Arnulf Baring berichtet über
die
Buchpremiere (Himmelfahrt) in Berlin (1992)

in seinem Buch 'Scheitert Deutschland?' von 1997
Zitierung nach der Zeitschrift Ökologie 4/1997

wikipedia  Arnulf Baring 
*1932 in Dresden bis 2019 (86)

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Kaum etwas hat mich in den letzten Jahren so tief und anhaltend bewegt wie das Gespräch mit Herbert Gruhl kurz vor seinem Tode. Er stellte ein neues, sein letztes Buch in Berlin vor, das Endzeitprognosen enthielt. Bei dieser Präsentation überraschte er alle Anwesenden mit der Bemerkung:

Wenn er heute, also 1992, an sein erstes Buch von 1975, <Ein Planet wird geplündert>, zurückdenke, dann müsse er sich vorwerfen, damals noch allzu optimistisch gewesen zu sein, obwohl man ihm schon zu jener Zeit unverant­wortliche Schwarz­malerei vorgeworfen habe. Die Umwelt­zerstörung habe sich seither in solch rapidem Tempo gesteigert, wie er es seinerzeit nicht für möglich gehalten habe. Inzwischen sei er der Meinung, daß es keine Möglichkeit mehr gebe, diesen Trend zu stoppen, anzuhalten, umzukehren. Deshalb seien alle ökologischen Bemühungen, die ehrenhaft seien und auch von ihm gestützt würden, im Grunde vergeblich.

Da rumorten die Leute im Saal — Mitglieder von Bürgerinitiativen, Umweltschützer, aktive Grüne. Sie warfen Gruhl vor, er entmutige sie, entwerte ihren Kampf, ihre Proteste. Sie seien nicht bereit, die Flinte ins Korn zu werfen, alles verloren zu geben, die Hände in den Schoß zu legen. 

Es sei gut und schön, daß sie alles Mögliche versuchten, meinte Gruhl, aber niemand solle glauben, dadurch am Grundtrend Wesentliches zu ändern. 

Eines seiner Beispiele war, daß die Zunahme des Elektrizitäts­verbrauchs pro Quadrat­kilometer ein Indikator des Artensterbens sei: Wenn eine bestimmte Menge Energie in einem bestimmten Gebiet verbraucht werde, wisse man damit, wie viele Pflanzen verschwunden, Tiere ausgestorben seien — was zu dem seltsamen Ergebnis führe, daß beim Vergleich der alten Bundesrepublik mit der DDR, Polen und Rußland die Artenvielfalt immer reicher würde, je weiter man nach Osten gelange, und dies, obwohl es im Osten ökologisch vollkommen verseuchte Regionen gibt. 

Als Gruhl gefragt wurde, wie viel Zeit er unserer Erde bei seiner Prognose noch gebe, sagte er, wenn es hoch komme, seien es 100 Jahre. 

Ich war von dieser Auskunft tief betroffen. Der Mann beeindruckte mich. Man konnte sich seinem Ernst, seiner Melancholie kaum entziehen. Daher ging ich nach der Veranstaltung zu ihm und fragte ihn, wie man denn mit dieser Aussicht weiterleben könne? Mich bekümmere seine Untergangs­prognose nicht meinetwegen. Doch im Blick auf unsere Kinder, Enkel, die kommenden Generationen bräche sie mir das Herz. Da meinte er: 

Unsereiner denke ja auch nicht täglich an den eigenen Tod, obwohl wir alle sicher seien, sterben zu müssen. Ebenso müsse man auch den Tod dieser Erde in sein Bewußtsein aufnehmen. Diese Gewißheit eines umfassenden Sterbens sei ja nicht nur traurig. Sie könne andererseits auch eine gesteigerte Freude an den Schönheiten dieser Welt bedeuten. Vielleicht werde die Menschheit – oder zumindest jeder einzelne von uns – sehr viel intensiver leben, wenn er wisse, alles werde eines baldigen Tages ein Ende haben.

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Es ist ja viel Richtiges an dem Wort von Arno Borst: Wenn wir die Sterblichkeit ernster nähmen, könnten wir heiterer leben. Aber ich gestehe, daß mich das Gespräch mit Gruhl monatelang gequält, meinen Lebensmut gelähmt hat. 

Wir können nicht wissen, wie es mit der Erde im ganzen weitergehen, ob Gruhl bestätigt oder - hoffentlich - widerlegt werden wird. Doch mit Sicherheit läßt sich sagen, daß die bisherigen, immer noch gegen­wärtigen Prämissen unseres Wirtschaftens fragwürdig geworden sind und sich nicht als regenerations­fähig erweisen werden. 

Man hat die überaus erfolgreiche Entwicklung der ersten Nach­kriegs­jahrzehnte fälschlich für alle Zeiten hochgerechnet. Die nahezu allgemeine Erwartung war lange — man braucht nur an die Schiller-Ära zu denken —, man habe fortan die Konjunktur im Griff. Es werde immer weiter aufwärts gehen, das Wachstum nie an Grenzen stoßen.

Die Einbrüche, die wir seit Anfang der siebziger Jahre erlebten — Ölpreisschocks, auch Bewußtseins­schübe wie der erste Bericht an den Club of Rome über <Die Grenzen des Wachstums>, die Katastrophe von Tschernobyl vom April 1986 und entsprechende Schreckens­bilder in den Medien — haben das Bewußtsein des Zeitalters nicht wirklich nachhaltig verändert. 

Sie haben punktuelle Erschütterungen ausgelöst, einzelnen Menschen, auch Gruppierungen wie den Grünen, die Zukunftsgewißheit genommen. Aber insgesamt war der Schreck rasch verflogen. Die Wellen des Zweifels an der Tragfähigkeit des Industriesystems verebbten. 

Wahrscheinlich muß man tatsächlich - mit Albert O. Hirschman - davon ausgehen, daß sich fundamentale Veränderungen im sozialen wie im ökologischen Denken nur als Folge großer Katastrophen einstellen.

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