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7. <Alarm> — ein Gramm pro Tonne

 

 

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Die Begriffe «Umwelt», «Umweltverschmutzung» und «Umweltschutz» sind in den letzten Jahren Mode geworden, so daß man diese Dinge nicht weiter erläutern muß. Es ist heute wohl auch gar nicht nötig, noch ein weiteres Buch über dieses Thema zu verfassen. Wenn ich jedoch in den letzten beiden Kapiteln mich diesem Thema mehr und mehr genähert habe, liegt es daran, daß ich dieser großen Problematik nicht völlig ausweichen kann. Als Naturwissenschaftler jedoch liegt mir daran, eine Naturgeschichte dieses Phänomens zu schreiben, das heißt jene Gesetze herauszufinden, welche unser Problem kennzeichnen. 

Bei der Bearbeitung von vorliegenden Daten über unser Thema, welche in vielen anderen Büchern nachzulesen sind, ist mir ein merkwürdiges Gesetz aufgefallen. Diese Gesetzmäßigkeit bezieht sich auf den Grad der Verschmutzung, welche die einzelnen Bereiche unseres blauen Planeten betreffen. Um diese Gesetzmäßigkeit richtig darzustellen, müssen wir uns mit einem Begriff der spekulativen Naturwissenschaft vertraut machen: mit dem Rechnen in Größenordnungen.

In der Schule haben wir gelernt, daß die Lösung einer Rechenaufgabe immer ganz genau stimmen muß. Die Naturwissenschaften sind dafür bekannt, daß ihre Angaben immer völlig präzise sind. Das ist jedoch nur selten der Fall. Zahlenmäßige Antworten auf die interessantesten Fragen in den Naturwissenschaften sind nur in den seltensten Fällen auf soundso viele Stellen hinter dem Komma angebbar: Betrachten wir einmal das Alter der Erde. In der Bibel steht, daß die Welt 4000 Jahre alt sei. Die Geologen und Biologen des vorigen Jahrhunderts griffen schon nach den Jahrmillionen. Astronomen und Geophysiker sind heute für das Alter der Erde bei den Milliarden angelangt. Da sehen wir jetzt schon den Begriff der Größenordnung. 

Es ist eigentlich erstaunlich, daß man das Alter der Erde mit relativ großer Sicherheit überhaupt in der Gegend von Milliarden von Jahren ansiedeln kann. Die Grenzen freilich sind noch etwas vage, da die Erde vermutlich zwischen 3,5 und 5 Milliarden Jahre alt ist. Der spekulative Wissenschaftler stört sich dabei überhaupt nicht an der Differenz dieser Angaben von 3,5 oder 5. Worauf es ihm ankommt, ist die sogenannte Größenordnung. Es handelt sich beim Alter der Erde um Milliarden von Jahren. Das allein ist schon eine phantastische Leistung, für das Alter der Erde wenigstens die Größenordnung bestimmt zu haben.

Die interessantesten Spekulationen, die uns auch hier bei unserem Thema ganz besonders angehen, werden durch solche Betrachtungen über Größen­ordnungen angestellt. Da wir in unserer Zählweise das Zehnersystem haben, versteht man unter einer Größenordnung jeweils die Gruppen von Zehnern, Hundertern, Tausendern, Millionen, Milliarden oder Billionen. Ob ein Ergebnis bei diesen Betrachtungen zwei oder sieben Millionen beträgt, ist dabei gleichgültig, solange es nicht zwei oder sieben Tausend oder zwei oder sieben Milliarden sind. Auf die Größenordnung kommt es an.

 

  

   

Ungewollte künstliche Beeinflussung des Klimas durch Smog über Großstädten: 

Los Angeles (oben) 

und New York (unten)

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Vielleicht hilft ein Beispiel, um den großen Erkenntniswert, der im Rechnen mit Größenordnungen steckt, zu begreifen. Im zweiten Kapitel haben wir davon gesprochen, daß die Ozeane vermutlich durch die Dämpfe der Vulkane im Laufe der biologischen Geschichte entstanden sind. Durch eine einfache Betrachtung von Größenordnungen können wir abschätzen, ob so etwas überhaupt möglich sein kann, oder vielleicht kompletter Unsinn ist. 

Die gesamte Masse des Meerwassers beträgt 1,4 Trillionen Tonnen; auf der Erde gibt es etwa 500 tätige Vulkane und viele tausend erloschene Vulkane. Man darf sinngemäß annehmen, daß es während der ganzen geologischen Geschichte der Erde der Größenordnung nach im Schnitt immer einige hundert Vulkane gegeben hat, die tätig waren. Da die Erde etwa vier Milliarden Jahre alt ist und ein Jahr etwa 30 Millionen Sekunden hat, so haben im Schnitt etwa 500 Vulkane während einer Zeitdauer von zwölf Trillionen Sekunden Wasserdampf abgegeben. 

Es ist nun leicht, aus diesen Angaben zu berechnen, daß das Weltmeer sich durch den Vulkanismus im Laufe der Erdgeschichte angesammelt haben kann, wenn jeder Vulkan pro Sekunde etwa 350 Liter Wasser abgeblasen hat. Das sind etwa 20 Eimer. Die Größenordnung also stimmt. Wenn man die gewaltige Produktion der Vulkane, zu denen auch noch die unterseeischen Lavaausbrüche zu zählen sind, betrachtet, so erscheint es absolut im Rahmen des Möglichen, daß jeder Vulkan in jeder Sekunde 20 Eimer Wasser abgibt.

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Immer stärker hat sich die Sonnenscheindauer in den Großstädten durch den Stadtdunst verringert. 

Staub- und Rauchpartikel vermehren die Nebeltage und hüllen die Millionenstädte — wie hier München — in immer dichtere Dunstschichten.

 

Wir sehen also an diesem Ergebnis, daß die Vorstellung, die Ozeane seien durch den Vulkanismus erzeugt worden, sinnvoll ist. Wäre unser Ergebnis gewesen, daß jeder Vulkan in jeder Sekunde nicht 250 Liter, sondern 250 Millionen Liter erzeugen müßte, so müßte man diese Theorie zu den Akten legen, weil sie größen­ordnungs­mäßig überhaupt nicht aufgeht: Ein Vulkan schafft solche Mengen nicht. Umgekehrt, wäre als Ergebnis herausgekommen, daß jeder Vulkan in der Sekunde nicht 250 Liter, sondern bloß 250 Milligramm Wasser hätte erzeugen müssen, so müßten wir diese Theorie ebenfalls aufgeben, weil Vulkane pro Sekunde bestimmt weit mehr Wasserdampf erzeugen. Da die Größenordnung jedoch so erstaunlich stimmt, kann man die Theorie des vulkanischen Ursprungs des Weltmeeres keineswegs von der Hand weisen.

Solche Betrachtungen in Größenordnungen wollen wir jetzt einmal auf die Umweltverschmutzung anwenden, um den Grad ihrer Gefährlichkeit und Bedrohlichkeit abschätzen zu können. Es nutzt uns nicht viel, wenn wir sagen, daß die Luft unserer Großstädte stinkt und daß unsere schönen Süßwasserseen durch eingeschwemmte Dünger und Abwässer sterben und daß Fische wegen zu hoher Konzentration an DDT für den Menschen ungenießbar werden. Wenn wir die Gesetzmäßigkeit unserer globalen Umwelt verstehen und ihre Bedrohung durch den Menschen abschätzen wollen, dann müssen wir in jedem Fall eine Betrachtung über die Größenordnung anstellen. Dabei ergibt sich dann eine interessante Gesetzmäßigkeit.

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Verschmutzung und Bedrohung der Umwelt hat es eigentlich immer schon gegeben, obwohl erst etwa seit der Mitte unseres Jahrhunderts daraus auf dem Lande, im Wasser und in der Luft Probleme entstanden sind. Es zeigt sich, daß eine Verschmutzung oder Verseuchung dann merklich, irritierend und vielleicht sogar kritisch zu werden beginnt, wenn ihre Größenordnung etwa ein Millionstel erreicht. Bei der Luft hält die Weltgesundheitsbehörde einen Verschmutzungsgrad nur dann für unbedenklich, wenn er ein Fünftel dieses Betrages nicht übersteigt, das heißt 0,2 Gramm pro Tonne. Von Verschmutzungen unserer Atmosphäre durch natürliche Ursachen, nämlich durch feinen Staub bei riesigen Vulkanexplosionen, haben wir zuvor schon gesprochen. Im Laufe des letzten Jahrhunderts haben sich einige solcher Explosionen ereignet, und zwar bei den Vulkanen Krakatau in der Sundastraße im Jahr 1883, beim Mont Pelee auf der Antilleninsel St. Martinique im Jahr 1902, beim Katmai-Vulkan in Alaska 1912 und bei einem kleineren Ausbruch des Agung-Vulkans auf der Insel Bali im Jahr 1965. 

Bei den größeren Ausbrüchen dieser Art sind etwa zehn Milliarden Tonnen Staub in die Luft geblasen worden, welche für Wochen und Monate in ihr hängenblieben. Da die Masse der Atmosphäre fünf Billiarden Tonnen beträgt, kann man für den Verschmutzungsgrad der gesamten Atmosphäre durch einen solchen Vulkanausbruch etwa den Wert 1: 1/2 Million errechnen. So etwas macht sich schon weltweit bemerkbar, und zwar durch trüben Himmel und durch besonders farbige Sonnenuntergänge, auch in weit entfernten Kontinenten. Beim Ausbruch des Katmai hat man auch hinterher durch verstärkte Reflexion der Sonnenstrahlung einen weltweiten Temperaturabfall von etwa fünf Grad Celsius beobachtet. Glücklicherweise hat sich dieser Staub nur wenige Wochen in der Atmosphäre gehalten, so daß dieser Vulkanausbruch nicht zu einer erheblichen Klimastörung geführt hat. An den Wirkungen dieser natürlichen Ereignisse können wir die Folgen unserer eigenen Eingriffe in die Umwelt abschätzen. 

So hat man zum Beispiel berechnet, daß in der verkehrsreichsten deutschen Stadt, nämlich in München, pro Tag 300 Tonnen Abgase von Automobilen und Industriestaub in die Luft abgeblasen werden. Diese Menge muß von einer Luftmasse aufgenommen werden, welche die Stadt München als Dunstglocke einhüllt. Solche Dunstglocken sind oft recht zäh, und die verschmutzte Luft wird nur sehr zögernd ausgetauscht, auch wenn es nicht ganz windstill ist. Wir hatten zuvor schon erläutert, weshalb im Innern solcher Dunstglocken Luftbewegungen sehr stark gehemmt werden. Wenn wir deshalb annehmen, daß bei einer ausgesprochenen Dunstlage der gesamte Luftkörper über der Großstadt im Schnitt bis zu 24 Stunden hängenbleibt, so können wir den Verschmutzungsgrad ausrechnen. 

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Zur Berechnung der Größe des Luftkörpers nehmen wir zunächst die Fläche von München mit den Vorstädten, etwa 400 Quadratkilometer. Die Höhe des Luftkörpers rechnen wir bis zu der typischen Höhe der untersten Luftschicht. Das Volumen des Luftkörpers erhalten wir, wenn wir die Fläche von etwa 400 Quadratkilometer mit der Höhe von 1500 Meter multiplizieren. In dieser Höhe endet die unterste Luftschicht, die sogenannte «Peplosphäre» oder «Mantelschicht». Jeder, der schon einmal geflogen ist, hat es erlebt, daß bei Erreichen dieser Höhe — etwa zwei bis vier Minuten nach dem Start — das Flugzeug in eine deutlich unterschiedene, klare Luftmasse darüber eintritt. In dem genannten Raum über München befindet sich nach solchen Abschätzungen eine Luftmasse von 700 Millionen Tonnen, auf die sich unsere 300 Tonnen Schmutz verteilen. Der Verschmutzungsgrad der Münchner Luft in solchen Fällen beträgt daher etwa 1 : 2 Millionen.

Eine der von der Luftverschmutzung am schlimmsten betroffenen Gegenden der Welt ist der Raum über den japanischen Städten Tokio und Osaka. Dort sind Daten von anderer Art bekannt, nämlich der Industriestaub und der Ruß, der an jedem Tag auf einen Quadratmeter dieses ganzen Gebietes herabfällt. Aus japanischen Angaben errechnet sich dort eine Luftverschmutzung im Verhältnis von 1 : 500.000. Die Verhältnisse dort also sind im Schnitt viermal so schlimm wie in München. Gleichzeitig aber wieder haben wir es mit der Größenordnung einer Verschmutzung von etwa 1:1 Million zu tun.

Wenn wir jetzt die Wasserverschmutzung betrachten, so wollen wir den Eriesee in Nordamerika, der besonders genau untersucht worden ist, ins Auge fassen. Man hat berechnet, daß pro Jahr etwa 37.000 Tonnen unverbrauchter Düngemittel von dem Agrarland seiner Umgebung in den See geschwemmt werden. Dazu kommen noch 45.000 Tonnen Nitrate und Phosphate in den unbehandelten Abwässern aus den Großstädten in seiner Nähe. Da der Eriesee eine Fläche von ungefähr 25 Milliarden Quadratmeter bei einer mittleren Tiefe von knapp 30 Metern besitzt, beträgt die gesamte Wassermasse dieses Sees 700 Milliarden Tonnen. Die Verschmutzungsrate des Eriesees pro Jahr errechnet sich daher zu etwas mehr als 1:1 Million. Da diese Verschmutzung schon seit einigen Jahrzehnten in diesem Maßstab vor sich gegangen ist, liegt die Verschmutzungsrate heute schon über 1:1 Million. Das ist der Grund, weshalb dieser See einer der schlimmsten Fälle der Zerstörung von Süßwasserseen darstellt.

Wie empfindlich Süßwasser auf die Verschmutzung durch künstliche Düngemittel reagiert, kann man schon daran erkennen, daß das sogenannte «Blühen» eines Sees — das heißt eine ungesunde Vermehrung von Algen — bereits bei einer Verschmutzung von 1:10 Millionen beginnt. Auch die Verseuchung mit DDT beginnt bei Verschmutzungswerten von 1:1 Million bedenklich zu werden. DDT wird freilich — von der Tonne her gesehen — in weit geringeren Mengen pro Hektar angewendet als künstlicher Dünger. 

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Es hat aber die unangenehme Eigenschaft, daß es sich in der Körpersubstanz von Pflanzen, Tieren und Menschen konzentriert. So trägt heute schon jeder Mensch in Amerika, wo DDT schon seit Kriegsende in großem Maßstab benutzt wird, eine DDT-Verschmutzung in seinem Körper mit sich herum, die, auf das Körpergewicht bezogen, etwa 1:1 Million beträgt. Es ist ein Fall bekannt geworden, daß ein Hobbygärtner an DDT-Vergiftung gestorben ist. Er hatte seinen Garten jahrelang im Übermaß mit DDT behandelt. Die Verseuchung des fetthaltigen Gewebes seines Körpers, wo sich DDT bevorzugt ansammelt, betrug 1:40.000. Er war also 25mal stärker verseucht als der Durchschnittsamerikaner.

 

Auch Metallvergiftungen lassen sich in ihrer Schwere mit diesem Maßstab messen. Chemische Untersuchungen der Funde von Steinzeitmenschen und der entsprechenden Bodenproben haben ergeben, daß die Verseuchung unserer Urahnen mit Blei ungefähr nur 1:400 Millionen betragen hat. Gefahren einer Metallvergiftung dieser Art waren für sie einfach nicht gegeben. Heute ist es so, daß durch die industrielle Verschmutzung unserer Umwelt jeder Mensch etwa 400mal so viel Blei in seinem Körper mit sich herumträgt wie ein Höhlenmensch. Das entspricht einer Vergiftungsrate von 1:1 Millionen und nähert sich damit der kritischen Grenze. 

Ähnliche Überlegungen gelten auch für Vergiftungen mit Quecksilber und Kadmium. So hat man festgestellt, daß die meisten Amerikaner, die in einer hochtechnisierten Umwelt leben, bis zum Alter von 20 Jahren etwa zehn Milligramm Kadmium in ihrem Körper ansammeln. Wenn wir ein mittleres Körpergewicht von 50 Kilogramm annehmen, so entspricht das einer Kadmiumverschmutzung im menschlichen Körper im Verhältnis von 1:5 Millionen. Die Vergiftungsrate durch dieses doch recht ausgefallene Metall in den Industrieländern nähert sich demnach auch bereits der Gefahrengrenze.

Diese Reihe von Beispielen könnte ich noch fortsetzen, und in erstaunlicher Weise erscheint dann immer wieder die Größenordnung von 1:1 Million als eine kritische Grenze, deren Überschreitung zu einem Problem führt. Man kann diese Grenze geradezu als eine Katastrophenschwelle ansehen, an der ein rotes Licht aufgestellt werden muß: bis dahin und nicht weiter.

Ich erinnere mich nicht, noch vor 30 oder 40 Jahren von der Umweltverschmutzung etwas gehört zu haben, obwohl ich in der Industriestadt Mannheim aufgewachsen bin. Wir schwammen in den beiden Flüssen meiner Heimatstadt, im Rhein und im Neckar, ohne uns über die Reinheit des Wassers Gedanken zu machen. Der Verschmutzungsgrad damals muß in der Gegend von 1:100 Millionen oder höchstens 1:10 Millionen gelegen haben. Nur bei bestimmten Wetterlagen stieg der Verschmutzungsgrad der Luft auf etwa 1:1 Million an, so daß es gelegentlich nach Chemie roch. Nun aber ist an vielen Stellen der Welt diese Gefahrengrenze auf dem Lande, im Wasser und in der Luft längst am kritischen Wert von 1:1 Million angelangt und hat ihn vielfach sogar schon überschritten.

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Es ist eigentlich erstaunlich, daß wir mit unseren Dimensionsbetrachtungen ein so typisches Maß für die Bedrohlichkeit einer Verschmutzung oder einer Verseuchung finden konnten. Es hat sich in den verschiedensten, voneinander völlig unabhängigen physikalischen, chemischen und biologischen Systemen immer wieder gezeigt: das Verhältnis 1:1 Million. Wir können also wirklich sagen — Alarm: ein Gramm pro Tonne. Auch haben wir uns klargemacht, daß wir bei diesen Überlegungen mit Größenordnungen zu rechnen haben und uns mit der Stelle hinter dem Komma überhaupt nicht beschäftigen. Ja, es ist sogar so, daß eine Verseuchung von 0,3 Gramm pro Tonne und von 3 Gramm pro Tonne für uns von der Wirkung her eben dasselbe bedeuten wie etwa ein Gramm pro Tonne. Es ist typisch für die Dimensionsbetrachtungen, daß man sich eine solche Breite leistet. Nur wenn eine Größe zehnmal größer oder zehnmal kleiner ist, merkt man auf. 

James Michener hat in dem Buch, aus dem ich im Vorwort zitiert habe, den Menschen selbst als einen pollutant bezeichnet. Dieses Wort kann man schlecht übersetzen, ohne den Menschen in seiner Würde zu beleidigen. Pollutant heißt nämlich «Verschmutzungselement». Nun hatten wir zuvor ja ausführlich über die gerade noch erträgliche Verschmutzungsgrenze in der Physik, der Chemie, der Klimatologie und der Biologie unseres Planeten gesprochen. Denselben Begriff möchte ich jetzt auf den Menschen anwenden und — damit es nicht so häßlich klingt — vielleicht lieber von einer Toleranzgrenze sprechen, die wir allerdings auch mit dem Wert 1:1 Million, das heißt ein Gramm pro Tonne, ansetzen wollen. Was für einen Maßstab jedoch soll man benutzen, wenn man die Menschheit zu ihrer Umwelt im Maßstab von Gramm zu Tonne in Beziehung setzen will?

Die Menschen sind Lebewesen, und daher muß dieses In-Beziehung-Setzen aus der Biologie stammen. Es hat wenig Sinn, etwa Toleranzgrenzen zu suchen, die sich mit der Anzahl der Menschen pro Quadratkilometer oder der Anzahl der Menschen in einer noch sinnvoll funktionierenden Großstadt befassen. Als Lebewesen hat der Mensch den Drang aller Lebewesen zu überleben. Dazu benötigt er Energie, die er seiner Umwelt entnimmt. Nun sind wir schon auf dem Weg zu einem sinnvollen Maßstab, da alle naturwissenschaftlichen Überlegungen sich auf recht sicherem Boden bewegen, wenn man das Energieprinzip als Basis benutzt. Das Gesetz von der Erhaltung der Energie steht unter allen Erkenntnissen des Menschen über die Gesetzmäßigkeiten seiner Umwelt wohl an der Spitze.

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Verseuchter Abzugsgraben. Aus fünf Fabriken ergießen sich die Abwässer in einen holländischen Kanal. Das Wasser wird zu einer stickigen Brühe.

 

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Als erstes müssen wir uns darüber im klaren sein, daß wir Menschen, zusammen mit allen anderen Wesen der Fauna, nur ein sekundäres Lebensrecht auf unserem blauen Planeten genießen. Die primären Lebensformen, welche die Belebtheit unseres Planeten geschaffen haben und bis heute erhalten, sind die Pflanzen. Sie nämlich, und nur sie allein, sind imstande, den Energiestrom der Sonne zu nutzen, um daraus biologische Substanz aufzubauen. Der Prozeß der Fotosynthese ist demnach die Urformel des Lebens. Alle Mitglieder der Fauna, einschließlich des Menschen, machen von dieser zauberhaften Fähigkeit der Pflanzen Gebrauch, Sonnenenergie einzufangen und in energiegeladene organische Substanzen zu speichern. Selbst ein Raubtier, das nur Fleisch frißt, lebt letzten Endes von der Pflanze, da auch seine Beutetiere — entlang einer mehr oder minder komplexen Ernährungskette — der Pflanze ihr Leben verdanken. Wenn man so will, so sind alle Tiere und Menschen Parasiten der Pflanzenwelt auf unserer Erde. Wir benutzen den Sonnenschein lediglich dazu, um uns aufzuwärmen oder um uns zu bräunen. Diese bescheidenen Fähigkeiten der Fauna, die Energie der Sonne zu nutzen, würde uns allerdings überhaupt nicht zum Leben genügen.

 

Diese Überlegungen nun geben uns die Möglichkeit, die Toleranzgrenze unseres blauen Planeten für eine sinnvolle Größe der Menschenzahl auf der Erde zu berechnen. Wiederum gehen wir aus von der Regel: ein Gramm pro Tonne. 

Da wir Parasiten der Pflanzenwelt sind, dürfen wir mit unserer Masse das Volumen der Pflanzenwelt nur höchstens bis zu einem Millionstel erreichen, sonst überschreiten wir die kritische Grenze. 

Diese Überlegungen geben uns eine Handhabe zur Berechnung, wie viele Menschen es auf der Erde eigentlich überhaupt geben darf. Diese Zahl hängt ab von der Größe unseres Planeten, von der Sonnenenergie, die ihn laufend trifft, und von der Fähigkeit unserer Pflanzen, diese Sonnenenergie biologisch zu nutzen. Die Pflanzen sind freilich nur imstande, einen geringen Bruchteil der Sonnenenergie für ihr Wachstum einzusetzen, da ein großer Teil von der Erde zurückreflektiert wird. Viele andere Teile der Sonnenstrahlung fallen auf unfruchtbares Gelände oder in das Meer, ohne Pflanzen zu treffen — kurz, es ist abgeschätzt worden, daß etwa nur 0,04 Prozent der Sonnenenergie von den Pflanzen biologisch genutzt wird. 

Das reicht immerhin aus, daß in jedem Jahr Algen, Farne, Bäume, Sträucher, Flechten und Gräser eine ungeheure Masse pflanzlichen Körpermaterials produzieren: 400 Milliarden Tonnen. Da wir heute die Zeitspanne einer Generation der Menschheit im Schnitt auf etwa 50 Jahre veranschlagen können, produziert die Pflanzenwelt unseres Planeten im Laufe einer Menschheitsgeneration 20 Billionen Tonnen organischen Materials. Als Toleranzgrenze für die Menge Menschen, die es nach diesen Angaben geben darf, wollen wir wieder unsere Regel ansetzen: ein Gramm pro Tonne. Das heißt also, daß während einer Generation 20 Millionen Tonnen Menschen existieren können, wenn die naturgegebene Toleranzgrenze nicht überschritten werden soll. Zuvor schon hatten wir das Durchschnittsgewicht des Menschen mit 50 Kilogramm angegeben, da ja ein gutes Drittel der Menschheit aus Kindern besteht. Eine einfache Rechnung zeigt sodann, daß die natürliche Toleranzgrenze unseres blauen Planeten bei einer Zahl von jeweils etwa 500 Millionen lebenden Menschen liegt.

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Die Vegetationsstreifen beiderseits der Autobahn sind durch Auspuffgase zerstört.

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Das etwa war die Bevölkerung der Menschheit in der Renaissance. Damals hat man auch von einem Druck der Menschenzahl auf unserem Planeten noch überhaupt nichts gehört. Heute haben wir diese Toleranzgrenze bereits etwa um das Achtfache überschritten.

Wiederum wenn wir unsere Betrachtungen über die Größenordnungen — zusammen mit dem Gesetz «ein Gramm pro Tonne» — anwenden, so können wir das Anliegen meines Kollegen Grzimek in seinem ganzen Ernst abschätzen. Es ist nicht ganz einfach, das Gesamtgewicht aller Säugetiere zu berechnen. Indessen, was wiegen zehn Millionen Gazellen, eine Million Elefanten, 100.000 Giraffen, 30.000 Blauwale und 2000 Wisente? Das Gesamtgewicht aller heute noch existierenden großen Säugetiere läßt sich mit der Menschheit fast nicht vergleichen. Der größte Betrag davon kommt vermutlich noch auf die Nutztiere, wie etwa Schafe und Rinder. Die Menschheit insgesamt wiegt bestimmt zehnmal so viel. Das heißt also, daß wir uns das Schicksal aller vom Aussterben bedrohten Tiere zu Herzen nehmen müssen. In unserer Betrachtung von Größenordnungen können wir sie vernachlässigen. Das ist doch eigentlich furchtbar, daß wir diese großartigen Schöpfungen der Natur heute so unter den Tisch fallen lassen müssen.

Es ist mir nicht gelungen, eine auch nur annähernde Zahl für das Gesamtgewicht der Insekten auf unserer Erde zu finden. Eine Küchenschabe, eine Fliege oder eine Ameise wiegen nur Bruchteile eines Gramms. Es gibt aber so viele von ihnen, daß man — ohne echte Kenntnis einer verläßlichen Zahl — ihr Gesamtgewicht mindestens so hoch einschätzen muß wie das der gesamten Menschheit. Vermutlich ist es sogar noch höher. Genauso wie wir Menschen haben die Insekten wohl auch die Grenze von 1:1 Million gegenüber den Pflanzen schon längst überschritten. Das ist auch der Grund, weshalb sie unsere Konkurrenten und — genauso wie wir — eine Pest unseres blauen Planeten sind.

Berechnungen solcher Art sollen keineswegs behaupten, daß jede Überschreitung der Menschenzahl auf der Erde von 500 Millionen von Übel sei. Zwar ist der Mensch letzten Endes ein Parasit der Pflanzenwelt — durch seine Einsicht in die Naturgesetze jedoch vermag er es, die optimale Zahl seiner Existenz auf der Erde erheblich zu erhöhen, ohne das Energieprinzip zu verletzen.

Eigentlich hat er das schon getan, da der Mensch die Toleranzgrenze für die optimale Zahl auf der Erde schon fast um das Achtfache überschritten hat. Eine auf völlig anderer Basis fußende Rechnung zeigt, daß die Ackerfläche der Erde die derzeitige Weltbevölkerung ernähren kann, wenn auch nur knapp. Wir haben zuvor schon davon gesprochen, daß nur ein Bruchteil der Landfläche der Erde sich für den Ackerbau eignet. 

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Zur Zeit werden ungefähr 1½ Milliarden Hektar bebaut. Wenn wir einen Menschen mit der für ihn auf die Dauer notwendigen Ernährungsmenge von 2400 Kalorien pro Tag versorgen wollen, einschließlich eines entsprechenden Betrages an Proteinen, so benötigt jeder von uns als Ernährungsgrundlage etwa 0,6 Hektar. Wenn wir uns also alle ausreichend ernähren wollen, so dürfen wir die Zahl von 2,3 Milliarden nicht überschreiten. Freilich können wir unsere Ernährung noch durch Fische ergänzen, welche ja die Ackerflächen nicht belasten. Dadurch ist es möglich, daß wir heute mit etwa 3,8 Milliarden Menschen auf der Erde leben. Freilich sind wir dabei — und das zeigt diese Rechnung — im Schnitt um etwa 20 Prozent unterernährt, da der Weltdurchschnitt der täglichen Nahrung nur 2350 Kalorien beträgt. 

Wie verträgt sich diese Erkenntnis mit der optimalen Zahl von 500 Millionen Menschen, die wir nach unserer Regel gerade eben berechnet haben? 

Die Antwort können wir sofort geben. Die Nahrung, die wir von dem 1,4 Milliarden Hektar Ackerland auf der Erde und zusätzlich noch aus dem Meer jährlich gewinnen, liegt keineswegs im Maßstab dessen, was die Natur von sich aus in diesen Bereichen hervorbringt. Durch die Kunst unseres Ackerbaus haben wir die Produktivität pro Hektar fast um das Zehnfache gesteigert. Wir düngen künstlich; wir benutzen moderne Ackerbaumaschinen zur Aussaat und zur Ernte; wir benutzen chemische Hilfsmittel zur Bekämpfung von Insekten und Pflanzenschädlingen; wir haben eine Fischereiindustrie.

Alle diese Maßnahmen fressen allerdings Energie: die Fabrik, die den Kunstdünger und die Insektenvertilgungsmittel herstellt; Eisenbahnen und Lastwagen, welche diese transportieren; Benzin und Öl für den Betrieb der landwirtschaftlichen Maschinen; Amortisation für diese ganze Agrikulturtechnik — und die Fischereiindustrie. Wenn es uns also gelungen ist, den Bedarf für die volle Ernährung eines Menschen auf 0,6 Hektar Ackerland herunterzudrücken, dann nur deshalb, weil wir zusätzliche Energie hineingesteckt haben. 

Das Erschreckende an diesem Prozeß besteht darin, daß die Energie, die in einer geernteten Tonne Weizen steckt, sehr viel kleiner ist als die Summe der technischen Energien, die wir zu seiner Produktion aufgewendet haben. Gewiß, die Sonnenenergie hat etwas dazu beigetragen; der Wirkungsgrad der Fotosynthese jedoch entspricht keineswegs von sich aus dem Ertrag eines Hektars, der mit modernen Methoden der Landwirtschaft kultiviert wird. Jetzt sehen wir, daß wir nur deswegen über unsere als natürlich erkannte Grenze von 500 Millionen hinauswachsen konnten, weil wir zusätzliche Energien in Anspruch genommen haben. Zu einem überwiegenden Prozentsatz gewinnen wir diese Energien aus der Verbrennung von fossilen Brennstoffen: Kohle, Öl und Erdgas. Diese Energien auch nur haben es uns ermöglicht, unsere gewaltige Industrie aufzubauen und bisher zu erhalten.

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Die Rechnung freilich müssen wir bezahlen. An vielen Stellen unserer Erde haben wir mit unserer Aktivität die natürliche Physik und Chemie unseres delikaten Planeten schon über die Grenze des Erträglichen hinaus belastet. Wenn auch die Grenze von einem Gramm pro Tonne willkürlich erscheinen mag, so gibt sie uns doch eine sinnvolle Handhabe, um abzuschätzen, was vermutlich schädlich ist und was nicht. Solange wir selbst als «Parasiten» der Pflanzenwelt die Grenze von einem Gramm pro Tonne nicht überschritten hatten, gab es auch noch keine Probleme auf diesem Gebiet. Zur Zeit der Spätrenaissance, als die Menschheit aus rund 500 Millionen Individuen bestand, brauchte man sich um die Erhaltung unseres blauen Planeten auch noch keine Gedanken zu machen. Das leidige Problem der Umweltverschmutzung wird oft lediglich den Auswüchsen unserer modernen Industriegesellschaft und der Habgier des kapitalistischen Systems zugeschrieben. 

Bei näherer Betrachtung sieht man, daß das völlig falsch ist. Letzten Endes gehen alle diese Probleme zurück auf den Druck der stets wachsenden Bevölkerung, der sich in den westlichen Ländern genauso bemerkbar macht wie in den sozialistischen Ländern und in den Nationen der Dritten Welt. Die Wirtschaftsminister der ganzen Erde spüren die Faust im Nacken und müssen dafür sorgen, daß das Bruttosozialprodukt ihrer Länder in jedem Jahr mindestens so stark ansteigt wie ihre Bevölkerung. Sonst verliert man ja unwiederbringlich an Boden. Eine umweltfreundlichere oder sogar völlig umweltunschädliche Industrie jedoch ist so unwirtschaftlich, daß keines der verschiedenen Wirtschaftssysteme freiwillig auf die Vorzüge der bisherigen industriellen Sorglosigkeit verzichten will. 

Es ist daher sinnlos, wenn sich die einzelnen Länder gegenseitig den Schwarzen Peter zuschieben. Die ganze Menschheit sitzt eben auf demselben Problem, und deswegen sind wir alle heute Verderber unserer Erde. Bevor nicht der Zwang von uns weicht, jedes Jahr zwei oder sogar über drei Prozent mehr Menschen als im Jahr zuvor ernähren zu müssen, können unsere Superindustrie und Superlandwirtschaft nur mit großen Opfern umweltfreundlicher werden als sie heute sind. Das Alarmzeichen: Achtung — ein Gramm pro Tonne — wird daher wohl noch lange auf Rot leuchten müssen.

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Heinz Haber  1973  Stirbt unser blauer Planet?  Die Naturgeschichte unserer übervölkerten Erde  Mit 52 Abbildungen