt ist bei uns, in den Grenzen eines bescheidenen, maßvollen Wohlstandes, das Leben leichter, angenehmer, auch freier geworden. Besonders seit ihrem VIII. Parteitag war die SED auf dem besten Wege, ihren Vorsatz wahrzumachen, alles für das Wohlergehen der Menschen zu tun, und daran will sie anscheinend auch weiter festhalten. Aber die ökologische Krise ist dazwischengekommen. Sie hat bereits das 13. ZK-Plenum, vom Januar 1975, dazu gezwungen, mit der Begründung, das Errungene müsse gehalten werden, ein strenges Sparsamkeitsregime einzuführen. 

Ich könnte es nach allem Vorausgegangenen gut verstehen, wenn die SED-Führung sich darauf versteifte, daß die notwendig gewordenen Einschränkungsmaßnahmen nur begrenzt und von vorübergehender Natur sein dürften, daß jeder Gedanke an Rationierung zu verwerfen sei und es schon gar nicht in Betracht komme, dem Zukunftsziel Kommunismus mit einem solch bedrückenden Vorschlag seinen Glanz zu nehmen. Denn wie lange ist es her, daß in der DDR die letzten Rationierungsvorschriften aufgehoben wurden? Sechzehn Jahre erst! Und nun, mitten im Frieden, bei zunehmender Entspannung in Europa, endlich diplomatisch anerkannt von aller Welt, angesichts großer wirtschaftlicher Erfolge, wieder zum Kartensystem und zu Bezugsscheinen zurückkehren? Schauderhaft!

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Duve: Geraten Sie nicht mit Ihren Ideen in der DDR in Schwierigkeiten? 

Harich: Ich will Ihnen an einem Beispiel klarmachen, worin die Schwierigkeiten, die ich habe, bestehen. In Leipzig lernte ich neulich auf einer Geburtstags­feier ein junges Ehepaar kennen, das sich seit drei Tagen im stolzen Besitz seines ersten PKW befand, eines Trabant, auf dessen Lieferung es drei Jahre lang hatte warten müssen.

Als ich meine Bedenken gegen die zunehmende Motorisierung in den sozialistischen Ländern vortrug und dabei auf die Verpestung der Luft, das für «individualistische Privatfahrten» vergeudete Benzin, die wachsende Zahl der Verkehrsunfälle, den Lärm und das häßlicher werdende Leben in den Städten hinwies, wurden meine Gesprächspartner sehr ungehalten. Im Verlauf der Auseinandersetzung war ich taktisch so unklug, ihren Einwand, man könne der zunehmenden Verkehrsdichte ja mit dem Bau neuer Autobahnen begegnen, u. a. mit dem Gegenargument zu entkräften, daß dies unserem Singvögelbestand weiteren Schaden zufügen würde.

Kaum hatte ich das über die Lippen gebracht, da sprang der Mann auf und schrie mich an: «Dann scheren Sie sich doch nach Albanien, Sie Idiot, und pflegen Sie dort die Singvögel!» Damit nicht genug, riß er seine Frau vom Sessel hoch und verließ mit ihr unter Protest die Gesellschaft, die mich von Stund an wie einen Paria mied. Ein Vierteljahr später rief ich, in dem Glauben, der Vorfall sei vergeben und vergessen, besagten Mann an, um ihn zu bitten, mir ein Buch zu leihen, von dem er mir vor unserer Auseinander­setzung erzählt hatte. Sobald er am Telefon nur meine Stimme hörte, geriet er abermals in solche Wut, daß er den Hörer auf die Gabel knallte. 

Duve: Können Sie seine Wut verstehen?

Harich: Sehr gut. Sein in Krefeld lebender Bruder der, nebenbei bemerkt, weniger intelligent und tüchtig sein soll als er schafft sich jedes zweite bis dritte Jahr einen neuen Opel Rekord an, und die Frau fährt einen Ford Taunus.

 

Duve: So scheint die Propagierung von Nullwachstum in den sozialistischen Ländern keine Chance zu haben, etwas zu bewirken. 

Harich: Ich bin mir auch unklar darüber, ob sie dort überall diese Chance schon haben sollte. Forrester und Meadows haben globales Nullwachstum gefordert. Mesarovic und Pestel sind, auf Grund ihres regionalisierten Weltmodells, wie gesagt, zu dem Ergebnis gelangt, daß in gewissen Regionen Wirtschaftswachstum noch unerläßlich sei, während es in anderen gestoppt und in wieder anderen zurück­geschraubt werden müsse. 

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Duve: Und was sagen die Autoren in diesem Zusammenhang zu der «Region 5, sozialistische Länder»?

Harich: Nichts, kein Wort. Sie lassen diese Frage offen. Es ist aber klar, daß sie die <Region 5> irgendwo zwischen den hochindustrialisierten kapitalistischen Regionen und den unterentwickelten Ländern sehen.

 

Duve: Dazwischen, das hieße: nichts zurückschrauben, aber auch kein weiteres Wachstum mehr, also — Nullwachstum. 

Harich: Generell kann das nicht gelten. Nach den Maßstäben, die Mesarovic und Pestel anlegen, sind Kuba und die sozialistischen Länder Asiens auf jeden Fall noch entwicklungsbedürftig. Kuba rechnen sie übrigens, obwohl es RGW-Land ist, zur Region 6 (Lateinamerika), Vietnam zur Region 9 (Südasien), und die Volksrepublik China ist bei ihnen eine Region für sich, 10. 

 

Duve: Und die Länder des RGW, mit Ausnahme der Mongolischen Volksrepublik und Kubas?

Harich: Nach der Logik ihres Modells scheinen Mesarovic und Pestel sie für reif zu halten, zum Nullwachstum überzugehen — unter Ausgleich lokaler Disproportionen, wie sie zwischen Sibirien und, sagen wir, Slask oder Sachsen oder dem Donbaß bestehen. Aber sie schreiben nichts darüber. Duve: Und zu welchem Schluß sind Sie gelangt? Harich: Ich sagte es bereits: Sich den weiteren Verlauf der Weltgeschichte so vorzustellen, als müßten unter allen Umständen die RGW-Länder als erste den Kommunismus verwirklichen, wäre falsch, wäre schematisch gedacht. Das kann, aber es muß nicht geschehen. Von der Struktur, der Weltanschauung usw. her wären sie dafür wie geschaffen. Doch aus anderen Faktoren ist zu folgern, daß sie es weder so nötig haben wie der Westen, noch es ihnen in jeder Hinsicht schon als wünschenswert erscheinen mag.

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Duve: Nehmen wir an, diese «anderen Faktoren» im Osten und dazu die bestehenden kapitalistischen Verhältnisse im Westen, die überdies die KPs in Frankreich und Italien noch nicht einmal unmittelbar abschaffen wollen, würden beiderseits den Effekt haben, den Übergang zu vereiteln, was dann?

Harich: Das wäre auf die Dauer eine Katastrophe, zumal wenn von nun an die Staaten der Dritten Welt ihren am 18. Februar 1975 in Algier gefaßten Beschluß wahrmachen sollten, ihren Anteil an der Weltindustrieproduktion bis zum Jahre 2000 von bisher 7% auf 25 °/o zu erhöhen. Die Biosphäre könnte das nicht verkraften, es sei denn, der Ausgleich fände zuungunsten der industrialisierten Regionen des Nordens, auf Kosten ihres Lebensstandards, ohne weitere Zunahme der Weltwirtschaft insgesamt statt. Andernfalls würden die hypothetischen Prognosen beider Studien des Club of Rome sich erfüllen, d. h., bis spätestens Mitte des 21. Jahrhunderts hätte die Menschheit ihren letzten Schnaufer getan. Es hilft nichts: Wir im Osten werden auf viel, ihr im Westen werdet auf sehr, sehr viel verzichten müssen. Denn an der Bevölkerungszahl gemessen, ist der Anspruch der Dritten Welt auf ein Viertel der Weltindustrieproduktion maßvoll und bescheiden. Duve: Und die Verwirklichung des Kommunismus, meinen Sie, würde es sowohl Ihnen als auch uns so leicht wie möglich machen, zu verzichten? Harich: Unbedingt.

 

Duve: Die kommunistischen Parteien im Westen sollten nach Ihrer Meinung also für ihre Ziele mit der Parole «Nullwachstum» kämpfen und sich zugleich darauf vorbereiten, nach erhoffter Machterringung sofort den Kommunismus einzuführen — unabhängig davon, wie sich in dieser Frage die kommunistischen Parteien des Ostens verhalten.

Harich: Richtig. Die Weltgeschichte, mit Lenins Augen als ungleichmäßige Entwicklung betrachtet, setzt keine zwingende Reihenfolge. Da kürzen Prozesse, die in einem Teil der Welt Jahrzehnte gedauert haben, sich in einem anderen auf ein paar Wochen ab. Für dialektisches Denken ist das nichts Überraschendes. Nichtsdestoweniger wäre es aber auch falsch, wenn die Führer der RGW-Staaten sich an die Vorstellung klammerten, ihre Länder könnten den Übergang zum Kommunismus noch lange, für eine unabsehbare Periode nicht vollziehen, sondern erst dann, wenn sie hinsichtlich der Arbeitsproduktivität und des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens die USA, Westeuropa und Japan überflügelt hätten.

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Duve: Und woran sollte hier wie dort die «Reife für den Kommunismus» gemessen werden?

Harich: An zwei Fragen. Erstens: Kann unter globalen ökologischen Gesichtspunkten weiteres Wirtschaftswachstum noch verantwortet werden? Zweitens: Können beim Übergang zum Nullwachstum, unter der Bedingung kommunistischer Verteilung sämtlicher Gebrauchswerte, alle Glieder der Gesellschaft bereits so ernährt, bekleidet, mit Wohnraum versehen, kultureller Bildungswerte teilhaftig und gesundheitlich betreut werden, daß sie ein menschenwürdiges Leben zu führen imstande sind? Ist die erste Frage zu verneinen und die zweite zu bejahen, dann ist der Kommunismus fällig.

Duve: Wer soll diese Fragen beantworten?

Harich: Die Wissenschaft. Biologie und Politökonomie, vereint unter dem Vorsitz des dialektischen Materialismus. 

Duve: Die Allmacht der Wissenschaft! Wenn Ihre Wissenschaft nun beide Fragen bejaht?

Harich: Dann kann man sich Sozialismus noch ein Weilchen leisten. Aber verstehen Sie mich recht: Es müssen globale ökologische Gesichtspunkte sein, unter denen die erste Frage zu beantworten ist.

Duve: Und wenn die Wissenschaft beide Fragen verneint? 

Harich: Entscheidend ist, daß der Homo sapiens überlebt. Den Vorrang hat daher unter allen Umständen die Erhaltung und Festigung der Biosphäre. Und je schneller man das überall einsieht, je gründlichere Konsequenzen man überall daraus zieht, desto breiter wird der Spielraum sein — und bleiben —, bei der Beantwortung der zweiten Frage von verhältnismäßig großzügigen Kriterien auszugehen.

Duve: Kriterien, nach denen menschenwürdiges Leben zu definieren ist? 

Harich: Ja.

Duve: Halten Sie es für möglich, daß die politische Führung der DDR bereit wäre, sich ihre Ideen durch den Kopf gehen zu lassen? 

Harich: Ich weiß es nicht. Sie hat schon schlechte Erfahrungen mit mir gemacht. Besser wäre es, dieselben Ideen kämen von jemand anderem.

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Duve: Würde es ihr die unbefangene Prüfung Ihrer Ideen erleichtern, wenn es Ihnen gelänge, den frischgebackenen Trabant-Besitzer in Leipzig, der so böse auf Sie ist, und seinesgleichen von der Richtigkeit Ihres Standpunktes zu überzeugen? Immerhin hätten Sie dann ja das Verdienst, ihn — und seinesgleichen — zumindest zu einem leidenschaftlichen Befürworter der Sparsamkeitsbeschlüsse der SED erzogen zu haben, und das wäre doch gewiß eine linientreue Tat, die Ihnen nur Lob einbringen dürfte. 

Harich: Ich bin überhaupt sehr linientreu. Nur verleiten Phantasie und logische Strenge mich dazu, die Linie bis zu Konsequenzen durchzuziehen, die nicht jedermanns Geschmack sind. Wenn man auch das eine Abweichung nennen will, so hätte sie gegenüber sonstigen Abweichungen den Vorzug, ungefährlich, weil äußerst unpopulär, zu sein. Und sollte sie einmal populär werden, so hätte sie wieder den Vorzug, der Regierung die Arbeit zu erleichtern. Denn die Regierten würden dann in keiner Weise mehr nach dem trügerischen Glanz des Westens schielen. 

Duve: Also, wie würden Sie es anstellen, jenen Trabant-Besitzer zu überzeugen, falls er bereit wäre, Ihnen zuzuhören? 

Harich: Ich würde ihm zunächst klarzumachen versuchen, daß Eigenschaften der DDR, wie des sozialistischen Lagers überhaupt, in denen wir Nachteile zu sehen gewohnt waren, sich als Vorzüge erweisen, sobald wir sie an den neuen Maßstäben der ökologischen Krise messen — z. B. die Lichtreklamen in unseren Städten, die, verglichen mit denen im Westen, ausgesprochen schäbig wirken. Da der Mann Autoliebhaber ist, würde ich ihn in diesem Sinne für die früher nie gewürdigten Errungenschaften unserer Automobilproduktion erwärmen: dafür, daß wir nur zwei PKW-Typen, den Wartburg und den Trabant, bauen; daß vom Trabant, seit es ihn gibt, nie und vom Wartburg seit 1967 kein neues Modell mehr auf den Markt gekommen ist; daß in beide Wagen kein künstlicher Verschleiß eingebaut wird, weshalb ihre Besitzer sie sehr lange zu fahren pflegen, ohne nennenswerten Ärger mit ihnen zu haben; daß die Besitzer aber auch nicht durch neue Modelle, die Nachbarn und Kollegen bereits fahren, dazu verlockt werden, nach dem nächsten Autokauf zu lechzen, sondern ihr Geld für andere Anschaffungen ausgeben können. 

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An diesem Punkt angelangt, würde ich den Mann fragen: «Oder sparen Sie etwa schon für Ihren nächsten PKW?» Und sein Nein, nebst den unbestreitbaren Vorzügen und Erleichterungen, die es einschlösse, gäbe mir Gelegenheit, anhand zahlloser Beispiele nachzuweisen, daß das, was ökologisch zweckmäßig ist und Rohstoffe sparen hilft, durchaus auch dazu beitragen kann, das Leben angenehmer zu gestalten. Hätte er das begriffen, so würde ich ihm das Buch meines Freundes Wolfgang Menge (Westberlin), «Der verkaufte Käufer», zu lesen geben, worin über Hunderte von Seiten die Tricks entlarvt werden, mit denen die kapitalistischen Konzerne und Supermärkte des Westens ihre Kunden zur Anschaffung überflüssiger, nutzloser, schädlicher Dinge verführen. 

Und dann würde ich dazu übergehen, die sozialistischen Länder zu kritisieren, weil sie die Vorteile ihres Systems nicht hinreichend wahrnehmen, sich vom Westen konsequent abzugrenzen. Zum Beweis würde ich dem Mann meinen besten Feiertagsanzug vorzeigen, den ich aus einem kostbaren rumänischen Stoff vom teuersten Herrenschneider in Berlin-Mitte mir habe anfertigen lassen und den ich schon nach dreimaligem Tragen nicht mehr anziehen konnte, weil der inzwischen veraltete Hosenschnitt unserer Damenwelt nur noch ein halb verächtliches, halb mitleidsvolles Lächeln verursacht. «Habe ich es als Bürger eines Arbeiter- und Bauernstaates», würde ich fragen, «nötig, mein ehrlich erworbenes Geld für den nicht abreißenden Wechsel kapitalistisch manipulierter Moden zum Fenster hinauszuwerfen? Kann der Staat, in dem ich lebe, mich davor nicht schützen? Und wäre es nicht nutzbringend, wenn er unser westhöriges Modeinstitut auflöste, wenn er dessen Mitarbeiter entließe mit der Empfehlung, die Kiefern- und Fichtenwälder der DDR durch Laubbäume aufforsten zu helfen, was ökologisch dringend nottäte, wofür unserer Forstverwaltung aber nicht genügend Arbeitskräfte zur Verfügung stehen?»

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Duve: Unter einer Regierung Harich muß also der Modeschöpfer Waldarbeiter werden. Seien Sie nicht ungerecht. Als Grotewohl Anfang der fünfziger Jahre die Gründung des Modeinstituts anregte, war das für die Mädchen und Frauen in der DDR doch zumindest ein kleiner Lichtblick.

Harich: Aber jetzt schreiben wir 1975, und jetzt sind Mischwälder wichtiger als modische Damenkleider. Die Dialektik ... 

Duve: Ja, die Dialektik, die schmelzt bei euch immer den Schnee von gestern. Wie würden Sie Ihrem Trabant-Besitzer aus Leipzig ökologisches Denken beibringen? Ich habe mit Opelbesitzern in Hamburg meine Schwierigkeiten, zumal ich selbst Auto fahre. 

Harich: Ich würde beim DDR-Bürger an seine Kenntnis des dialektischen Materialismus appellieren können. Ich kann ihm klarmachen, daß er in idealistischer Denkweise befangen sei, solange er glaube, über technische und ökonomische Fragen ein sachgerechtes, auf den Nutzen der Gesellschaft bezogenes Urteil abgeben zu können, ohne deren Abhängigkeit von der Natur, von den Öko-Gefügen der Biosphäre und ihren objektiven Gesetzmäßigkeiten, in Betracht zu ziehen. Hätte er das eingesehen, so würde ich ihm die hauptsächlichen ökologischen Zusammenhänge, auf die der Stoffwechsel Mensch-Natur angewiesen ist und auf die er einwirkt, in populärwissenschaftlicher Form erläutern. 

Duve: Hat der Mann Aussicht, zu leitenden Stellungen in Politik und Wirtschaft aufzusteigen?

Harich: O ja, er hat das Zeug dazu.

Duve: Wie würde der Mann in leitender Position handeln, wenn er bemüht wäre, die ökologischen Grundeinsichten, die Sie ihm vermittelt haben, in seinem Pflichtenkreis zum Nutzen der Gesellschaft fruchtbar zu machen?

Harich: Hätte er Einfluß auf den Produktionsprozeß, so würde er vor jeder technologischen und ökonomischen Entscheidung immer erst Biologen zu Rate ziehen, um ihr Urteil über die zu erwartenden Auswirkungen der vorgesehenen Neuerung auf die in Betracht kommenden Öko-Systeme einzuholen. Warnungen von dieser Seite würde er strikt befolgen.

 

Duve: Auch wenn das wirtschaftliche Nachteile mit sich brächte? Muß der Naturschutz nicht auf die Erfordernisse der Volkswirtschaft abgestimmt werden?

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Harich: Ein frisch am Magen Operierter darf kein Wasser trinken. Wollte man diese Maßregel auf den brennenden Durst, der ihn plagt, abstimmen, so würde man den Patienten töten. Natur ist ohne Volkswirtschaft denkbar, aber keine Volkswirtschaft ohne Natur. Abgestimmt werden muß daher umgekehrt: die Produktion auf die Erfordernisse des Naturschutzes. Alle Erfindungen sollten, bevor sie in die Produktion überführt werden, sich erst einem Gerichtsverfahren unterwerfen müssen, das sie freisprechen oder zur Nichtauswertung verurteilen kann. Die Ökonomen könnten da die Verteidigung, die Ökologen die Anklage übernehmen. Die Politik hätte den Richter zu stellen, eine weit vorausschauende, von globaler Verantwortung getragene, eben marxistische Politik.

 

Duve: Gäbe es noch weitere leitende Funktionen, in denen Ihrem Leipziger Freund ökologische Bildung zustatten käme? 

Harich: Soweit ich unterrichtet bin, würde er am liebsten als Diplomat Karriere machen, möglichst es zum Außenminister bringen, und in Vorbereitung auf diese Funktion täte er gut daran, sich beharrlich den Genossen Gromyko zum Vorbild zu nehmen, der in seine antiimperialistische Taktik zum erstenmal ökologische Motive einfließen ließ, als er im September 1974 der Vollversammlung der Vereinten Nationen den «Entwurf einer Konvention über das Verbot der Einwirkung auf die natürliche Umwelt und das Klima zu militärischen und anderen Zwecken, die mit den Interessen der internationalen Sicherheit, des Wohlergehens und der Gesundheit der Menschen nicht vereinbar sind», unterbreitete. 

Denkt man über dieses Dokument tiefer nach, dann geht einem ein Licht darüber auf, daß der Sozialismus aus der prinzipiellen Fähigkeit seines Systems, den Anforderungen umfassenden, wirksamen Naturschutzes besser gerecht zu werden als die kapitalistische Ordnung, zugleich eine schneidende Waffe weltweiter Entlarvung und Bekämpfung des Kapitalismus schmieden kann, dann nämlich, wenn er in allen internationalen Umwelt-Verhandlungen auf ökologisch optimale Lösungen drängt, die das sozialistische Lager durchzuführen imstande ist, die für die kapitalistischen Konzerne aber ökonomisch tödlich wären.

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Duve: Liefe das nicht auf totale Blockade hinaus? Auf das Scheitern jedes Resultats an der Kompromißlosigkeit des einen Verhandlungs­partners?

Harich: Wieso? Das muß nicht sein. Der sozialistische Partner kann sich ja schließlich — ungern, wenn alles nichts hilft — auf einen Kompromiß einlassen, damit überhaupt etwas geschieht. Aber er muß erst einmal vor der Weltöffentlichkeit deutlich machen, daß es am Kapitalismus liegt, wenn am Ende nicht die beste denkbare Lösung, sondern nur eine Halbheit vereinbart wird. Und er muß alles in seiner Macht Stehende getan haben, um aus der Kompromißbereitschaft des kapitalistischen Kontrahenten, d. h. aus dessen taktischem Zurückweichen vor dem Druck, dem er bei sich daheim wie auch international ausgesetzt ist, für den Schutz der Natur, für die Erhaltung der Biosphäre soviel wie möglich herauszuholen. Die sozialistische Seite muß sich immer als die vorantreibende Kraft bewähren, von der die großen, befreienden Initiativen ausgehen. 

Dergestalt gilt es, ohne Obstruktion, jedoch mit maximalem agitatorischen Effekt, unter Mobilisierung der von der ökologischen Krise bedrohten Massen, den Klassenkampf in die globale Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Umweltschutzes hineinzutragen. Ich sagte vorhin, die Arbeiterbewegung könne durch eine Kombination unnachgiebiger sozialer und ökologischer Forderungen, durch den Kampf für höhere Löhne, Kündigungsschutz usw. und den gleichzeitigen Kampf gegen umweltzerstörende Technologien und Industrieerzeugnisse, den Kapitalismus im Zangengriff zerbrechen. Die sozialistische Diplomatie ist eine wichtige Abteilung der Arbeiterbewegung. Sie hat dazu ihr Teil beizutragen. Deshalb empfand ich den Vortrag, den Chosin auf dem Moskauer Symposion «Mensch und Umwelt» zum Themenkreis der internationalen politischen Aspekte des Umweltproblems gehalten hat, als unzulänglich, als unbefriedigend. Liest man Chosins Ausführungen, so gewinnt man den Eindruck, alle Staaten gäben ihren Klassencharakter an der Garderobe ab, sobald sie sich zur Erörterung globaler Naturschutzmaßnahmen an den Konferenztisch setzten. Desgleichen bedauere ich, daß bei den Verhandlungen über den Vertrag zum Schutz der Ostsee die Initiativen der sozialistischen Seite nicht vernehmlich geworden sind. Weder im Osten noch im Westen ist der Vertragstext, meines Wissens, in vollem Wortlaut in der Presse veröffentlicht worden, und vorher hatte man nichts über den Gang der Verhandlungen, über die Vorschläge der einen wie der anderen Seite erfahren. 

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Auch da entstand der Eindruck eines systemneutralen Anliegens. Gromykos Vorschlag an die UNO setzt hier ein neues Signal. Man wird wachsam verfolgen müssen, wie die kapitalistischen Länder ihn aufnehmen werden. Die Arbeiterbewegung sollte den Konventionsentwurf überall aufgreifen und sich dafür einsetzen, daß er angenommen wird. Sie sollte das mit derselben Hartnäckigkeit und Energie tun, mit der sie in den fünfziger Jahren gegen den Atomtod gekämpft hat.

 

Duve: All das geht doch davon aus, daß die sozialistischen Länder in ihrem eigenen Machtbereich alles tun, bei der Bewältigung der Umwelt­probleme den optimalen Lösungen zum Durchbruch zu verhelfen. Wir wissen, daß dies so pauschal noch nicht stimmt.

Harich: Bisher vielleicht nicht genügend. Aber das werden dann die sozialistischen Länder tun, weil ihre Machtstrukturen, ihre Produktions- und Eigentumsverhältnisse, ihre Planwirtschaft es ermöglichen, und sie müssen es tun, einmal, weil es im Lebensinteresse ihrer Völker liegt, zum anderen, weil nur unter dieser Voraussetzung ihre internationalen, diplomatischen Initiativen die nötige Glaubwürdigkeit und Durchschlagskraft besitzen werden. Übrigens hat neulich das ZDF der Sowjetunion bestätigt, daß sie das Abkommen über den Schutz der Ostsee am wirksamsten durchführt. Und seit 1971/72 bietet die sozialistische Gesetzgebung auch die erforderlichen Handhaben für energischen Umweltschutz.

 

Duve: Werden diese Gesetze eingehalten?

Harich: Sie sind für alle staatlichen Organe, alle Betriebsleitungen usw. verbindlich, und jeder Bürger ist berechtigt und verpflichtet, über ihre strenge Einhaltung zu wachen, Verstöße gegen sie nicht zuzulassen. Deswegen würde ich unserem Leipziger Freund — um auf ihn noch einmal zurückzukommen — auch anraten, sich, bevor er in die Diplomatie aufsteigt, in seiner Umgebung, im Betrieb, im Wohnbezirk, auf Reisen, im Urlaub, überall, wo er hinkommt, mit offenen Augen und Ohren darum zu kümmern, daß das Landeskulturgesetz der DDR befolgt wird. Darin könnte er sich an mir ein Beispiel nehmen. 

Als hier neulich auf dem Nebengrundstück, das zur Tierklinik der Humboldt-Universität gehört, an einem Sonntagmorgen, um 7 Uhr früh, das Geräusch einer Motorsäge zu hören war, sprang ich aus dem Bett, zog mich in Windeseile an, alarmierte die Nachbarn; einer rief per Notruf die Polizei herbei und verhinderte so, daß einige alte Ulmen gefällt wurden. Einen Baum konnten wir nicht mehr retten, den hatte die Motorsäge schon umgelegt. Doch die anderen werden stehenbleiben, so lästig sie den Veterinärmedizinern auch sind, die da, glaube ich, einen neuen Stall oder ein Laboratorium hinbauen wollten. Das Recht war auf unserer Seite. Aber ohne die Initiative der Bürger wäre seine Verletzung gar nicht bemerkt worden.

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1975 von Wolfgang Harich und Freimut Duve -- Kommunismus