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18. Juni 2000

Guha-1993

 

58-77

Im Mittelmeerraum stehen die letzten Wälder in Flammen. Ein Wunder ohnehin, daß es nach drei Jahren anhaltender Dürre noch welche gibt. Spanien, Portugal, Südfrankreich, Italien, Griechenland unter schwarzen Rauchwolken. Resignation. Die Feuerwehren und die alarmierten Streitkräfte kämpfen an dieser Front vergeblich. Zahllose Ortschaften in leerer, schwarzer Öde. Aufgegeben, verlassen, Exodus, Vertreibung des Menschen aus dem Paradies. Sogar die Reste der bereits abgebrannten Wälder glühen und qualmen wieder. Dadurch wird Regeneration kaum noch möglich.

Und in Mitteleuropa fast ununterbrochen Regen. Wasser im Überfluß.

Die Sinnlosigkeit meiner journalistischen Arbeit. Ein höhnisch grinsendes Gespenst steht sehr real vor mir. Mein letzter Artikel, den Lesern den fatalen Circulus vitiosus darzulegen, ist der 34. in sieben Jahren. Klimaerwärmung durch Auto- und Industrie­abgase – Dürre – Baumsterben – Waldbrände – Versteppung – Absinken des Grundwasserspiegels – Verschiebung der Klimazonen – Regen hier, Dürre dort – verstärkte Sonnenrückstrahlung – Kohlendioxyd durch brennende Wälder – wieder Klimaerwärmung: sinnlose Redundanz der Information. Wie 34 Telegramme desselben Inhalts.

Aber nicht nur unsere Informationen sind redundant und daher wertlos, auch wir Journalisten sind wertlos, das ganze System ist es, denn materiell ist es auf pure Redundanz ausgerichtet. Die Wegwerfgesellschaft. Redundanter Wegwerfprodukte wegen werfen wir sogar die Natur weg, die singuläre Existenzgrundlage allen Lebens – und damit uns selbst.

Vielleicht die Selbstkorrektur eines Irrtumes der Evolution.
Makabre Groteske: Vor Sizilien ist ein Wassertanker aus Albanien in Brand geraten und explodiert!

19. JUNI 2000

Wieder ein Jubiläum: Ab heute soll endlich auch in den Vereinigten Staaten die Produktion von FCKW um die Hälfte zurückgefahren werden. Und der Halone. Seit 70 Jahren ist bekannt, daß uns das Ozon vor dem Verbranntwerden schützt, und seit mindestens 25 Jahren, daß FCKW und Halone die Ozonschicht fressen. Jedes FCKW-Molekül ist 50.000 mal aggressiver als ein Kohlendioxyd-Molekül. Und seit 25 Jahren weiß man auch, vor allem wußten es die Hersteller und die US-Regierung, daß die FCKW 15 bis 20 Jahre brauchen, um in die Stratosphäre zu gelangen, und dort dann abermals 50 bis 90 Jahre aktiv sind.

Ab heute also noch 90 Jahre ununterbrochene Zerstörung des Ozons, unseres Schutzschildes. Eine der Lebensbedingungen dieser Erde. 90 Jahre lang Einübung in den Selbstmord – und in den Mord. Diese Verbrecher, auf die aber kein elektrischer Stuhl wartet.

Das absterbende Phytoplankton in der Antarktis und die erblindenden Pinguine wären demnach eine Folge des vor 20 bis 70 Jahren produzierten FCKW. Und wir können nur zusehen und abwarten. Noch 1989 konnte der Vorstandssprecher von Hoechst mit viel Bedauern, aber ungerührt erklären, man müsse leider die Produktion von 50.000 Tonnen auf 70.000 Tonnen steigern, bis ein Ersatzstoff entwickelt sei. Man könne auf FCKW nicht verzichten. Wegen der strengen EG-Richtlinien werde man entweder exportieren oder im Ausland produzieren.

Aber auf das Leben kann man verzichten. Der Unternehmensbilanzen wegen. Eines sinnlosen Komforts wegen. Diese Verbrecher! Und kein Gesetz, das sie zur Rechenschaft zöge, in die Haftung nähme. Da die Konsequenzen jede Fähigkeit zur Rechenschaft oder Haftung übersteigen, gibt es auch keine Verantwortung. Die normative Ethik versagt ebenso wie die materiale Wertethik.

Jahrmillionen hat die Menschheit ohne Schaumstoffe und Kühlschränke gelebt. Nur ein Beispiel dafür, daß die Rationalität ökonomischer und wissenschaftlicher Verwertung mit der Rationalität des Öko-Systems in Widerspruch steht. Bislang setzte sich die ökonomische »Rationalität« stets durch, wie ein Fluch. Alles, was der Rationalität der Natur widerspricht, ist aber widersinnig.

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Jetzt, in diesem Augenblick, sind 20 Millionen Tonnen Fluorchlorkohlenwasserstoffe und Halone unterwegs in die Stratosphäre. Sie haben die gleiche Wirkung wie eine Billion Tonnen Kohlendioxyd. Der 70fache Jahresausstoß von 1999! Was werden sie übriglassen? Unsere Enkel werden verbrennen und verhungern und uns verfluchen in ohnmächtigem Zorn.

In 20 Jahren bin ich 53 Jahre alt, Tina 47, Andreas 25, Sylvie 23. Unsere Zukunft ist dann vielleicht schon aufgebraucht.
    Aber nur nicht dramatisieren. Haltung bewahren!

22. JUNI 2000

Zurück von Frizzi Doermer. Diese liebenswerte Kollegin. Schade, daß sie in Pension geht. Das Bedauern war allgemein und aufrichtig. Ich mag ihre direkte, ungeschminkte, gleichwohl sensible Art. Sagen, was Sache ist, ohne zu verletzen. Als Theater- und Filmkritikerin war sie gehaßt und geliebt, kreative Ambivalenz. Aber sie hat selten ein Stück wirklich verrissen. Dazu verstand sie zuviel von der Kunst und von der Plackerei, Kunst zu schaffen und zu gestalten. Die Arroganz des Kritikers war ihr immer bewußt, vermutlich, weil sie selber als Schauspielerin angefangen hat.

Was hat Frizzi nicht alles mitgemacht! Die Dramen und Tragödien des abgelaufenen Jahrhunderts erlebt, die Höhen der Kunst und den Tiefpunkt der Kultur. Tina hing ganz gebannt an ihrem Munde, wenn sie erzählte. Sie hat den Zweiten Weltkrieg noch erlebt, am eigenen Leib — Flucht aus Ostpreußen, die langen, grauen Trecks der Hoffnungslosigkeit und der Angst, die Tieffliegerangriffe. Zeitlebens bleibt ihr der Anblick zweier wegen Fahnenflucht gehenkter deutscher Soldaten haften, die steif und stumm an einem Apfelbaum am Eingang eines Dorfes im Wind schaukelten, mit verrenkten Köpfen. Die Siebenjährige hat begriffen, daß die beiden Hingerichteten noch Buben waren, aber die besseren Soldaten.

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Frizzi wird uns fehlen, ihr Ausscheiden ist ein Verlust für die Redaktion. Ihr Ansehen rührt nicht allein von ihrer beruflichen Kompetenz her. Gerade deshalb konnte sie vor allem den Jüngeren glaubwürdig raten, sich nicht so wichtig zu nehmen und auch mal wieder zu einem Buch zu greifen! Ihr Wahlspruch wurde auch der meinige: »Jenseits meines Horizonts ist die Welt erst interessant.«

Sie freue sich auf ihr Pensionärsdasein, behauptet Frizzi, was ich ihr auch glaube. Sie werde ein Buch schreiben und ihre Begegnungen mit großen und kleinen Stars, Schriftstellern, Schauspielern, Sängern, Regisseuren und Dirigenten festhalten. Heinrich Böll hat sie gekannt, Friedrich Dürrenmatt, Thomas Bernhard und sogar noch Ingeborg Bachmann, Bernhard Minetti und Gustav Gründgens, Erika Köth und Maria Callas, Wilhelm Kempf und Claudio Arrau, Rainer Werner Fassbinder, Karl Böhm und Herbert von Karajan. Von jedem weiß sie eine Anekdote zu erzählen. Eine Zeugin des Jahrhunderts, in deren Gegenwart wir Jüngeren uns wie rechte Greenhorns fühlen. Frizzis jugendliches Temperament wird verhindern, daß diese Ahnengalerie einen Kokon um sie zu spinnen beginnt und sie in der Vergangenheit festhält. Ihre Schrullen und Skurrilitäten, so glaube ich zu wissen, pflegt sie bewußt.

So weigert sie sich hartnäckig, ihre Manuskripte in den Computer einzutippen. Sie benutzt nach wie vor die Schreibmaschine, zur Verzweiflung des Technischen Leiters und der Layouter. Der Schreibcomputer stelle eine »Milieureduktion« dar, betont sie unbeirrt, weil er jede Individualität beim Schaffensprozeß zugunsten einer allgemeinen Nivellierung auslösche und die Kreativität beeinträchtige. Das bündig ausgedruckte Blatt Papier sei anonym, man sehe ihm das Ringen um Form und Inhalt nicht mehr an. Nichts mehr darüber oder an den Rand geschrieben, nichts ausgestrichen oder angefügt, keine Korrekturen mehr sichtbar, alles vollkommen steril und sauber. 

Man stelle sich vor, Goethe hätte sein »Über allen Gipfeln ist Ruh'« oder die Marienbader Elegie in den Computer geschrieben; oder Hölderlin seinen »Hyperion«, auf dem Manuskript kaum entzifferbar, ein Chaos, das aber den Schaffensprozeß eines Genies transparent machte. Dieser werde auch noch bei Hemingway-Manuskripten sichtbar, obwohl die bereits auf Schreibmaschine getippt sind. Aber diese Mechanisierung lasse noch ein hohes Maß an Individualisierung zu – der äußerste Kompromiß, zu dem sich meine berühmte Kollegin Frizzi Doermer bereit fand.

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In ihrer Kindheit, gleich nach dem Ende des Weltkrieges, habe es in ihrem oberbayerischen Dorf keine Schreibfedern mehr gegeben. Sie hätten sich daher Federn aus Gänsekielen geschnitten – ganz recht, wie in »Es war einmal ... « Aber die Auseinandersetzung mit dem Material, dem Papier, der Feder, der Tinte, dem Ringen mit der Form und dem Formgefühl in der Hand und im Kopf sei ungemein fruchtbar gewesen, ein individueller, kreativer Prozeß, der heute verschwunden sei. Das Milieu sei reich gewesen, der Computer ebne alles ein und nehme die Individualität aus dem Arbeitsprozeß.

 

23. JUNI 2000

Andreas wird aufmüpfig, die Trotzphase setzt ein. Er protestiert energisch gegen seine Eltern, findet das meiste doof und geht seiner eigenen Wege. Vor allem mich will er nur noch als Kumpel akzeptieren, während Tina – vorerst – noch die Mutter bleibt. Die Rivalität um die Mutter! Er soll sich durchsetzen, wenn wir alles genau besprochen haben. Er will, daß ich mit ihm rede, dann fühlt er sich ernstgenommen.

Aber das Reden fällt schwer, gegenüber einem Kind! Wird er sich mit einer Welt arrangieren, die mir zunehmend fremd wird? Und soll ich ihm dabei helfen? Und wie? Was verdanke ich nicht der Fabulierkunst meines Vaters! Sie hat mich seine Welt übernehmen lassen. Kaum hatten wir uns zu einem Spaziergang aufgemacht, bedrängten ihn mein Bruder und ich: »Papa erzähl!« Und mein Vater legte los, vom Wald und seinen Tieren, dem Uhu, der nachts lautlos über die Wiesen der Glaserhäuser streicht, dem gerissenen Fuchs, der mit den Förstern des Barons und ihren Hunden seinen Schabernack treibt, vom gerissenen Odysseus und dem tapferen »Siegfried, den der finstere Hagen meuchelte, vom »Kampf um Rom« und dem Untergang Pompejis, von Winnetou und dem »Hund von Baskerville«.

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Aber auch von seiner Kindheit, als die silbergrauen Flugzeugschwärme mit langen Kondensstreifen über den Himmel zogen, als sie fast jede Woche von der Schule zum Kriegerdenkmal marschierten, weil wieder ein Vater oder der ältere Bruder eines Schülers gefallen war. Dann die ersten Schwarzen unter den amerikanischen Soldaten, die so furchterregend aussahen und so lieb zu den Kindern waren. Und die Jagd nach den Zigarettenstummeln. Für ein Streichholzschächtelchen voll Amitabak gab es beim Bauern zehn Eier oder ein Pfund Butter.

Unverständlich sei das Verhalten der russischen und polnischen Gefangenen gewesen, die man so grausam behandelt hatte, ehe die Amerikaner kamen. Nach der Befreiung seien viele Dorfbewohner in den Wald geflüchtet, aus Angst vor Rache. Aber die verlausten und verdreckten Russen und Pollacken hätten sich zuerst fein hergerichtet, dann getanzt und gesungen, ehe sie fröhlich zum Bahnhof marschiert, in den Zug gestiegen und abgefahren seien. Lediglich auf dem Gemeindeplatz hätten sie zuvor die drei Fahnenstangen umgesägt, an denen so oft die blutroten Hakenkreuzfahnen gehangen hätten.

Als kleiner Junge wollte mein Vater Bunkerwart werden. Es hatte ihm mächtig imponiert, wie der Bunkerwart – es war der alte Pinter, ich kannte ihn noch – ruhig und scheinbar kaltblütig die zitternden und verängstigten Insassen betreute, sie beruhigte und aufmunterte, vor allem mit den Kindern spielte, während alle auf den Einschlag der Bomben lauschten und beim geringsten Laut zusammenfuhren. Und – seltsam – Andreas will, wie er mir neulich mitteilte, »Sturmwart« werden. Woher er nur diesen Ausdruck hat? Als Sturmwart will er den Menschen helfen, wenn wieder so ein schrecklicher Sturm wütet, damit sie keine Angst haben müßten. Der Junge hat wohl mitbekommen, daß beim letzten Orkan viele Leute in den Keller geflüchtet waren und häufig dort auch eingeschlossen wurden, ehe die Feuerwehr sie befreite.

Aber was sage ich ihm, wenn er mich fragen sollte, woher diese bösen und schrecklichen Stürme kämen, die Häuser zerstören und Menschen töten? Wer schickt sie, wer hat sie gemacht? Wie entstehen sie?

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Wenn ich ihm antworte, wir Menschen haben sie noch schrecklicher gemacht, als sie einst gewesen sind, wird er bestimmt fragen, »warum«? Und dann werde ich die Antwort schuldig bleiben » so wie der Blockwart Pinter damals die Antwort auf die Frage eines kleinen Jungen schuldig blieb, warum uns die Amerikaner bombardieren und töten wollten. Er hat gekniffen.

 

24. JUNI 2000

Es ist, als begänne sich ein Kreis zu schließen: Am Beginn des dritten Jahrtausends empfindet der Mensch wieder ebenso viel Angst wie einst der Frühmensch. Aber statt der feindlichen, unbegriffenen Natur plagt und ängstigt ihn seine selbstgeschaffene Zivilisation. Er begreift sie längst nicht mehr. »Der menschliche Verstand ist nicht dazu geschaffen, ein so komplexes Gebilde wie die Industriegesellschaft zu verstehen«, sagen übereinstimmend Jay Forrester, Friedrich von Hajek und John K. Galbraith. Unser Verhaltensrepertoire sowie die intellektuellen und emotionalen Fähigkeiten, Realität wahrzunehmen, die »angeborenen Lehrmeister« Konrad Lorenz', reichen nur für den Alltag aus. Sie sind bestimmt zur Orientierung in der Umwelt des Frühmenschen. 

Die Evolution hat uns weder sinnlich noch intellektuell für ein Leben in der Industriegesellschaft ausgestattet, weil sie mit der Geschwindigkeit der Kulturentwicklung nicht Schritt halten konnte. Die Kulturrevolution, obwohl ebenfalls ein Produkt der Evolution, übertrifft die biologische um das Milliardenfache an Geschwindigkeit. Wir gestalten eine Welt von morgen mit den geistig-sinnlichen Fähigkeiten von gestern, da hat Rupert Riedl recht. Wir sind Zauberlehrlinge, denen aber kein Meister zu Hilfe kommen wird. In 300.000 oder einer Million Jahren wären wir vielleicht zu dem Wesen geworden, für das wir uns jetzt schon halten — die Krönung der Schöpfung, das Ebenbild Gottes. Aber wir haben die Kräfte der Evolution, was uns betrifft, aufgehoben. Die Natur wirkt nicht mehr auf uns ein, sondern wir auf sie. Statt möglicher Höherentwicklung ein kruder Sozialdarwinismus. Anpassung nicht mehr an die Natur, sondern an die Gesellschaft. Und das Produkt ist nicht der intelligente Typus, sondern der gedanken- und skrupellos starke Erfolgsmensch. Wir gehen an unseren Erfolgen zugrunde.

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Zwar können wir unser Dilemma denken und reflektieren, aber die Sachzwänge, die Interessen, die Macht sind stärker. Daher bewegt das Denken nichts. Nicht einmal die Angst vor uns selbst bewegt etwas.

Eine Lebewesen-Art, die mit der Umwelt in Konflikt gerät, hat zur Ausrottung noch eine Alternative: die Anpassung, die meist zu Höherentwicklung führt. Was mit dem Menschen in Konflikt gerät oder seine Begehrlichkeit weckt, hat keine Chance.
       Franz von Assisi würde sich schämen, ein Mensch zu sein!

 

27. Juni 2000

Der Taifun »Gory« verwüstet die Philippinen. Plötzlicher Wärmeeinbruch im Himalaja, Ost-Bengalen und Bangladesh stehen wieder unter Wasser. Fluten vom Norden durch die Flüsse, Fluten vom Süden durch das Meer. Was nicht erschlagen wird, ersäuft. Wieder diese »Überreaktion« der Naturgewalten. Aber man gewöhnt sich an sie. Abstumpfung als Selbstschutz. Die Spendenaufrufe finden kaum noch Resonanz. Diese Katastrophen werden allmählich Bestandteil des Alltags.

 

4. JULI 2000

Hamburg hat seine Deiche um die Stadt und im Elbvorland in kürzester Frist von 7,20 Meter auf 10,90 Meter erhöht. Ein Rekord an Planung, Organisation und Ausführung. Senat und Bürgerschaft haben sich geweigert, die Stadt aufzugeben. Niemand hätte in der Tat auch eine Vorstellung gehabt, wo und wie fast zwei Millionen Menschen neu anzusiedeln. Die Angst ist der große Antreiber. Experten sind überzeugt, daß die neuen Schutzbauten jeder Sturmflut standhalten werden, jedenfalls nach menschlichem Ermessen. Die Bundesregierung erwägt daher den Wiederaufbau der erst vor einem halben Jahr fast völlig verwüsteten Stadt. Ein »Notopfer Hamburg« wird geplant.

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Ob freilich der Hafen der Hansestadt wieder voll in Betrieb gesetzt werden kann, ist fraglich. Die Kosten wären enorm, viele Unternehmen bereits abgewandert. Das sinkende Schiff. Da die Sachversicherer dem »menschlichen Ermessen« nicht mehr trauen, müssen Bundesregierung und EG mit Bürgschaften für Hamburg einspringen.

Wenn die Sturmfluten oder Überschwemmungen zu einer Dauererscheinung werden sollten, werden noch mehr Versicherungen über die Klinge springen.

 

9. JULI 2000

Urlaub - aber wohin? Wir haben noch keine Pläne. Stapelweise Hochglanzprospekte, traumhafte Fotos, verlockende Angebote. Auf dem Papier überall heile Welt, in Wirklichkeit nur Schein und Retusche. In Wirklichkeit überall kranke, siechende Ökologie, überall riecht es nach Intensivstation. Die Höhen des Bayerischen Waldes, meiner Heimat, sehen aus wie das Fell eines räudigen Hundes, ausgedünnt und immer mehr kahle Stellen. Die herrlichen Tannenwälder, einst wie gotische Dome, verschwunden, mit ihren Farndickichten, Moosflächen und Erdbeeren. Nicht anders der versteppende Schwarzwald, die Bergkuppen kahl wie riesige Mönchstonsuren. Die Sagen und Märchen von bösen und guten Feen, Köhlern und verzauberten Königskindern. Tot. Eine nekrophile Zivilisation setzt sich ihre Denkmäler.

Also Badeurlaub? Ostsee, Nordsee, Mittelmeer? Wir wollen uns nicht den Tod holen. Außerdem ist das Baden fast überall verboten. Die Misere treibt die Leute dorthin, wo das noch möglich ist. Auf den Azoren und Kanaren sind schon alle. Vielleicht noch Morea oder Tahiti im Südpazifik, dort war ich mal. Paradiesisch, aber unsere beiden sind noch zu klein. Neuseeland, Australien, Südafrika? Dort ist Winter, die Tage sind kurz, außerdem soll sich die Hautkrebsrate verzehnfacht haben — wegen des Ozonlochs. Seit vier Jahren regierungsamtliches Verbot, zwischen 12 und 15 Uhr in der Sonne zu liegen.

Eine Hütte in Schweden oder Norwegen mieten, an einem Binnenfjord! Traumhaft. Aber es regnet ja ständig. Regen, Regen.

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Frizzi Doermer hat neulich erzählt, wie sie 1956 als junges Mädchen nach Norwegen kam (wegen Öle, ihrem Freund, den sie bei einem Schüleraustausch kennengelernt hatte) und von der Klarheit des Wassers in den Binnenfjorden beeindruckt war. Sie habe noch in 20 Metern Tiefe jeden Stein erkennen können. Bis ihr Öle sagte, das sei eine Folge des sauren Regens, der aus Mittelengland und dem Ruhrgebiet komme und alle Mikroorganismen abtöte, so daß das Wasser diamantklar werde.

Also hierbleiben. Aber dieser ununterbrochene Regen, diese warme, klamme Nässe. Die Kinder sind ganz quengelig, wollen endlich draußen spielen. Schließlich Tinas gute Idee: Klagenfurt. Dort ist ein Wetterwinkel, wo die Sonne scheint. Also auf nach Klagenfurt.

 

14. JULI 2000

Mit Klagenfurt wird es vorerst nichts. Alles belegt. Außerdem auch dort Regen. Der Urlaub fällt also bis auf weiteres ins Wasser. Vielleicht Anfang August.

Für Aufregung sorgt hingegen die Fichte, die in Nachbar Thönnessens Garten steht. Ein 20-Meter-Pracht­exemplar. Aber der Baum droht umzustürzen beim nächsten Sturm, der ständige Nieselregen hat den Boden aufgeweicht. Sollte der Wind aus Norden kommen, fällt er auf unser Haus und schlägt die Giebelfront durch, womöglich bis ins Kinderzimmer. Thönnessens Antrag beim Friedhofs- und Gartenamt, die Fichte zu fällen, wurde abgelehnt. Erst jetzt werden wir uns der Gefahr voll bewußt. Umquartierung im eigenen Haus. Die Kinder ins Arbeitszimmer, ich schreibe in der Küche.

 

15. JULI 2000

Thönnessen und ich heute morgen auf dem Amt. Den Beamten eindringliche Vorhaltungen gemacht. Es habe schon mehrere solcher Unfälle gegeben. Eine Fichte wurzelt flach, nicht tief. Das Amt, das um jedes gesunde »Stück Großgrün« kämpft, schickte am Nachmittag zwei Gutachter, die unsere Befürchtungen teilten. Der Baum muß weg, die Stadt kann die Verantwortung nicht übernehmen.

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16. JULI 2000

Der Baum ist weg. Der Freund, der uns zu erschlagen drohte. Statt seiner ein großes Loch, das triefende, nasse Wolken füllen.

 

20. JULI 2000

Die Deutsche Ornithologische Gesellschaft teilte mit, daß der Bestand an Raben und vor allem Krähen drastisch zurückgegangen sei. Durch die Stürme der letzten Jahre seien die Nester aus dem Geäst gerissen oder mit den umstürzenden Bäumen zerstört worden, samt Gelegen und Brut. Aufgefallen sei, daß die klugen Vögel in diesem Jahr kaum noch versucht hätten, Nester zu bauen und zu brüten, auch nicht in windgeschützten Lagen. Offenbar eine Art Resignation. Das Lorenz'sche »Wirkungsgefüge der Natur«. Eine Masche hält die andere, das ganze Netz. Trennt man eine auf, löst sich das ganze Netz auf.

 

31. AUGUST 2000

Den Urlaub in vollen Zügen genossen! Wie herrlich kann die Welt sein! Sonne, Wasser, Baden, Segeln, Lesen, Faulenzen. Die Seele baumeln lassen. Mit den Kindern spielen, ihnen Geschichten erzählen. Einfach drauflos leben. Tinas Lachen, wie eine Befreiung. Die Alltagsängste abschütteln, in ein paar glücklichen Stunden baden, sich wieder Albernheiten leisten dürfen: »Der Urlaub nimmt in Klagenfurt rasch alle deine Klagen furt... «

Dieser Urlaub war so wichtig!

Die Heimreise allerdings dann wieder in gedrückter Stimmung. Die Realität hält Versuche, zu entrinnen und zu vergessen, an der kurzen Leine. Hätten wieder den Nachtzug nehmen sollen. Aus dem Zugabteil zeigt sich das verheerende Ausmaß der Erdrutsch-Katastrophe vom Februar und wirkt wie ein Schock.

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Selbst Sylvie und Andreas haben das begriffen; sie waren ganz still, fast melancholisch. Keine Fragen. Das Surreale. Wie mit einem Riesenspachtel sind ganze Berghänge der Tauern blankgeschabt, die engen Täler bis zu hundert Metern aufgefüllt. Villach, Pörtschach! Halb Bad Gastein liegt unter den Geröllmassen begraben. Am Osthang, wo die noblen Hotels thronten, klafft eine riesige Wunde im Berg. Und der Zug fährt ganz langsam auf der notdürftig reparierten Strecke, als sollte uns das grausige Panorama ganz intensiv wie ein Memento mori vor Augen geführt werden. Ein hundertfaches Pompeji in den Alpen. Die makabre Frage, ob sich in ferner Zukunft wieder Archäologen glücklich schätzen werden, hier eine ganze Zivilisationsepoche konserviert vorzufinden? Wird man die Funde ebenfalls in Museen ausstellen, den verzweifelten Todeskampf von Menschen in Gips ausgießen und künftigen Generationen von Besuchern zum Begaffen anbieten?

 

14. SEPTEMBER 2000

Als hätten wir den Spätsommer aus Klagenfurt mitgebracht: Jetzt schon mehrere Wochen ohne Regen, sogar Sonne! Unglaublich! Süddeutschland wird allmählich wieder passierbar, taucht buchstäblich wieder aus dem Wasser auf.

Die jüngsten Schäden werden auf 40 bis 60 Milliarden Mark beziffert. Die Leier ist nun schon bekannt: Die Versicherungs­wirtschaft wäre weg vom Fenster, wenn der Staat nicht eingriffe. Berlin hat bereits Hilfen zugesagt. Der Ernteausfall kann für dieses Jahr wohl noch ohne Lebensmittelrationierung aufgefangen werden, die EU-Läger sind randvoll und die Dumping-Verkäufe in die Dritte Welt längst gestoppt. Das Vieh muß freilich größtenteils geschlachtet werden, es fehlt an Futter. Der Bauernstand in seiner schwersten Existenzkrise. Die traditionellen Strukturen weitgehend vernichtet. Die meisten Klein- und Mittelbetriebe werden trotz EU-Hilfe nicht überleben. Berlin will sie aufkaufen und Produktions­genossen­schaften gründen, ähnlich wie seinerzeit in der DDR.

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Die Vorstellung, das nächste Jahr könnte sich klimatischmeteorologisch in ähnlicher Weise fortsetzen, bereitet Alpträume. Eine Hungerkatastrophe wäre unvermeidlich. Europa würde wieder die Not kennenlernen, nicht nur seine Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger. Schon jetzt explodieren die Preise für Getreide- und Molkereiprodukte. EU und Bundesregierung werden subventionieren müssen, oder sie werden hinweggefegt. Aber was denn subventionieren, das nicht vorhanden ist? Wenn jetzt auch noch die USA zum Importland für Getreide werden... Die Dürre im Mittelwesten scheint chronisch zu sein. Ein Gebiet so groß wie Westeuropa trocknet einfach aus, wird zur Wüste.

Immerhin soll der Dauerregen das Waldsterben verlangsamt haben. Ohne Sonne wird das Schwefeldioxyd nicht so rasch zu Schwefelsäure, die den Boden versauert. Der ph-Wert des Regenwassers liegt wieder deutlich über dem Meßwert 5, also kein Essig mehr. Ein Trost, freilich nur ein kümmerlicher. Dafür wird das Grundwasser verseucht.

Schuldlos an der Katastrophe ist die Bauernschaft nicht, im Gegenteil. Kaum ein Berufsstand hat sich mit solcher Borniertheit gegen die Natur verschworen wie dieser, sehenden Auges und doch blind. Wer, wenn nicht die Bauern, hätte, aus Gründen der Vernunft und des Gefühls, aus generationenlanger Verbundenheit, die Natur verstehen und – schützen – müssen? Romantizismus?

An den Bauern wird das Grundübel der technischen Zivilisation deutlich: Der Wert der Natur, ihrer Geschöpfe und Systeme bemißt sich ausschließlich nach ihrem Tauschwert und dem ökonomischen Nutzen: Nutzland, Nutzholz, Nutzpflanzen, Nutztiere. Warum nicht auch Nutzwasser und Nutzluft? Was keinen Tauschwert hat, ist ohne Wert. Den Nutzmenschen gibt es längst: der Leistungsträger. »Machet euch die Erde zu Nutzen«, der verhängnisvollste Rat, der je gegeben wurde. Totaler Anthropo­zentrismus, das unnütze, lebensunwerte Leben. In der Natur ist jedes Leben gleich nützlich, die Fliege für die Evolution von gleichem Wert wie der Mensch.
    Man kann für Evolution auch Gott sagen.

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Seit meiner frühen Kindheit widert mich der Ausdruck »Fleischproduktion« an. Die unbarmherzige Reduktion des Lebewesens zu Material, die das qualvolle Dahinvegetieren von Schweinen, Kälbern und Hühnern nicht einmal mehr verschleiert, bis sie das Messer des Metzgers erlöst. Franz von Assisi würde nicht gezögert haben, ein Schweinesilo oder eine Nerzfarm mit Auschwitz in eins zu setzen. Der Umgang mit Tieren und die Verhöhnung ihrer artgemäßen Würde spiegelt den Umgang der Menschen untereinander wider. Das Töten und Quälen von Menschen erklärt sich aus dem Töten und Quälen von Tieren. Arthur Schopenhauers Skepsis gegenüber dem Menschen hat auch darin ihre Wurzel. Dieser große Philosoph wies als einer der wenigen auf das Schmerzempfinden der Tiere hin. Mitleid sei unteilbar. »Das bestimmt zugleich den Grad des Gebrauchs, den der Mensch ohne Unrecht von den Kräften der Thiere machen darf«.

Die bedenkenlose »Menschlichkeit« gegenüber der Kreatur führt auf direktem Weg zu der Bestialität gegenüber den Menschen. »Der Mensch«, schreibt Eugen Drewermann, »geht mit sich und seinesgleichen prinzipiell nicht anders um als mit der Natur draußen; auch er selbst ist ein Naturwesen, und eine Ideologie der Herrschaft des Menschen über die Natur ist und wird ipso facto eine Ideologie auch der Herrschaft des Menschen über den Menschen sein.« Die Folge dieser Denkweise: die riesigen Schlachthöfe der Großstädte, die schwimmenden Fischverarbeitungsfabriken, die Massentierhaltung und die ungeheuerliche Zahl der Tierversuche für medizinische, militärische und kosmetische Zwecke. Im letzten Jahr weltweit 740 Millionen Tiere »verbraucht«.

Die unzivilisierten Indianer wußten um diese Zusammenhänge, wenn sie den erlegten »Bruder Bison« um Verzeihung und Verständnis baten. Aber das waren ja auch nur Naturvölker, also Wilde, auf einer Stufe mit dem Tier, die von der christlichen Zivilisation folgerichtig gleich mit ausgerottet wurden. In den Hormonskandalen zeigt sich die Gleichgültigkeit auch vor der Gesundheit des Artgenossen. Die Lebensmittelindustrie vollendet den Zynismus. Kaum ein Nahrungsmittel, das noch bedenkenlos verzehrt werden könnte.

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Menschlichkeit ist ein Synonym für naturwidrige Brutalität. Wir müssen lernen, unmenschlich zu sein, bestialisch. Erst dann wären wir menschlich.

Die Trägheit und Wirkungslosigkeit der Gesetze. Seit sechs Jahren ist der ungesetzliche Import von exotischen Tieren mit härteren Strafen bedroht. Wirkungslos. Seit sieben Jahren will die Bundesregierung dem Drängen der Tierschutzverbände nachgeben und im Bundestag ein Gesetz zur Begrenzung der Haustierhaltung einbringen. Experten sollen Richtlinien für artgemäße Tierhaltung entwickeln. In Deutschland mittlerweile 90 Millionen Haustiere! Wieder das Kurieren am Symptom: Haustiere sind zu unverzichtbaren Gefährten geworden, sie lindern die grassierende, unerträglich gewordene Vereinsamung. Haustiere helfen gegen Langeweile, ein sinnloses Dasein, gegen Selbstmord. Sie sind da, nehmen Zärtlichkeit, erwidern Zärtlichkeit.

Die lebende, fühlende Kreatur in der elektronifizierten Freizeitgesellschaft. Bildschirm und Kommunikationscomputer haben bald die letzten Reste an Begegnungsmöglichkeiten von Menschen mit Menschen wegrationalisiert. Der Bildschirm erspart den Schritt aus dem Haus. Nur bleibt man dabei allein. Ich müßte eigentlich nicht mehr täglich in die Redaktion fahren, meine Arbeit ließe sich ohne Schwierigkeiten zu Hause am Bildschirm erledigen. Grauenhafte Vorstellung.

 

16. SEPTEMBER 2000

Gift in der Muttermilch. Ärzte und Behörden warnen die stillenden Mütter, ihre Babies noch an die Brust zu nehmen! Statt Nahrung, Leben, Wollust und dem ersten Begreifen des Du hält die Mutterbrust jetzt Gift bereit, Krankheit und womöglich den Tod. Schwermetalle und Dioxin. Aber kein Aufschrei der Empörung und des Entsetzens. Das stärkste Symbol für das Leben, das Kind an der Mutterbrust, ist zerstört. Die säugende Mutter wird als Sinnbild des Todes den sensenschwingenden Knochenmann ablösen. Die erste Kunst, die der werdende Mensch zustande brachte, waren Mütter mit prallen, lebensspendenden Brüsten.

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Ohne diese Brüste gäbe es die Menschheit nicht. Jetzt sind sie off limits! Hände weg! Säugen verboten, andernfalls macht sich eine Mutter des Totschlags schuldig.

Andererseits bleibt das Immunsystem ohne Muttermilch schwach. Die Gefahren werden unkalkulierbar. Selbst vergiftete Muttermilch ist lebensnotwendig. Das kleinere Übel.

 

17. SEPTEMBER 2000

Los Angeles muß evakuiert werden! Die anhaltende Dürre und die Wasserverschwendung, eins bedingt das andere, haben das Grundwasser erschöpft. Die Sechs-Millionen-Stadt hat ihre Existenzbasis verloren. Alle Überlegungen, mit noch so großem technischem Aufwand Wasser herbeizuführen, sind von der Regierung verworfen worden: zwecklos. Die Villenbesitzer von Hollywood und Beverly Hills werden es verkraften, aber was geschieht mit den Schwarzen in den Slums?

Die vertanen Chancen von Rio, damals. Damals? Die Vergangenheit ist schrecklich lebendiger als die Gegenwart. Wir leben von der Vergangenheit und ihrer Schuld. Die Vergangenheit ist sogar schon die Zukunft. Sie sucht die Generationen nicht nur heim bis ins dritte und vierte Glied, sondern alle ad infinitum. Der Fluch, den keiner mehr löst.

Die Regierung begreift das nicht, statt dessen vorsorglich 6000 Mann Nationalgarde nach Los Angeles.

 

19. SEPTEMBER 2000

Von Kourou der 10. Umweltsatellit gestartet. Die Ariane-Rakete brachte dieses technische Wunderwerk problemlos in die Umlaufbahn. Der ERS-10 kann ein Holzfeuer oder eine Öllache von fünf Quadratmetern orten, Unterschiede der Wassertemperatur bis auf 0,02 Grad messen und die Höhe der Meereswellen bis auf zwei Millimeter genau. Er kann das Absterben von Bäumen im Frühstadium erkennen, stellt sich abzeichnende Luftdruckgegensätze fest, warnt vor drohenden Orkanen und treibenden Eisbergen. Die Daten-Fülle soll so gewaltig sein, daß sie gar nicht gespeichert werden kann, sondern sofort abgerufen werden muß.

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Datenrausch zur Beruhigung. Denn die Vorgänger dieses Satelliten, allesamt noch um die Erde kreisend und Daten ausspuckend, bringen fast dieselbe Leistung. Was nutzen die Daten, wenn sie nicht in Taten umgesetzt werden? Wir wissen doch alles, jedenfalls das, was gewußt werden muß, um die Umwelt zu erhalten. Jeder Satellit bestätigt nur die Daten des Vorgängers. Pure Redundanz. Was nutzen mir zehn Telegramme desselben Inhalts? Nichts! Was also nutzt der zehnte ERS ...?

 

21. SEPTEMBER 2000

Der Herbst führt sich prächtig ein. Seidigblauer Himmel, die Sonne der Azteken. Die geschundenen Taunuswälder glühen in kräftigen Farben auf wie ein fiebernder Patient, der sich für einen Moment besser fühlt. In den Spinnennetzen glitzert der Tau. Glasperlenspiele. Die Intensität des Verlangens, die Farben, den Himmel, die Sonne einzusaugen, schmerzt fast. Im Unterbewußtsein das Gefühl des unwiederbringlichen Versäumnisses, wenn man es nicht täte. Die Melancholie des Herbstes weckt Sehnsucht und Resignation. Jeder Zweig, der sich im Winde wiegt, ist wie ein Winken. Adieu! Meine Jugend aber will mir sagen, ich hätte noch Zeit, nächstes Jahr würde sich alles wiederholen, denn alle Lust will Ewigkeit. Doch die Zweifel sind da. Eine bereits neurotisierte Sensibilität, die mich zwingt, in die Baumwipfel hinaufzublicken. Auch das Schöne muß sterben. Über die Höhenstraße von Taunusstein nach Wiesbaden röhrt ungehemmt wie eh und je die nicht endende Autoschlange.

Verdammter Kitsch! Laß dich nicht so durchhängen! In Südeuropa beten sie um Regen. Seit vier Jahren fiel kein Tropfen Wasser, über dem Mittelmeer lastet die ägyptische Plage. Hunger. Die immer noch schwelenden Waldbrände äschern nun auch die Höhen des nördlichen Apennin ein. Sizilien, Sardinien, Korsika - längst verkohlte Eilande, unbewohnbar selbst für Bergziegen.

Gestern haben sie bei Catania die 11. Meerwasserentsalzungsanlage in Betrieb genommen. Der berühmte Tropfen auf den heißen Stein, im Wortsinne. Bulgarien und Rumänien verweigern den Bau einer Wasser­leitung, die Donauwasser nach Griechenland bringen soll.

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 Die EU bewilligt zehn Milliarden für neue Entsalzungsanlagen. Auch der Westen der Türkei dörrt allmählich aus, Irak droht den Türken mit Krieg, wenn sie Euphrat und Tigris weiter absperren und auf die anatolischen Felder leiten. Israel kämpft gegen die Offensive der Negev-Wüste und droht Syrien mit Krieg wegen des Jordans. Vermittlungen der UNO bislang gescheitert. Jetzt geht es wirklich um die nackte Existenz. Der wärmer gewordene Atlantik verdunstet zwar zehn Prozent mehr Wasser als noch vor wenigen Jahren, aber die Windrichtung hat sich auch geändert: Die Wolken treiben nach Mittel- und Nordeuropa.

Sonne! Ob Lebensquelle oder Fackel bestimmt nun auch der Mensch. Unser Einfluß ist wahrhaftig planetarisch, nur leider destruktiv.

Und die Meteorologen halten keinen Trost parat. Das mediterrane Klima ist auf dem Rückzug nach Norden, sagen sie, auch wenn es dieses Jahr dort wahrhaftig nicht danach aussah. Damit kann die Vegetation nicht Schritt halten. Wälder »wandern« auf natürliche Weise höchstens um 60 Meter pro Jahr, die um zwei Grad gestiegene Temperatur hat die Klimazone jedoch um 200 km nach Norden verschoben. Da muß der mediterranen Vegetation die Puste ausgehen.

 

24. SEPTEMBER 2000

Für den Fremdenverkehr war dieses Jahr eine Katastrophe. Hier der nicht enden wollende Regen, dort die unaufhörliche Sonne, unerbittlich, gewalttätig, asphaltschmelzend. Die Hotels an der Riviera können die Swimmingpools nur noch mit Meerwasser füllen. Europa wird häßlich.

 

30. SEPTEMBER 2000 

Die Vereinten Nationen drohen Brasilien mit dem Stopp jeglicher wirtschaftlicher Zusammenarbeit, wenn die Vernichtung der Regenwälder nicht sofort wirksam unterbrochen wird. Die bisherigen Maßnahmen seien unzulänglich und halbherzig. 42 Prozent der Amazonas-Wälder seien seit 1960 zerstört worden, unwiederbringlich verschwunden.

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Die grünen Lungen der Erde, die CO2 einatmen und Sauerstoff freisetzen, leiden unter Schwindsucht. Das genetische Reservoir des Planeten – mindestens zwei Millionen Arten, wenn nicht gar 20 Millionen – ist vom Aussterben bedroht. Eine Regeneration würde 12 bis 15 Millionen Jahre dauern. Und die Brandrodungen blasen jährlich zwei Milliarden Tonnen Kohlendioxyd in die Atmosphäre. Die gerodeten Flächen werden nicht nur rasch zur Steppe, sie werfen auch die Sonneneinstrahlung zurück, was wiederum die Atmosphäre aufheizt. Wie im Mittelmeerraum auch.

Die UNO-Resolution Nr. 1416 enthält sogar die versteckte Drohung einer militärischen Intervention der Weltgemeinschaft.

Die Bundesregierung erklärt, daß sie sich besonders getäuscht fühle, weil sie seit dem Umweltgipfel von Rio vor acht Jahren über 600 Millionen Mark für die Erhaltung der Regenwälder zur Verfügung gestellt habe.

Pure Heuchelei, natürlich, und doppelte Moral obendrein, doch es gibt keine Alternative. Ohne Lungen kann man nun einmal nicht atmen, auch wenn man sie als Kettenraucher selber metastasiert hat. Die USA oder wir hier in Europa verdrecken die Umwelt stärker als die Brasilianer, aber die können uns zu nichts zwingen, sie können hier nicht militärisch intervenieren oder ein Handelsembargo verhängen. Also gibt es zum Recht des Stärkeren keine Alternative. Und was kümmert den Holzfäller und den landlosen Minifundisten der Umweltschutz, wenn er nur das besitzt, was er am Leibe trägt, und seine Kinder geschwollene Hungerbäuche haben?

Die angebotene Entschädigung von 15 Milliarden Dollar wird in den üblichen Korruptionskanälen versickern. Denn auch den Haziendeiros und Großgrundbesitzern ist der Umweltschutz egal, wie unseren Industriebossen auch. Die UNO hätte die Regierung in Brasilia zwingen sollen, endlich eine Landwirt­schaftsreform durchzuführen, zugunsten der Landlosen und Hungernden. Die Wurzel des Übels ist die Unersättlichkeit der Reichen. Es sind ja nicht zuletzt die Verzweifelten und Verjagten, die Wälder niederbrennen, nicht die Latifundistas.

Jetzt werden Polizei und Armee jeden niederschießen, der sich ein Stück Land roden will, weil er nicht satt wird, und stets werden sie einen Bettelarmen treffen — und zehn Kinder zu Halbwaisen machen.

Aber warum regt sich niemand über die Kanadier auf, die fast ebenso große Waldflächen abholzen wie die Brasilianer? Und der Raubbau in Thailand, Zaire, Indonesien? Und die Wälder in den Appalachen, in den Rocky Mountains, in Wisconsin? Verschwunden, verbrannt, verhökert.

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