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2.6. Mehrproduktion — bis zum Endsieg? 

Man muß den Übermut löschen,  
mehr als eine Feuersbrunst.

Heraklit

 Es begann mit einer Begriffsverwirrung

187-221

Hier wenden wir uns dem zu, was in der Welt als »wirtschaftliches Wachstum« bekannt ist. Wir vermögen diesen Begriff nicht zu verwenden, denn er ist ganz und gar falsch. »Wachstum« ist ein Begriff der organischen Welt. Pflanzen, Tiere und Menschen wachsen. Alle Lebewesen wachsen nach einem ihnen innewohnenden und vererbten Plan. Warum sie das tun, ist das tiefste Geheimnis der Welt. Hier findet ein verborgener und gezielter Steuerungsvorgang der Natur statt, dem noch kein Mensch auf die Spur gekommen ist. Wenn jemand dieses Geheimnis entschleiern könnte, dann hätte er vielleicht Gott gefunden. Die Menschen haben noch nicht den geringsten Zipfel dieses Geheimnisses entdeckt. Wir wissen nur: Der Tod beendet das Wachstum und ermöglicht wieder neues Wachstum.

Überall, wo Leben ist, findet Wachstum statt; auch beim erwachsenen Menschen erneuern sich die Zellen ständig durch das Wachsen neuer. Sobald das Wachstum aufhört, tritt der Tod ein. Der Tod bildet das Gegengewicht zum Wachstum. Er allein hält die Welt im Gleichgewicht, wie es im natürlichen Regelkreis geschieht. Es ist völlig unvorstellbar, wie das gehen sollte, wenn es in der Natur immerfort nur Wachstum gäbe. Die Erde wäre sehr bald von wenigen Arten total bedeckt, von riesigen Bäumen zum Beispiel, die nicht mehr wachsen könnten, weil sie aneinander stießen. Die Natur müßte schließlich in einem gleichförmigen Endzustand erstarren. Nur der Tod ermöglicht neues Wachstum. Darum muß überall dort, wo Wachstum stattfindet, auch Sterben stattfinden.

Was der Mensch fabriziert, ist noch in keinem einzigen Falle gewachsen, es ist »gemacht«. Deshalb stirbt es auch nicht. Die industriellen Produkte, die vom Menschen ersonnen wurden, sind aus Material »hergestellt«. Will jemand behaupten, daß ein Automobil »wächst«? Nein! Wieso »wächst« dann aber die gesamte Autoproduktion, wenn 1971 in der Bundesrepublik Deutschland 163.000 Autos mehr hergestellt werden als im Jahr 1970? Da das einzelne Stück nicht wächst, kann auch die Gesamt-Produktion niemals »wachsen«. (Beim »Nullwachstum« wären 1971 eigenartigerweise 3.529.000 neue Autos auf die Straßen gekommen!)

Wenn man vom »Wirtschaftswachstum« spricht, ruft man — gewollt oder ungewollt — den Eindruck hervor, als wäre dieser Vorgang etwas Natürliches. Das stimmt aber ganz und gar nicht. Der Mensch »macht« hier vielmehr etwas, was der Steuerung der Natur nicht unterliegt. Da es seiner Planung und Steuerung unterliegt, kann er es ebensogut lassen. Die Natur ist hier völlig machtlos. Aber: der Mensch ist wiederum über die Natur machtlos.

Was die Menschen hier außerhalb der Natur aufgebaut haben, definierten wir als den künstlichen Produktionskreis. Wäre dieser Bestandteil der Natur, dann würde es auch in diesem Bereich Tod und Verwesung geben — und alles wäre geregelt.

Dieser Ansicht war übrigens Oswald Spengler. Er war überzeugt, daß die menschlichen Kulturen den Wachstumsgesetzen der Natur unterliegen, folglich mußte er sie auch ganz konsequent dem Gesetz des Sterbens unterwerfen. Wir brauchen uns nicht damit auseinanderzusetzen, ob Oswald Spengler recht hatte oder nicht. Wir argumentieren, daß es gerade das Merkmal der gegenwärtigen Kultur ist, daß der Mensch mit seinen Werken etwas geschaffen hat, was nicht nur außerhalb jeder Natur ist, sondern bei seiner ständigen Vergrößerung diese Natur schließlich zerstören muß — und damit auch den Menschen selbst, weil er Teil der Natur ist. Dieser Prozeß ist kein organischer wie bei Spengler, sondern ein vom Menschen gegen die Natur und letztlich gegen sich selbst in Gang gesetzter. Alle katastrophalen Folgen werden die Folgen eines Menschenwerks sein.

Die Menschen müssen den Selbstbetrug aufgeben, auf ihre höchst unvollkommenen und völlig undurch­dachten Unternehmungen den Begriff »Wachstum« anzuwenden. Es handelt sich vielmehr um eine Steigerung der Produktion oder um Mehrproduktion. Diese Mehrproduktion kann der Mensch durchaus lassen, dann läuft eben die Produktion in der bisherigen Höhe weiter; es findet dann lediglich keine »Produktions-Steigerung« oder keine »Mehr-Produktion« statt.

* (d-2015:)  O.Spengler bei detopia

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Es ist noch niemand auf den Gedanken gekommen, in einem solchen Fall dauernd von Null-Steigerung oder von Null-Mehrproduktion zu sprechen. Nur über den völlig unstatthaften Gebrauch des Wortes »Wachstum« ist der idiotische Begriff vom »Null-Wachstum« in die Sprache eingeführt worden. (Es ändert nichts an dem Unsinn, daß er aus dem Amerikanischen kommt!)

Wenn es wirklich Wachstum wäre, was in der industriellen Wirtschaft vor sich geht, dann dürfte man natürlich kein »Null-Wachstum« dulden; denn dies wäre gleichbedeutend mit Tod. Warum verwendet man den unsinnigen Begriff vom Null-Wachstum? Teils aus Gedankenlosigkeit, teils weil interessierte Kreise die damit verbundene Vorstellung, dies sei etwas ganz und gar Unmögliches und dem Tode Gleichsetzbares (wie ja Null = nichts ist) sehr gern in die Köpfe der Menschen träufeln. Dieser Schwindel mit Begriffen mündet in einen gigantischen Selbstbetrug, der geeignet ist, die Erde zu einer Wüste zu machen.

Um der begrifflichen Redlichkeit willen sprechen wir also weder von Wachstum noch von Nullwachstum und auch nicht von Negativwachstum. Auch dieser absurde Begriff ist die Folge des falschen Ansatzes: Kann jemand eine Pflanze nachweisen, die sich zum Samenkorn, oder ein Tier, das sich zum Ei zurückentwickelt hat? Wir sprechen in diesem Kapitel von »Produktion«, bei der es der Mensch in der Hand hat, sie zu steigern, sie zu vermindern, aber eben auch: sie auf einem gleichen Niveau zu halten, solange der Materialvorrat reicht; er kann aber eine Produktion auch ganz einstellen. Beim Wachstum hat er diese Freiheit nicht; er muß warten, bis die Ernte reif ist, und er muß sogar selbst geduldig (etwa 16 Jahre) warten, bis er erwachsen ist.1

Weil der Mensch auf die Naturgesetze und in dieser Beziehung auch auf sich selbst keinen Einfluß hat, kann er dort Gott sei Dank den Unfug der Zeitverkürzung nicht veranstalten. Das kann er nur dort, wo die Produktion mit lebloser Materie arbeitet.

Wachstum ist ein Begriff aus der organischen Welt und hat in der menschlichen Wirtschaft — soweit sie sich nicht mit Pflanzen und Tieren beschäftigt — nichts zu suchen. In der Industrie wird es nie Wachstum geben, auch kein »organisches Wachstum« — was ohnehin eine Tautologie ist wie »lebendiges Leben« oder »natürliche Natur«. Wachstum ist immer organisch, und da die industrielle Produktion nicht organisch ist, wächst sie eben nicht.

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Sowenig, wie es der Medizin gelingt, Krebszellen in gesunde Zellen umzuwandeln, wird es gelingen, aus industrieller Produktion »organisches Wachstum« zu machen. Darum sind in der an sich verdienstvollen Untersuchung von Mesarovic und Pestel »Menschheit am Wendepunkt« die Lösungsvorschläge leider nahezu wertlos. Denn sie wollen die heutige menschliche Wirtschaft des künstlichen Produktionskreises auf eine Grundlage stellen, die nur als Irrtum in menschlichen Gehirnen existiert: das »organische Wachstum«. Selbst ihr Vergleich der jetzigen Wirtschaft mit dem Krebs stimmt nicht; denn auch der Krebs wächst nicht immerzu, auch er stirbt ab wie alles Organische.

 

     Die Steigerungsraten     

Die Produktion ist in den letzten Jahrzehnten schon beinahe gleichgültig geworden, die Steigerung allein ist interessant. Diese Entwicklung ist aber sehr jung. Erst nach dem II. Weltkrieg ist die Güterproduktion in die Steilkurve hinaufgerast. Und »eigentlich erst seit dem letzten Weltkrieg befassen sich die Leute bewußt und systematisch mit Methoden, eine hohe Wachstumsrate zu erzielen«.2 (In Zitaten müssen wir leider den falschen Begriff »Wachstum« so stehen lassen; aber der Leser wird merken: alle Autoren meinen »Produktion«.)*

Der zusätzliche Auftrieb kam einmal von der Rüstungsindustrie, die ihre frei gewordenen Kapazitäten auf andere Produktionen umstellte, und zum anderen aus dem Wunsch vieler Menschen, nach all den Entbehrungen endlich einmal die Güter der Erde zu genießen. Letzteres war besonders in den geschlagenen Ländern Deutschland und Japan der Fall. Auch ehemalige Kolonialvölker bekamen nun ihre Selbständigkeit mit der Hoffnung und dem Versprechen, künftig ebenfalls an dem ungeahnten Fortschritt teilnehmen zu können. Die Kolonialherren hatten früher Wünsche nach einem besseren Leben erweckt, und diese Länder »haben sich mit einem Glauben, der den ihrer Lehrer übertrifft, zu den Religionen der Industrie und des Wohlstands bekehren lassen«.3

Für die weltweiten wirtschaftlichen Steigerungsraten vermag wohl am besten die Entwicklung des Welthandels eine Vorstellung darüber zu vermitteln, was vor sich ging.

*detopia: Oder besser: "Produktionssteigerungsrate"?

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Hier die Entwicklung der jährlichen Exporte und Importe aller Länder in Milliarden $ seit 1800:

TABELLE:
Jahr    in Mrd. $    Jährliche Steigerungsrate    
1850     4              3,3 %
1900   20               4,0 %
1950   135             6,4 %
1960   250             8,6 %
1970   570             10,0 %
1973   760 
Quelle: Braunbek, 115. 1970-1973: Stat. Bundesamt Wiesbaden.

 

Die absolute Zunahme, die von 1800 bis 1900, also in einhundert Jahren, erreicht wurde (20 Mrd. $), ist in der Dekade von 1950 bis 1960 in jeweils 2 Jahren und in der von 1960 bis 1970 in jeweils nur 8 Monaten erreicht worden. Mengenmäßig hat sich der Weltseehandel von 1965 bis 1974 verdoppelt: von 1,638 Mrd. Tonnen auf 3,270 Mrd. Tonnen.4

Die Zuwachsraten des Bruttoinlandsprodukts entwickelten sich in den wichtigsten Ländern der westlichen Welt in der Zeit von 1950 bis 1973 wie folgt (jährliche Steigerung in Prozent):

1950-1960    1960-1970    1970-1973

Japan  -  11,1  -
BR Deutschland   7,9* 5,5 3,9
Österreich   6,4" 4,7 6,1
Italien   - -5,6 3,7
Spanien   - 7,5 7,1
Schweiz   4,4 4,5° —
Niederlande   4,7 5,4 4,2
Frankreich   4,8 5,8
Norwegen    3,3" 5,0 4,6
Schweden   3,4 3,9°
Dänemark    3,3 4,9 4,3
Belgien    - 5,0
Großbritannien   2,8 2,6
USA    3,2 4,2 5,0
Kanada    4,0 5,4 6,0

Quelle: Berechnung der Zuwachsraten nach Werten des Statistischen Bundesamtes (Stand Febr. 1975)
a) ohne Saarland und Berlin  b) 1954-1960  c) 1959-1969  d) 1951-1960  e) 1961-1971.

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Um zu ermessen, was derartige Zuwachsraten (jährlich zwischen 2,6 und 7,9 % — Japan sogar 11,1%) bedeuten, muß man eine weitere Tabelle aus Werner Braunbeks Buch »Die unheimliche Wachstums-Formel« hinzuziehen.5  Er hat darin errechnet, auf das Wievielfache sich das Bruttosozial­produkt in 100 Jahren erhöht, wenn der prozentuale Zuwachs gleichbleibt.

 wikipedia  Werner_Braunbek  *1901 in Bautzen bis 1977

Eine jährliche Zuwachsrate
von 1 % bedeutet in 100 Jahren die Steigerung auf das 2,7 fache,
von 2 % auf das 7,2 fache,
von 3 % auf das 19 fache,
von 5 % auf das 130 fache,
von 7 % auf das 870 fache,
von 10 % auf das 13.800 fache.

Wenn wir nun hier einige wichtige Steigerungsraten einsetzen — wie Erdöl 6 %, Eisen/Stahl 5-5,5 %, Aluminium 7 % und Kunststoffe 10 % — dann ist leicht zu erkennen, daß in 100 Jahren die Produktion mehrere 100mal so groß werden müßte.

Das Bruttosozialprodukt der Welt stieg 1958-1967 jährlich um 7,3 %. Damit würde es in 100 Jahren auf das rund 1000fache ansteigen. Nur ein Irrer kann angesichts dieser Zahlen bestreiten, daß wir in einer Ausnahmesituation leben, die nicht lange anhalten kann. Statt aber sofort eine Pause der Besinnung eintreten zu lassen, bemühen wir uns nach besten Kräften, die Geschwindigkeit der Produktions-Steigerung noch ständig weiter zu erhöhen. Warum?

Ein Rausch ist über die Menschheit gekommen, dem Goldgräberfieber der amerikanischen Kolonisations­zeit vergleichbar. Und dieser Rausch wird immer wieder genährt durch Erfolge, die in der Tat grenzenlos erscheinen. Haben es nicht die letzten hundert Jahre erwiesen? Alles wird immer größer, besser, sicherer und bequemer! Darauf wird heute jedes Kind fixiert und jeder Erwachsene programmiert. Die Wirtschaftler und Politiker bekräftigen fortwährend, in welch einem Aufstieg man sich befinde — und man hört es ja so gerne! Dagegen kann sich nur jeder unbeliebt machen, der am »Götzen Wachstum« auch nur rührt.6

»Alle von der westlichen Zivilisation beeinflußten Gesellschaften sind zur Zeit dem Evangelium vom Wachstum ergeben — der Doktrin vom rasenden Derwisch, die da lehrt: produziere mehr, auf daß du mehr verbrauchen kannst, auf daß du noch mehr produzieren kannst.«7 Die wirtschaftliche Aktivität hat alle übrigen Interessen und Beschäftigungen der Menschen überwuchert.

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Die Wirtschaft hat sich dabei der Technik bedient, die sich gern unterwarf, um ihre vielfältigen Möglichkeiten realisieren zu können. Der Wirtschaft wurde aber damit zu einer alles beherrschenden Machtstellung verholten, die auch zur Unterordnung der Politik unter die Wirtschaft führte. Der beste Beweis dafür, daß auch die Politik zur Magd der Wirtschaft wurde, ist die Tatsache, daß sich die Mehrproduktion unter jedem politischen System ohne große Unterschiede entwickeln konnte.

 David Landes sagt in der Schlußbetrachtung seines umfangreichen Werkes:

»Überdies vermag auch eine Politik, die sich für autoritäre Maßnahmen entschieden hat, eine Volkswirtschaft nicht von den ehernen Wachstums­gesetzen auszunehmen. Diese lauten, daß man niemals etwas für nichts erhält und daß man daher zunächst sparen muß, um später genießen zu können; ferner, daß sich das Wachstum am schnellsten vollzieht, wenn die Ressourcen dem Bereich mit den höchsten Ertragsaussichten zugewiesen werden. Das erste dieser Gesetze ist unumstößlich, sofern eine Volkswirtschaft nicht Geschenke oder Kredite von dritten Ländern erhält; und das Sparen ist für Wirtschaftssysteme, die das Wachstum rasch vorwärtstreiben wollen, noch schmerzhafter als für jene, die auf freiwillige Abstinenz ihrer Mitglieder vertrauen. Alle Leiden, die die englischen und kontinentaleuropäischen Arbeiterklassen in den ersten Jahrzehnten der Industrialisierung dieser Länder erdulden mußten, sind gering im Verhältnis zu den Entbehrungen, der Unsicherheit und den Todesopfern, die den Proletariern und den Bauern Sow jetrußlands und des kommunistischen China im Namen einer »singenden Zukunft< auferlegt wurden.«8

Die Omnipotenz der Wirtschaft führte sogar dazu, daß zunehmend nur noch solche wissenschaftlichen Ergebnisse und politischen Theorien gefragt wurden, die wirtschaftlich verwertbares Material lieferten. Karl Marx war der erste folgenreiche Denker, der die gesamte Geschichte unter wirtschaftliche Gesetzmäßigkeiten stellte. Aber es war nicht seine Lehre allein, die in der Sowjetunion ein total vom Wirtschaftsdenken beherrschtes System hervorbrachte; machtpolitische Zielsetzungen kamen hinzu.

Der Vorrang der Wirtschaft hatte sich in der Praxis schon früher in den Vereinigten Staaten entwickelt. Von dorther und von England aus unterwarf sich das wirtschaftliche Denken im Zusammenhang mit der Industrialisierung Europas (endgültig nach dem II. Weltkrieg) die ganze Welt. (Die letzten Reste primitiver Völker können hier außer Betracht bleiben.)

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Da die Wirtschaft heute alle Lebens­bereiche beherrscht — direkt oder indirekt (mit Hilfe des Geldes) —, ist es höchst verhängnisvoll, daß es keine mit der Ökologie übereinstimmende Wirtschaftstheorie gibt. Alle Kräfte, auch die politischen, haben sich der einen Macht auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, die nicht einmal ein Selbstverständnis zu entwickeln vermochte — geschweige, daß sie eine Grundlage für die Weltentwicklung hätte liefern können, wozu eine alles beherrschende Macht verpflichtet gewesen wäre.

 

    Der Zahlenkult     

 

Unter den Antrieben zur Produktion ist der Wettstreit der Zahlen nicht der geringste. Die Zahl ist zwar eine inhaltsleere Größe, aber gerade das ist ihr Vorteil: auf Zahlen kann man sich noch am ehesten einigen. Mit der Zahl glaubte man sogar, einen untrüglichen Maßstab für alle Vorgänge auf dieser Erde gefunden zu haben. Das Größere schien immer besser als das Kleinere, das Schnellere besser als das Langsamere, das Teure besser als das Billige. Größen kann man mathematisch und damit »objektiv« ermitteln, sie können nicht angezweifelt werden. Zumindest rechnen hat ja nun jedes Kind in der Schule gelernt, notfalls hat der Umgang mit Geld nachgeholfen.

Jedes Land, jede Stadt, jede Menschengruppe will im Wettstreit der Größen irgendwie »an der Spitze liegen«. Man verglich schon früher die Bevölkerungszahlen — was heute makaber geworden ist. Man möchte aber nach wie vor die größte Stadt, das höchste Gebäude, die längste Brücke usw. haben. Der einzelne möchte das schnellste Auto, das größte Haus, sein Land das schnellste Schiff, das größte und schnellste Flugzeug. Tanker werden gebaut mit 100.000, 200.000, 500.000, ja solche mit einer Million Brutto­registertonnen sind geplant. Der längste Tunnel, die höchste Seilbahn, die tiefste Bohrung — das alles sind heute bereits Werturteile. Die Rakete mit der höchsten Schubkraft und die größte Wasserstoff­bombe sind überzeugende Machtfaktoren.

Selbstverständlich muß jede Bilanz, jede Statistik höhere Zahlen ausweisen als die des Vorjahres. Das Ganze wird dann zusammengefaßt im Bruttosozialprodukt, was natürlich von Jahr zu Jahr einige Prozent steigen muß. In der Sowjetunion ist es nicht die Geld-, sondern die Materialbilanz, die in Tonnen und Metern sowie in Prozenten den Erfolg des Planes nachweist.9

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Auch der Sport ist beileibe kein Spiel mehr. Der Wert einer Olympiade wird daran gemessen, wie viele olympische Rekorde und wie viele Weltrekorde gebrochen wurden. Die Jagd nach größerer Weite und Höhe, nach schwereren Gewichten und kürzeren Zeiten ist zum absoluten Selbstzweck geworden.

Kein Lebensbereich schafft aber so viele Möglichkeiten, neue Rekorde aufzustellen, wie die industrielle Technik. Reinhard Demoll sieht die Ursache, welche die explosive Entwicklung der gesamten Naturwissenschaft und damit auch der Technik seit etwa 1800 zur Folge hatte, in der schlichten »Erkenntnis von der Bedeutung des Metermaßes und der Waage. Erst als der Mensch begriffen hatte, daß man die Kräfte der Natur nur beherrschen könne, soweit man sie zu wägen und zu messen im Stande sei, ja, als er sogar den elektrischen Strom in Quantitäten zu zerlegen vermochte, erst jetzt konnte die triumphale Entwicklung einsetzen.«10 »Die Welt geht restlos auf in der Zahl — das war die große faszinierende Idee des vorigen Jahrhunderts, eine Idee, die einen ungeheuren Impuls gab und dennoch falsch war.«11

Seitdem wird alles gezählt, gemessen, gewogen und gestoppt. Und der Generalnenner, auf den sich alles bringen läßt, ist der Preis. Was keinen Preis hat, läßt sich nicht abschätzen, einordnen, vergleichen — welchen Wert hat es dann eigentlich? Muß es nicht wertlos sein? Jeder will Preise wissen, um vergleichen und »kalkulieren« zu können.

Darum werden in einer geradezu schamlosen Weise auch dort Preise gemacht, wo man sich früher scheute. Das treffendste Beispiel: Man sprach in den letzten Jahrhunderten darum nicht von Prostitution, weil man das richtige Gefühl hatte, daß im Bereich der Liebe die Umrechnung in Geld ein höchst unangemessenes Verhalten sei. Heute ist die »käufliche Liebe« ein Thema für jede Illustrierte wie für Tausende von Filmen und so fort. Weil man es ganz in Ordnung findet, daß für diesen persönlichsten Bereich des Menschen die Umrechnung in harte Währung ebenfalls Platz greift.12  Es wäre doch wohl gelacht, wenn es irgend etwas auf dieser Welt geben sollte, was sich nicht in Mark und Pfennige umrechnen ließe!

Vieles spricht dafür, daß die meisten Menschen darunter leiden, daß dies so ist. Ihre stille Sehnsucht geht — vielfach unbewußt — nach Dingen oder Erlebnissen, wo jede Währung außer Kraft gesetzt ist. Absurde Schlußfolgerung: Sie würden sehr viel Geld dafür geben, wenn sie damit etwas erwerben könnten, was nicht käuflich ist. Mit dieser Zahlbereitschaft reißen sie aber immer noch weitere Bereiche in die Käuflichkeit hinein, so daß kaum noch Werte übrig­bleiben, die kein Preisschild tragen.

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Nachdem man nun in den letzten Jahren einzusehen beginnt, daß man nur die Quantitäten gefördert hat, wobei die Qualität auf der Strecke blieb, entdeckte man den Begriff »Lebensqualität«. Und was sah man als die erste Aufgabe an? Diesen Begriff zu quantifizieren!

Diese Absurdität ist die ganz logische Folge des geschilderten Sachverhalts, daß unsere Zeit mit Werten, die sich nicht messen und nicht in Geld umrechnen lassen, absolut nichts anzufangen weiß. Schumacher sagt: »Es ist nun ohne weiteres ersichtlich, daß man nur das kalkulieren kann, was vorher auf die eine oder andere Weise quantifiziert worden ist. Mit Qualitäten kann man nicht rechnen. Da aber alles, was wirklich existiert, sozusagen aus Quantität und Qualität besteht, muß die Qualität aus der Kalkulation wegfallen, es sei denn, es gelänge, die Qualität irgendwie in Quantität zu verwandeln.«13 Schumacher stellt die Frage: »Wann ist es erlaubt, Qualitäten zu quantifizieren? Und wann ..... nicht ....?«14

Man kann wohl annehmen, daß jeder Mensch, der »mit beiden Beinen auf der Erde steht«, wie es so schön heißt, heute antworten wird: das ist immer erlaubt. Und Schumacher stellt damit übereinstimmend fest: »Die herrschende Weltanschauung hält Quantifizierung für etwas unbedingt Gutes und Fortschrittliches.«14

Daraus ergibt sich zwangsläufig die Zerstörung aller höheren Werte durch Kalkulation. Bei der Liebe ist die Zerstörung ja auch nahezu vollständig gelungen. Man bemüht sich darum schon im Schulunterricht bei zehnjährigen Kindern.

Unsere Absicht ist aber an dieser Stelle nicht, die Folgen des Zählens und Messens für die höheren Werte darzustellen, sondern für den technisch-wirtschaftlichen Bereich. Unsere Frage lautet: Wohin führt das technisch und wirtschaftlich kalkulierte Verhalten des Menschen, das die Zahl verabsolutiert? Zunächst zu einem Materialismus von der gewöhnlichsten Art, später zum Zusammenbruch des ganzen Systems!

Zur Jagd nach Rekorden eignet sich am besten, was man fälschlicherweise »wirtschaftliches Wachstum« nennt. Hier ließen sich noch immer die imposantesten Steigerungen erzielen. Im Sport sind es nur noch Zentimeter und hundertstel Sekunden, in der Wirtschaft sind es immer mehrere Prozent oder Millionen und Milliarden von Dollar, Mark, Franken, Pfund usw. Und diese setzen sich zusammen aus Hunderten und Tausenden von Erfolgsmeldungen.

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Jede Firma steigert den Ausstoß, jede Bürokratie verbraucht mehr Papier. Die Welt entwickelte sich in Richtung der Dinge, die am Fließband in großer Stückzahl hergestellt werden konnten; denn die sind billig: »Die Masse muß es bringen!« Alles, was nicht am Fließband und auf dem Wege der Automation hergestellt werden kann, ist nicht konkurrenzfähig.

»Das große Interesse am Wachstum der Wirtschaft hat zu einer Index-Manie geführt. Statistische Schwierigkeiten machen es bekanntlich unmöglich, einen Index des Bruttosozialprodukts zu erstellen, der Veränderungen in unserem materiellen Wohlbefinden genau wiedergibt. Und doch ist irgendeine Art Index notwendig, um den Menschen zu zeigen, was sie sonst vielleicht nicht zu erkennen vermögen. Aber sobald ein Index, mit all seinen Unzulänglichkeiten, aufgestellt ist, gewinnt er eine eigene Bedeutung.

Um politische Kampagnen mit dem Schlachtruf <Wir hatten es noch nie so gut> führen zu können, ergreifen manche Regierungen Maßnahmen, die eher geeignet sind, die Indexzahlen als das Wohl der Bevölkerung zu erhöhen. Ebenso beobachtet die Opposition sorgsam die Bewegungen des Index, um Angriffspunkte zur Kritik an einer unfähigen Wirtschafts­politik zu entdecken. Die Politiker handeln nicht aus Böswilligkeit so. Ihr Verhalten spiegelt nur den Wunsch der Bevölkerung nach raschem Wirtschaftswachstum und läßt die Meinung erkennen, der Index bezeichne das Fortschrittstempo.«15 Regierungschefs treten dann vor die Wähler und die Parlamente und verkünden: Uns ist es noch nie so gut gegangen! In solchen Zeiten politische Verantwortung zu tragen, ist eine Lust — die allerdings schnell vergehen kann, wenn ein Nachbarland größere Zahlen vorweist.

»Man hat uns beigebracht, Wachstum bedeute Glück, sei ein Allheilmittel für alle Leiden und der Grundstein der Hoffnung. >Nächstes Jahr wird unsere Familie reicher, unsere Firma größer, unser Land mächtiger sein.<«16 Der Trend zur großen Zahl faßte im Denken des Menschen Wurzel.17 Von der menschlichen Wirtschaft wird allen Ernstes erwartet, daß sie sich so ausdehne wie nach jetziger Lehre das Universum. Um eine Berechtigung für diesen Glauben zu haben, müßte unser Planet ebenfalls expandieren. Daß dies nicht der Fall ist, weiß jedes Kind. Trotzdem beherrscht der Wahn der wachsenden Zahl die Menschen in beinahe allen Teilen dieser Erde.

Vielleicht ist auch das Kapital unter anderem gerade darum zu so hohem Ansehen gekommen, weil es sich so wunderbar zählen, vermehren und vergleichen läßt. Wer zwei Millionen besitzt, ist unbestreitbar doppelt so reich wie derjenige, der nur eine besitzt.

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Geld und Kapital sind auf diese Weise zu herrschenden Faktoren unserer Zeit geworden, so daß man andere darüber ganz vergessen hat. Über Theorien des Geldes und der Märkte, über das freie Spiel der Kräfte und über die Planung wurden Zehntausende von Büchern und noch mehr Aufsätze geschrieben; aber über die Grundlagen all dieser Tätigkeiten haben sich nur Wenige Gedanken gemacht — und die wurden nicht beachtet. Darum werfen wir einen Blick auf die heute herrschenden Theorien.

 

    Das Kapital     

 

Bei der Entwicklung des künstlichen Produktionskreises spielte das Kapital eine sehr wichtige Rolle. Sobald es den Menschen gelang, einen Überschuß zu erwirtschaften, hatten sie ein freies Potential in der Hand, das sie erneut einsetzen konnten, um damit weitere, noch größere Überschüsse zu erwirtschaften. Aldous Huxley: »Kapital ist, was übrigbleibt, nachdem die primären Bedürfnisse einer Bevölkerung befriedigt worden sind.«18

Dabei gab es zwei Antriebskräfte: das Profitstreben in der freien Wirtschaft und das Machtstreben in der Planwirtschaft. Nur rücksichtsloses Vorgehen konnte in diesem erbarmungslosen Konkurrenzkampf Erfolg haben — zunächst das rücksichtslose Vorgehen gegen Menschen, dann ein zunehmend rücksichtsloseres Vorgehen gegen die Erde. Uns ist es nun beschieden, im Zeitalter des totalen Erfolges zu leben. »Die Theorie des reinen Profits wurde von Adam Smith erfunden und von David Ricardo, einem erfolgreichen Börsenmakler des 19. Jahrhunderts, in ihre klarste Form gefaßt. Sie war nie wahr, wird aber immer noch den Studenten fast wie eine Religion gelehrt.«19

Eine moralische Kritik am Profitstreben ist insofern wenig angebracht, als der Profit jeweils erneut als Kapital investiert wird und damit die Menge der Güter fortwährend steigert, die ja alle gern haben wollen. Das Profitstreben schafft auch stets neue Anreize für Technik und Wissenschaft, nach neuen Mitteln und Wegen zu suchen, um weitere Produkte mittels neuer Rohstoff­kombinationen auf den Markt zu bringen. Hier ist die freie Marktwirtschaft überlegen. Sie befriedigt in viel schnellerem Tempo Bedürfnisse und schafft wieder neue. Und es bleibt nicht bei den natürlichen Bedürfnissen, »das künstliche System schafft künstliche Bedürfnisse«.20

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Die Wünsche der Verbraucher und die Interessen der Produzenten treiben die Entwicklung gemeinsam voran. Schon Hegel sagt: »Es wird ein Bedürfnis daher nicht sowohl von denen, welche es auf unmittelbare Weise haben, als vielmehr durch solche hervorgebracht, welche durch sein Entstehen einen Gewinn suchen.«21

Genau wie die Arbeit immer neue Betätigungsfelder sucht, so auch das Kapital. Dieses findet die besten Profitmöglichkeiten gerade in den Teilen der Natur, die nichts oder wenig kosten. Das sind die beschriebenen alten Schätze der Erde, Energien und Rohstoffe (E + R), und das sind die Umweltgüter Luft, Wasser und Boden und zunehmend auch die Weltmeere. Auch Natur und Landschaft sind bis heute dem Kapital ziemlich ungeschützt ausgeliefert. Denn die Land- und Forstwirtschaft kann noch längst nicht die Erträge bringen, die andere wirtschaftliche Betätigungen erreichen, obgleich in ihr nun ebenfalls industrielle Methoden angewandt werden. Sie wird es nie können, denn sie bleibt an die Zeit, das Sonnenjahr, gebunden.

Im natürlichen Kreislauf war die Kapitalvermehrung unbedeutend. Bis über das Mittelalter hinweg wurde dann das Kapital nur durch Handel vermehrt.22 Die Möglichkeit seiner dauerhaften Anlage war vorwiegend auf den Landerwerb beschränkt. Erst im 19. Jahrhundert ergaben sich mit der Ausbeutung der Erde durch technische Einrichtungen mit anschließender Güterproduktion vervielfachte Anlage- und Vermehrungs­möglichkeiten für das Kapital.23 Der Mehrwert, auf dem Karl Marx seine ganze Theorie aufbaute, wurde weniger durch die Arbeit als durch die Erschließung von Rohstoffvorkommen erzielt, zu deren Ausbeutung vorher Kenntnisse und technische Mittel, vor allem aber Energien, gefehlt hatten.

Die gefährlichste Illusion, welche die Wirtschaftswissenschaft gezüchtet hat, ist nun die, daß alles machbar sei, wenn nur das Kapital dafür reicht. Diese Auffassung wirkt auch noch in den vielgenannten Untersuchungen von Forrester und Meadows für den Club of Rome nach. Dort wird das Kapital in die Computerläufe so eingesetzt, als sei es eine reale Größe. In einem der Modellabläufe wird zum Beispiel das ganze vorhandene Kapital in die Landwirtschaft gelenkt. Mit Verlaub: Wie soll das praktisch aussehen? Sicherlich nicht so, daß man zu verbessernde landwirtschaftliche Flächen mit Geldscheinen, Wechseln oder Pfandbriefen bedeckt. Es kann nur so funktionieren, daß man dafür Düngemittel, Traktoren, Landmaschinen usw. kauft. Also ist die Grundbedingung der ganzen Operation auch hier, daß genügend zusätzliche Rohstoffe vorhanden sind. (Da die Welt Arbeits­kräfte genug hat, ist es in nächster Zeit allein eine Frage der Rohstoffe, ob die Böden höhere Erträge bringen.)

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Wenn keine Rohstoffe oder keine Arbeitskräfte zur Verfügung stehen, dann ist das Kapital völlig wertlos. Das Kapital ist nichts anderes als ein Mittel zur Energieübertragung, womit es allerdings möglich wird, freie Kräfte nach Wahl hierhin oder dorthin zu lenken. Aber wo nichts ist, da kann auch nichts übertragen werden. Die Funktion des Kapitals ist von Schumpeter richtig erkannt worden. Das Kapital eröffnet als »selbständiges Agens«24 die Möglichkeit, Vorgänge in Bewegung zu setzen; aber nur dort, wo die sonstigen Voraussetzungen vorhanden sind. Mit der Entwicklung der Technik wuchs die Fülle der Anlagemöglichkeiten exponentiell und damit auch der Anreiz zur Kapitalbildung.

Die Ökonomie hat dem Kapital fälschlicherweise eine primäre Funktion zugewiesen, während ihm nur die eines Mittlers zukommt. Die Brauchbarkeit des konventionellen Geldkapitals ist von der Existenz des »biologischen Kapitals« (des Ökosystems) ganz und gar abhängig.25 Darum ist das Kapital in unserem Wirtschaftssystem ein — allerdings ausgezeichnetes — Hilfsmittel. Weil es nur ein Hilfsmittel ist, hat es in der Formel der Gesamtwirtschaft nichts zu suchen. Es ist richtiger, dort nicht das »Kapital«, sondern die dinglichen Faktoren R + E einzusetzen. Grundlage der Wirtschaft ist der Kreislauf der Stoffe und nicht der des Geldes! Das sollte die Ökonomie nun endlich anerkennen.26

Kapital spielt insofern eine bedeutende Rolle, als es das jeweils überschüssige Ergebnis von früheren Ausbeutungen der Erde ist, das weitere Ausbeutungen ermöglicht. Die Hoffnung auf künftige Erfolge wird um so größer, je besser das Ergebnis der bisherigen Ausbeute war. Und dieses ist wahrhaftig immer größer geworden!

Das Anwachsen des Kapitals ist auch »das Ergebnis der Anstrengungen der Unternehmungen, ihre Ertragskraft durch Erweiterung der Produktion und durch Verbesserung der Produktionsmethoden und Produkte zu erhöhen«.27) Insofern trägt auch eine verbesserte Arbeitsorganisation und vermehrtes Wissen dazu bei, einen höheren Gewinn und damit neues Kapital zu erwirtschaften. Dieses neue Kapital erlaubt dann wiederum die Verbesserung der Arbeitsmethoden mittels Maschinen und damit eine Ausweitung der Produktion mit höherem Energie- und Rohstoffverbrauch. Hans Binswanger sagt dazu: »In der Marktwirt­schaft steht jeder Betrieb unter ständigem Konkurrenzdruck, d.h. vor der Notwendigkeit, seine Durchschnitts­kosten zu senken, um konkurrenz­fähig zu bleiben.

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Dies ist insbesondere bei steigenden Löhnen nur möglich, wenn der Betrieb vermehrt investiert und bessere und deshalb auch teurere Maschinen anschafft, d.h. die Arbeit durch Kapital ersetzt. Da dies eine Erhöhung der Fixkosten bzw. Abschreibungen bedeutet, rentieren die Investitionen nur, wenn deren Kosten auf eine große Ausstoßmenge umgelegt werden können.«28) (Außerdem haben wir gesehen, daß Strom, Gas, Wasser, Rohstoffe für den Unternehmer um so billiger zu haben sind, je größere Mengen er davon verbraucht.)

Binswanger fährt fort: »Wenn also eine Durchschnitts­kostensenkung zustande kommen soll, muß die Ausstoßmenge erhöht werden. Zu diesem Zweck wird mit Hilfe von Marketing, Reklame usw. versucht, die Absatzmenge zu vergrößern bzw. Bedürfnis nach neuen Produkten zu wecken, die noch nicht dem Zwang zur Kostensenkung unterstellt worden sind. In jedem Falle bedeutet dies eine ständige Vermehrung des mengenmäßigen Umsatzes und damit auch — und das ist der springende Punkt — einen steigenden Verbrauch an natürlichen Ressourcen ..... und an kollektiven Umweltgütern durch die Abfallbelastung.«28

Die Vermehrung des Kapitals ist hauptsächlich durch gesteigerte Ausbeutung der Erdvorräte möglich, und das vermehrte Kapital findet keine ertragreichere Verwendung als in einer wiederum gesteigerten Ausbeutung der Erde. »Die durch die Umsatzsteigerung ermöglichte Gewinn- und Lohnerhöhung führt zu weiterer Kapitalisierung, d.h. zu weiterer Substitution von Arbeit durch Kapital und dadurch wieder zu weiterer Umsatzsteigerung und Umweltschädigung. Insofern kann man also von einem >Multiplikator der Umweltschädigung< sprechen.« In der Marktwirtschaft ist damit »ein sich selbst verstärkender Prozeß der Expansion eingebaut«, der »zur Vernichtung unserer Lebensgrundlagen führt«.29

In der Praxis bedeutet dies, daß ein beträchtlicher Teil der Industrie sich mit dem Bauen neuer Industrie­anlagen beschäftigt, die sogenannte »Investitionsgüterindustrie«. Ihr Anteil betrug in der Bundesrepublik Deutschland zu Anfang der siebziger Jahre 10%. Der Anteil der Arbeitskräfte, die dort beschäftigt sind, liegt aber wahrscheinlich höher, da hier selten eine Massenfertigung am Fließband möglich ist. Ein weiteres kommt hinzu. Es ist in den letzten Jahrzehnten immer risikoloser geworden, Kapital zu investieren.

Und zwar aus drei weiteren Gründen:

1. Infolge der Geldentwertung erzielt in einer expandierenden Wirtschaft immer derjenige die Vorteile aus der Entwertung, der Geld anlegt. 2. Durch die immer stärkere Aufsplitterung der Kapitalanteile auf viele Personen wird das Risiko aufgeteilt; selbst Arbeitnehmer und ihre Organisationen werden Kapitaleigner und sind damit genau wie die Kapitalisten am Gewinn interessiert.  3. Indem der Staat praktisch die Arbeitsplätze garantieren muß, sieht er sich — sobald ein größerer Betrieb in Schwierigkeiten kommt — genötigt, diesen zu retten, um »die Arbeitsplätze zu erhalten«.

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Damit können Unternehmen nicht nur auf Hilfe hoffen, sie halten sogar mit der Drohung, Arbeitsplätze könnten verlorengehen, ein weiteres Machtmittel in der Hand30), das längst — auch gegen den Umweltschutz — ausgiebig eingesetzt wird.

Die Frage, inwieweit man überhaupt noch von »Marktwirtschaft« sprechen kann, sobald der Staat die Arbeitsplätze garantieren muß, sollte einmal untersucht werden.

F.A. Hayek meint zu diesem Problem ganz eindeutig,

»daß die Freiheit des Individuums unvereinbar ist mit dem alles beherrschenden Vorrang eines einzigen Zweckes, dem sich die ganze Gesellschaft völlig und dauernd unterordnen muß.... Daß im Frieden kein Alleinzweck das absolute Übergewicht haben darf, gilt auch von dem einen Ziel, das heute anerkanntermaßen an erster Stelle steht, nämlich von der Beseitigung der Arbeitslosigkeit. Selbstverständlich müssen sich unsere größten Anstrengungen auf dieses Ziel richten; aber selbst das will nicht besagen, daß wir uns von solch einem Ziel ausschließlich beherrschen lassen sollten, daß es, wie die gedankenlose Phrase lautet, <um jeden Preis> erreicht werden muß.«31

Der Preis, den die deutsche Bundesregierung im Jahre 1975 dafür zahlt, beträgt rund 10 Mrd. Mark. (Das Unheil, das damit angerichtet werden könnte, wird erst nach mehreren Jahren sichtbar werden. Auf keinen Fall ist überlegt worden, ob die angekurbelten Arbeiten Nutzen oder Schaden stiften werden.)

Hayek fährt fort: »Tatsächlich kann gerade auf diesem Gebiet der verführerische Charakter verschwommener, aber beliebter Schlagwörter wie <Vollbeschäftigung> zu äußerst kurzsichtigen Maßnahmen führen, und gerade hier wird wahrscheinlich die <Arbeitsbeschaffung um jeden Preis>, die verrannte Idealisten in kategorischer und unverantwortlicher Weise fordern, wohl das größte Unheil anrichten.«32)

Das »Unheil«, mit dem wir uns in diesem Buch befassen, ist nicht das von Hayek gemeinte kurzfristige, das die Marktwirtschaft auch in ihren Fundamenten angreift. Doch bleiben wir kurz dabei: Die Marktwirt­schaft kann auch aus diesen Gründen sehr bald zu bestehen aufhören — nicht nur wegen der »Arbeitsplatz­garantie«. Jedermann weiß heute, daß zum Aufbau einer modernen Produktion mehrere 100 Millionen, oft Milliarden Mark nötig sind.

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Ein Kernkraftwerk allein kostet heute rund 1 bis 2 Mrd. DM. Ein einziger Arbeitsplatz kostete schon 1969 in der Energiewirtschaft 318.284 DM, im Bergbau 74.363 DM und im gesamten verarbeitenden Gewerbe durchschnittlich 27.237 DM.33)

Wenn eine Anlage heute beschlossen wird, dann dauert es allein etwa fünf Jahre, bis sie steht; sie muß dann aber mindestens zehn Jahre laufen, um sich zu rentieren. Das heißt, daß bereits heute beschlossen wird, was die Bürger in den Jahren von 1980 bis 1990 kaufen werden — und nicht von denen, die dann kaufen werden! Eine Marktsensibilität ist im Zeitalter der heutigen Großtechnik überhaupt nicht mehr möglich, da zwischen Ursache und Wirkung eine Zeit von durchschnittlich zehn Jahren liegt. Nach zehn oder auch schon nach fünf Jahren wird aber der Markt längst wieder andere Impulse aussenden. — Dieses Dilemma ist mit marktwirtschaftlichen Mitteln gar nicht überbrückbar.

Einmal aufgenommene Produktionen dürfen doch nicht zum Stillstand kommen, weil ja sonst die ungeheuren darin investierten Kapitalmengen nutzlos brachliegen würden und die Arbeitsplätze verloren­gingen. Also muß mit allen Mitteln dafür gesorgt werden, daß der Markt die Produktion abnimmt, ob er sie will oder nicht. Wo die Werbung nicht mehr hilft, müssen staatliche Mittel her: Steuervergünstig­ungen, verbilligte Kredite, Sonderabschreibungen.

Es ist aufgrund dieser Lage — die durch die modernen Großtechnologien in den USA seit dem I. Welt­krieg, in Europa seit dem II. Weltkrieg allgemein eingetreten ist — kein Wunder, daß die Großunternehmen gar nicht mehr selbst entscheiden wollen. Der Staat soll ihnen die Verantwortung wenigstens insoweit abnehmen, daß sie sich mindestens später auf ihn berufen können. Dies ist eine gute Ausgangsbasis, um den Staat später um Hilfe anzugehen, wenn die Sache schiefgegangen ist.

Mit großer Genugtuung berufen sich heute die Elektrizitätsunternehmen der Bundesrepublik Deutschland auf das Energie­programm der Bundesregierung, das ihnen bis 1985 einen Mehrabsatz von 46% Elektrizität verheißt. Nicht nur, daß sie dies als Rückenstärkung benutzen, um die Gegnerschaft gegen die Kernkraftwerke zu brechen — sie werden später, wenn die Entwicklung anders verläuft, sich ebenfalls auf den Staat verlassen. Wie vereinbart sich eigentlich ein solches »Programm« mit der freien Marktwirtschaft? Wer kann, wenn der Markt bestimmend ist, eigentlich wissen, wieviel Energie in 10 bis 15 Jahren gebraucht werden wird?

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Und wie verfährt eine Regierung bei der Aufstellung solcher Programme? Wie trifft z. B. die deutsche Bundesregierung die Entscheidungen für das Energieprogramm, da sie gar keinen für solche Fragen sachverständigen Personalkörper hat? Sie läßt sich die Unterlagen dafür von der betreffenden Industrie liefern!

Warum gibt sie nicht ehrlicherweise zu, daß dieses Problem ihren Horizont übersteigt und es doch eigentlich Sache des freien Marktes sein sollte zu entscheiden, was im Jahre 1985 gebraucht werden wird? Weil sie eine unheimliche Angst vor der Opposition und der Presse hat, die ihr ja dann Unfähigkeit, verantwortungslose Untätigkeit in Lebensfragen der Nation usw. vorwerfen würde. Also muß sie etwas tun, ganz gleich was — und da verlautbart sie am besten, was alle gern hören werden: 1985 wird allen Haushalten die doppelte Menge Strom zur Verfügung stehen. (Gott sei Dank fragt niemand: Wofür eigentlich und zu welchem Preis?)

Aber das war nur eine Abschweifung in die taktische Lage. Wir betrachten hier das endgültige Unheil der Ausplünderung des Planeten durch Arbeit, die in der Marktwirtschaft ebenso flott voranschreitet wie in der Planwirtschaft. Beide arbeiten mit Kapital, das infolge der Ausbeutung ständig zunimmt.

 

   Die Komplizenschaft von Kapital und Arbeit und Staat    

 

Damit ist genau der Punkt erreicht, wo die Übereinstimmung der Interessen von Kapital und Arbeit offen zutage liegt. Eine einzigartige Machtzusammenballung wirtschaftlicher Interessen findet heute statt, indem Unternehmer und Gewerkschaften praktisch die gleichen Ziele verfolgen.34) Wenn nun die Arbeitnehmer — wie das besonders in Deutschland der Fall ist — mitbestimmen, dann erhöht das die Macht der geballten Wirtschaftsinteressen in einer noch gar nicht voll ermeßbaren Weise. Die Gewerkschaften fordern nicht nur den höchstmöglichen Lohn, sondern auch dessen immer häufigere Steigerung. Sie fordern außerdem immer mehr Arbeitsplätze und »sichere Arbeitsplätze«. Somit sind ihre Ziele mit den Unternehmern durchaus identisch. Immer mehr »rationalisierte Arbeitsplätze« erfordern immer höhere Kapitaleinsätze, bedeuten höhere Produktion und führen damit zu immer größerem Verbrauch der Erdvorräte.

Die Ausbeutung anderer Menschen hat in weiten Teilen der Welt nur darum aufgehört, weil man sich auf die Ausbeutung der Erde geeinigt hat.

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Es geht den Ökonomen »um ein Spiel gegen die Natur, bei dem die Spieler um so mehr gewinnen, je besser sie die Güter unter sich aufteilen«.35)  Da diejenigen, welche die Rohstoffe der Erde ausbeuten und verarbeiten, die größten Gewinner sind (ganz gleich, ob sie als Privatunternehmer, als Aktiengesellschaft oder als Staat auftreten), haben sie es in der Hand, sich über alle anderen hinwegzusetzen. Sie können darauf pochen, daß sie in ihren Industriebetrieben den größten Teil des Sozialprodukts erwirtschaften und daß sie damit den Lebensstandard der ganzen Bevölkerung bestimmen. Sie stellen die meisten und bestbezahlten Arbeitsplätze. Und da Arbeitsplätze sakrosankt sind, ist es eine Sünde, das Urteil solcher Betriebe überhaupt in Zweifel zu ziehen. Sie bringen dem Staat außerdem die Steuern, und das ist noch überzeugender für diesen als alle anderen Argumente. Schließlich können sie auf den sichtbaren Machtzuwachs all der Länder verweisen, die von der Industrie vorangetrieben worden sind: nur die Nationen spielen noch im Konzert der Mächte mit, die auch eine hohe wirtschaftliche Potenz haben.

Von den Gewinnen der Unternehmen leben also nicht nur diese selbst und ihre Arbeitnehmer. Davon leben die Aktionäre und — nicht zuletzt — der Staat. Ihm bringt die vergrößerte Wirtschaft mehr Steuern. Darum ist niemand stärker an Produktionssteigerungen interessiert als der Staat; denn er wird in die angenehme Lage versetzt, immer wieder einen Zugewinn verteilen zu können. Und Hände, die etwas von ihm haben wollen, gibt es wahrhaftig genug. »Unser ganzes Sozialsystem ist auf eine unaufhörliche Steigerung der Bedürfnisse hin angelegt und auch auf eine solche Steigerung angewiesen.«36

Also ist der Staat selbst ein Komplize der Ausbeuter der Erde — der dritte im Bunde. Er ist somit auch daran interessiert, daß jeder Unternehmer — ob groß oder klein — Gewinne macht. Gewinn bedeutet weiteres verfügbares Kapital, das nach Anlage sucht. Diese Anlage wird aber immer dort erfolgen, wo der größte Gewinn winkt. Das ist eben da, wo weitere Rohstoffe ausgebeutet werden können. Der Staat ist auch daran interessiert, daß jeder Arbeitnehmer gut verdient. Das bedeutet Wählerstimmen, und der höhere Konsum bringt wiederum weitere Nachfrage und somit erhöhte Produktion — und noch mehr Steuern.

Die Interessen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer werden überdies von mächtigen Organisationen vertreten.

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»Im demokratischen Staat sind jene Gruppen die relevantesten, die die Ansprüche ihrer Mitglieder auf den zunehmenden Reichtum der Gesellschaft zum Programm erheben, beziehungsweise die Interessen ihrer Anhänger gegen derartige Ansprüche von anderer Seite verteidigen. Die öffentlichen Auseinandersetzungen drehen sich meist um den Anteil der verschiedenen Gruppierungen am Wachstum des Nationaleinkommens, nebenbei kommen dann auch technische Probleme des Fortschritts zur Sprache.«37

Aber wer vertritt denn nun die »Interessen« der natürlichen Umwelt? Bisher niemand!38 Darum ist es selbst­verständlich, daß sie schonungslos geplündert wird. Wer soll und kann für ihre inzwischen lebenswichtig gewordene Erhaltung sorgen? Der Staat? Dieser wird hoffnungslos von den Interessen der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber und anderer Gruppen hin und her gezerrt und ständig unter Druck gesetzt. Was lag näher, als daß er deren Komplize wurde und den wachsenden Appetit auf Kosten der Faktoren befriedigt, die stumm sind, nämlich der Umwelt und der Stoffe.

Der Gegensatz zwischen Kapitaleignern und Arbeitnehmern war schon immer ein Streit um die Anteile am immer größer werdenden Kuchen. Nur dessen dauernde Vermehrung ermöglicht immerzu erneute Verteilungen. Dadurch, daß man den Arbeitern jetzt Anteile am Produktionsvermögen gibt, interessiert man sie zweifach an der Ausbeutung der Erde: durch ihren Arbeitslohn und durch den Profitanteil. Warum sträuben sich eigentlich die Unternehmer, die Arbeitnehmer durch Mitbestimmung immer weiter zu korrumpieren?

Das Parlament ist den Interessenorganisationen der Arbeitnehmer und der Unternehmer ebenfalls ausgesetzt. Darüber hinaus entsenden diese Organisationen längst eine große Zahl von eigenen Abgeordneten in die Parlamente. Inzwischen ist es die zeitaufwendigste Aufgabe der Parlamentarier geworden, das Vorhandene immer so zu verteilen, daß die größtmögliche Zahl bei guter Laune gehalten wird. Dazu reicht aber das Vorhandene längst nicht mehr aus; darum wird auch schon das noch nicht Vorhandene verteilt. Da wir ja seit längerer Zeit Produktionssteigerungen hatten, lag darin bisher kein ernsthaftes Risiko — es sei denn, das der Inflation.

In der Währungspolitik wird noch einmal die gleiche Manipulation mit der Zeit vorgenommen, wie wir sie schon in bezug auf die »Bodenschätze« und auf das »Wissen« beschrieben haben: Es erfolgt ein Vorgriff auf die Zukunft! Die Währungspolitik wird so betrieben, daß erst einmal Berechtigungsscheine verteilt werden auf Güter, die man noch gar nicht produziert hat. Denn um nichts anderes handelt es sich bei den zuviel in Umlauf gesetzten Zahlungsmitteln. Doch einen Vorteil hat das Geld: es läßt sich nicht betrügen — es wehrt sich mit Inflation.

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Die Inflation ist der erste Indikator, daß etwas nicht mehr stimmt. Das bereits auf Verdacht (über das Geld) Verteilte ist immer später und später zu haben, bis es schließlich überhaupt nicht mehr zu bekommen sein wird.

Das mit Geld gegebene Versprechen auf Güter übt einen Zwang zur Produktionssteigerung aus. Das ist somit die Grundlage des ganzen Wirtschaftssystems. Hans Binswanger folgert, nachdem er die Planwirt­schaft behandelt hat: 

»In Wirklichkeit ist aber auch in der Marktwirtschaft der Staat primär auf Umwelt­schädigung eingestellt, und zwar aus fiskalischen Gründen: er ist letztlich der Urheber der Geldvermehrung und der Inflation, ohne welche die forcierte Expansion und Umweltschädigung gar nicht möglich wäre. Seine Raumplanung geht vor allem von den Interessen der Gemeinden aus, die dem gleichen Wachstumszwang unterliegen wie die Privatwirtschaft; und das im wesentlichen staatlich organisierte Bildungs- und Forschungswesen ist praktisch ausschließlich auf das Ziel ausgerichtet, Arbeit durch Kapital zu ersetzen und so das Mehrproduktionsziel der Wirtschaft zu unterstützen.«39

In der Bundesrepublik Deutschland wurde das wirtschaftliche »Wachstum« sogar gesetzlich verankert. Der Deutsche Bundestag hat am 10. Mai 1967 mit Zustimmung aller Parteien ein »Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft« beschlossen. Als Ziel des Gesetzes wird im § 1 festgestellt: »Bund und Länder haben bei ihren wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu beachten. Die Maßnahmen sind so zu treffen, daß sie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig zur Stabilität des Preisniveaus, zu einem hohen Beschäftigungs­stand und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschafts­wachstum beitragen.« Damit hat man etwas gesetzlich »verankert«, was es in der irdischen Welt überhaupt nicht geben kann. Es kann niemals Stabilität geben, wo man gleichzeitig die ständige Steigerung, d.h. Mehrproduktion anstrebt. Wenn man an keine anderen Grenzen stoßen würde — auch das ist jetzt schon der Fall —, so doch an die unseres Planeten.

Wir haben dargelegt, daß es Wachstum nur in der Natur gibt, wo durch das Gegengewicht des Todes die Stabilität gewährleistet ist. Bei der menschlichen Produktion aber, die hier gemeint ist, hätte man sich zunächst einmal danach erkundigen sollen, womit die Produktion gespeist wird. Wenn man das weiß — bisher wußte man es offenbar nicht — dann kann man feststellen, ob die Zufuhren unerschöpflich sind und selbst dann bleiben werden, wenn man immer mehr haben will.

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Nach Annahme dieses Gesetzes hatte die Bundes­republik Deutschland von 1968 bis 1973 jährliche Steigerungen des Bruttosozialprodukts von 5%. Das bedeutet nach der Hochrechnung am Anfang dieses Kapitels in 100 Jahren eine Steigerung auf das 130fache (!) Da kann man nichts weiter tun, als ernstlich die Frage prüfen, ob wir in einem Irrenhaus leben!

»Parteien der Rechten und Parteien der Linken (ich verwende diese Begriffe, damit das, was ich sage, auf jedes westliche Land anwendbar ist, und überlasse es dem Leser, Konservative, Sozialisten oder jede beliebige Variante einzusetzen, an die er eben gewöhnt ist) stimmen in einem Punkt überein: Der materielle Reichtum ist der Zweck der Übung. Selbst Marxisten und Maoisten sind sich mit Konservativen und Republikanern darin einig, daß sie das Bruttosozialprodukt so schnell wie möglich steigern wollen.«40 So sagt es der Engländer Gordon R. Taylor. Es ist in diesem Zusammenhang gleichgültig, wie viele andere Staaten solche oder ähnliche Gesetze haben wie die Bundesrepublik Deutschland; sie handeln mehr oder weniger alle so. Alle halten witzigerweise nur endloses »Wachstum« für Stabilität.

Der Erfolg der Parteien und Regierungen hing bisher beinahe ausschließlich davon ab, wieweit ihnen die Erhöhung des Brutto­sozialproduktes gelang. Die magischen Steigerungsprozente schlugen sich in Prozenten der Wahlergebnisse nieder. Natürlich mußten sie auch die »Vollbeschäftigung« garantieren, wenngleich die Völker da schon unterschiedlich verwöhnt waren. Wie erreichten sie beides zugleich? Genau mit den Mitteln, die Hans Binswanger beschrieben hat: mit gesteigerter Ausbeutung der Erde. Und um die Lust an der Kapitalanlage, besonders den Kauf von Aktien, aufrechtzuerhalten, muß das Vertrauen in weiteres »Wachstum« ungebrochen bleiben. Aktien sind »Wachstumspapiere«, wenn sie andauernd fallen, ist niemand mehr geneigt, sein Geld zu riskieren.41

Also wird keine Regierung im Stande sein, die Güter der Erde zu schonen; denn sie wird an die nächste Wahl und nicht an die des Jahres 2010 denken. Höchst fatal wird die Sache allerdings dann, wenn schon im Jahre 1973 störrische Erdölbesitzer die ausgefallene Idee haben, ihrerseits an das Jahr 2010 zu denken. Dann stimmt freilich die Welt nicht mehr! Damals boten die Regierungen der Industrieländer das Bild eines Hühnerhofes, in den der Fuchs eingebrochen ist. Inzwischen hat der Fuchs sich übersättigt in den Wald zurückgezogen — und schon glaubt kein Huhn mehr, daß es ihn wirklich gibt.

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Aber die Völker sind unsicher geworden, der fröhliche Optimismus ist verflogen. Die alten Rezepte verfangen offenbar nicht mehr so richtig. Die Stunde der Wahrheit ist angebrochen! Die Tatsachen brechen mit aller Gewalt über Systeme herein, die weder auf die kommenden Aufgaben vorbereitet sind, noch ihre gefährliche Lage erkannt haben.

Barry Commoner schildert ihre bisherige Arbeitsweise:

»Was in unserem Leben wirklich und — im Gegensatz zu der nachvoll­ziehbaren Logik der Ökologie — chaotisch und schwer zu handhaben ist, ist die scheinbar hoffnungslose Trägheit des ökonomischen und politischen Systems; seine phantastische Behändigkeit, sich um die Grundprobleme herumzuwinden, die die Logik offenbart; das selbstsüchtige Manövrieren derer, die an der Macht sind, und ihre Bereitschaft — oft unwissentlich, manchmal aber auch zynisch —, sich selbst der Umweltzerrüttung als eines Mittels zur Erlangung noch größerer politischer Machtfülle zu bedienen; die Hoffnungslosigkeit des einzelnen Staatsbürgers, der sich mit dieser Macht und ihren Ausflüchten konfrontiert sieht; die Verwirrung, die wir alle empfinden, wenn wir einen Ausweg aus dem Umweltdilemma suchen. Um eine Verbindung zwischen der Logik der Ökologie und der Realität herzustellen, müssen wir sie zu den gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Kräften in Beziehung setzen, die sowohl unseren Alltag als auch den Gang der Geschichte bestimmen.«42)  

Immer mehr hervorragende Geister erkennen allerdings das Problem und versuchen, aus der neuen Lage ein anderes Weltbild zu entwickeln. So hat der 1974 verstorbene Staatsrechtler Ernst Forsthoff 1972 in einem Vortrag die neue Aufgabenstellung definiert:

»Die Situation, um die es hier geht, ist von Grund auf anders. Hier haben wir auf der einen Seite die technische Realisation, eine geschichtsmächtige Potenz, von Menschen getragen und von mächtigen organisierten Interessen gefördert, auf der anderen Seite kein organisiertes Interesse, keine religiöse, weltanschauliche oder sonstwie formierte soziale Gruppe, sondern das schlichte Interesse von jedermann. Diese Gegenüberstellung bezeichnet eine aufkommende Konfliktlage; ... Diese Konfliktlage ruft nach dem Staat. Denn wer wäre sonst berufen, als Beschützer der Interessen von jedermann und damit als Hüter des Gemeinwohls im schlichtesten Sinne des Wortes in die Schranken zu treten, als er? Es fehlt nicht an Stimmen, die den Staat als Opfer der gesellschaftlichen Mächte bereits totgesagt haben. Das ist eine Meinung, die ihren Wahrheitsbeweis noch nicht erbracht hat. Die Zukunft muß lehren, ob wir der Macht der organisierten Interessen wehrlos ausgeliefert sind. Sollte es so sein, so wären die Konsequenzen unübersehbar.«43)  

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Forsthoff entwickelt seine Forderung als Antwort auf die »technische Realisation«, die seit über 100 Jahren die Welt beherrscht. Den ganzen Umfang der Bedrohung hat aber auch er nicht berücksichtigt. Da er sich nur mit dem Umweltschutz im engeren Sinne befaßte, durfte er noch ziemlich hoffnungsvoll sein. Er sah jedoch schon realistisch, daß wir den organisierten Interessen bereits soweit ausgeliefert sein könnten, daß eine Wende unmöglich ist. Der Staat müßte erst seine Handlungsfreiheit zurückgewinnen. Dies kann er nur, wenn er sich aus den Verflechtungen mit den Interessengruppen zu lösen vermag. Erst dann wird er seine Politik nicht mehr auf den Tag abstellen müssen, sondern auf die Zukunft richten können.

 

     Mehrproduktion als Machtentfaltung     

 

Wie steht es nun mit der sozialistischen Wirtschaft des Ostens? Wie behandelt diese die Erde ihrer Völker? Die Antwort ist kurz: genauso!

Aber hier stand doch nun wirklich gleich am Anfang eine große Theorie. Diese beansprucht sogar, nicht nur die Wirtschaft, sondern die ganze Geschichte in ihrem zwingenden Ablauf erkannt zu haben. Leider war diese Theorie im entscheidenden Punkt genauso falsch wie die westliche.

Karl Marx beschreibt in seiner Mehrwerttheorie, daß Kapital und Arbeit in den Warenwert eingehen und sagt: »Das Kapital besteht aus Rohstoffen, Arbeitsinstrumenten und Lebensmitteln aller Art, die verwendet werden, um neue Rohstoffe, neue Arbeitsinstrumente und neue Lebensmittel zu erzeugen. Alle diese Bestandteile sind Geschöpfe der Arbeit, aufgehäufte Arbeit.«44 Gerade das sind sie eben nicht! Ohne die Erde und ihre Bestände gäbe es weder Rohstoffe noch könnten Lebensmittel wachsen. Aber Marx darf nicht anerkennen, daß diese Güter einen Eigenwert haben, weil dann seine Theorie nicht mehr stimmen würde, daß diese Güter Ergebnisse der Arbeit seien.

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Hans Binswanger weist auf Karl Marx' Aussage im 1. Band des Kapitals hin45, daß »jeder Fortschritt der kapitalistischen Agrikultur ... nicht nur ein Fortschritt (ist) in der Kunst, den Arbeiter, sondern zugleich in der Kunst, den Boden zu berauben, jeder Fortschritt in der Steigerung seiner Fruchtbarkeit für eine gegebene Zeitfrist (ist) zugleich ein Fortschritt im Ruin der dauernden Quellen dieser Fruchtbarkeit .... Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.«46

Dieser wichtige Gedanke bleibt aber bei Marx ebenso ohne Folgen wie gelegentliche ähnliche Überlegungen westlicher Theoretiker.

Karl Marx will eben den gesamten Mehrwert der geleisteten Arbeit gutschreiben. Den Betrug der Kapitalisten erblickt er darin, daß sie das nicht tun. Natürlich wäre es möglich gewesen, diesen Mehrwert sofort an die Arbeiter oder an die ganze Bevölkerung zu verteilen, anstatt Kapital zu bilden. Dann wäre aber die Erschließung immer weiterer Rohstoffquellen und der Aufbau neuer Industrien nicht möglich gewesen. Die Kapitalisten im Westen haben sich im eigenen Interesse und im Interesse der Nachkommen (auch der Arbeiter) — so wie man deren Interesse bis heute verstand — für die immer erneute Kapitalanlage und damit für die Produktionssteigerung größten Umfanges entschieden. Und die Kommunisten in der Sowjetunion taten später genau dasselbe. Sie ließen die lebenden Arbeiter zugunsten zukünftiger Arbeiter schuften. Dies mußten sie in einem noch viel stärkeren Maß tun, als Rußland einen enormen Rückstand aufzuholen hatte. Durch diese Gewaltkur ist die Sowjetunion — auch ohne Profitmotiv — zu den industrialisierten Ländern vorgestoßen.

Hier wie dort gelang es im Laufe der Geschichte, die Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft zunehmend durch die Ausbeutung der Erde zu ersetzen. Die Voraussetzung dafür war aber der Reichtum der Erde - und nicht der Besitz von Kapital. Das Kapital haben sich auch die sowjetischen Machthaber aus der Erde geholt. B. de Jouvenel meint, daß eine Revolution dazu nicht notwendig gewesen wäre. Zumindest decken sich die Erscheinungen beider Gesellschaften (USA und SU) »in auffallender Weise: ihr Hauptinteresse besteht trotz enormer Widersprüche ideologischer Art in der Steigerung der Produktivität«.47

In ihren Anfängen erhob die sozialistische Literatur die Forderung nach Gleichheit und sozialer Brüderlich­keit und verband damit die »klassische Haltung der Mäßigung der Bedürfnisse«48, wie Bertrand de Jouvenel darlegt; wogegen sie die industrielle Expansion mit Mißtrauen verfolgte. Aber die Maschinen faszinierten bald auch das revolutionäre Rußland, da sich in ihnen die Herrschaft des Menschen über die Natur manifestierte.

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Das Gefühl dieser Herrschaft haben die sowjetischen Führer aus dem Westen übernommen, »um aus ihm ein Prinzip zu machen; dabei haben sie all das ausdrücklich formuliert, was andernorts unausgesprochen schon wirksam war«.49 Carl Amery stellt es farbig dar:

»Der Held ist der Mehrarbeiter, der Recke der Realitätsveränderung im Sinne der Produktionssteigerung ... Hier wird das Pathos generiert, auf das es noch in allen Sozialismen ankam: der homo oeconomicus des Adam Smith wird ja vom Sozialismus keineswegs geleugnet. Wenn überhaupt, soll er durch die Ökonomie, durch die Ordnung der Volks- und Weltwirtschaft überwunden werden. Unzählige Orden, Bulletins, Fünf- und Mehrjahrespläne, Romane und Filme, das ganze Arsenal der Traktor- und Fabrik-Propaganda, der Erzeugungsschlachten zwischen Elbe und Amur dient doch wohl dazu, zu beweisen, daß erst mit dem Sozialismus die Ausbeutung der Erde so richtig in Schwung kommen wird; oder was soll es sonst beweisen? Worin unterscheidet sich aber dieses Pathos von der Fetischisierung der Ware, die man dem kapitalistischen Westen vorwirft — jedenfalls in der Auswirkung auf das Selbstverständnis des Menschen in dieser Welt?«50)   

Auch für den Umweltschutz war dort bisher kein Raum. Der Produktionserfolg hatte den Vorrang — »über Sieger wird nicht zu Gericht gesessen« stellte das Regierungsblatt Iswestija in einem Leitartikel zum Problem des industriellen Umweltschutzes fest.51

Der Ökologe Gerhard Helmut Schwabe meint wie viele andere, daß die Entwicklungstendenz des kapitalistischen wie des sozialistisch-kollektiven Systems »vorerst auf Verdichtung der Selbstbedrohung gerichtet« ist; denn auch hier wird das »Wohl der Menschheit« als Auftrag zum materiellen Fortschritt verstanden, der mit missionarischem Eifer betrieben wird.52

Für den Osten wie für den Westen trifft Hans Freyers Feststellung zu: »Was das Bewußtsein seiner weltgeschichtlichen Bedeutung betrifft, hat das industrielle Zeitalter niemals unter übergroßer Bescheidenheit gelitten. Es hat das Unternehmen, das in ihm begann, nicht als die bloße Umbildung einer Sozialordnung in eine andere, sondern als den Durchbruch zu einer schlechthin neuen, wohl gar zur endgültigen Lebensform der Menschheit betrachtet. In einigen seiner Ideologien ist der Übergang zur Industriekultur zu einer Weltwende aufgedonnert und mit Worten beschrieben worden, die aus dem Sprachschatz religiöser Eschatologien stammten, und selbst Theorien, die mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit auftraten, waren in dieser Hinsicht kaum zurückhaltender.«53

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Das Sendungsbewußtsein des Kommunismus und seine bedrohte Lage während der ersten Jahrzehnte der Sowjetunion hatten ungeheure Anstrengungen auf Verstärkung der Macht zur Folge. Die Industrialisierung und die radikale Ausbeutung der Natur stehen im Dienste der Machtentfaltung des Staates. Man kann allerdings auch mit Bertrand de Jouvenel die Macht als eine »Lektion des Abendlandes« begreifen und mit ihm schließen, 

»daß der Westen seine eigene Lehre noch am schlechtesten praktiziert hat: die Sowjetunion beherrscht sie besser ... Die industrielle Revolution im Westen hat die hinderlichen Traditionen allmählich überwunden. Hier war der ökonomische Fortschritt eine Art Hindernislauf — in Rußland dagegen räumte man alle Hindernisse rücksichtslos aus dem Weg.«54

Die Sowjetunion hat sich als Staat völlig mit der Technik identifiziert. Folgerichtig gab es in der sowjetischen Regierung schon seit je Ministerien für die verschiedenen Bereiche der Technik und der Wirtschaft. Lenin sagte: »Erst dann, wenn das Land elektrifiziert ist, wenn die Industrie, die Landwirtschaft und das Verkehrswesen eine moderne, großindustrielle Grundlage erhalten, erst dann werden wir endgültig gesiegt haben.«55

Dieser wie viele andere Aussprüche, aber noch mehr die Fakten beweisen, daß Technik und Wirtschaft als Hauptelemente der Macht des sowjetischen Systems gesehen werden müssen. Wilhelm Fucks glaubt für alle Länder nachweisen zu können, daß ihre Macht ein Produkt aus Stahl- und Energieproduktion sowie der Bevölkerungsgröße ist (<Formeln zur Macht>, 1965).

Rußland hatte im I. Weltkrieg besonders drastisch erfahren, daß die Grundlage der militärischen Stärke nicht mehr die reine Menschenzahl war. Früher hatte man in Europa noch Krieg führen können, indem man Menschen besoldete. Im 20. Jahrhundert muß man dazu eine gewaltige Industrie haben, die dann jederzeit in eine Rüstungsindustrie umgewandelt werden kann. Im Zuge dieser Wandlung hatte Deutschland schon im vorangehenden 19. Jahrhundert die Vormacht auf dem europäischen Kontinent gewonnen, die Vereinigten Staaten aber den I. und den II. Weltkrieg entschieden.

Was die Vereinigten Staaten so nebenher erledigen konnten, dazu bedurfte es in der Sowjetunion einer gewaltigen Kraft­anstrengung aller Völker. Der Erfolg führte zur Gleichrangigkeit mit den USA auf militärischem Gebiet bis hin zum atomaren Patt.

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Dafür mußte aber ein sehr hoher Preis entrichtet werden: die Arbeitskräfte, Rohstoffe und Energien der Sowjetunion wurden zu einem viel höheren Anteil von den Rüstungsindustrien verbraucht, als das im Westen jemals der Fall war, wo der materielle Wohlstand außer in Kriegszeiten stets den Vorrang hatte.

Da die Rüstungen immer dem höchsten Stand der Technik entsprechen müssen, liegt in ihnen eine weitere Ursache des welt­weiten Aufbaus der Industrie. Aber nicht nur das. Die Forcierung der Kriegstechnik hat gewaltige Neuerungen mit sich gebracht, die dann auch sehr schnell im zivilen Bereich eingesetzt wurden. Die spektakulärsten sind Kernenergie, Radarwellen und Raketentechnik. Insofern ist der Krieg tatsächlich der »Vater«, wenn nicht aller, so doch vieler Dinge. 

In diesen Fällen allerdings nicht zum Heile der Menschen; denn einigen unter ihnen wurde mit dem Atom die Macht in die Hand gegeben, über Nacht die ökologische Vernichtung des Planeten auslösen zu können. An diese Drohung hat sich die Menschheit inzwischen bereits gewöhnt. Sie hat ja auch gar keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, da sie so ungeheuer intensiv an der mittelfristigen Vernichtung der Erde arbeitet. Da diese aber weniger spektakulär, vielmehr schleichend daherkommt, wird sie auch gefährlicher, vor allem unausweichlicher als die atomare Vernichtung werden. Denn sie bleibt nicht nur weitgehend unbemerkt, sie läuft auch dann weiter, wenn keine Entschlüsse gefaßt werden. Die Entwicklung der Welt wird heute viel stärker von den vielen Dingen bestimmt, die unentschieden bleiben, als von den wenigen, die echt entschieden werden. Zur Auslösung eines Atomkrieges ist immerhin der Entschluß einiger — wie wir hoffen — verantwortungsvoller Staatsmänner nötig.

In unserem Zusammenhang interessiert der Druck zur Produktionssteigerung, der von dem Machtstreben der Staaten, insbesondere der Großmächte, ausgeht. Denn auch für die Rüstung werden enorme Vorräte der Erde verbraucht. Dennoch ist festzustellen, daß Naturvölker und auch die Staaten der Antike und des Mittelalters einen größeren Anteil ihrer Wirtschaftskraft für ihre Bewaffnung aufgewendet haben als die Neuzeit. Der relative Anteil der Rüstungsausgaben am Sozialprodukt geht in der Welt sogar seit 1952 langsam zurück.56 Aber angesichts der absoluten Mengen an Rohstoffen und Energien, die von den Mächtigen heute der Erde entnommen werden, sind allerdings die früheren Einsätze für die Rüstung lächerlich gering gewesen — nicht anders als bei der Produktion friedlicher Güter.

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     Der Ost-West-Gegensatz     

 

Der Ursprung des großen Gegensatzes zwischen Ost und West ist ein wirtschaftstheoretischer. Es geht (ideologisch) darum, wer sich schneller dem Ziel des allgemeinen Überflusses zu nähern vermag. Der »Wettkampf der Systeme« ist, soweit es sich um einen friedlichen Wettstreit handelt, ein Wettkampf um die vollendetste Ausbeutung der Erde. Das Ziel des Westens ist dabei der Profit, der natürlich auch die Macht erhöht; das des Ostens die Macht, die auch persönliche Profite bringt. 

»Jedenfalls ist die sozialistische wie die kapitalistische Wirtschaftstheorie ohne Berücksichtigung der begrenzten Kapazität des biologischen Kapitals, wie es das Ökosystem nun einmal darstellt, entwickelt worden. Infolgedessen hat auch noch keines der beiden Systeme eine Methode entwickelt, seine Wirtschaftsstruktur den ökologischen Erfordernissen anzupassen. Keines der beiden Systeme ist ausreichend auf die Konfrontation mit der Umweltkrise vorbereitet ...« 57

Wie sollte das auch anders sein. Beide Systeme haben die gleiche Wurzel: den Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts.

Der im 18. Jahrhundert ursprünglich geistig verstandene Gehalt des Fortschrittsglaubens hatte im 19. Jh. einen neuen Inhalt bekommen. »Fortschritt hieß nun: Fortschritt der Industrie und der ihr gemäßen Lebensform, und was entgegenstand, wurde zum Exponenten des Rückschritts oder zum Relikt der alten Zeit ...«58 Das ist die Art Fortschritt, wie ihn die Unternehmer und die Gewerkschaften gleichermaßen auf ihr Banner geschrieben haben. Und die heutigen Parteien, die — so gut wie alle — Wirtschafts­parteien sind, wollen auf jeden Fall bei den Kriegsgewinnlern sein in diesem ach so erfolgreichen Krieg gegen die Erde.

Sie wollen auch profitieren, indem sie jeden »Fortschritt« als ihr Verdienst hinstellen, und sie überbieten sich tagtäglich in Ankündigungen noch größerer Fortschritte. Ja, sie sind wie die Spürhunde unterwegs, um etwas zu finden, was eine andere Partei noch nicht gewittert hat. Laut schreiend verkünden sie dann das Versäumnis an »Fortschritt«. Dabei ist es beinahe belanglos, ob sie sich näher an die Unternehmer oder näher an die Arbeitnehmer halten. Die Stoßrichtung ist immer die gleiche: »Mehr Wachstum — materielles Wachstum! Wohlstand für alle!«

Unter »Fortschritt« versteht man heute fast nur den materiellen — und den der Wissenschaft natürlich; aber diesen nur, soweit man von ihm weiteren materiellen Fortschritt erhofft. Eigenartigerweise verkündet man seit über 100 Jahren den Materialismus.

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Und dennoch hat man kurioserweise bis heute noch nicht begriffen, daß Materialismus vor allem eines nötig hat: Materie und immer wieder Materie! Der Materialismus einer exponentiell wachsenden Menschheit braucht soviel Materie, wie sie dieser Planet auf Dauer überhaupt nicht, ja nicht einmal für Jahrhunderte ausreichend, liefern kann! Eigenartige Materialisten sind das! Sie sind eben keine Realisten, sondern Glaubensfanatiker, Anhänger des dümmsten, aber auch des gefährlichsten Glaubens, den die Menschheit bisher hervorgebracht hat.

 

Das ist im Westen nicht anders als im Osten. Seit der Materialismus nach amerikanischem Vorbild in Europa endgültig eingeführt wurde, ist er auch hier zu einer Ersatzreligion aufgestiegen, der nun sogar große Teile der christlichen Pastorenschaft willig Gefolgschaft leisten. Die Werte dagegen, die der Westen zu verteidigen vorgibt, liegen völlig mißachtet auf den Abfallhalden der Geschichte herum.

Da weder die alte Religion, weder der geistige Freiheitsraum oder die kulturellen Werte im Westen noch hoch veranschlagt werden, bleibt als Vergleichsmaßstab mit dem Osten nur der »Lebensstandard«. Und der steigt in kommunistisch regierten Ländern auch. Darum ist die Differenz zwar noch groß, aber eben nur relativ. Wo können da noch Widerstandskräfte mobilisiert werden, zumal sich auch im Westen das Gefühl verbreitet, daß der Materialismus in ein Stadium kommt, wo es ohne Planung nicht mehr gehen wird?

Warum konnte der schon mit soviel theoretischen Fehlern behaftete Marxismus in den letzten Jahren wieder einen solch erstaun­lichen Auftrieb erhalten? Weil der an geistiger Schwindsucht leidende Westen ihm nichts anderes entgegenzusetzen vermochte als den stupiden Beweis, daß er mehr Güter produzieren könne. Was im nordatlantischen Bereich nach dem II. Weltkrieg vor sich ging, war der — zunächst wahrscheinlich gar nicht beabsichtigte — Versuch, den Materialismus durch noch mehr Materialismus zu widerlegen.

Zum eigentlichen Hauptgegenstand des Streites entwickelte sich somit nach dem II. Weltkrieg die Frage: Wer frißt die Erde schneller kahl? Um den Sieg in diesem Wettstreit kämpfen die beiden gewaltigsten Machtzusammenballungen, welche die Erde je hervorgebracht hat. Doch beide sind hohl an Sinn. Ihre einzige Sinnbestimmung liegt nur noch darin, Sieger in einem Wettstreit zu bleiben, der sich jetzt als ein Wettlauf zum Abgrund herausstellt. Dieser Abgrund wird nicht gesehen, weil der Materialismus beider Seiten unfähig ist, die nutzbare Materie als einmaliges Ergebnis der Zeiten zu erkennen.

In der westlichen Wirtschaft fehlte bisher jede zeitliche Komponente.

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Im Osten gibt es Pläne, Fünfjahres- und Perspektivpläne. Aber auch diese orientieren sich nicht an der Zukunft, sondern die Zukunft soll nach dem Plan verlaufen, der aufgrund heutiger — nicht künftiger — Forderungen aufgestellt wird. Planmäßig ist vor allem die Steigerung.59 Anscheinend hat auch die kommunistische Partei das Gefühl, daß dies ihr hauptsächlicher Berechtigungs­nachweis ist. Der Konkurrenzkampf zwischen Ost und West liefert also noch zusätzliche Antriebsmotive für die industrielle Mehrproduktion, nicht nur im Bereich der Rüstung.

Die heutige Auseinandersetzung zwischen Ost und West wird aber in einer zukünftigen Geschichts­schreibung (falls es die noch geben wird) etwa den gleichen Rang einnehmen wie der Dreißigjährige Krieg in unseren Augen. Wie dieser eine Auseinander­setzung um den »rechten Glauben« innerhalb des Christentums war, so ist der jetzige Kampf eine Auseinander­setzung unter den Fortschrittsgläubigen über den schnellsten Weg des »Fortschritts«.

Dieser Krieg ist ab 1917 mit einem solchen Fanatismus ausgetragen worden, wie er nur zwischen den Anhängern einer Religion ausgetragen werden kann, wenn beide Parteien für sich in Anspruch nehmen, allein im Besitz der rechten Lehre zu sein. Ein weiterer Glaubenskrieg unter ideologischen Brüdern findet in diesen Jahren zwischen der Sowjetunion und China statt.

Der materielle Fortschrittsglaube unserer Zeit verdummt die Völker in weit gefährlicherer Weise, als dies jemals eine Religion zustande brachte, die ja nach Aussage der Verfechter der einen Fortschrittspartei »Opium für das Volk« gewesen sein soll. Alexander Rüstow schreibt in der schon genannten Arbeit: »Diese entfesselte Begeisterung für den technischen Fortschritt, und zwar für den Fortschritt rein als solchen, abgesehen von jeder Zweckmäßigkeit und jeder Nützlichkeit, nimmt so geradezu den Charakter einer dämonisch unseligen Erlösungsreligion an, des unheimlich-ziellosen Kreuzzuges einer rekordwütigen Höchst­leistungs­begeisterung um jeden Preis. Und wie jede Theologie, so fordert paradoxer- und gespenstischer­weise auch diese gottlose Religion des entfesselten Rationalismus zuletzt das sacrificium intellectus: Jede Frage nach dem Sinn des Ganzen, jeder Zweifel, ob Aufwand und Opfer auch lohnen, ist schon Sünde wider den Geist und unverzeihliche Glaubensschwäche. Religiöser Wahnsinn wird zur Pflicht. Es gibt nur noch eine Parole: Vorwärts! Vorwärts!«60

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       Der totale Sieg endet in der totalen Selbstvernichtung     

 

Die Religion des Fortschritts hat allerdings den transzendenten Heilslehren eines »voraus«: sie wird ihre totale Pleite noch auf dieser Erde erleben — und das in ziemlich kurzer Frist. Diese Hoffnung können alle die haben, die noch einigermaßen bei Vernunft geblieben sind, oder diejenigen, die sie jetzt langsam wiedererlangen. Denn das wird jetzt jedem klar, der nicht völlig mit Blindheit geschlagen ist: Unsere modernen Wirtschaftsformen stehen nicht darum am Ende ihrer Möglichkeiten, weil sie erfolglos waren, oder weil sie zu wenig Erfolg hatten — sondern gerade wegen ihrer grandiosen Erfolge.

Es steht außer allem Zweifel, daß die freie Wirtschaft und in geringerem Maße auch die Planwirtschaft großen Teilen der Menschheit zu einem materiellen Lebensstandard verholten hat, der früher unglaublich erschien. Das Leistungsprinzip hat gerade dort, wo es ein höheres Maß an Freiheit ließ, zu einem Wettstreit der Ideen, der angewandten Wissenschaften und Techniken, der vorteilhaftesten Kapitaleinsätze und der Arbeitsleistungen geführt. Den Erfolg zeigen die immer steiler in die Höhe schießenden Kurven der Produktion, an der alle Beteiligten mehr oder minder profitierten. Diejenigen hatten dabei den größten Vorteil, die den höchsten Anteil an Rohstoffen und Energien mit der geringsten Rücksicht auf die Umwelt verarbeiteten.

Der Erfolg ist so groß, daß heute von manchem Rohstoff in einem Jahr schon 1/20 des gesamten bekannten Weltvorrats verarbeitet wird, während wenige hundert Jahre zuvor nur ein verschwindend kleiner Bruchteil des Vorrats angegriffen wurde. In unserer Produktionsformel betrug damals vielleicht R/Z = 1/1.000.000 oder noch weniger. Aber selbst der jetzige Verbrauch genügt den heutigen Regierungen, Parteien, Unternehmern, Gewerkschaften noch nicht. Sie versprechen, den Verbrauch auf 1/15, ja auf 1/10 pro Jahr zu erhöhen, und sie betonen die absolute Notwendigkeit einer solchen Politik. Und die meisten Menschen glauben ihnen auch — noch.

Sämtliche Prinzipien, nach denen wir heute handeln, sind zu einer Zeit entwickelt worden, als die Menschheit mit der Vorstellung von einer unendlichen Erde lebte, die noch dazu schwach besiedelt war. Es waren die Zeiten, zu denen sich der Mensch gegenüber den Naturkräften klein und hilflos fühlte und seine eigenen Machtmittel, mit den heutigen verglichen, geradezu armselig waren. Aber: »Ideen, die wir in den Tagen der Armut entwickelt haben, sind jedoch in einer Wohlstandsgesellschaft ein schlechter Führer.«61

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Adam Smith ging davon aus, daß jede private Verfolgung der eigenen Interessen sich zum gemeinsamen Wohl des Ganzen entwickeln würde. Da wir uns heute aber im rasenden Tempo den Grenzen nähern, die der Erdball der menschlichen Expansion setzt, muß sich die Summe der vielen privaten Entscheidungen, wie die der Regierungen, destruktiv auswirken. Die Produktion, die heute jemand zu seinem Nutzen aufnimmt, vermindert die zur Verfügung stehenden Rohstoffe für andere Güter, die vielleicht weit lebenswichtiger sind. Hier führt das freie Spiel der Kräfte zwar zum höchstmöglichen Nutzen in der Gegenwart, aber mit der Folge unausweichlichen Mangels in der Zukunft. Am Ende steht nicht das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl, sondern das schnellstmögliche Nichts für die größtmögliche Zahl.

Die erschreckende Erkenntnis unserer Tage heißt: Je gewaltiger die Erfolge in den Himmel wachsen, desto furchtbarer wird die Katastrophe sein!

Im Sturmlauf des Fortschritts hatte der Mensch geglaubt, die Natur ohne Gegenleistung plündern zu können. Er hat sich aber nur selbst betrogen, weil er Schulden auf dem Konto »Zukunft« anhäufte. Diese Schuldforderung wird niemals bezahlt werden können! Wir haben nachgewiesen, daß unsere heutige Lebensweise auf Kosten der Zukunft geht — unser Reichtum ist deren Armut. Wenn Pierre Bertaux meint, es sei unsere Aufgabe, »die Zukunft zu kolonialisieren«, weil der Raum verbraucht ist, dann ist dies ein weiterer verheerender Irrtum; denn die Zukunft wird bereits lange von uns mitverbraucht.62 Die kommende Armut, verteilt auf eine wachsende Zahl von Menschen, wird zu noch größerer Armut führen. Und der Mangel wird um so katastroph­alere Ausmaße annehmen, je weiter der Verbrauch heute gesteigert wird.

Es ist sicher kein Zufall gewesen, daß die Europäer, als sie in Nordamerika einen menschenleeren Kontinent entdeckten, der fast so groß war wie das bekannte Eurasien, gerade dort eine Kultur der absoluten Verschwendung aufbauten. Diese ist inzwischen als die ineffektivste Kulturform erkannt worden, die die Menschheit je hervorgebracht hat. Deren Methoden übernommen zu haben, ist der schlimmste Fehler, den Europa je gemacht hat. Nach dem II. Welt­krieg pilgerten die Unternehmer und Manager nach drüben, um sich dort die Fertigkeiten anzueignen, wie man mit noch mehr Verschwendung noch mehr Geld machen kann. Die Japaner wurden beneidet, weil sie offensichtlich das Gelernte noch radikaler in die Tat umsetzten.

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Der totale Krieg der Menschen gegen die Erde befindet sich im Endstadium. Der totale Sieg ist errungen. Es gibt längst keine Macht mehr auf der Erde, die den Menschen noch erfolgreichen Widerstand entgegen­setzen könnte. Das bestehende System funktioniert glänzend — leider zerstört es seine eigene Grundlage. Damit ist es ein »programmierter Selbstmord«, wie Gordon R. Taylor es nennt. Und Barry Commoner stellt fest: »Das gegenwärtige Produktions­system ist selbstzerstörerisch; der gegenwärtige Kurs, den die menschliche Zivilisation steuert, selbstmörderisch.«63) 

Diese Entwicklung war nur möglich, weil der Mensch die Natur als Gegner betrachtete, lediglich zur Ausbeutung geeignet. »Der moderne Mensch empfindet sich nicht als Teil der Natur, sondern als eine ihr fremde Kraft, deren Vorausbestimmung es ist, die Natur zu beherrschen und zu erobern. Er spricht sogar von einem Kampf mit der Natur und vergißt dabei, daß er zu den Verlierern gehören würde, wenn er die Schlacht gewänne. Bis vor nicht allzu langer Zeit hat der Mensch in diesem Ringen soweit die Oberhand gewonnen, daß er sich im Besitz unbeschränkter Machtvollkommenheit wähnen konnte, aber doch nicht so, daß die Möglichkeit eines totalen Sieges in Reichweite gerückt war. Heute aber sind wir soweit, und manche Zeitgenossen — mögen sie auch einstweilen eine kleine Minderheit darstellen — beginnen zu begreifen, was das für das Fortbestehen der Menschheit bedeutet.«64

Die Wachstumsfanatiker, die seit dem II. Weltkrieg die Welt in Ost und West beherrschen, haben die Völker in keinen geringeren Rausch versetzt als Hitler seinerzeit das deutsche Volk. Er versprach das Tausendjährige Reich in Macht und Wohlstand. Für ihn gab es keine anderen Grenzen als die Kraft seines eigenen Wollens. Nach zwölf Jahren war er an den Grenzen der Mitwelt gescheitert. Der heutige wirtschaftliche Rausch begann etwa um 1900, nach dem Ende des I. Weltkrieges hatte er Rußland erfaßt und nach dem II. Weltkrieg den Rest der Welt.

Anfangs gab es nur Siegesmeldungen, mit Fanfaren, Tag für Tag, die Zahlen wurden immer größer. Heute beginnt bei einigen der Zweifel, ob denn immer noch mehr ungestraft erobert werden kann. Nach etwa 120 Jahren (von 1900 ab gerechnet) wird die ganze Welt dort angekommen sein, wo Hitler 1945 endete — es sei denn, die Menschen, die jetzt die Feinde der Erde sind, schließen schnell Frieden mit ihr.

Jede Periode enthält nach Hegels Wort schon den Keim zu ihrem Gegensatz in sich. Dieser Gegensatz ist längst nicht mehr der zwischen östlichem Kommunismus und westlichem Kapitalismus; denn beide sind am Ende.65 Sie werden beide durch ein neues Prinzip abgelöst werden — die Frage ist nur, ob dies unter dem Zwang der Naturgesetze (durch Katastrophen) geschieht oder aufgrund menschlicher Einsicht.

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Herbert Gruhl   Ein Planet wird geplündert   Die Schreckensbilanz unserer Politik