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Silvester 1999, nachmittags

Guha-1993

 

7-11

Nur noch wenige Stunden, und das zweite Jahrtausend versinkt in der Ewigkeit. Nebenan spielt Tina <Bach>. Die Akkorde ziehen wie eine fromme Prozession durchs Haus, zeitlos und wie vom Irdischen gelöst. Musik als Weisheitslehre, die diese Welt nur als Durchgangsstadium begreift. Unsere Heimstatt ist nicht hier, will sie mitteilen, sondern woanders, bei Gott, im Jenseitigen. Aber hier schon sei Gott gepriesen. Würde mich gerne der feierlichen Stimmung überlassen, die sich meiner bemächtigen will, aber es gelingt nicht: Sylvies unaufhörliches Hüsteln, ihr Ringen um Luft.

Dazu Neurodermitis, der nicht nachlassende Juckreiz. Im Schlaf windet sie sich zuweilen wie ein Aal im Sand. Das Kind hat sein Gebrechen aus dem Mutterleib mitgebracht, gehört heute zur »normalen Grundausstattung« von Neugeborenen.

Die Heimsuchung, die »Sünden der Väter«. Dieses resignierende, unentwegt still fragende, und doch keine Antwort erwartende Leiden von Kindern. Wenn es mit ihr nicht besser wird, müssen wir wohl fortziehen, weg aus der Stadt mit ihrem ständigen Smog und ihren giftigen Ausdünstungen.

Aber wohin nur? Wo wäre es denn besser? Die Lebensqualität in Europa gleicht sich allmählich aus, und bald auf dem gesamten Globus.

Das Gesetz der Entropie, das auch für eine Gaskammer gilt. Silvester 2000. Die Luft zum Atmen ist dünn geworden.

Tina berichtete von dichtem Gedränge auf den Straßen schon seit dem frühen Nachmittag. Das von den Vereinten Nationen inspirierte, lokal auszugestaltende Festprogramm »Mit Zuversicht ins nächste Jahrtausend« wird gleich abrollen. Bands und Tanzkapellen bereits postiert. Die unentwegt krachenden Knallkörper signalisieren Ungeduld. Überschäumende Ausgelassenheit scheint sich aber noch nicht einstellen zu wollen, obwohl die Karnevals­vereine — und, wie albern! auch die politischen Parteien mit Ausnahme der Grünen — das Festprogramm wesentlich mitgestaltet haben. 

Zuversicht muß schließlich sein, sie ist bitter nötig, in der Tat. Die Weinbuden und Ausschankstände dürften sich wie stets großen Zuspruchs erfreuen, in Erwartung des Kommenden. Das Glas ist immer noch der wirkungs­vollste Animateur, der wohl auch heute nicht versagen wird.

Was soll schon kommen? Das Jahrtausend ist tot, es lebe das Jahrtausend! Auch Besinnliches ist organisiert. Für jeden etwas. Gebets- und Meditationsstunden in den Kirchen. Schweigeandachten, die immer größeren Zulauf finden. Schweigen als neue Form der Kommunikation. Es ist alles gesagt, man weiß gut Bescheid. Wichtiger ist die körperliche Anwesenheit des anderen als Vergewisserung der eigenen Existenz. Allenfalls leise Gesten der Berührung und Umarmung.

Ebenso unvermeidlich allerdings auch die ins Kraut schießenden, singenden und predigenden Sektengruppen und Erweckungsbewegungen. Ihre routinierten, erhobenen Zeigefinger, ihre, wenn auch etwas allzu glatten, Mahnungen zur Einkehr und Buße samt ihrer exstatischen, sado-masochistischen Strafdrohungen sind diesem Sylvester so unangemessen nicht.

Aus der sich offenbar steigernden Fröhlichkeit — die ersten Schunkellieder dringen etwas lästig in mein Arbeitszimmer — schließe ich, daß die bestellten Animateure eingegriffen haben. Eine Vorsichtsmaßnahme des Organisationskomitees nach den Ereignissen der vergangenen Wochen, nein, des letzten Jahrzehnts dieses Jahrtausends. Leider kann man es nicht abschütteln wie eine Nachtmar nach dem Aufwachen. Das neue Jahrtausend ist das alte, es übernimmt auch noch die kleinste Hypothek. Kein »Fortschritt 2000« wird sie tilgen.

Das Thermometer zeigt 22 Grad. Neuer Temperaturrekord für Sylvester. Laue, blaue Luft fächelt durch den Raum. Dagegen Sylvester 1980: klirrender Frost, knöcheltiefer Schnee auf der Bierstädter Höhe, eisigklarer Sternen­himmel, in dem die Raketen lustvoll und noch unbeschwert explodierten.

Die Magnolien, die sich so rasch und kraftvoll verschwenden, stehen in voller Pracht, auch Tulpen, Narzissen und Krokusse. Für die Schneeglöckchen blieb diesmal keine Zeit, die Wärme hat sie überrumpelt. Die Hecken können das Grün nicht länger zurückhalten. In der dick knospenden Kastanie vor meinem Fenster lärmen die Stare. Scheinen sich darüber zu freuen, daß sie den Winter hier verbringen durften. Sylvester 2000.

8/9


Heute vor 1000 Jahren hat es die Menschen in die Kirchen und auf die Friedhöfe getrieben. Das Ende der sündigen, verblendeten Welt stehe bevor, hieß es allenthalben. Massenhysterie, Massenpsychose, die Menschen waren den zahllosen Bußpredigern hilflos und doch dankbar ausgeliefert. Aber die Welt war in Ordnung, auch wenn das kaum einer glauben wollte. Zehntausende entäußerten sich ihrer irdischen Habe, um würdig zu sein für das Jüngste Gericht, Unzählige büßten sich zu Tode. 

Die Sünden des einzelnen wogen schwer — damals! Sie haben sich um 1000 Jahre vertan. Heute wiegen die Sünden viel schwerer — und die Angst ist auch da, aber sie hat sich verkrochen, sie wird nicht wie damals öffentlich und kollektiv zu bewältigen versucht. Sie wurde privatisiert. Jede einzelne Brust ein Schlupfwinkel, in dem uneingestandene Einsamkeit haust. Nicht von ihr reden, sie statt dessen im Jahrmarktrummel ersäufen.

Gott hat sich wohl einer Unterlassung schuldig gemacht, damals kein Zeichen gesetzt zu haben. Damals hätten sie ihn noch ernstgenommen. Heute setzt er Zeichen, klare, erschreckend deutliche, jedermann sichtbare, erlebbare, aber man nimmt sie nicht ernst. Oder verdrängt sie — in der Wirkung dasselbe

Das simple Mißverständnis vor 1000 Jahren, Gott wolle die Welt vernichten. Weswegen denn? Gewiß, die Mönche, Nonnen, Pfaffen und Päpste logen und betrogen, hurten und trieben es mit Konkubinen. Das Volk wollte trotz der Plackerei auch ein bißchen leben, vor dem Ärgsten bewahrt werden, wollte einen leichten Tod haben, so in den Vierzigern. Vielleicht noch den ersten Enkel segnen.

Das Volk sah allenthalben Fingerzeige Gottes — in der Feuersbrunst, im Blitz und Hagel, in mißgestalteten Kindern, in Krankheit und Kriegen. Dieweil plünderte die weltliche Obrigkeit Land und Leute. Und das Jahrtausend hatte Jahrhundert um Jahrhundert Steigerungen parat. Fortschritt, immer schneller, zuletzt atemberaubend. Die Hurerei war eine läßliche Sünde, der Fortschritt sündigte schwerer.

Schillers naiver Jubel an Sylvester 1799: Die Menschheit auf dem Höhepunkt der Kultur, das alte Jahrhundert reiche die Palme der Vernunft an das kommende weiter, der sittliche Mensch unmittelbar vor seiner Vollendung, als Verwirklichung einer Idee, als Ziel der Schöpfung.

Welch ein intellektueller Abstieg hundert Jahre später. Wilhelm Zwo: »Ich werde euch herrlichen Zeiten entgegenführen!« Heute also das Festprogramm »Fortschritt 2000«, die Animateure, die Angst. Lauter Fragezeichen und Zweifel. 

Die Wasserhähne der Zeit sind voll aufgedreht. Niemand weiß mehr, wie spät es ist. Das Gefühl für die Zeit, und damit für das Leben selbst, ist verloren­gegangen. Als gäbe es nur eine Gegenwart, von der Hand in den Mund. Als gäbe es nur den Wandel durch Fortschritt, als könnte jeder das Jahrtausend überleben.

Der gute Schiller. Bei Aristoteles hätte er nachlesen können, daß es nur den wissenschaftlich-technischen Fortschritt gibt, nicht aber den moralischen — und wohl auch nicht den der Vernunft. Warum das so ist, hat Rupert Riedl schön erklärt: Ersterer ist ein Ergebnis des wuchernden Großhirns, eines »Extremorgans«, ein Erfolg des Lernens und des sich kumulierenden Wissens, ist also auch ein Produkt der gestalteten Kultur. Seine Maßeinheit sind Jahrhunderte, Jahrzehnte — und jetzt nur noch Jahre. Der moralische Fortschritt aber hängt ab von Veränderungen des Verhaltens und ist ein Produkt der Evolution. Die aber bemißt sich nach Jahrhunderttausenden.

Und Gott! Er hat das Strafbedürfnis der Menschen vor 1000 Jahren nicht befriedigt — oder doch? Hat er nicht die Entscheidung über die Fortexistenz dieses Planeten in die Hände seines selbsternannten Ebenbildes gelegt? Wissend, daß dieses mit einer solchen Verantwortung überfordert sein würde, weil der sechste Schöpfungstag noch andauert und das Ebenbild noch nicht fertig, allenfalls das »missing link« ist, nach dem die Anthropologen immer noch suchen.

Eine Million Jahre, meinen die Anthropologen, fehlten uns noch bis zum Ebenbild, bis zum Menschen. Wir können den Menschen nur denken als eine Idee. Wir verkörpern nur eine Idee. Doch Gott hat sich verabschiedet wie anno 1918 der sächsische König, ganz unfeierlich, ganz prosaisch: »Macht euren Dreck alleene!« Dieser Aufforderung sind wir nachgekommen.

Bin offenbar nicht gerade in erhabener Stimmung.

10-11

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