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1. April  2000  

Guha-1993

 

 

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33. Geburtstag. Die geplante Fete kurzerhand abgeblasen. Mir ist nicht nach Feiern zumute. Milde Rüge von Tina. Wir sollten uns bemühen, das Draußen nicht in unsere Privatsphäre einbrechen zu lassen. Sie meint es gut, aber wie soll das gehen? Wie könnte man die beiden Lebenswelten trennen? Vielen mag es gelingen, mir nicht. 

Das »System« hat es zuwege gebracht, die Menschen auf ihre Privatsphäre zu verweisen und ihnen einzureden, hier seien sie ihr eigener Souverän, hier seien sie frei und autonom. Dadurch hat sich das System selber entpolitisiert. Es hat den einzelnen abgehalten, an der Politik, an der öffentlichen Sphäre teilzuhaben, wo die wirklich existentiellen Entscheidungen fallen.

Andererseits — ich nehme an der öffentlichen Sphäre stärker teil als der Normalbürger. Und was bewirke ich? Nichts, im Gegenteil: ich kultiviere nur meine Ohnmachtsgefühle etwas bewußter.

Warum fühle ich mich mit 33 schon so alt, so zukunftsverbraucht? Vermutlich, weil ich seit meiner Kindheit Angst habe. Das Eingeständnis fällt schwer. Ich verdanke es Tina, daß ich mit mir selber über meine eigenen Ängste reden kann. Hier ist Wieder­holung Fortschritt zur Selbstbefreiung. Die Ängste niederzuhalten deformiert, macht mich krank und erfordert alle psychische Kraft.

Erst Angst vor den alten Sowjets, dann Angst vor der Atombombe, jetzt Angst vor der ausbrechenden Natur. Klimakatastrophe, Ozonloch, Bevölkerungsexplosion, Gott weiß was. Angst vor der Zukunft, Angst vor den Menschen. Die Vergiftung des Alltags. Angst tötet die Fähigkeit zur Freude. Und dabei geht es schon nicht einmal in erster Linie um meine Zukunft, die mir bereits reichlich passe erscheint. 

Meine Kinder! Werden auch sie einer Generation der Angst angehören? Oder werden sie mit der Angst fröhlich leben lernen? Was könnte ich tun? Wie könnte ich sie schützen? Verstärke ich ihre Ängste, wenn ich ihnen meine mitteile? 

Ich war sechs oder sieben, als ich mir meiner Ängste bewußt wurde. Meine Eltern haben nichts gemerkt. Erwachsene merken nicht, wenn Kinder Angst haben. Kinder sollen ja Angst haben vor der Autorität. Angst macht gefügig, befähigt zur Übernahme des Erbes. Jede Generation verdrängt ihre Ängste auf Kosten der Kinder und weckt sie dadurch bei diesen aufs neue. Die soziale Vererbung des Pathologischen als Bedingung für Tradition.

Die Dakota-Indianer und die anderen »Naturvölker« – wie richtig dieser einst denunziatorische Begriff doch geworden ist! – kannten den Zusammenhang von Angst, Tradition und Reproduktion des Pathologischen nicht. Die heute Zehn- und Dreizehnjährigen der Industriekultur wissen, daß wir ihre Zukunft bereits verplempert haben. Ich ahnte es vor 20 Jahren auch. Aber Kinder können sich nicht wehren. Und wenn sie erwachsen sind, haben sie die Lektionen verinnerlicht. – Ein Teufelskreis der Generationen und der Tradition.

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11. APRIL 2000

Kaum im Amt, muß auch der neue Schweizer Bundesrat zurücktreten – wegen des Pkw-Verbots an Wochenenden. Freie Fahrt für freie Bürger, der Borniertheit ist kein Maß gesetzt. Die österreichische Regierung muß das geahnt haben: Sie hat vor 14 Tagen einen ähnlichen Erlaß nach Massen­demonstrationen zurückgezogen. Die EU, die Automobilindustrie und die Automobilklubs sind stärker. Und das Volk, dieser Souverän.

Der Gipfel an snobistischer »Kultur«: nicht auf den Abgrund zugehen, sondern auf ihn zufahren, airconditioned.

Die Mineralölindustrie hat bislang »mit Erfolg« den Wasserstoffantrieb boykottiert. Vor genau zehn Jahren wurde die Katalysator-Pflicht für Lkw gefordert. Nichts. Aber der Lkw-Verkehr seitdem verdoppelt. Nietzsches Amor fati oder Freuds Todestrieb haben so gar nichts Dramatisches an sich. Keine heroische Verblendung, sondern zähe Banalität.

 

14. APRIL 2000

Die Olympischen Sommerspiele wurden abgesagt. Die Jugend der Welt hat nichts mehr zu lachen.

 

16. APRIL 2000

Der Himmel – buchstäblich – hatte wenigstens ein Einsehen: Wir sind halbwegs passabel durch die Schneeschmelze gekommen. Vor 20Jahren hätte man zwar von einer Jahrhundertüberschwemmung gesprochen, aber man gewöhnt sich an die veränderten Realitäten und Relationen. Das ist es ja eben: der berühmte Paradigmenwechsel. Die Hochwasserstände vom Januar wurden nicht erreicht. Endlich einmal keine Rekordmarge, und alles ist in Ordnung. Gleich mindert sich die Angst.

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23. April 2000

Die Bundesregierung rechnet für dieses Jahr wegen der – wie es aus Berlin heißt – »widrigen Umwelt­einflüsse« mit einem Rückgang des Bruttosozialproduktes um ein Prozent. Der Nachtragshaushalt muß entsprechend korrigiert werden. 80 Milliarden Mark zusätzlich für die Beseitigung der bisherigen Schäden (Hamburg!, Alpenregion!) und für Vorsorgemaßnahmen. Der Etat des Umweltministeriums sei jetzt der zweitgrößte Einzelposten, versicherte der Regierungssprecher, das sei ein Grund zur Befriedigung. Man könnte auch sagen, die Reparaturkosten für jahrzehntelange Untätigkeit werden immer höher. Wobei die Hauptverursacher am wenigsten zur Kasse gebeten werden. Das Transportgewerbe, die Chemie, die Elektrizitätswirtschaft kommen wie alle anderen »Schädlinge« ungeschoren davon. 

Auch diese Schäden werden privatisiert. Die Versicherungswirtschaft sieht sich außerstande, für die Schäden noch aufzukommen, trotz drastisch gestiegener Prämien. Die Frankfurter Rück ist bankrott, die München-Stuttgarter dürfte demnächst folgen. Deren Rücklagen sind bereits aufgelöst – größtenteils Investitionen in die Ölindustrie und Energiewirtschaft, den Hauptproduzenten von Kohlendioxyd, als dessen Folge man jetzt das Handtuch werfen muß. Das Drama hat auch viele komische Szenen ...

Die technischen und vor allem personellen Möglichkeiten werden bereits von der Schadensbeseitigung fast vollständig erschöpft. Größtes Problem nach wie vor Hamburg und die Alpentäler (Berchtesgaden, Garmisch, Reit im Winkel, Oberstdorf). Dort sind die Aufräumarbeiten noch längst nicht abgeschlossen. Und schon braut sich ein neues Desaster zusammen: Die rasch anschwellenden Stauseen – bei Innsbruck hat sich einer von 32 km Länge gebildet – sind eine tödliche Bedrohung für das gesamte Alpenvorland. Fast ununterbrochene Bombardierung der sich immer wieder neu bildenden Dämme aus Geröll und Schlamm, Steinen und Bäumen. Auf Dauer ein hoffnungsloses Unterfangen. Es werden wohl noch einmal Hunderttausende evakuiert werden müssen! Aber wohin mit diesen Menschen? Es wird eng in Europa.

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So makaber es sein mag: Im Augenblick beschäftigt mich der Plan der Bundesregierung stärker, unser Haus demnächst umrüsten zu müssen. Schrägdach und Ziegel haben ausgedient, sie halten den Orkanen nicht mehr stand. Desgleichen sollen alle Fenster von Süd bis Nord mit sturmfesten Läden gesichert werden.
      Das Europaparlament beschließt, Ökologie endlich als Schulfach einzuführen.

 

2. MAI 2000

Umweltschutz beherrschendes Thema am Tag der Arbeit. »Sichere Umwelt - Sichere Zukunft«. Nicht sehr originell, aber wenigstens wahr. Mit ihren Vorwürfen gegen Regierung und Industrie sind die Gewerkschaften etwas zu schnell bei der Hand. Gewiß: »schwerste Versäumnisse und fahrlässiges Verhalten«, Verantwortungslosigkeit, »Profitdenken und Gewinnmaximierung um jeden Preis«, Sackgasse, Ende der Fahnenstange. Gewiß: Wir alle sitzen in einem Boot, auch Unternehmer und Spekulanten müßten dies jetzt einsehen. Das vielbeschworene Raumschiff Erde. Eine ebenso alte wie bislang folgenlose Metapher. Aber wie oft haben die Gewerkschaften das Totschlagargument »Arbeitsplätze« hervorgeholt, wenn es — in welchem Zusammenhang auch immer — um ein wenig Umweltschutz ging. Stillegung veralteter Kohlekraftwerke? Arbeitsplätze. Sondersteuer für Pkw? Arbeitsplätze. Ausstieg aus der Kernenergie? Arbeitsplätze. Einschränkung des Lkw-Verkehrs? Arbeitsplätze. Härtere Auflagen für die Chemie-Industrie? Arbeitsplätze. Kontrolle der Gentechnologie? Arbeitsplätze. Das Niveau der gewerkschaftlichen Einsichtsfähigkeit überstieg das Normalmaß keineswegs, war also unzureichend.

Immerhin Verzicht auf Lohn- und Gehaltsforderungen zugunsten des Umweltschutzes. Heraufsetzung der wöchentlichen Arbeitszeit auf wieder 40 Stunden! Diese Opfer können sich sehen lassen. Und die Wirtschaft wird mitziehen müssen, sonst werden wieder die Kleinen die Zeche bezahlen. Der Solidarpakt, vorerst noch ein Doppelfremdwort.

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14. MAI 2000

Der Antrag der Grünen im Europaparlament auf ein generelles Pkw-Verbot an Sonn- und Feiertagen sowie im Urlaub gescheitert, das Schicksal der Schweizer Regierung schreckt ab. Die Vorstellung, der Automobilindustrie das Totenglöckchen zu läuten, damit die Umwelt überlebe, ist in dieser Form offenbar noch immer nicht leistbar. Immerhin aber Bereitschaft für einige Maßnahmen, die in die richtige Richtung weisen: Der Benzinpreis wird europaweit trotz der zu erwartenden Proteste auf drei Mark heraufgesetzt, Autos ohne Katalysator endgültig verboten. Ab 2005 soll Fahrerlaubnis nur für jeden zweiten Tag bestehen, wechselnd nach geraden und ungeraden Nummern der Kennzeichen. Massive Subvention für die Wasserstofftechnik. Ab 2007 soll Wasserstoff zur Verfügung stehen und das Benzin ersetzen.

Noch ist freilich die Rechnung ohne die Lobby gemacht, die Automobilindustrie, Mineralölwirtschaft, Automobilklubs und - die Fahrer selbst, die Masse der freien Bürger. Diese Lobby war noch immer stärker als jede Regierung. Mobil in die Zukunft, egal, was diese bringt. Hätten Freiheit und Gerechtigkeit je in der Geschichte nur solche Fürsprecher und Vorkämpfer gehabt wie das Auto!

 

3. JUNI

Auf die karibischen Inseln rast ein Tornado von nie dagewesener Gewalt zu. Die Meteorologen rätseln, wie er sich so plötzlich, fast über Nacht, über dem Atlantik gebildet haben kann. Die Springfluten erzeugen Wellen von 18 Meter Höhe! 54 Frachter und sieben Tanker in Seenot. Der atmosphärische Druck im Innern dieses Superorkans ist auf fast 800 Millibar gefallen, die Fachleute glaubten zunächst an fehlerhafte Meßgeräte. »Sonnyboy« erreicht Geschwindigkeiten von 300 km/Std. Man hat sie bisher auf der Erde für unmöglich gehalten. Allerdings hat sich der Atlantik auf die Rekordtemperatur von 26,5 Grad erwärmt. Neuer Rekord seit 40 Millionen Jahren! Und das warme Wasser reicht tief hinab, so daß der Orkan nicht abgekühlt und daher auch nicht abgebremst wird, sondern seine vernichtende Dynamik selbst erzeugt.

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Gnade Gott dem Fleckchen Erde, auf das er trifft! Zu befürchten ist, daß es Kuba und Florida sein werden. Dort bereits Massenflucht und Evakuierungsmaßnahmen. Ausrufung des akuten Notstandes. Wieder so ein Spektakel, das diejenigen fasziniert, die selbst nicht betroffen sind. Die Nahaufnahmen aus dem Satelliten zeigen einen wirbelnden Höllenschlund.

Das sich abzeichnende Drama in der Karibik drückt auf unsere Stimmung. Kuba, vor drei Jahren. Die fröhlichen Kinder, die nicht um Geld, sondern um Kugelschreiber bettelten! Die Altstadt Havannas, verfallend, bald ein Trümmerhaufen, das schönste und größte Kleinod spanischer Baukunst in Lateinamerika. Die UNO gibt kein Geld – aus Angst vor den Amerikanern.

War ziemlich barsch heute abend, scheuchte Andreas und seinen Freund, der neuerdings partout immer bei uns schlafen will, ins Bett. Mit Tina anschließend einen langen Spaziergang gemacht, hinauf zum Jagdhaus Platte. Die Erregung und das Gefühl der Niedergeschlagenheit begannen allmählich nachzulassen. Die sinkende, purpurn aufgeplusterte Sonne hatte bereits Mühe, die schwarzen Schatten im Wald aufzuhalten, obwohl sie mit langen, glitzernden Lichtstangen in das Dunkel stocherte. Am Wegrand hatten sich die ersten Fingerhüte aufgerichtet. Einen Monat lang werden sie ihre samtig-roten Glocken abläuten. Tinas Bewegungen im Gleichmaß mit den meinen. Der Abendwind spielte in ihrem Haar, strich es ihr aus der Stirn. Zuweilen blieb sie stehen und lauschte, den Kopf schräg gesenkt und mich am Arm zurückhaltend, dem Flötensolo einer Amsel. Auch die Wildlauben waren noch unterwegs. Auf der Lichtung im Rabengrund äsende Rehe. Abwechselnd hob eines ruckartig den Kopf, die Lauscher starr gegen uns hin ausgerichtet. Das Rudel hatte uns gewiß bemerkt, aber in diesem Abendfrieden störten wir nicht. In den Büschen lärmte noch viel gefiedertes Volk, dennoch Stille, die aufkommende Kühle wie ein langer, tiefer Atemzug.

Auf der Bank vor der Ruine des Jagdschlosses, Tina dicht an mich geschmiegt, mit beiden Händen mich umfassend.

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Aus ihrem warmen Körper strömte Ruhe in den meinen. Transfusion von Glücksgefühl. Die Lichterketten der Stadt in dem schwarzen Tal begannen zu blinken, der Wald schon eine dunkle, gezackte Mauer. Die Räume lösten sich langsam auf und zerflossen mit der herabsinkenden Nacht. Dick und schwer kullerte ein roter Mond über den schwarzen Horizont im Osten und rüstete sich für den mühsamen Aufstieg in das glitzernde Gewimmel der Sterne. In dem Gemäuer der Ruine waren die Fledermäuse erwacht und schwirrten lautlos um die kraftstrotzenden Eichen, die noch die Restwärme des Tages hielten, Mücken und Falter anlockend. Ganz in der Nähe begann der Kauz zu lachen, ihm antwortete der klagende Schrei des Ziegenmelkers. »Es war, als hätt der Himmel die Erde still geküßt, daß sie im Blütenschimmer, von ihm nur träumen müßt ... Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus, flog durch die stillen Lande, als flöge sie nach Haus.« Eichendorff. Das gibt es also noch. Und immer Tinas Gegenwart, warm, haltend, atmend.

Als wir dann endlich durch die Schwärze des Waldes hinabstolperten, einander fest an der Hand haltend, konnte uns der Mond bereits sein Licht leihen. Auch der Bach hatte sich wieder zu uns gesellt und begleitete uns mit seinem unentwegten Selbstgespräch bis zu den ersten Häusern.

 

5. JUNI 2000, mittags

»Die Hölle bricht über die Karibik herein« – »Der Himmel stürzt über der Karibik zusammen« – »Entfesselte Naturgewalten versenken Inseln« – Sprachlosigkeit der heutigen Schlagzeilen. Die Worte und die Sprache, an den Vorgängen der Natur entwickelt, beginnen zu versagen, veralten. Mit verstörtem Erstaunen wird die Welt Zeuge von der kosmischen Wucht dieses Orkans. Nirgendwo in der Geschichte etwas Vergleichbares an vernichtender Totalität. Santiago de Cuba und Nassau auf den Bahamas existieren nicht länger, kleinere Ortschaften gibt es nicht mehr. Das Verstörende an dieser Nachricht ist dabei nicht, daß diese Städte vernichtet wurden – wie oft sind Städte vernichtet worden –, sondern daß sie nicht mehr auffindbar sind. Buchstäblich ausradiert, als wären sie nie gewesen.

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Im Zentrum des Hurricans wurde das Erdreich auf zwei Meter Dicke fortgewirbelt, bis auf den nackten Fels. Auch größere Inseln sind verschwunden, die Jumentos Cays und die Berry Islands wird man künftig vergeblich auf den Landkarten suchen. Die große Bahama-Insel wie mit einem Messer geteilt, eine zwei Kilometer breite Schneise. Der blanke Fels. Wo »Sonnyboy« nicht selbst zuschlug, ertränkte er alles mit der Springflut, die er wie einen riesigen Teppich hinter sich herzog. Die Südspitze Floridas größtenteils ins Meer gerissen, in Tampa sieht es aus, als wären mehrere Atombomben explodiert. Wolkenkratzer wie Kartenhäuschen umgeknickt. Sogar New Orleans noch schwer verwüstet. Einige hunderttausend Tote und Vermißte.

Wieder dieser Schock, den das Unvermeidliche und Unabwendbare auslöst. Diese Unerbittlichkeit lahmt. Auch der eigene Tod ist unerbittlich und unabwendbar, aber man hat ein Leben lang Zeit, sich mit ihm zu arrangieren. Er gehört zum Leben selbst. Bisher waren die Vorgänge in der Natur trotz extremer Schwankungen berechenbar. Die »alte« Natur mit allen ihren »Launen« war zuverlässig, dem Menschen seit Anbeginn seiner Existenz vertraut. Ein kalkulierbares Risiko. Die »neue« dagegen ist unberechenbar geworden. Sie ist eine Gefahr.

Diese Hypertrophie an Gewalt indessen ist erniedrigend. Der Abschied von der Vorstellung unserer Omnipotenz gegenüber einer gütigen, allnährenden »Mutter Natur«, die sich alles gefallen läßt, fällt schwer. Wenn sich eine Mutter zur Furie wandelt, löst das ein Trauma aus. Aber dieses Bild droht falsch zu werden. Dieser Superorkan ist keine Naturgewalt, er ist ein Produkt unseres Daseins, ursächlich-unabwendbare Folge der Zivilisation, die den Planeten in ein Treibhaus – und Tollhaus – verwandelt hat. »Mutter Natur«, wie wir sie bislang kannten, existiert nicht mehr, sie ist tot, umgebracht worden. Wir sind mit uns selbst konfrontiert.

 

5. JUNI 2000, abends

Professor Stenton von Harvard hält es für möglich, daß im Ostpazifik und Ostatlantik Dauerstürme toben könnten, wenn sich die Erderwärmung weiter beschleunigen und bei vier Grad einpendeln sollte.

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Die tropischen Gewässer würden sich bis weit in südliche und nördliche Meeresgebiete um zwei Grad erwärmen und Spitzentemperaturen von 29 Grad erreichen. Das wären »ideale« Voraussetzungen für Orkane. Stenton erinnerte an die Dauerstürme auf der Venus, auch wenn diese ganz andere Ursachen hätten.

Stenton ist ein seriöser Wissenschaftler, man kann ihn keinesfalls zu den Regimentern von Untergangspropheten zählen, die im Gefolge von Katastrophen aufzutreten pflegen. Windgeschwindigkeiten von über 400 km/Std. galten immerhin bislang auf diesem Planeten als ausgeschlossen.

 

8. JUNI 2000

Jähes Aufwachen in den USA! Es bedurfte dieses Schocks, um endgültig den Ernst der Lage deutlich zu machen. Jetzt fordert die Bevölkerung von seiner Plutokratie rasches Handeln. Die Medien sind plötzlich außer sich und entdecken mit der ihnen eigenen Selbstgerechtigkeit schwere Versäumnisse in den letzten 30 Jahren. Welche originelle Erkenntnis!

Die fahrlässige, zynische Torpedierung der Konferenzen von Rio oder Wien, von den amerikanischen Medien mit einem bedauernden Achselzucken begleitet und ad acta gelegt. Nun soll die Entwicklung rückgängig gemacht werden. Weithin erschallen die Rufe nach Reparatur, Ausdruck des technischen Zeitalters; alles ist doch reparierbar, sanierbar, also verfügbar. Das seit Descartes und Bacon bestehende Mißverständnis ist aber, daß die Natur keine Maschine ist, sondern ein hochkomplexes System aus Materiellem und Lebendigem, dessen Kreisläufe und Zusammenhänge wir noch längst nicht begreifen. Auch in den USA nicht. Das Fatale des Industriezeitalters: Fakten zu schaffen, ohne die Zusammenhänge und damit die Folgen zu kennen.

Der US-Präsident ist jetzt zu einer verbindlichen Begrenzung des Kohlendioxyd-Ausstoßes bereit. Der nächste Umweltgipfel in Dakka solle und müsse, anders als Rio und Berlin oder Wien, ein Erfolg werden. Die Vereinigten Staaten bekannten sich zu den Versäumnissen der Bush- und Clinton-Administration.

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Leidenschaftlicher Aufruf Bewies zum Energiesparen! Zwei Prozent der Weltbevölkerung verbrauchen ein Viertel der Energie. Ihr Verbrauch soll auf europäisches Niveau gesenkt werden. Na prima, das wäre eine knappe Halbierung! Aber das unsere ist schon viel zu hoch und müßte geviertelt werden. Mindestens! 40mal höher als in China. Und die 1,4 Milliarden Chinesen wollen europäisches Niveau erreichen. Ihr gutes Recht! Aber auch die Inder, die Lateinamerikaner. Das ständige Gerede über Umweltschutz und die von ihm bewirkten Regierungs- oder EU-Beschlüsse

allesamt faule Kompromisse, Augenauswischerei! – haben Europa der Welt zu einem Vorbild für Umweltschutz werden lassen. Eine fatale Täuschung. Mit der Natur kann man keine Kompromisse schließen. Die ist kein Handelspartner.

In China wird das achte Automobilwerk gebaut. Wenn die Chinesen unseren Motorisierungsgrad erreichen, wird sich der Pkw-Bestand weltweit verdoppeln. Und der amerikanische Präsident will im Kongress eine Gesetzesvorlage einbringen, den maximalen Benzinverbrauch von US-Autos auf zehn Liter zu begrenzen. Vier Billionen Dollar haben die USA in den letzten 20 Jahren für Rüstung und Militär ausgegeben. Reichlich viel für den Luxus, militärische Triumphe wie vor neun Jahren am Golf zu feiern und alte Traumata zu kurieren. Und sie rüsten weiter, obwohl sie niemand bedroht. Das SDI-Programm, Abwehr psychotischer Bedrohtheitsängste – oder Raffinesse der Rüstungslobby. 

Im Vergleich zu den Vereinigten Staaten sind alle anderen Staaten, selbst die EU insgesamt, militärische Zwerge. Eine unbegreifliche, aber traditionsreiche Blindheit liegt auf der politischen Führung, der Geldaristokratie, obwohl sie das Land zugrunde rüstet. Die Slums, die verfallenden Städte, die Armut, der Haß, die Gewalt, die Revolten der Betrogenen. Die unbegrenzten Möglichkeiten, die diesem Staat noch drohen. Die Energieverschwendung belastet die Wirtschaft und den Export der USA allein gegenüber Japan wie eine Steuererhöhung von 270 Milliarden Dollar.

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Ein Zehntel der Rüstungssumme für die Vernunft, 400 Milliarden, und das Schlimmste hätte weltweit verhindert werden können. Die Vereinigten Staaten von Amerika wären zum moralischen Führer der Weltgemeinschaft geworden, der sie immer sein wollten, aber trotz des pathetischen Phrasengeschwulstes ihrer Regierenden nie geworden sind.

Es fehlt an einer globalen Politik, nur dann wäre lokales Handeln wirksam. Die Natur ist ja auch global. Die Kohlekraftwerke in Ostsibirien, die Autos in Detroit oder New York vergiften die Luft auch in Frankfurt und erwärmen die Karibische See. Die Politik der kleinen Schritte, der relative Erfolg der Politik – mit dieser Weisheit ist es vorbei, sie verschlimmert nur die Lage. Aber ist globale Verantwortung dem Menschen möglich? Die Ethik ist ihren Prinzipien nach global. Auch das Wirtschafts- und Finanzsystem ist global, aber nur strukturell, funktional ist es Partikularinteressen verhaftet.

PS: Ist die Ethik wirklich global? Hans Jonas würde das bestreiten: Sie ist nur global, sofern sie sich auf das Verhalten des Menschen gegenüber seinesgleichen bezieht. Im übrigen ist sie anthropozentrisch, blendet also alle anderen Lebewesen und die Natur als Existenzgrundlage für alles Seiende aus. Insofern ist sie partikular und bar jeden Verständnisses für die Natur. Damit aber fehlt ihr in letzter Konsequenz auch das Verständnis für den Menschen.

 

10. JUNI 2000

Heute vor acht Jahren die Verabschiedung der Weltklima-Konvention von Rio de Janeiro, gedacht als globale Demonstration der Hoffnung und der Vernunft unserer Zivilisation, als Magna Charta für das Recht der künftigen Generationen auf einen unbeschädigten Globus. Das Ergebnis war deprimierend: ein kümmer­licher Kompromiß. Kompromiß mit wem? Kompromiß unter den Betroffenen der einen Vertrags­seite, aber kein Kompromiß mit dem Vertragspartner Natur. Mit dem lassen sich keine Kompromisse schließen, der kennt – innerhalb einer beachtlichen Toleranzgrenze – nur ein Entweder-Oder. Der »Kompromiß«: den Anstieg der Luftverschmutzung »durch gemeinsame Anstrengungen begrenzen«. Worthülsen, aber nichts Verbindliches. Die Luftverschmutzung blieb ungebremst.

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Weigerung Japans und des damaligen US-Präsidenten Bush, Grenzwerte festlegen zu lassen. Klage über »ökologische Eiferer«. Wahlkampf damals in den USA, Arbeitsplätze, wirtschaftliche Talfahrt, Ausschreitungen in den Großstädten. Los Angeles, Bush in Bedrängnis. Das Hemd war ihm näher als der Rock, aber das Hemd wird ein Nessusgewand sein. Eine belanglose, intellektuell beschränkte Figur bestimmte das Schicksal des Planeten mit.

Deutschland und die EU wollten den CO2 Ausstoß auf das Ausmaß von 1990 fixieren, das Äußerste, was der kollektiven Vernunft damals möglich war. 1990 wurden 7,4 Milliarden Tonnen CO2 in die Atmosphäre geblasen, in diesem Jahr werden es 14 Milliarden sein. »Schrittweise Verringerung«.

Einige Regierungen und Minister und Industriebosse heuchelten dann in Berlin Enttäuschung über die Amerikaner, verspürten aber klammheimliche Freude. Die beste Legitimation gegenüber den »ökologischen Eiferern«. Von Rio und Berlin hat sich das Umweltbewußtsein nicht wieder erholt.

Nicht einmal eine Artenschutzkonvention kam zustande. Das Ausrotten durfte weitergehen. Eine nekrophile Raubzivilisation demonstrierte, daß Vernunft bestenfalls eine individuelle Fähigkeit ist, aber niemals eine kollektive. Sie nimmt ab mit der steigenden Zahl der Individuen. Auf der Ebene der Menschheit tendiert sie gegen Null. Dabei hat »Sonnyboy« allein in den USA Schäden von 80 Milliarden Dollar verursacht. Die Rechnung ist also nicht aufgegangen. Sie wird immer teuerer und höher – für die kommenden Generationen. Wahrscheinlich schon unbezahlbar.

Es hat zu viele Bushs und Clintons gegeben. Angesichts der Borniertheit der »Führungsmacht« hatte der Umweltschutz keine Chance. Clintons Vize Al Gore spielte das Feigenblatt, berief sich unentwegt auf sein Buch und verschlimmerte die Misere, weil er sich und alle anderen hinters Licht führte.

Jetzt versucht es also Christopher Bowie. Immerhin bekannte er sarkastisch seine Überraschung, als er nach dem »Sonnyboy«-Furor von der Existenz einer »Dekade zur Verhinderung von Katastrophen« hörte.

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12. JUNI 2000

Bittere Kuriosität: In Indien zeichnet sich ein Frauenmangel ab. Amniozynthese und Genomanalyse haben zu massenhaften Abtreibungen weiblicher Föten geführt, vor allem beim Mittelstand und der Oberschicht. Auf 100 Knaben letztes Jahr nur noch 52 Mädchen. Woher künftig Frauen nehmen? Sie rauben wie einst der Steinzeitmensch? Die Unterschichten werden freilich von diesem »Engpaß« profitieren. Bereits zahllose Heiratsverträge, Optionen auf eine künftige Frau. Selbst bettelarme Paria-Väter werden ihre Töchter los, ohne für Mitgift sorgen zu müssen. Der jahrhundertealte Trend kehrt sich um: die Töchter werden teuer. Mit ihnen ist jetzt auch in Indien ein Geschäft zu machen. Die Ware wird knapp, es steigen daher auch Preis und Prestige.

 

17. JUNI 2000

Zurück aus Oslo. Der Kongress war ideenreich, zwingende Analysen, klare Aussagen, hohes moralisches Niveau. »Mensch und Natur im 21. Jahrhundert. Ausblick auf die technische Zivilisation von morgen«. Der Ernst der Lage scheint begriffen zu sein, was noch nicht viel besagen will. Allmähliches Heraustreten aus dem düsteren Schatten von Rio und Berlin. Neuanfang, neue Ansätze, zweiter Start? Freilich, die Natur hat uns auf die Sprünge geholfen: Die 2400 Wissenschaftler und ebenso viele Journalisten standen noch unter dem Schock der jüngsten Katastrophen. Allenthalben tiefe Ratlosigkeit, daß sie trotz neuester Computermodelle und Berechnungen nicht in diesem Ausmaß vorhergesagt werden konnten. 

Die Rückkoppelungsprozesse innerhalb des Naturgeschehens werden offenbar in ihren sich selbst verstärkenden Wirkungen immer noch nicht völlig verstanden, lassen sich daher auch nicht vollständig simulieren. Wir wissen, daß wir nichts wissen. Die Unkenntnis der Natur, zumindest eine falsche Vorstellung von ihr, hat diese Zivilisation erst ermöglicht. Die fatale Unschuld der Ignoranz, die freilich nicht vor Strafe schützt. Hätte man vor 200 Jahren die Zusammenhänge der Natursysteme gekannt, wäre dieses Industriesystem nicht entstanden.

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Erschreckend aber bereits das, was als Fakt feststeht. Professor Björn Bjerkes Hinweis, sie hätten in den antarktischen Gewässern ultraviolett verätztes, absterbendes Phytoplankton entdeckt, aber auch augenkranke Pinguine und See-Elefanten. Die Ozonschicht dort unten sei zeitweise bis auf 60 Dobson-Units abgebaut — normal wären 300! Die Situation sei alarmierend. Das UV-Licht werde kaum noch absorbiert und verätze das Eiweiß der Zellen. Mit der Zerstörung des Planktons wäre die erste Masche des Öko-Systems aufgetrennt. Reiße das erste Glied der Nahrungskette, sei die Laufmasche nicht mehr aufzuhalten. Als nächstes verschwände wohl der Krill, dann die Fische und Meeressäuger, schließlich die Vögel und die Landsäuger — sofern sie nicht vorher erblindeten und eingingen. Pinguine und Seekühe trügen bekanntlich keine Schutzbrillen. Und am Ende der Nahrungskette — der Mensch. Wir, ich!

Wenn die gegenwärtige antarktische Nacht vorüber sei und die bisherigen Ereignisse sich bestätigen sollten, werde man die Alarmglocke läuten, schwört Bjerke. Fast ehrfürchtig trug er seine Verwunderung über die blinden Lachse Südchiles vor, die dennoch ihre Laichplätze fänden. »Es ist alles viel schlimmer, als wir angenommen hatten«, klagte Michael Kurylo von der NASA.

Man gewöhnt sich auch an Alarmglocken, sie machen auf Dauer taub. Die Freizeitgesellschaft verträgt keine Alarmglocken und keinen weiten Horizont. Sie will unbeschwert sein. Die unbeschwerte Heiterkeit des Seins der Freizeit- und Konsumkultur. Währenddessen wandeln sich die Alarmglocken zu Totenglöcklein für die Antarktis.

Mit Tina im »Alten Römer« zu abend gegessen. Wieder das warme Gefühl der Nähe, die alte Vertrautheit. Liebe. Sie hat recht, das Draußen darf nicht in unsere Beziehung einbrechen. Ihre Ängste sind ja auch die meinen, aber indem ich sie annehme, mildere ich die meinen. Ich brauche ihre Ängste, um mit meinen fertig zu werden. Nächste Woche wird sie nach Zilina fahren, um Sylvie zu holen.

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Guha 1993