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1. Ein »Freitagskind« vom Jahrgang 48

 

 

 

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Meine Mutter behauptet, ich sei an einem Sonntag geboren worden, also ein Sonntagskind. Sie irrt. Der 16. Januar 1948 war ein Freitag, ein ganz normaler Werktag, soweit man im zerstörten Berlin — keine drei Jahre nach Kriegsende — überhaupt von einem normalen Werktag sprechen konnte. Meine Schwester Gabriele gab es zu diesem Zeitpunkt bereits anderthalb Jahre.

Meine Mutter Irene war 36 Jahre alt, arbeitete damals in der Zentralverwaltung für Industrie, leitete anschließend verschiedene Verlage und war später für internationale Beziehungen im Kulturministerium zuständig. Sie stammte aus St. Petersburg. Ihre Mutter Tatjana war eine geborene von Schwanebach, einem alten deutschen Adelsgeschlecht entsprossen, das die Armut nach Osten getrieben hatte — zumindest was die Vorfahren väterlicherseits betraf. Tatjanas Mutter war Russin. Als ihre Eltern starben, wurde meine Großmutter durch die Verwandtschaft gereicht. Später schlug sie sich selbständig durchs Leben, was einen deutschen Ingenieur namens Gottfried Lessing, weil dies damals höchst unüblich war, sehr beeindruckte. Sie heirateten. 

Gottfried Lessing arbeitete in den Lokomotivwerken, die sein Vater Anton begründet hatte. Dieser Anton Lessing war ein findiger Mann: Angesichts der vielen Panjegespanne schlußfolgerte er zutreffend, daß in Rußland großer Bedarf an Hufnägeln bestünde. Durch die maschinelle Produktion derselben gelangte er alsbald zu Reichtum; meine Mutter behauptet immer, er sei Millionär gewesen. 

Mit diesem Vermögen begann er in Kolomna Lokomotiven zu bauen, und dort war eben auch mein Großvater Gottfried tätig. Das urgroßväterliche Vermögen wurde später auf die Kinder aufgeteilt, die es mehr schlecht als recht anlegten. Während der Inflation in den »goldenen« Zwanzigern ging es im wesentlichen verloren.

Die Lessings wurden zu Beginn des Ersten Weltkrieges als »feindliche Ausländer« des Zarenreiches verwiesen und ließen sich in Berlin nieder. Mascha, die Haushälterin, nahmen meine Großeltern mit. Wie meine Großmutter mußte auch sie die hiesige Sprache erst lernen. Beide sprachen bis zu ihrem Tod nur sehr schlecht deutsch; vermutlich ein Ausdruck ihrer inneren Abwehr.

Ihre Drei-Zimmer-Neubauwohnung in Berlin-Nikolassee, in der ich sie bis zum Mauerbau als Kind gelegentlich besuchte, habe ich noch genau vor Augen. Obgleich die beiden alten Damen — Großvater Lessing war 1950 verstorben — seit Jahrzehnten zusammenwohnten, sprach Mascha meine Großmutter mit »Sie« und »Frau Lessing« an. Großmutter aber duzte Mascha. Der Standesunterschied existierte bis ans Ende ihrer Tage.

Großmutter Lessing war, als ich sie erlebte, eine hochbetagte Dame, von der niemand wußte, wie alt sie wirklich war. Es ging das Gerücht, sie habe bei ihrer Einreise nach Deutschland ihr Lebensalter um zehn bis fünfzehn Jahre geringer angegeben. In ihrem Beisein wurde dieses Thema nie erörtert. Sie feierte auch keinen Geburtstag, sondern lud zum unverfänglichen Namenstag ein.

Ich erinnere mich auch noch an die merkwürdigen Gestalten, die dort gelegentlich auftauchten. Ein »Herr Hauptmann« aus dem Ersten Weltkrieg, der sich nur dadurch auszeichnete, daß er 23 Kartoffelpuffer essen konnte, eine »Tante Ida«, die später einen Baron heiratete, um seinen Adelstitel zu erwerben, und die sich überwiegend damit beschäftigte, Dienstmädchen einzustellen und zu entlassen.

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Mascha war mir in diesem Kreis die Liebste. Sie war eine Seele von Mensch und hatte sich ihre Natürlichkeit bewahrt; ich mochte sie sehr. Insgesamt aber gab die Runde, die ich bei meiner Großmutter in Berlin-Nikolaussee erlebte, Nachricht von einer untergegangenen Welt.

Dieses Bild übertrug sich in meiner Kindersicht auf ganz Westberlin. Andere Menschen und Gegenden dort sollte ich damals nicht kennenlernen. So hatte ich einen Eindruck verstaubter Realitätsferne. Hier offenbarten sich extrem gegensätzliche Welten und Lebensweisen. Da waren die steifen Umgangsformen, die eingestickten Monogramme auf Bettwäsche, Damasttischtüchern und Servietten, gravierte Serviettenringe und silberne Messerbänkchen, der distanzierte Umgang mit Angestellten — und daneben die einfache Mascha. Ich machte auf diese Weise schon sehr früh die Erfahrung, daß unterschiedliche Formen des Daseins durchaus nebeneinander existierten. Ob es einem gefiel oder nicht: sie waren da, solange es Menschen gab, die diese Rituale pflegten. Willkürlich abschaffen ließen sie sich nicht.

Vor dem 13. August 1961 sollte ich Westberlin nur einmal anders kennenlernen. Kurz vor dem Mauerbau fuhr ich zusammen mit meiner Schwester und französischen Freunden meiner Eltern dorthin. Sie zeigten uns den Funkturm, wir speisten im Hilton-Hotel und gingen dann noch ins Kino.

Von 1931 bis 1936 hatte meine Mutter an der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität Volkswirtschaft studiert. In dieser Zeit lernte sie auch meinen Vater Klaus kennen, der ebenfalls Volkswirt wurde. Sie war parteilos, er in der KPD. Nach dem Studium wollte meine Mutter promovieren, doch es fand sich niemand, der eine Frau mit jüdischem Großvater (das war der alte Lessing, der Fabrikgründer) zur Doktorin machen wollte. Während dieser Zeit reiste meine Mutter nach England und Südafrika zu Verwandten, und im August 1939 besuchte sie gemeinsam mit Klaus seine Mutter in Paris. 

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Ihr Touristenvisum war nur vier Wochen gültig, und als Hitlerdeutschland den Krieg gegen Polen begann, blieben beide in Frankreich. Klaus Gysi und Kurt Levi, der Lebensgefährte von Klaus' Mutter, wurden von den Franzosen jedoch interniert, auch meine Mutter kam in ein Lager. Nach ihrer Entlassung wußten sie weder, wohin sie gehen, noch, wovon sie leben sollten. Das einzige, was sie besaßen, waren gültige Reisepässe, und so meinte die Partei, sie sollten nach Deutschland zurückkehren und dort illegale Parteiarbeit leisten — ein Wahnsinn, wenn man bedenkt, daß meine Mutter einen jüdischen Großvater, und vor allem, daß mein Vater eine jüdische Mutter hatte. 

Beide kamen 1941 in Berlin bei den Großeltern Lessing in Schlachtensee unter und fanden eine Anstellung als freie Mitarbeiter bei dem Verlag Hoppenstedt & Co., der sich unter anderem auf Festschriften zu Firmenjubiläen spezialisiert hatte. Meine Eltern sammelten hauptsächlich Informationen über Rüstungs­betriebe, die sie an Verbindungsleute weiterleiteten. Hatte eine Firma oder ein Betrieb Jubiläum, wurden meine Eltern übers Werksgelände geführt und über Geschichte und Profil des Unternehmens informiert. Meine Mutter versteckte auch gefährdete Personen.

Irene Lessing und Klaus Gysi heirateten unmittelbar nach der Befreiung Berlins durch die Rote Armee.

Meine Vorfahren väterlicherseits wanderten 1770 aus Basel ein. Zunächst waren sie als Bader tätig, später als Ärzte, meist als Chirurgen. Meinem Vater war es vorbehalten, als erster — in der siebten Generation — diese Tradition zu brechen. Sein Vater, Dr. Hermann Gysi, gehörte der SPD an. Dieser Sozialdemokrat rettete durch sein ärztliches Attest nicht wenige vor Kriegsdienst und Deportation. Nach 1945 wurde ihm vermutlich deshalb eine leitende Stelle im Berliner Oskar-Ziethen-Krankenhaus angeboten, das im sowjetischen Sektor lag.

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Vaters Mutter Erna emigrierte nach Frankreich und kehrte später nur noch besuchsweise nach Deutschland zurück. Sie war eine hochgebildete, kultivierte Frau. Mich beeindruckte an ihr besonders, daß sie die Weltbevölkerung in Juden und Nichtjuden schied. Diese Einteilung provozierte meinen kindlichen Widerspruch, weil eine solche Trennung mit meinem Gerechtigkeitsempfinden kollidierte. Mir war wichtig, was jemand leistete und welchen Charakter er besaß. Mein Protest wurde allerdings von ihr ziemlich scharf zurückgewiesen. Die Unterscheidung, meinte sie, habe ihr Leben bestimmt. Überhaupt war das Thema Juden, wenngleich nicht vordergründig, im Familiengespräch durchaus präsent. Allerdings wurde es von den Eltern sehr unterschiedlich behandelt. In den Erzählungen meines Vaters handelte es sich bei Juden meist um kleine verzweifelte Händler oder Gewerbetreibende, die um ihre Existenz oder ihr Leben bangten. Er erzählte Geschichten, die Mitleid und Anteilnahme weckten. Meine Mutter hingegen wies gern bei bedeutenden Persönlichkeiten darauf hin, daß es sich um Juden handelte.

Vater spielte als Kommunist seine jüdische Herkunft herunter. Viele unserer Verwandten, insgesamt achtzehn, waren von den Nazis umgebracht worden, weil sie Juden waren. Sie waren Opfer der Nazis geworden — ohne eigenes Zutun. Jude war man von Geburt an, man konnte es sich nicht aussuchen. Kommunist und deshalb verfolgt zu sein — das hingegen war ein bewußter Vorgang. Juden wie er wollten nicht einfach Opfer gewesen sein.

Eine solch eigenartige Betrachtungsweise habe ich wiederholt bei jüdischen Kommunisten und kommunistischen Juden festgestellt. Sie legten großen Wert darauf, nicht als Juden, sondern als aktive Antifaschisten unter den Nazis gelitten zu haben. Möglicherweise spielte auch eine gewisse Furcht vor dem Antisemitismus Stalins eine Rolle, der unterschwellig in den osteuropäischen kommunistischen Parteien wirkte. Doch das wußte ich zu jener Zeit noch nicht.

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Jedenfalls besuchte uns meine französische Großmutter nur selten, doch die Gespräche mit ihr besaßen für mich bleibenden Wert. Sie weitete meinen Horizont, strahlte Intelligenz, Toleranz, Großzügigkeit und Mitgefühl aus, Eigenschaften, die nur selten miteinander verbunden sind. Die Verwandtschaft, Freunde und Bekannten meiner Eltern waren über mehr als die halbe Welt verstreut, weitläufig und weltläufig. 

Russen, Franzosen, Engländer, Amerikaner saßen nicht selten bei uns am Tisch. Da es sich meistens um Menschen handelte, die mit den politischen Haltungen meiner Eltern übereinstimmten, waren sie Teil unserer vermeintlich sozialistischen Welt. Die Abschottung der DDR nahm ich in ihrem wirklichen Ausmaß erst in späteren Jahren wahr. Der Bruder meiner Mutter, mein Onkel Gottfried Lessing, gründete mit zwanzig Mitstreitern in der Emigration die Kommunistische Partei Südrhodesiens und wurde ihr Erster Vorsitzender. Dieser Gottfried Lessing kehrte nach Deutschland zurück und heiratete in zweiter Ehe Ilse Dadou, die ihre Tochter Shereen in die Ehe einbrachte. Der Vater von Shereen war Yousif Dadou, Vorsitzender der Kommunistischen Partei Südafrikas. Seine Frau Ilse wollte nach 1945 Südafrika wieder verlassen, was für Dadou aus verständlichen Gründen nicht in Frage kam. Daher trennten sie sich. 

Meine Cousine Shereen studierte zunächst an der Technischen Hochschule in Ilmenau, setzte ihr Studium in Moskau fort und ging nach dem Tode ihrer Mutter in den achtziger Jahren von der DDR nach London, wo ihr Vater in Emigration lebte. Gottfried Lessing war später als Botschafter der DDR in Uganda tätig. Er wurde dort im Bürgerkrieg Ende der siebziger Jahre mit seiner dritten Frau erschossen. Dieser Dr. Gottfried Lessing wiederum, den die Nazis ins britische Exil getrieben hatten, war in erster Ehe mit der weltbekannten Schriftstellerin Doris Lessing verheiratet. Sie haben zusammen einen Sohn, Peter Lessing. 

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Doris Lessing wurde 1919 in Persien geboren, wuchs in Rhodesien auf und lebt noch heute in London. Ihre Bücher wurden in viele Sprachen übertragen, natürlich auch ins Deutsche. In den meisten Romanen und Kurzgeschichten, aber auch in Dramen und Gedichten setzte sie sich mit Rassenproblemen und dem Leben von Frauen in einer von Männern bestimmten Welt auseinander. Die Verbindung zu ihr war vergleichsweise lose. Ich erinnere mich an einige Telefonate und Kartengrüße, auffällig vielleicht jenes Angebot zu Beginn der achtziger Jahre, als sich der Raketenwettlauf zwischen NATO und Warschauer Pakt zuspitzte. Sie rief in Berlin an und meinte, daß Deutschland vermutlich zum atomaren Schlachtfeld werden würde. Deshalb forderte sie unsere Familie auf, nach London überzusiedeln. Für diesen Fall könnten wir in ihrem Haus unterkommen. Später, nach der Wende, besuchte ich Doris Lessing mehrmals in London. Das Zusammentreffen kam über meine Schwester zustande, die nach ihrem Weggang aus der DDR wiederholt bei ihr war, und über meine Cousine Shereen, mit der ich immer in enger Verbindung war.

Doris Lessing lebt seit vielen Jahren allein mit ihrem Sohn Peter; sie ist eine in sich gekehrte Frau, deren Freundeskreis, wie mir schien, nicht besonders groß ist. Sie strahlt große Klugheit aus und wirkt sehr scheu.

Meine Schwester und ich wuchsen in der Waldstraße 37 im Berliner Ortsteil Johannisthal auf. Auf der einen Straßenseite erhoben sich die Ein- und Zweifamilien­häuser, in denen Leute wie meine Eltern wohnten, und auf der anderen lebten in Mietshäusern überwiegend Arbeiter und Angestellte. Dazwischen begegneten sich zwei verschiedene Welten, zwei gegensätzliche Kulturen. Die einen kamen aus faschistischen Zuchthäusern oder aus der Emigration und engagierten sich für diesen Staat, den sie als den ihren betrachteten. Die anderen hatten in der Wehrmacht Führer, Volk und Vaterland gedient und das Jahr 1945 nicht als Befreiung, sondern als Zusammenbruch empfunden. Sie standen darum mehrheitlich dem neuen System distanziert bis argwöhnisch gegenüber. Selbst wir Kinder spürten das lauernde Mißtrauen. Streitereien auf dem Schulweg hatten häufig politischen Charakter.

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In der zweiten Klasse etwa prügelte ich mich mit einem Jungen, weil er behauptete, die Russen hätten deutsche Frauen vergewaltigt. Wir wußten beide nicht, was darunter zu verstehen war. Wir ahnten nur, daß es sich um etwas Negatives handeln mußte. Wenn dieser Klassengefährte so etwas vorbrachte, richtete es sich überdies gegen die sowjetischen Befreier, unsere Freunde. Also mußte ich erst einmal dagegenhalten. Abends fragte ich meinen Vater, ob die Behauptung zuträfe, daß Russen deutsche Frauen vergewaltigt hätten. Daraufhin erhielt ich meine erste Lektion im Fach Dialektik, man kann auch sagen: Mein Vater vollführte einen Eiertanz. 

Im Prinzip stimme es nicht, was der Junge gesagt habe. Im Einzelfall schon. Man müsse jedoch sehen, wie es dazu gekommen sei. Schließlich hätten deutsche Soldaten furchtbar in der Sowjetunion gehaust. Die Rotarmisten hätten schlimme Entbehrungen erfahren und natürlich auch Haß entwickelt. Ich nickte stumm und hatte begriffen, daß manche Wahrheit nicht einfach zu haben war und sie mitunter anders ausschaute, als ich sie mir wünschte. Diese ernüchternde Einsicht korrespondierte jedoch wenig mit dem verständlichen Kinderwunsch, die Welt klar in Gute und in Böse geschieden zu sehen.

Später entwickelte ich ein Interesse für eher komplizierte Personen, verbunden mit einer gewissen Sympathie, wenn nicht sogar Leidenschaft fürs Dramatische. Ich bestreite nicht, daß äußere Umstände daran wesentlich beteiligt waren. Zum einen gehörten zum umfänglichen Bekannten- und Freundeskreis meiner Eltern viele Theaterleute, Künstlerinnen und Künstler, die regelmäßig bei uns zu Gast waren. Zum anderen arbeitete meine Mutter seit Mitte der fünfziger Jahre im Kulturministerium und besuchte — sowohl aus persönlichem Interesse als auch in dienstlicher Mission — Premieren, Konzerte, Ballettabende und andere Kulturveranstaltungen in großer Zahl. 

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Da sie aber ungern allein ging, mußte nach ihrer Scheidung entweder meine Schwester oder ich sie begleiten. Die Berliner Festtage alljährlich im Frühherbst waren dabei höchst anstrengend, ich war praktisch rund um die Uhr im Einsatz. Zu Hause spielten meine Schwester und ich gleichfalls Theater und beglückten unsere Eltern mit eigenen Stücken. Alle »Inszenierungen« zeichnete aus, daß die anschließenden Verbeugungen, mit denen der Applaus eingefordert wurde, die Spielzeit beachtlich überschritten. 

Das eigentlich Bemerkenswerte jedoch war, daß meine Eltern geduldig ausharrten, wenn wir sie am späten Abend sofort nach ihrer Ankunft in Beschlag nahmen. Obgleich hungrig und übermüdet, hockten sie sich bereitwillig auf die Stühle und schauten uns amüsiert zu. Als ich sechs war und die erste Klasse besuchte, erschien eines Tages eine unbekannte Frau im Klassenzimmer. Sie käme vom benachbarten Synchronstudio der DEFA und suche einige Kinderstimmen, erklärte sie und forderte uns auf, einen bestimmten Satz nachzusprechen, wir taten es einzeln und mit Inbrunst. Die Wahl fiel auf mich.

Fortan synchronisierte ich Gleichaltrige in ausländischen Filmen und wirkte auch in einem Fernsehspiel mit. Diese interessante und nicht unlukrative Tätigkeit übte ich bis zum Stimmbruch aus.

Meine Klassenkameraden nahmen Anteil an meiner künstlerischen Betätigung. Fernsehgeräte waren selten, und deshalb gingen wir damals häufiger ins Kino, als es heute der Fall ist. Wenn auf der Leinwand im Abspann mein Name zu lesen war, wurde anerkennendes Gejohle laut, und ich wuchs in meinem Sessel vor Stolz um einige Zentimeter.

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Noch kleiner gemacht hingegen hätte ich mich liebend gern, als ich einmal versehentlich mit Halstuch und weißem Pionierhemd verlassen auf dem S-Bahnhof Gesundbrunnen stand. Ich sollte in einem Fernsehspiel auftreten und fuhr mit der S-Bahn durch die sogenannte Westsektoren. Das Stück war eine sowjetische Komödie, und sie ist mir auch deshalb in unangenehmer Erinnerung geblieben, weil wir etwa zwanzigmal geprobt hatten, ehe sie dann live vor der Kamera in Adlershof gespielt wurde.

Ich stand dort also in meiner »Uniform« auf dem Bahnsteig und wurde beäugt wie das achte Weltwunder. Die Leute machten einen Bogen um mich, als hätte ich Aussatz, und mancher fuhr mich gar an, als wäre ich Ulbrichts 5. Kolonne und von der Absicht durchdrungen, das deutsche Wirtschaftswunder in die Luft zujagen. Der Boden unter meinen Füßen wurde ungewollt zu Feindesland.

Unsere Eltern, nach meinem zehnten Lebensjahr vornehmlich die Mutter, haben uns locker erzogen. Sie hielten uns an angenehm langer Leine, aber sie überließen uns nicht dem Selbstlauf. Sie gingen meist nachsichtig und verständnisvoll mit uns um. Das Verhältnis zwischen uns war wohlwollend und liebevoll und stets mit einem Schuß Humor durchsetzt. Vater war sowohl Faxenmacher und Clown als auch ernsthafter Aufklärer, der Einsichten vermitteln wollte. Beide wirkten durch ihre Persönlichkeit, obgleich sie sich wegen ihrer beruflichen Verpflichtungen im Hause rar machten. Aber vielleicht waren sie gerade durch ihre Abwesenheit so dominant. Für uns Kinder war unsere Haushälterin Gertrud Stapel Bezugsperson für die meisten großen und kleinen Alltagsprobleme. Wir waren und sind ihr sehr verbunden. Noch heute lebt sie bei meiner Mutter.

Besonders feste Bande gab es zwischen meiner Schwester und mir, wir bildeten eine Solidargemeinschaft. Es ist mir keine Situation erinnerlich, in der es gelungen wäre, den einen gegen den anderen auszuspielen.

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Das wohl einschneidendste Erlebnis meiner Kindheit trug sich Mitte der fünfziger Jahre zu. Ein halbes Jahr lag ich in der Charite und danach noch einmal so lange zu Hause. Dadurch versäumte ich die zweite Hälfte der dritten und die erste Hälfte der vierten Klasse. Aus Rücksicht auf meine Rekonvaleszenz schoben, wie ich später erfuhr, meine Eltern ihre Trennung hinaus, um bei ihren Besuchen an meinem Krankenlager heile Welt zu spielen.

Ich war mit dem Verdacht auf Kinderlähmung in ein Krankenhaus eingeliefert worden, die sich jedoch als Gelenkrheumatismus herausstellte. Daraufhin wurde ich wieder entlassen. Kurze Zeit später gab es jedoch einen Rückfall, und dabei diagnostizierten die Ärzte, daß ich etwas am Herzen hatte. Der Gelenk­rheumat­ismus war lediglich die Folge einer Herzinnen­wandentzündung gewesen.

Der Krankenhausaufenthalt veränderte mich nicht nur körperlich, sondern auch charakterlich. Durch die strenge Bettruhe und den massenhaften Verzehr von Medikamenten nahm ich immer mehr zu.

Gleichermaßen krankte ich an dem vermeintlichen Zwang, meinen Besuch unterhalten zu müssen. Er durfte nur am Donnerstag oder am Sonntag kommen und an der Tür des Krankenzimmers Platz nehmen. Einerseits freute ich mich immer auf die Besuchszeit — andererseits wußte ich nicht, wie ich meine Eltern oder andere Besucher unterhalten sollte, damit sie sich nicht langweilten und den Besuch nicht nur als lästige Pflicht empfanden, also auch wiederkämen, eine unbegründete, aber vorhandene Sorge. Im Grunde überforderte ich mich permanent.

Schlimm war, daß meiner Schwester selbst der entfernte Platz an der Tür verweigert wurde. Kinder durften nicht ins Haus und konnten, sofern das Kranken­zimmer zu ebener Erde lag, einzig durch die Fensterscheibe mit ihren Geschwistern oder Schulfreundinnen und -freunden verkehren. Die meiste Zeit teilte ich das Zimmer mit zwei anderen Jungen. Der eine war wesentlich jünger, etwa sechs. Er war arm dran, denn seine Mutter, vermutlich die einzige Verwandte, lebte in Bautzen und kam nur zweimal im Jahr zu Besuch nach Berlin. 

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Nach meiner Entlassung habe ich ihn noch einige Male besucht; er starb aber wenig später an seinem Herzfehler. Der Kleine (und natürlich auch ich, wobei ich mich meiner Haut besser zu wehren wußte) wurde von einem zwölfjährigen Jungen regelrecht tyrannisiert. Der »Stubenälteste« war ein unerträglicher Zeitgenosse, ein Bestimmer, wie wir damals sagten. Natürlich buhlte auch ich um seine Gunst, denn ohne die Kommunikation mit ihm war das Krankendasein überhaupt nicht auszuhalten. Er gewährte und entzog Freundschaft, abhängig davon, ob man sie ihm materiell entgalt und ihm dienstbar war oder nicht. Gottlob wurde er bald entlassen, und es brach für uns Zurückbleibende eine erträglichere Zeit an.

Das schmerzhafteste Erlebnis während des Krankenhausaufenthaltes hinterließ lange nachwirkende Narben auf meiner kindlichen Seele. Ich bekam durch die permanente Einnahme unzähliger Medikamente einen unangenehmen Hautausschlag, der offenbar für die medizinische Welt von großem Interesse war. Man holte mich ab, zog mich aus und schob mich — ohne mich vorher gefragt oder informiert zu haben — in einen Hörsaal mit vielleicht 600 Studentinnen und Studenten, die einzeln an mir vorbeiliefen.

Es war nicht nur die Scham wegen meiner Nacktheit oder der Pickel, die mich so wütend machte. Ich war, ohne meine Zustimmung gegeben zu haben, zum Objekt gemacht worden. Als wäre ich ein lebloser Gegenstand, ein gefühlloses Stück Fleisch, das man nicht über die eigene Absicht informieren mußte. Meine Würde war tief verletzt worden. Ich weiß seitdem, wie verletzend Erwachsene gegenüber Kindern sein können. Und ich bemühte mich stets, dies bei meinen Kindern nicht zu vergessen.

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Der Tod des »Kleinen« ging mir nahe, aber es blieb für mich kein Einzelerlebnis. Zwei Kinder meiner Klasse starben während der Grundschulzeit. Einer stürzte aus dem Zug, der andere starb an Blutvergiftung. Als Kind zur Beerdigung von Kindern zu gehen, verlangt, sich mit der Vergänglichkeit des Lebens zu früh auseinandersetzen zu müssen.

In jener Zeit fand ich meinen Weg zur Literatur. Als ich wieder zu Hause war, las mir meine Schwester am Krankenbett oft vor. Ich entsinne mich einer todtraurigen Geschichte von einem Mädchen, das Ballettänzerin werden wollte. Im Unterschied zu meiner Schwester Gabriele glaubte ich jedoch, Gefühle nicht zeigen zu dürfen, was mir nur schlecht gelang. Ich schmökerte mich durch Mark Twain, ging mit Tom Sawyer und Huck Finn auf Abenteuer und litt mit dem Grafen von Monte Christo hinter Kerkermauern. Geschichten, die im Gefängnis spielten oder dort endeten, fesselten mich besonders.

Probleme hingegen hatte ich mit Büchern, deren Lektüre uns in der Schule oder von anderen Autoritäten empfohlen wurde. Ich konnte nicht genau benennen, was mich innerlich auf Distanz hielt. Ein eigenartiges, nicht zu definierendes Gefühl beschlich mich, gegen das ich mich rational wehrte. Ich war der felsen­festen Überzeugung, auf der »richtigen« Seite zu stehen und die politischen Positionen des Autors oder der Autorin zu teilen — und trotzdem spürte ich zwischen ihnen und mir eine Grenze, die zu überschreiten ich nicht fähig war. 

So spannend, widersprüchlich und eben lebendig wie die Helden Mark Twains kamen die Gestalten der neuen Literatur nur selten daher. Erst viel später — mit der DDR-Literatur der siebziger und achtziger Jahre, insbesondere durch Christa Wolf, Maxi Wander, Christoph Hein, Stephan Hermlin, Stefan Heym, Heiner Müller, sowie mit sowjetischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern — begannen mich neue Bücher in einer umfassenden Weise zu bewegen.

Nun war selbst mir als Halbwüchsigem gewärtig, daß Kunst und Realität zwei verschiedene Ebenen darstellten. Aber indem offiziell die Kunst als Wider­spiegelung, als Abbild des Lebens bezeichnet wurde, wurde genau dieser Widerspruch sichtbar. Das ist wieder kein Film über uns, verriß einmal die Junge Welt in einer bezeichnenden Schlagzeile einen Gegenwartsfilm der DEFA, in welchem zaghaft die Wirklichkeit kritisch gebrochen, also künstlerisch überhöht dargestellt worden war. Literatur, Kunst allgemein, sollte offenbar die Gegenwart glätten, sie schöner zeigen, als sie in Wirklichkeit war. Sie sollte deutlich machen, wie wir wünschten zu sein. 

Emotional fühlte ich mich auch in dieser Zeit zu jener Bewegung, die sich sozialistisch nannte, hingezogen. Genossinnen und Genossen der SED standen mir nahe; sozialistische Hymnen wie »Unsterbliche Opfer, ihr sanket dahin« und »Die Internationale« gingen mir voll ins Herz, filmische Heldenepen über Siege verfehlten ihre Wirkung nicht. Gleichzeitig aber erlebte ich auch Menschen, bei denen das Bekenntnis zur »Sache« sehr aufgesetzt wirkte. Sie übertrieben so, daß es selbst mir als Kind und Halbwüchsigem auffallen mußte. Ich ging intuitiv auf Distanz zu ihnen. 

Einige meiner Lehrer verhielten sich so. Es gab jedoch auch nicht wenige andere, die ich bis heute in angenehmer Erinnerung habe.

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