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2   Rinderzüchter und Jurist

 

 

 

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Im Sommer 1966, nach dem Abitur und meiner Facharbeiterprüfung als Rinderzüchter, steckte ich in einem seelischen Tief. In Ermangelung eines bestimmten Berufswunsches hatte ich mich im Fach Ökonomische Datenverarbeitung an der Berliner Hochschule für Ökonomie immatrikuliert. Eigentlich interessierte es mich aber nicht sonderlich. 

So bewarb ich mich um ein Diplomatenstudium in Moskau. Daß ich angenommen wurde, hatte sicherlich mit meinem Vater zu tun. Ich wurde zu einem Gespräch in das neuerrichtete Außenministerium unweit des Staatsratsgebäudes geladen. In der Abteilung Kader klärte mich eine große blonde Frau darüber auf, daß die DDR-Studenten in der Sowjetunion nach den Vietnamesen immer die besten wären. Das sei natürlich eine hohe Verpflichtung, von der keine Abstriche gemacht werden dürften. Weil die Meßlatte so hoch läge, sollte ich ab August in Halle bei einem Intensivsprachkurs meine Russischkenntnisse vertiefen. Schließlich würden in Moskau alle Vorlesungen in der Landessprache gehalten werden. 

Außerdem müßte ich Englisch, Französisch und noch eine weitere Fremdsprache erlernen, welche, das sei zur Stunde noch offen und würde entschieden werden, sobald die Richtung meiner Spezialisierung klar wäre. Ich könnte beispielsweise Indien zugewiesen bekommen, dann wäre es Hindi. Außerdem dürfe man nur selten nach Hause, im ersten Jahr gar nicht. Es herrschte strenge Parteidisziplin (ich war noch nicht einmal Kandidat der SED). 

Ich erkundigte mich, ob ich den Motorroller mit nach Moskau nehmen dürfe, den mein Vater mir zum Abitur versprochen hatte (und auf den ich bis zum heutigen Tage warte). Die Antwort war »Nein«. Nach diesem Gespräch war meine Diplomatenlaufbahn beendet, bevor sie überhaupt begonnen hatte, alle Bedingungen und mein mangelnder Fleiß sprachen dagegen. Vor allem die Vorstellung, alle Lehrveranstaltungen in Russisch zu absolvieren, verleidete mir die ganze schöne Idee. Meine Leistungen in diesem Fach waren eher mäßig. Die Aussichten, Marx und Lenin auf russisch, Englisch auf russisch, Französisch auf russisch, vielleicht noch Hindi auf russisch lernen zu müssen, überstiegen meine Vorstellungskraft hinsichtlich meiner Leistungsfähigkeit. Allerdings war ich zu feige, der großen blonden Frau meine Ablehnung persönlich mitzuteilen. Ich schickte meinen Vater nach Canossa. Es war eines der wenigen Male, wo ich ihn bewußt benutzte.

Ich hatte meine Facharbeiterprüfungen und ein sechswöchiges Praktikum im volkseigenen Gut Berlin-Blankenfelde abgeschlossen, war nun also Rinder­züchter und angehender Ökonomiestudent, doch beide Aussichten befriedigten mich wenig. Den Ausflug in die Landwirtschaft verdanke ich der Experimentier­freudigkeit der Volksbildungsministerin. Margot Honecker meinte, daß neben dem Besuch der Erweiterten Oberschule gleichzeitig auch eine Berufsausbildung erfolgen solle, zur besseren Verankerung der Oberschüler in der Arbeiterklasse. An einem Tag in der Woche waren die Oberschüler entweder in einem Betrieb tätig oder saßen in einer Berufsschule. Im Grunde war es weder Fisch noch Fleisch. (Zu dieser Erkenntnis muß wohl auch die Ministerin gekommen sein, denn zu Beginn der siebziger Jahre kehrten wir in der DDR zu traditionellen Ausbildungsverfahren zurück, einschließlich der Berufsausbildung mit Abitur, also der umgekehrten Variante, die sich bewährt hatte.)

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Daß ich ausgerechnet im Kuhstall landete, schuldete ich meiner Unbedarftheit. Auf die unverfängliche Frage des Schuldirektors, ob ich mich für Tiere interessiere, hatte ich ohne Arg mit Ja geantwortet, worauf dieser erfreut erwiderte, daß sich dies gut träfe, sie hätten nur noch einen Platz bei den Rinderzüchtern frei. Offiziell standen 23 Ausbildungsberufe zur Disposition, und da ich perspektivisch dachte, wählte ich den des Kraftfahrzeugschlossers. Handwerk hatte in der DDR ohnehin goldenen Boden, Kfz-Schlosserei aber war fast gleichbedeutend mit der Lizenz, Geld zu drucken. Zu meinem Leidwesen stellte der Ausbildungsbetrieb bei meinem Eintreffen überrascht fest, daß ich erst vierzehn Jahre alt war und damit zwei Jahre unter der gesetzlichen Vorschrift blieb, mit der man in ihrer Werkstatt Lehrling werden durfte. Inzwischen waren jedoch auch die anderen Professionen vergeben, die mich gereizt hätten, zum Beispiel Koch. Übriggeblieben waren nur die Rinderzüchter. Bereut habe ich diese Zeit allerdings nicht, denn ich lernte Bauern besser verstehen und ahnte, was solche Arbeit Tag für Tag und Jahr für Jahr bedeutet.

Vier Jahre später, nach meinem Abitur, schlenderte ich also ziellos durch die Stadt und traf die Mutter meiner Banknachbarin Barbara Wolff. Offensichtlich war mir mein Unmut deutlich anzusehen, denn Frau Wolff erkundigte sich besorgt nach meinem Zustand. Sie hörte sich geduldig mein Lamento an und sagte schließlich kurz: Studiere doch Jura. Mein Mann sagt immer, Jura wäre auch ein Studium für Doofe. Man könne, aber müsse nicht intelligent und/oder fleißig sein. 

Diese Wertung gründete sich wohl eher auf Sachkenntnis denn Arroganz. Friedrich Wolff hatte, soweit ich das seinerzeit wahrnehmen konnte, als Rechts­anwalt einen beachtlichen Ruf. Inzwischen ist er als Verteidiger Erich Honeckers bekannt geworden. Ihm konnte man wohl Glauben schenken. Allerdings verspürte ich wenig Lust, Gesetze und Paragraphen auswendig zu lernen. Frau Wolff wischte jedoch diesen Einwand beiseite. Ich müßte nur wissen, wo was stünde, um im geeigneten Moment zielsicher nachschlagen zu können.

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Ihre Argumentation überzeugte mich, und so beschloß ich umgehend, mich der Jurisprudenz zuzuwenden. Nicht unwesentlich für diese Entscheidung war ein Erlebnis, das ich wenige Jahre zuvor hatte und bei dem mein natürliches Gerechtigkeitsempfinden außerordentlich verletzt worden war. Im Rahmen einer Jugendstunde — jener durchaus interessanten Veranstaltungen, mit der in der DDR Dreizehn- bis Vierzehnjährige auf ihre Jugendweihe vorbereitet wurden — besuchten wir eine Gerichtsverhandlung. Dem Angeklagten wurde vorgeworfen, einen alten Mann zusammengeschlagen und ausgeraubt sowie etliche Diebstähle begangen zu haben. Nicht die verabscheuungswürdige Tat weckte in mir Mitleid, sondern die Tatsache, daß diesem hilflos Stotternden kein Verteidiger zur Seite stand. Unwissend und irgendwie wehrlos hockte er auf der Anklagebank, nachdem er mit Handschellen hereingeführt worden war, eine Entwürdigung in meinen Augen, die wohl auch gewollt war. Ich verstand ihn nicht, konnte sein Denken, Fühlen und Tun nicht nachvollziehen, und das ärgerte mich ungemein. Das Urteil lautete schließlich sechs Jahre Haft.

Im September 1966 begann ich an der Juristischen Fakultät und späteren Sektion Rechtswissenschaft der Berliner Humboldt-Universität zu studieren. Für mich war klar, daß ich Rechtsanwalt werden wollte, sonst nichts. Das aber konnte ich nicht laut sagen. Eine derartige Absichtserklärung hätte seinerzeit schlimme Reaktionen ausgelöst. Im damaligen Verständnis der offiziellen DDR-Gesellschaft galt ein Verteidiger als ein bürgerliches Rudiment, überflüssig mithin, denn im Mittelpunkt allen Tuns und Trachtens stand ohnehin der sozialistische Mensch. Wozu brauchte der noch einen Anwalt? Die Verteidigung eines Verbrechers erschien als Anachronismus. Der Beruf des Anwalts war daher während meines Studiums von den Dozenten nicht angesehen. 

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Unausgesprochen und gelegentlich auch ausgesprochen herrschte die Meinung, daß in dieser Gesellschaft eigentlich einem Staatsanwalt oder Richter nicht zu widersprechen wäre. Darüber hinaus stand die ganze Berufsgruppe im Verdacht, übermäßig viel Geld zu verdienen und überwiegend dadurch motiviert zu sein. Das galt in der DDR als ehrenrührig.

Für mich hatte und hat die sozialistische Idee aber sehr viel mit dem einzelnen Menschen zu tun, eben im Marxschen Sinne, daß die Freiheit der Gesellschaft nicht ohne und nur durch die Freiheit der einzelnen existieren kann. In der DDR war das Individuum zwar zur ständigen Prüfung aufgerufen, ob das, was es unternahm, der Gemeinschaft nützte oder ihr schadete. Die Gesellschaft bestimmte die individuelle Norm, man hatte sich ein- und unterzuordnen. Warum aber jemand sich anders verhielt, interessierte weniger als der Umstand, daß er es tat. Ich wußte, daß ich als Staatsanwalt oder Richter in Konflikte geraten würde. Deshalb stand für mich fest, beides nicht werden zu wollen. 

Gegen den Beruf des Staatsanwalts sprach zusätzlich die Weisungsgebundenheit und gegen den Beruf des Richters meine unterentwickelte Entscheidungs­freude. Es wäre nicht auszuschließen, daß ich als Strafrichter ein Verfahren ewig vor mir herschieben und nur deshalb nicht zum Abschluß bringen würde, weil ich mich nicht für eine Strafe entschließen könnte. Zumal ich höchst ungern — auch außerhalb des Gerichts — verurteile. Selbst in dieser Hinsicht schien mir die Rolle des Verteidigers erheblich angenehmer. Man konnte für den einzelnen, für den (zumindest vor Gericht) Schwachen, für den Ausgegrenzten Partei ergreifen und versuchen, für seine Würde zu streiten. Solches Engagement auch für Menschen, die Gesetze verletzt und Verbrechen begangen hatten, war und blieb mir unerläßlich.

Im ersten Studienjahr wurden vorwiegend nichtjuristische Fächer angeboten. Mit Recht befaßten wir uns weniger, dafür um so ausführlicher mit politischer Ökonomie, mit dialektischem und historischem Materialismus, wissenschaftlichem

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Kommunismus und der Geschichte der Arbeiterbewegung. Im zweiten Studienjahr kamen wir langsam zum Thema, das mich zunehmend interessierte. Eine Erfahrung übrigens, die ich wiederholt machte: Je intensiver ich mich mit einer Sache beschäftige, desto interessanter finde ich sie mit der Zeit. Einmal half ich einer Freundin bei ihrer Dissertation über ein für mich bis dato gänzlich unbekanntes Gebiet — es ging um gesäuerte Milch. Kaum zu glauben: Nach drei Wochen Beschäftigung fand ich die Sache spannend. Und so ging es mir auch mit den eigenen Studienfächern. Das Zivilrecht, auch das Strafrecht begannen mich zu interessieren, ebenso die Rechtstheorie. Das Staatsrecht (Verwaltungsrecht) in der DDR hingegen hielt ich von Anfang an für eine Katastrophe.

Während des Studiums brach die dritte Hochschulreform über uns herein, die unter anderem die Möglichkeit eröffnete, anstelle der Diplomarbeit eine Dissertation zu schreiben. Allerdings verlängerte sich dadurch das reguläre Studium um zwei Jahre, nämlich jenen drei Jahren Forschungsstudium, die sich dem sechsten Semester anschlossen. Nach einem Jahr Forschungsstudium hatte ich jedoch die Nase voll und brach es ab. Das war im Mai 1970. Meinem Antrag wurde auch stattgegeben, aber dann kam der Pferdefuß zum Vorschein: Mir blieben noch ganze sechs Wochen Zeit, um die nunmehr erforderliche Diplomarbeit anzufertigen, an der meine Kommilitonen bereits seit einem Jahr saßen. Das mir zugeteilte Thema befaßte sich mit der richterlichen Rechtsfort­bildung der bundesdeutschen Gerichte. Ich mußte mich in meiner Arbeit mit Rechtstheoretikern der BRD auseinandersetzen. Meine Vorkenntnisse auf diesem Gebiet waren sehr gering. Tag und Nacht büffelte ich, wälzte Literatur und schrieb. Am Ende ging alles gut.

Ich verließ die Humboldt-Universität ohne Schmerz. Dazu trugen auch bestimmte Erfahrungen bei. 

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1968 hatte ich Jutta, eine Kommilitonin, geheiratet. Mit ihr kam Daniel, ihr Sohn aus ihrer ersten Ehe, den ich adoptierte. Jutta und ich befanden uns gerade auf der Hochzeitsreise in Bulgarien, als in Prag die Panzer des Warschauer Paktes rollten. Die Verbindungen nach Hause wurden unterbrochen, und wir hatten große Mühe, wieder nach Berlin zu gelangen. An der Uni herrschte plötzlich eine unangenehme und gespannte Atmosphäre. Nicht nur in der CSSR hatte man die Konterrevolution ausgemacht, sondern auch an unserer Alma mater. Der Sohn eines Staatssekretärs im Kulturministerium wurde verhaftet und kam vor Gericht, ebenso die Tochter eines Abteilungsleiters aus dem ZK und andere, die ich zumeist kannte, Kinder von Eltern, die vor 1945 in der Emigration waren. Das, was sich bislang als gewisser Schutzschild erwiesen hatte — nämlich einen prominenten Vater zu haben —, erwies sich jetzt als verdächtig: In der CSSR hatte sich der Reformanspruch aus der kommunistischen »Elite« heraus entwickelt. In der Tat hielten nicht wenige von uns den Einmarsch für einen schweren politischen Fehler. Aber um zu dieser Einsicht zu gelangen, mußte man nicht der Sohn des Kulturministers sein. Meine Ansicht blieb nicht verborgen, und meine Bekannten machten mich verdächtig.

An der Sektion Rechtswissenschaft wurden — wie auch an den anderen Sektionen — grundsätzliche politisch-ideologische »Auseinandersetzungen« geführt, das heißt, auf Versammlungen wurden öffentlich Sündenböcke ausgemacht. Um ganze Studienjahre zu disziplinieren, auf die »Linie« einzuschwören oder zumindest zum Schweigen zu bringen, wurden Exempel statuiert — in der SED wie in anderen kommunistischen Parteien ein beliebtes Verfahren.

Allerdings hatte unsere Sektionsleitung sichtlich Mühe, eine konterrevolutionäre Gruppe auszumachen, mit der sie die ideologische Auseinandersetzung hätte führen können. So durchforstete sie Anwesenheitslisten und andere Unterlagen und sortierte zehn Personen gerade aus meinem Studienjahr aus, die zuweilen den Russischunterricht oder andere Lehrveranstaltungen geschwänzt hatten. 

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Das Verhältnis zum Erlernen gerade der russischen Sprache, so wurde gemutmaßt, gebe Aufschluß über die Festigkeit ideologischer Positionen überhaupt. Es wurde eine Parteiversammlung anberaumt und die Gruppe an den Pranger gestellt. Einen der zehn erklärte man zum »Anführer«. Sie hätten, so lautete der Vorwurf, die Grundlagen des Sozialismus in der DDR zu untergraben versucht, sie seien Konterrevolutionäre.

Als erste Maßnahme, hieß es, werde auf Anordnung des Justizministeriums den zehn das Stipendium gekürzt. Danach sollten wir diskutieren. Die Stimmung im Saal war zum Zerreißen gespannt, keiner hatte das Bedürfnis, etwas zu sagen. Wir schwiegen aus Feigheit. Was denn der FDJ-Sekretär des Studienjahres dazu meine, hieß es auf einmal. Dadurch wurde ich genötigt, mich von meinem Platz zu erheben und entgegen meiner Absicht einen Kommentar abzugeben. Ich erklärte, daß die Genannten sicherlich die Studiendisziplin verletzt hätten, aber deshalb noch lange keine Konterrevolutionäre seien. Meine Entgegnung war weder sonderlich mutig noch politisch grundsätzlich. Der Zwischenruf eines Kommilitonen erwies sich als wesentlich bissiger. Er habe das Gefühl, daß hier Köpfe rollen sollen, rief er dem Präsidium entgegen. Dort steckten sie erregt die eigenen Köpfe zusammen, und es begann etwas, das mich zu diesem Zeitpunkt noch völlig unvorbereitet traf. Das Zentrum der Auseinandersetzung wurde verlagert. Plötzlich waren nicht mehr die zehn, sondern wir beide die eigentlichen Sündenböcke. Endlich hatte die Leitung ihren Fall gefunden.

Die Hüter der reinen Lehre begannen sich an uns abzuarbeiten. Die Aussprachen und Versammlungen zogen sich Wochen und Monate hin. Immer wieder ging es um unsere Haltung zum Einmarsch in Prag. Die Atmosphäre war grotesk und irrational, sie verfehlte aber nicht ihre Wirkung. Einmal wurden wir beide wieder zu getrennten Gesprächen vorgeladen. Als der »Mittäter« blaß aus dem Zimmer kam, erkundigte ich mich besorgt, was sie denn diesmal wissen wollten. Er zischte, daß man uns nicht zusammen sehen dürfe, sonst würden wir als konterrevolutionäre Gruppe gelten, und eilte an mir vorüber.

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Das alles ließ mich keineswegs kalt, dennoch hatte ich zwischen diesem Theater und mir eine gewisse Distanz hergestellt. Denn Konsequenzen zeitigte der Konflikt durchaus. Weniger bei den Mitstudenten, die sich mir gegenüber wie immer verhielten. Das Problem war ein Teil der Lehrer. Sie schnitten mich, und eigentlich lohnte es sich aus heutiger Sicht kaum, darauf zurückzukommen, charakterisierte es nicht auch in dieser biederen Kleinlichkeit ein Stück damaliger DDR. Allerdings gab es auch Menschen, die diese Blockade durchbrachen. Einer der Professoren, ein Arbeitsrechtler, holte mich in sein Zimmer und sprach mit mir wie mit seinem Sohn. Er wisse, sagte er, daß dies für mich eine schlimme Situation sei, aber das ginge vorüber. Er müsse mir eine Hausarbeit geben und er sehe, daß ich dafür im Augenblick keinen Nerv habe. Schreib irgendwas, sagte er, nur gib mir bitte ein Papier, damit ich Vollzug melden kann.

Auch mein Vater suchte mich plötzlich in meiner feuchten Ein-Zimmer-Hinterhofwohnung auf, um mit mir die Entwicklung zu erörtern. Natürlich hatte die Auseinandersetzung längst den Unizirkel verlassen, die Informationen darüber waren über die Kreisleitungen der FDJ und SED nach oben abgesetzt worden. Gremien dieser Art standen unter permanentem Erfolgszwang, ausbleibende Meldungen — gleich, welcher Natur — galten höheren Orts als Indiz für Inaktivität. Diesem Verdacht mußte ständig entgegengewirkt werden. Die Sorge des Kulturministers galt sowohl seinem Sohn als auch sich selbst. Ich rechnete ihm zunächst an, daß er an mich nicht die gleiche platte Aufforderung richtete, wie sie ständig in den Versammlungen erhoben wurde: Übe Selbstkritik! Wofür, fragte ich mich, da ich mir keiner Schuld bewußt war. Ich fühlte mich ungerecht behandelt!

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Das also verlangte mein Vater nicht. Er dachte laut darüber nach, wie den beteiligten Seiten ein Rückzug ohne Gesichtsverlust ermöglicht werden könnte. Aber ich sah das nicht ein. Weshalb sollte ich seinen Weg der ständigen Kompromisse gehen, fragte ich ihn, obwohl ich vorher und nachher mehr als genug selber welche einging.

Vaters Biographie glich einem Verschiebebahnhof. Nach der Befreiung wurde er als stellvertretender Bürgermeister für Ordnung und Sicherheit in Berlin-Zehlendorf eingesetzt und von den Amerikanern entlassen, weil er Kommunist war. In Ostberlin, im sogenannten demokratischen Sektor, machte man ihn danach, 1946/47, zum Chefredakteur der kulturpolitischen Zeitschrift Aufbau, anschließend zum zweiten Bundessekretär des Kulturbundes. Dort mußte er Anfang der fünfziger Jahre gehen, weil er Westemigrant gewesen war. Nach einem halben Jahr Arbeitslosigkeit brachte ihn ein Freund, der inzwischen den Verlag Volk und Wissen leitete, bei sich unter. »Die Partei« erinnerte sich seiner, als sie den Leiter des Aufbau-Verlages, Walter Janka, verurteilte und einen neuen Verlagschef suchte. Wenig später kam noch der Verlag Rütten & Loening dazu, und irgendwann wurde Klaus Gysi auch noch als Vorsteher des Börsenvereins eingesetzt. Nachdem man Hans Bentzien nach dem berüchtigten 11. ZK-Plenum 1965 als Kulturminister in die DDR-Wüste geschickt hatte, wurde mein Vater zu dessen Nachfolger bestellt. Später entlassen, wurde er Botschafter in Italien, dann Staatssekretär für Kirchenfragen. In Ungnade fiel er 1988, aber relativ weich und in Rente.

An der Sektion Rechtswissenschaft fand im Herbst 1968 eine FDJ-Delegiertenkonferenz statt, auf der ich im Rechenschaftsbericht — wie erwartet — kritische Erwähnung fand. Gemeinsam mit meinem Freund Grischa Worner aus dem Studienjahr über mir votierte ich bei der anschließenden Abstimmung gegen den Bericht. Allein das grenzte schon an Blasphemie, denn in der DDR öffentlich vorgetragene Rechenschaftsberichte hatten einstimmig angenommen zu werden. 

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Bemerkenswert jedoch war die inzwischen vorgenommene Modifikation der gegen mich erhobenen Vorwürfe. Jetzt kreidete man mir eine »liberalistische« Haltung an, die ich bewiesen hätte, als man Verletzer der Studiendisziplin zur Ordnung rufen mußte, weil diese objektiv der Revolution in der DDR Schaden zugefügt hatten. Von der konterrevolutionären Gruppe war schon keine Rede mehr, also hatte ich auch keine Konterrevolutionäre verteidigt. Dennoch widersprach ich auch dieser Kritik in meinem Diskussionsbeitrag, wobei sich meine Erregung vergrößerte, als ich die sich drehenden Spulen eines Tonband­gerätes unter dem Pult sah. Ich verhaspelte mich, wurde wiederholt von Buhrufen aus dem Auditorium unterbrochen und schied dann ohne jeglichen Beifall vom Mikrofon.

Eine weitere Veredelung erfuhren die gegen mich erhobenen Vorwürfe auf dem Weg zur Kreisdelegiertenkonferenz der FDJ, an der ich immerhin teilnehmen konnte. Mittlerweile war dies die dritte Ebene der öffentlichen Auseinandersetzung mit mir. Hier hieß es nun, ich hätte nicht die erforderliche Aktivität bei der Durchsetzung der dritten Hochschulreform an der Humboldt-Universität entfaltet. Das Audimax der Humboldt-Universität war gefüllt bis auf den letzten Platz, und unser FDJ-Sekretär der Sektion lobte sich in seinem Diskussionsbeitrag, wie er den ideologischen Kampf gegen solche Elemente erfolgreich ausgetragen habe. Dann schloß der Erste Sekretär der FDJ-Kreisleitung die nicht stattfindende Diskussion und stellte die an diesem Punkte bestenfalls rhetorisch gemeinte Frage, ob es weitere Wortmeldungen gebe. Und ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und rief laut: Ja! 

Mit weichen Knien erhob ich mich von meinem Platz und artikulierte von dort meinen Widerspruch zu dem soeben Gehörten. Was ich im einzelnen sagte, weiß ich heute nicht mehr, nur die Folgen sind mir noch gewärtig. Von da an war ich an der Sektion ein Jahr Unperson. Als Parteistrafe erhielt ich nur eine Mißbilligung, die Isolierung war schlimmer. Das zog sich bis zu den Prüfungen im nächsten Jahr hin. Und plötzlich passierte Wundersames. Als ich nach einer absolvierten Prüfung vor die Tür trat, stand dort ein Vertreter der FDJ-Leitung der Sektion, drückte mir einen Blumenstrauß in die Hand, gratulierte zur bestandenen Prüfung und lud mich zum Kaffee ein.

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Wie ich später erfuhr, hatte sich der Erste Sekretär der SED-Kreisleitung des Vorganges angenommen — aus eigenem Antrieb oder weil vielleicht doch mein Vater seine Hände mit im Spiel gehabt hatte. Dieser Genosse Eisrich soll seine Adepten zu sich gerufen und sie gefragt haben, ob sie mit Macht den Genossen Gysi zum Klassenfeind machen wollten, was er gegenwärtig offensichtlich nicht sei. Und dann schlug er vor, mich in die Parteileitung der Sektion zu wählen, um deutlich zu machen, daß der Bannfluch aufgehoben sei. Die Mitstreiter willigten notgedrungen ein, ertrotzten aber als Bedingung, daß sich Gysi zuvor auf der SED-Delegiertenkonferenz Asche aufs Haupt streuen sollte.

Ich tat dies nicht. Doch daß hinter meinem Rücken eine solche Absprache getroffen worden war, merkte ich, als jemand im Saal aufstand und erklärte, er sei gegen meine Kandidatur. Er habe von mir an diesem Ort Selbstkritik erwartet. Die sei von mir nicht geübt worden. Daraufhin wurde offen abgestimmt, ob der Genosse Gysi auf die Kandidatenliste solle. Es gab nur sechs oder acht Gegenstimmen.

Trotz des eindeutigen Votums verlor sich ein gewisses Mißtrauen mir gegenüber nicht. Die damalige Parteisekretärin der Sektion mochte mich allerdings aufrichtig. Mich umfing weiter eine Mischung aus distanzierter Akzeptanz und emotionaler Ablehnung. Und dennoch, die sozialistische Welt war für mich nach einem Jahr scheinbar wieder in Ordnung. Ohnehin — eigentlich waren es Bagatellen, unter denen unsereins nur deshalb litt, weil wir sie so ernst nahmen und vor allem weil wir uns auf sozialistischen Positionen glaubten; doch gerade die wurden bezweifelt. 

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Als Rechtsanwalt hatte ich später mit Menschen zu tun, denen wirkliches Unrecht zugefügt wurde. Im nachhinein glaube ich, daß es ein Versuch war, mich zu disziplinieren. Ich war froh, wieder ein gewisses Vertrauen zu genießen, daß ich von nun an länger überlegte, es nicht erneut zu verspielen. Damit war wohl der Zweck erfüllt.

 

Zum ersten Mal wurde ich an er Erweiterten Oberschule hinsichtlich einer SED-Mitgliedschaft angesprochen. Der stellvertretende Direktor der EOS »Heinrich Hertz« fragte mich unmittelbar vor dem Abitur, ob ich nicht aus diesem Anlaß meinen Antrag zur Aufnahme in die Partei der Arbeiterklasse stellen möchte, schon wegen meines Vaters. Im Grunde war die SED kein Thema, das einer ernsthaften Erörterung mit mir bedurfte. Ich kam aus einem politischen Hause, unser Verwandten- und Bekanntenkreis bestand im wesentlichen aus gestandenen Antifaschisten und bekennenden Kommunisten, und für mich war klar, daß dem Sozialismus die Zukunft gehörte und der Kapitalismus dem Untergang geweiht war. Insofern zog es mich schon gefühlsmäßig zu jener Partei, die sich den Sozialismus auf die Fahnen geschrieben hatte.

Allerdings mochte ich mich ihr nicht in der Weise anschließen, wie es mir vorgeschlagen wurde. Erstens schien es mir sehr gekünstelt und dramatisiert, zusammen mit dem Abitur das Parteidokument überreicht zu bekommen. Zweitens wollte ich genau jenem vom stellvertretenden Direktor genannten kausalen Zusammenhang entgegenwirken. Ich wünschte in die SED nicht wegen meines Ministervaters einzutreten, sondern aus eigenem Antrieb. Diese Begründung akzeptierte auch mein Vater. Er unterließ jegliche Überzeugungsarbeit und meinte lediglich, dann solle ich es eben bleibenlassen.

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Während meines sechswöchigen Praktikums als Rinderzüchter in Blankenfelde im Juli 1966 bat ich darum, Kandidat der Partei zu werden. Entsprechend dem Statut der SED hatten zwei Parteimitglieder dem Antrag eine schriftliche Bürgschaft beizufügen, in der die politische Reife des Kandidaten bestätigt wurde. Ich bat zwei langjährige Freunde aus dem Bekanntenkreis meiner Eltern um dieses Führungszeugnis. Jürgen Grüner, später Leiter des Verlages Volk und Welt, und der Rundfunkjournalist Hermann Burghardt, Intimus meiner Eltern seit den Jahren der Emigration in Frankreich, entsprachen meinem Wunsch gern. Ich war stolz darauf. Es handelte sich immerhin um sehr intelligente und gebildete Persönlichkeiten und Genossen. 

Mitglied der SED wurde ich dann nach der einjährigen »Kandidatenzeit« im Jahr 1967, als ich schon an der Universität war. Ihre Sektion Rechtswissenschaft gehörte zu den ideologischsten. Alle Lehrkräfte beherrschten die Ideologie, viele, aber nicht alle, die Jurisprudenz als Wissenschaft. Ulbricht hatte zwischenzeitlich die Kybernetik entdeckt, und intelligente Akademiker wie der Rechtstheoretiker Mollnau begriffen dies als Chance, das Primat der Ideologie endlich beseitigen zu können. Mollnau versuchte, die Kybernetik in die Rechtswissenschaft einzuführen, und stieß zwangsläufig auf den Widerstand der Ideologen. Diese erhielten Oberwasser, als auch an der Parteispitze die Kybernetik nicht mehr favorisiert wurde und der Generalstaatsanwalt der DDR auf einem ZK-Plenum Mollnau heftig attackierte. Streit warf ihm vor, das Gesellschaftsorganisierende des Rechts im Sozialismus nicht erkannt, zumindest vernachlässigt zu haben. Damit war eine existentielle Auseinandersetzung vom Zaune gebrochen. Ich empfand nur die entsetzliche Demütigung, die diesem honorigen, gestandenen Wissenschaftler widerfuhr, als er genötigt wurde, vor Studentinnen und Studenten des ersten Studienjahres Selbstkritik zu üben. Zufall oder nicht, 1971 wählte ich ihn zu meinem Doktorvater.

Solche ideologischen Auseinandersetzungen wurden vor meiner Zeit viel häufiger und heftiger geführt. Rechtswissenschaftler wie Hermann Kienner wurden mehrmals gemaßregelt. 

Aber nicht zu vergessen, während des Studiums fand ich viele Freundinnen und Freunde, hatte glückliche Studentenerlebnisse, lernte dialektisch zu denken und wurde auch »handwerklich« als Jurist gut ausgebildet. Daran haben Assistenten, Dozenten und Professoren einen beachtlichen Anteil, von denen nicht wenige heute Versicherungspolicen verkaufen müssen, sich deplaziert in Anwaltskanzleien herumquälen oder als Rentnerinnen und Rentner eine gekürzte Strafrente beziehen.

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