Utopiebuch       Start    Anmerk

Die gegenwärtige globale Krise und die 
Zukunft der Evolution des Bewußtseins

Schlusswort 1985 von Stanislaw Grof

 

385-412

Die Beobachtungen im Rahmen der LSD-Psychotherapie, der Selbsterfahrungstherapien ohne die Anwendung von Drogen und verschiedener Formen spiritueller Praxis sind von einer Bedeutung, die die engen Grenzen der Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie überschreitet. Viele der neuen Erkenntnisse haben Bezug zu Phänomenen, die für die Zukunft der Gattung Mensch und des Lebens auf diesem Planeten wichtig sind.

Dazu gehören ein neues Verständnis der Kräfte, die den Gang der Geschichte beeinflussen, zur Dynamik der sozio-politischen Bewegungen beitragen und an kreativen Leistungen des menschlichen Geistes wie Kunst, Philosophie und Wissenschaft beteiligt sind. Auch erscheinen viele dunkle Kapitel aus der Geschichte der Religion in einem neuen Licht, da jetzt eine klare Unterscheidung zwischen echter Mystik und wahrer Spiritualität auf der einen Seite und den etablierten Religionen und Kirchen auf der anderen Seite möglich ist.

Es gibt offensichtlich Themen von enormer Reichweite und eine angemessene Erörterung aller in ihnen enthaltenen Punkte würde ein eigenes Buch füllen. Hier möchte ich ganz allgemein die neuen Erkenntnisse über ein Problem skizzieren, das für uns alle von wesentlicher Bedeutung ist, nämlich über die gegenwärtige globale Krise. Aus diesem Grund möchte ich kurz auf einige neue Daten, die mit der perinatalen und transpersonalen Dimension der Menschheits­geschichte zusammenhängen, eingehen. Nach dieser allgemeinen Einführung konzentriere ich mich auf die einzelnen Fragen, die die gegenwärtige Situation auf der Welt und in Zukunft der Evolution des Bewußtseins betreffen.

Eines der zentralen Themen in der Geschichte der Menschheit ist das Thema <Aggression und Mord> — gerichtet gegen andere Rassen, Nationen, religiöse oder soziale Gruppen, Sippen, Familien, Einzelpersonen und sogar enge Verwandte. Wir haben schon früher die neuen Erkenntnisse über die perinatalen und transpersonalen Hintergründe der bösartigen Aggression angesprochen. 

Die Daten, zu denen man mit Hilfe bis in tiefe psychische Bereiche vordringender Selbsterfahrungs­techniken gelangt ist, gewinnen noch mehr an Relevanz, wenn wir von der individuellen Psychopathologie zur Massen­psychologie und Sozial­pathologie übergehen. Viele Personen, die sich in einem Prozeß tiefer Selbsterforschung befinden, erleben häufig Szenen, in denen Kriege, blutige Revolutionen, totalitäre Systeme, Konzentrationslager und Völkermord eine Rolle spielen. Das Motiv des Krieges gehört zu den regelmäßig auftretenden und charakteristischen Aspekten des Selbst­erforschungs­prozesses auf der perinatalen Ebene.

Der zeitlich-historische Rahmen, die geographische Lage, die Art der Waffen und des Kriegsmaterials sowie die Kampfumstände im einzelnen können sehr unterschiedlich sein. Zu den Szenen, die in diesem Rahmen häufig erlebt werden, gehören primitive und brutale Kämpfe von Höhlenbewohnern und Wilden mit Steinwaffen und Holzkeulen, Schlachten der Antike mit Streitwagen und Kriegselefanten, mittelalterliche Schlachten mit gepanzerten Rittern auf Pferden, Kriege, in denen die Technologie des 20. Jahrhunderts — etwa Laser- und Atomwaffen — benutzt wird, sowie in der Zukunft spielende feindliche Begegnungen zwischen Raumschiffen aus verschiedenen Sonnen- oder Milchstraßensystemen. 

Intensität und Ausmaß dieser Kriegsszenen und der mit ihnen verknüpften Erlebnisse gehen in der Regel über das hinaus, was der Betreffende vorher für menschenmöglich hielt. Den allgemeinen Rahmen für diese Erfahrungen bilden die perinatalen Matrizen, doch kommen darin häufig transpersonale Phänomene vor.

Bei den Personen, die tatsächlich an einem Krieg als Soldaten teilgenommen haben oder einen solchen als Zivilisten erlebten, fallen die lebendig gewordenen Erinnerungen aus dieser Zeit häufig mit Kriegsszenen aus anderen historischen Zeitabschnitten zusammen, an denen sie nicht persönlich beteiligt waren. Gelegentlich handelt es sich dabei um Bilder aus den Mythologien verschiedener Kulturen und aus archetypischen Bereichen. 

Das destruktive Potential, das in solchen Szenen entfesselt wird, kann alles übersteigen, was von der phänomenalen Welt her bekannt ist. Typische Beispiele in diesem Zusammenhang wären der Aufstand der Titanen gegen die olympischen Götter, der Kampf der Mächte des Lichts des Ahura Mazda gegen die Mächte der Finsternis des Ahriman, das Zwielicht der nordischen Götter während Ragnarok, sowie archetypische Szenen des Weltuntergangs, wie sie für die Apokalypse und das Armaggedon charakteristisch sind. 

Die beiden perinatalen Matrizen, aus denen die meisten Symbole für Krieg stammen, sind die zweite und die dritte Grundmatrix. Für unsere Erörterungen ist es wichtig, den grundlegenden Unterschied zwischen diesen beiden Matrizen zu definieren. 

Beide haben Bezug zu den Themen Schrecken, Leiden und Tod, und beide sind in der Regel mit Bildern vom Krieg und von Konzentrationslagern verknüpft. Sie unterscheiden sich aber in ihren Themenschwerpunkten und in den Rollen, die die Betreffenden innehaben. 

Jemand, der unter dem Einfluß der zweiten perinatalen Grundmatrix steht, erlebt Gewaltszenen in der Position des hilflosen Opfers. Die Aggressionen gehen immer von anderen aus. Er oder sie sind endlosen Qualen ausgesetzt, etwa in den Rollen von Zivilisten während eines Luftangriffs, von Menschen, die unter zusammengestürzten Häusern verschüttet sind, von Dorfbewohnern, deren Niederlassungen durch feindliche Invasoren in Brand gesteckt werden, von Müttern und Kindern, die einen Napalmangriff erleiden, von Soldaten, die in einen Giftgasangriff geraten, oder von Insassen eines Konzentrationslagers. Die generelle Atmosphäre solcher Szenen ist gekennzeichnet durch Trostlosigkeit, Verzweiflung, tiefsten Schmerz, Hoffnungslosigkeit und Absurdität der menschlichen Existenz. 

386


Abbildung 31: 
Zwei Zeichnungen, die eine tiefe Regression auf pränatale Existenz und biologische Geburt widerspiegeln: 
(a) Das Erlebnis friedvoller Ruhe im Mutterleib wird mit der Atmosphäre im Innern einer Pyramide gleichgesetzt, 

(b) Diese Darstellung eines gekreuzigten Fötus spiegelt das Erlebnis eines Zusammenhangs zwischen dem Leiden des Kindes während der Geburt und dem Todeskampf Christi am Kreuz wider.

      

387


Im Gegensatz dazu sind die Erlebnisse, die mit der dritten perinatalen Grundmatrix verknüpft sind, ganz anderer Natur. Die Bilder selber mögen recht ähnlich sein, doch die mit ihnen konfrontiert werden, sind nicht ausschließlich die Opfer, die Unterdrückten oder die mit Füßen Getretenen. Sie haben in ihrem Erleben Zugang zu den Gefühlen und Körperempfindungen des Aggressors und des Tyrannen und können gleichzeitig die Rolle eines Beobachters einnehmen. 

Im Rahmen dieser Matrix kann man sich mit allen Rollen identifizieren, doch der eigentliche Schwerpunkt scheint auf der Beziehung zwischen den Hauptrollenträgern und ihrem gegenseitigen Verhalten zu liegen. Es herrscht eine emotionale Atmosphäre von wilder, triebhafter Erregung, in der Aggressionen, Angst, sexuelle Erregung, ein seltsames Gefühl der Faszination, eine eigentümliche Mischung aus Schmerz und Lust sowie skatologische Elemente zum Vorschein treten.

 

In diesem Zusammenhang lohnt es sich, der Frage nachzugehen, zu welchen biologischen Situationen die Erfahrungsmerkmale dieser beiden Matrizen Bezug haben.

Es sind die erste und zweite Phase der Geburt. Die zweite Matrix, die zum ersten Geburtsstadium in Beziehung steht, besitzt alle Merkmale einer Situation, in der Blockierung und energetische Stagnation dominieren. Es hat den Anschein, als habe die Person, die diese Situation wiedererlebt, nur zu den Gefühlen und Körperempfindungen des Opfers - des Kindes - und ihren Entsprechungen und Folgeerscheinungen für die Psyche Zugang. Die dritte perinatale Grundmatrix hingegen, in der es um das Getrieben werden durch den Geburtskanal geht, ist durch einen einigermaßen ausgeprägten Energiefluß gekennzeichnet.

Die Person, die mit dieser Phase des Geburtsprozesses konfrontiert wird, kann sich nicht nur mit dem Kind identifizieren, sondern auch mit den Gefühlen der entbindenden Mutter und den gewaltigen Kräften des Geburtskanals, einschließlich aller verwandter und entsprechender Rollen und Motive. Man kann darüber nur staunen, wie sämtliche wichtigen Erfahrungsmerkmale der dritten perinatalen Grundmatrix in den Kriegsszenen in psychedelischen Sitzungen ihren idealen Ausdruck finden, und es muß nicht zusätzlich betont werden, daß dies auch für tatsächliche Kriegssituationen gilt. Nur schwerlich läßt sich vorstellen, daß diese Verbindung rein zufällig ist und keine tiefere psychologische Bedeutung hat.

Der Aspekt des Titanischen ist durch die gewaltige militärische Technologie repräsentiert, die sich phänomenaler Energien bedient und solche entfesseln kann, angefangen von den gigantischen Katapultierungs­vorrichtungen und Rammböcken der antiken Heere bis zu den kolossalen Panzern, Amphibien­fahrzeugen, Schlachtschiffen, fliegenden Festungen und Flugkörpern der heutigen Zeit. 

Atombomben und thermonukleare Waffen scheinen — wie später noch dargestellt werden soll — eine besondere symbolische Bedeutung zu haben.

388


Der sadomasochistische Aspekt der dritten perinatalen Grundmatrix ist wohl für jede Form von Krieg charakteristisch. Er drückt sich aber am deutlichsten in Kämpfen von Mann zu Mann aus, in denen die Möglichkeit, den anderen zu verwunden, und die, selber verwundet zu werden, gleich groß sind und sogar zeitlich zusammenfallen können. Typische Beispiele hierfür wären Ringkämpfe, Boxkämpfe, Gladiatoren­kämpfe von Mensch zu Mensch oder von Mensch zu Tier, Kriege im Zeitalter der Neandertaler, Schlachten zwischen primitiven Völkern, mittelalterliche Kämpfe mit Schwert und Schild, Lanzenturniere und die Bajonettattacken des Ersten Weltkriegs (s. auch Abb. 32, S. 318). 

Es scheint eine enge Parallele zwischen zwei Kriegern, die sich von Angesicht zu Angesicht bekämpfen, und zwischen Mutter und Kind während des Geburtsvorgangs zu geben. In beiden Fällen geht es um Leben und Tod der Hauptbeteiligten. Beide fügen gleichzeitig einander Schmerzen zu und werden vom anderen verletzt. Von besonderer Bedeutung scheint die Tatsache zu sein, daß das auf beiden Seiten vergossene Blut sich mischen und eins werden kann.

Gelegentlich berichten Personen unter LSD-Einwirkung von anderen Formen blutiger Begegnungen zwischen zwei Menschen, die offenkundig mit der Dynamik der dritten Matrix in Verbindung stehen. Die Beziehung und das Verhalten zwischen zwei Personen, die miteinander auf sadomasochistische Weise sexuell verkehren, wurden bereits in einem früheren Kapitel erörtert. 

Ein anderes interessantes Beispiel ist die Beziehung zwischen den Hohepriestern und ihren Opfern im präkolumbianischen Zeitalter. Bei den Azteken hatte diese Beziehung einen ausgesprochenen Eltern-Kind-Charakter und war durch eine enge emotionale Bindung geprägt. Auf den Fresken in der alten Mayametropole Bonampak, die ein Opferfest darstellen, verletzen sich die Priester ihre Zungen, so daß sich ihr eigenes Blut mit dem Blut der rituell getöteten Gefangenen vermischen kann (s. Abb. 33, S. 391). 

Wir haben auch schon früher die tiefergehende psychologische Ähnlichkeit zwischen den Inquisitoren und den von ihnen verfolgten Teufelsanbetern und Hexen beschrieben. In den sadistischen Methoden der Inquisition, in ihren Folterkammern, Folterinstrumenten, Ketzerverbrennungen sowie ihrem Interesse am sexuellen und skatologischen Verhalten ihrer Opfer spiegelt sich im wesentlichen die gleiche motivationale Struktur wie die der Schwarzen Messen oder des Hexensabbaths wider.

In den letzten Jahren haben Berichte von blutigen Aufständen in mehreren amerikanischen Gefängnissen eine andere charakteristische Zweiersituation dieser Art in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt, nämlich die Situation zwischen dem Häftling und dem Gefangenenaufseher. Das Bestialische dieser Aufstände mag Psychiatern und Psychologen mit Freudscher oder verhaltenstherapeutischer Ausbildung, die solche extremen Verhaltensweisen mit biographischen Faktoren zu erklären versuchen, unverständlich und rätselhaft erscheinen. Sie überraschen aber niemanden, der auch nur eine oberflächliche Kenntnis der perinatalen Dynamik besitzt.

389


Solche Aufstände werden offenbar durch Bedingungen im Gefängnis — einschließlich grausamer Behandlung und Überfüllung — herbeigeführt, die perinatales Material aktivieren. Das Verhalten der revoltierenden Insassen zeigt klassische perinatale Merkmale. Neuere Untersuchungen über das Verhalten von Polizeibeamten und ihren häufigen Machtmißbrauch gewähren ebenfalls interessante Einblicke in die Zweiersituation zwischen dem Polizisten und dem Kriminellen.

 

Ich möchte diese Aufzählung um zwei weitere Beispiele ergänzen, die von großer sozialer und historischer Relevanz sind, nämlich um die Kombinationen autokratischer Tyrann und Revolutionär sowie ultrarechter Politiker und radikaler Linker. Auf beide Kombinationen werde ich später im Rahmen der Erörterung sozialer Umwälzungen und Revolutionen näher eingehen. 

In allen Fällen können die Hauptbeteiligten in diesen verschränkten Situationen nicht anders als destruktiv handeln und sind ihre psychischen Sklaven, ob sie nun die Rolle des Opfers oder des Aggressors innehaben. Man kann sagen, daß sie in einem bestimmten Sinn einander bedingen, indem sie dem Verhalten des anderen ständig neue Nahrung geben. Die letztmögliche Lösung für diese und die oben beschriebenen Situationen, die von vielen spirituellen Wegen und der transpersonalen Psychologie angeboten wird, besteht nicht darin, zu gewinnen oder oben zu sein, sondern aus dieser Art Situation vollends herauszutreten.

Der sexuelle Aspekt der dritten perinatalen Matrix drückt sich in Kriegszeiten in vielfach verschiedener Weise aus. Die moralischen Sitten werden lockerer, die Sexualität wird enthemmter und das Interesse an erotischen Aktivitäten nimmt zu. Ein ähnlicher Effekt wurde auch schon im Zusammenhang mit größeren Naturkatastrophen und Epidemien beobachtet. Man spricht hier von einer »avant deluge«- oder »carpe diem«-Einstellung und interpretiert sie gewöhnlich als Reaktion auf die unmittelbare Todesgefahr. Auch wurde hervorgehoben, daß ein verstärktes Interesse am Sex die Empfängnisrate erhöht und somit eine natürliche Kompensation für das bevorstehende Massensterben darstellt. Die hier vorgeschlagene Alternative ist die, daß sich in diesem Phänomen die starke sexuelle Komponente der perinatalen Dynamik und somit ein völlig natürlicher Aspekt der entfesselten Triebkräfte bemerkbar macht.

Militärische Führer aller Ränge geben vor entscheidenden Schlachten häufig auch das Versprechen, daß die Frauen der eroberten Dörfer und Städte Eigentum der Soldaten werden. Hingewiesen sei auch noch auf die wohl bekannte hohe Zahl von Vergewaltigungen, die seit Bestehen der Menschheit für Kriegszeiten typisch ist, und auf die vielen unehelichen Kinder, die sowohl im freiwilligen als auch im erzwungenen Geschlechtsverkehr gezeugt wurden. Bekannt sind auch die sexuellen Verbrechen in Konzentrationslagern, über die viel geschrieben worden ist.

Der skatologische Aspekt ist ebenfalls eine charakteristische Begleiterscheinung von Kriegen aller Zeiten. Ein typisches Merkmal des Krieges ist das Zerstören von Ordnung und Schönheit und das Hinterlassen von Trümmern, Chaos und Verfall. Zu den Kriegsfolgen gehören seit jeher totale Verwirrung, Schutt- und Müllhaufen, allgemeine unhygienische Bedingungen, kolossale Verschmutzungen verschiedenster Art, massakrierte und aufgeschlitzte Leiber sowie verwesende menschliche Leichen und Tierkadaver.

390/391

Abbildung 33
Rituelle Praktiken der Azteken. 
Der Sonnengott Huitzilopochtli mußte mit Opfergaben der »roten Kaktusfrucht« — menschlichem Herz und Blut — genährt werden.

 

391


Auch der pyro-kathartische Aspekt der dritten perinatalen Grundmatrix gehört zu den Standardelementen der typischen Kriegsszenerie. Die konkreten Situationen können viele verschiedene Formen annehmen, angefangen von brennendem Reisig, das über die Wälle von Festungen geworfen wird, über die Zerstörung von Dörfern und Städten durch Brandstiftung bis hin zu den Bomben, die während eines Luftangriffs explodieren, den vielen Raketenflammen der »Stalinorgel« und dem Atomkrieg. 

Das Element des Feuers kann etwas Unheilvolles und Destruktives an sich haben. Häufiger aber erregt es wie bei einem Pyromanen Faszination und vermittelt durch seine Gewalt und seinen reinigenden Effekt Befriedigung. Viele Menschen, die einen Krieg miterlebt haben, berichten, daß sie der archetypischen Anziehungskraft des Feuers nicht widerstehen konnten, auch wenn sie sich in höchster Lebensgefahr befanden. Diese Empfindungen stehen gewöhnlich in starkem Gegensatz zu den Einstellungen und Standards im Alltagsleben. Sigmund Freud (55, 56) hat die psychischen Veränderungen beschrieben, die unter solchen Umständen eintreten.

Die Visionen, die das Geburtserlebnis im Rahmen der vierten perinatalen Matrix begleiten, enthalten Szenen, die das Ende eines Kriegs oder den Sieg in einer Revolution symbolisieren. Militärische Siegesparaden, Freuden­prozessionen, wehende Banner, Tänze auf der Straße und Verbrüderungen zwischen Soldaten und Zivilisten gehören zu den häufigsten Motiven, die im Rahmen des Wiedererlebens des letzten großen Augenblicks der Geburt auftreten. Diese Phase des sorgenlosen Jubels, ehe die neuen Pflichten im Anschluß an einen großen Krieg oder eine Revolution rufen, entsprechen offenbar der kurzen Phase nach der Geburt, in der das Neugeborene noch nicht mit den Schwierigkeiten und Wechselfällen seines neuen Lebens konfrontiert wird.

Alle aufgeführten Beobachtungen lassen die überraschende Schlußfolgerung zu, daß die menschliche Persönlichkeitsstruktur auf einer bestimmten Ebene des Unbewußten, nämlich der perinatalen Ebene, funktionale Matrizen enthält, deren Aktivierung zur komplexen und realistischen Reproduktion aller Erfahrungen führen kann, die mit verschiedenen Formen von Krieg verknüpft sind, seien es die Schrecken, die Qualen, die ungezügelte Erregung verschiedener Triebe oder die Gefühle seltsamer Faszination.

Häufig gewinnen Personen, die in ihren Selbsterfahrungssitzungen mit perinatalen Elementen konfrontiert werden, auch viele interessante Einblicke in andere sozio-politische Situationen, die mit den oben beschriebenen eng verwandt sind. Dazu gehören totalitäre Staaten, Autokratien, Diktaturen, Polizeistaaten und blutige Revolutionen.

Steht jemand unter dem Einfluß von Elementen der zweiten perinatalen Grundmatrix, so identifiziert er sich häufig mit dem Bewohner eines Landes, das von einem Diktator unterdrückt wird, unter der Herrschaft eines Polizeiregimes steht, oder das totalitär regiert wird, wie das zaristische Rußland, das Dritte Reich oder eines der kommunistischen bzw. lateinamerikanischen Länder. Er kann auch zu einem Angehörigen einer heftig verfolgten Minderheit oder einer Gruppe von Menschen werden, die sich in einer besonders mißlichen Lage befinden.

392


Beispiele für solche Erfahrungen wären Erlebnisse als Christ zur Zeit der Christenverfolgungen unter dem römischen Kaiser Nero, als Leibeigener oder Sklave, als Jude in verschiedenen historischen Abschnitten und an verschiedenen Orten der Welt, als Gefangener in einem mittelalterlichen Verlies oder einem Konzentrationslager oder als Insasse eines Irrenhauses.

Manche tschechische Patienten, die schreckliche Erfahrungen mit den Nazibesetzern während des Zweiten Weltkriegs oder mit dem kommunistischen Regime gemacht hatten, erinnerten sich in diesem Rahmen lebhaft an ihre tatsächlichen politischen Traumen, an Szenen aus einem Konzentrations- oder Arbeitslager, an brutale Ermittlungen, Verhaftungen oder Folterungen durch Gehirnwäsche. Wie in psychedelischen Sitzungen deutlich wird, gibt es einen tiefen psychologischen Zusammenhang und eine Ähnlichkeit zwischen der Atmosphäre in einem unterdrückten Land oder dem Leben einer verfolgten Gruppe und den Erfahrungen des Fötus, der den gewaltigen Kräften im Geburtskanal hilflos ausgeliefert ist.

Erlebnisse, die mit der dritten perinatalen Grundmatrix zusammenhängen, sind geprägt durch Bilder und Symbole von unterdrückenden Mächten, Aggressoren und Tyrannen. Die Dynamik dieser Matrix provoziert Vorstellungen von Macht, Tyrannei, Ausbeutung und Unterjochung anderer, von schmutzigen Tricks und Intrigen, von Geheimpolizei, Verrat und Hochverrat. Viele Personen, die unter LSD diese Phasen des Geburtskampfs wiedererleben, identifizieren sich mit despotischen Regenten und Diktatoren aller Zeiten, etwa mit Nero, Dschingis Khan, Hitler oder Stalin. 

Als Folge dieser tiefgehenden Identifikation gelangen sie zu neuen Erkenntnissen über das Wesen eines Diktators. Er wird für sie zu jemandem, der im Grunde Ähnlichkeit mit einem Kind besitzt, das im Geburtskanal um sein Leben kämpft. Er steht unter dem mächtigen Einfluß einer seltsamen Mischung aus chaotischen und unvereinbaren Gefühlen und Energien, von impulsiver Aggressivität, die gegenüber jeder Art von Hindernis intolerant ist, von abgrundtiefen Selbstzweifeln, von Größenwahnvorstellungen, von unersättlichem Ehrgeiz, von primitiver kindlicher Angst, von generalisierter Paranoia und von starkem körperlichen Unbehagen, insbesondere von einem Gefühl, keine Luft zu bekommen und gewürgt zu werden.

 

Diejenigen, die einen solchen Zustand selber erlebt haben, erkennen, welche verheerenden Wirkungen es hat, wenn jemand in dieser psychischen Verfassung statt in eine Therapie, wo er hingehört, in eine Machtposition kommt. 

Andererseits aber wird ihnen auch klar, daß in der Unterstützung durch die Massen, die der Diktator in verschiedenen Stadien seines Wegs zur Macht braucht, ähnliche Elemente deutlich werden, die wohl einen Standardaspekt des menschlichen Persönlichkeitsgefüges ausmachen müssen.

393


So wird offenkundig, daß jeder potentiell zu den gleichen Verbrechen fähig ist, wenn die entsprechende Ebene des Unbewußten entfesselt wird und die äußeren Umstände begünstigend hineinspielen.

Das wahre Problem ist nicht mit einzelnen Personen oder politischen Parteien verknüpft. Die Aufgabe besteht vielmehr darin, sichere und sozial gebilligte Situationen zu schaffen, in denen man sich mit bestimmten giftigen und potentiell gefährlichen Elementen der menschlichen Persönlichkeitsstruktur konfrontieren und sie ohne Schädigung anderer und der Gesellschaft durcharbeiten kann. 

Äußerlich orientierte radikale Programme und politische Machtkämpfe mögen zwar notwendig sein, um ein mörderisches Regime wie das unter Hitler oder Stalin zu Fall zu bringen, können aber nicht die Probleme der Menschheit lösen, wenn sie nicht gleichzeitig von einer inneren Wandlung getragen werden. Gewöhnlich rufen sie nur einen »Pendeleffekt« hervor, bei dem der Unterdrückte von gestern zum Herrscher von morgen wird und umgekehrt. Die Träger der Rollen sind andere, die Rollen selber aber bleiben. Die bösartigen Aggressionen bestehen nach wie vor, und der Menschheit als Ganzes ist damit nicht geholfen. Gefängnisse, Konzentrationslager und Arbeitslager bleiben in ihrer Funktion erhalten, nur die Insassen sind andere.

Echte Stärke braucht nicht ostentativ zur Schau gestellt zu werden und bedarf keiner demagogischen Redekunst. Ihre Gegenwart spricht für sich selbst und ist offenkundig. Was im Inneren eines Diktators geschieht und sich nach außen bemerkbar macht, hat nichts mit Stärke zu tun, sondern mit einem gewaltigen Minderwertigkeitskomplex, einem unersättlichen Hunger nach Anerkennung, mit quälender Einsamkeit und verzehrendem Mißtrauen. 

Im Verlauf einer bis in tiefe psychische Schichten vordringenden Selbsterfahrungstherapie löst sich der »Diktatorkomplex«, sobald der Tod- und Wiedergeburt-Prozeß abgeschlossen ist. Der Zugang zu den Elementen der vierten perinatalen Grundmatrix führt heraus aus dem Reich der Ängste und Qualen und erschließt völlig Neues — ein Gefühl der Erfüllung, des inneren Halts und der Sicherheit, Respektierung des Lebens und der Schöpfung, Verständnis, Toleranz und die Einstellung »leben und leben lassen« - sowie das Bewußtsein der eigenen kosmischen Bedeutung, gepaart mit tiefer Demut.

Wie ich schon erwähnte, sind Tyrann und Rebell in eine Situation verstrickt, in der sie sich gegenseitig vernichten. Ihre tiefsten Beweggründe für ihr Handeln werden von der gleichen Quelle gespeist und sind ähnlicher Natur. Der Geisteszustand des zornigen Diktators und der des aufgebrachten Pöbels unterscheidet sich zum Zeitpunkt ihrer blutigen Begegnung nicht, was ihr innerstes Wesen angeht. Es gibt offensichtliche Unterschiede im Hinblick auf die Rationalisierungen, die als eine moralische Rechtfertigung für die Handlungen dargestellt werden. Manchmal kann es auch tatsächliche Unterschiede in bezug auf den ethischen und sozialen Wert der Systeme, die sie repräsentieren, geben.

394


Beiden gemeinsam aber ist ein grundlegender Mangel an psychologischer Einsicht in die wahren Beweg­gründe ihres Handelns. Deshalb gibt es keine Gewinner, sondern nur Verlierer. Egal, wer an die Macht kommt oder wie das moralische Urteil der Geschichte ausfallen wird — eine wahre Lösung entzieht sich beiden Parteien. Beide Seiten sind Opfer einer grundlegenden Verwirrung. Sie versuchen, ein intrapsychisches Problem durch Manipulationen der Außenwelt zu lösen. 

Dies wird eindeutig durch die Tatsache belegt, daß Visionen von blutigen Revolutionen im Namen utopischer Ideale sowie die abwechselnde Identifikation mit den Unterdrückern und den Revolutionären für die Dynamik der dritten perinatalen Grundmatrix charakteristisch sind. Sie werden psychologisch irrelevant und verschwinden von der Bildfläche, sobald die vierte Matrix erreicht wird. Die konkreten Bilder, die für die dritte perinatale Matrix charakteristisch sind, können sehr unterschiedlich sein. Zu ihnen gehören der von Spartakus geleitete Aufstand der römischen Sklaven oder die Erstürmung der Bastille während der Französischen Revolution ebenso wie Ereignisse aus jüngerer Zeit, etwa die Übernahme des Winterpalasts der Zaren durch die Bolschewiken oder der Sieg Fidel Castros auf Kuba.

Personen, die an einer LSD-Therapie oder anderen Formen tiefer Selbsterforschung teilnehmen, gewinnen unabhängig voneinander ihre Einsichten in die Hintergründe für das tragikomische chronische Fehlschlagen aller gewaltsamen Revolutionen, trotz ihrer hohen Ideale und des Anspruchs auf Allgemeingültigkeit, den die radikalen Philosophien, auf denen sie basieren, erheben. Es sei erwähnt, daß alle LSD-Klienten und -Klientinnen in Prag den Kommunismus und den Marxismus-Leninismus sowohl in der Theorie als auch in der Praxis kannten. Viele hatten auch den Nationalsozialismus miterlebt.

Die äußerliche Situation der — realen oder imaginären — Unterdrückung wird verwechselt mit dem innerlichen Gefühl des Gefangenseins, das auf den von den Erinnerungen an die Geburt ausgehenden unbewußten Druck zurückzuführen ist. Die intuitiv erkannte Möglichkeit der Befreiung durch die Freisetzung der Triebkräfte, die für die dritte perinatale Matrix charakteristisch ist, wird nach außen projiziert und in einen konkreten Plan zum Sturz des Tyrannen umgeformt. So ist der tatsächliche Beweggrund für gewalttätige Revolutionen und soziale Utopien ein unbewußtes Bedürfnis, sich vom bedrängenden und einengenden Einfluß des Geburtstraumas zu befreien und zum authentischen, innere Kraft verleihenden Lebensgefühl, das die vierte und die erste Grundmatrix kennzeichnet, vorzudringen. Was den Kommunismus zu einer besonders mächtigen und problematischen Kraft in der heutigen Welt macht, ist der Umstand, daß er ein Programm vorlegt, das psychologisch richtig ist, nämlich wenn es auf den Prozeß der inneren Wandlung angewendet wird, das aber irreführend und falsch ist, wenn es als Rezept für soziale Reformen gelten soll.

395


Die Grundvorstellung, daß es einer gewaltsamen und stürmischen Umwälzung revolutionärer Natur bedarf, um die unterdrückenden Bedingungen zu beenden und eine Situation der Harmonie und Zufriedenheit herzustellen, spiegelt die Dynamik der inneren Transformation, die mit dem Tod- und Wiedergeburt-Prozeß verknüpft ist, korrekt wider.

Aus diesem Grund scheint der Kommunismus eine fundamentale Wahrheit zu verkünden und macht deshalb bei vielen den Eindruck eines plausiblen und vielversprechenden politischen Programms.

Die grundlegende Täuschung liegt in der Tatsache, daß die Stadien der archetypischen Ausfaltung eines spirituellen Prozesses auf die materielle Wirklichkeit projiziert und als ein atheistisches Rezept für eine soziale Umwandlung der Welt verschleiert werden. In dieser Form kann es natürlich nicht funktionieren. Um den Erfolg dieses irreführenden Experiments zu bewerten, braucht man nur auf die gegenwärtige Zersplitterung der kommunistischen Welt zu schauen, auf die Feindseligkeit unter den Nationen, die die Ideale des Marxismus-Leninismus verfolgen, oder auf die Mauern, die Minenfelder, den Stacheldraht und die abgerichteten Wachhunde, die diese Nationen benötigen, um die Bevölkerung in den Grenzen ihres sozialen Paradieses zu halten.

 

Das Studium der Geschichte zeigt, daß gewaltsame Revolutionen in ihrer destruktiven Phase, wenn sie die freigesetzten perinatalen Energien zur Zerstörung des alten korrupten Regimes benutzen, ungewöhnlichen Erfolg haben. Sie versagen aber unvermeidlich in der Folgezeit, wenn sie versuchen, die paradiesischen Verhältnisse zu schaffen, die sie versprochen haben und deren Vision ihre moralische Triebkraft war. Die in solchen sozio-politischen Umwälzungen genutzten perinatalen Energien verbrauchen sich nicht und werden nicht durchgearbeitet, sondern lediglich aktiviert und abreagiert. Auf diese Weise werden die elementaren Kräfte, die in der destruktiven Phase der Revolution so nützlich waren, zur Saat der Korruption im neuen System und bleiben nach dem Sieg im Lager der Begründer der neuen Ordnung weiterhin wirksam. Dies sind mit wenigen Worten die Erkenntnisse aus der Selbsterforschung, die eine Erklärung geben für die häufig verblüffenden militärischen Erfolge radikaler Revolutionen und ihr ebenso erstaunliches Versagen, die Utopie zu verwirklichen, deren Vision die Revolutionsführer als Zugpferd für die Massen benutzen.

Es leuchtet wohl ein, daß Menschen, die nicht in der Lage gewesen sind, ihre eigenen intrapsychischen Probleme zu lösen und zu Frieden und Harmonie in ihrem Inneren zu gelangen, nicht am besten darüber urteilen können, was falsch in der Welt ist und mit welchen Mitteln man dies ändern sollte. 

Die Basis für eine echte Lösung wäre die Erschließung der Gefühle und Empfindungen der vierten und ersten perinatalen Grundmatrix sowie der transpersonalen Dimension der eigenen Psyche, ehe man sich anschickt, die Welt zu verändern. Dies stimmt im wesentlichen mit der Feststellung Krishnamurtis überein, daß die einzige Revolution die innere ist. Militärische Revolutionen bringen zwar häufig einen gewissen historischen Fortschritt, müssen aber in ihren utopischen Ansprüchen versagen, weil ihre äußerlichen Erfolge nicht von der inneren psychischen Wandlung getragen werden, die die der menschlichen Natur innewohnenden gewaltigen Zerstörungskräfte neutralisieren würde.

396


Dieser Punkt läßt sich durch Erkenntnisse von LSD-Klienten und -Klientinnen veranschaulichen, die eine Parallele sahen zwischen der Situation des Revolutionärs, der nach seinem Sieg auf den Barrikaden außer sich vor Freude ist, und der Situation des neugeborenen Kindes, das die explosive Befreiung vom gewaltsamen Zugriff des Geburtskanals erfährt. An die Stelle seiner Triumphgefühle treten bald die Nöte, die mit den neu entdeckten und ganz unerwarteten Empfindungen von Kälte, Nässe, Hunger und emotionalen Bedürfnissen verbunden sind. Der Revolutionär erreicht das versprochene Paradies nicht und kann sich nicht daran erfreuen. Er muß sich mit den Problemen seiner neuen Situation auseinandersetzen, zu denen eine modifizierte Version des alten repressiven Systems gehört, das in aller Stille auf den Ruinen von Utopia wächst.

Mit zunehmendem Alter wird das neugeborene Kind immer mehr vom Schatten der perinatalen Energien verfolgt, mit denen es nicht konfrontiert worden ist und die es nicht integriert hat. In ähnlicher Form machen sich die perinatalen Energien, die der Sache der Revolution so dienlich waren, weiterhin in der politischen Struktur des neuen Regimes bemerkbar. Da die Revolutionäre unfähig sind, ihre grundlegende Täuschung im Hinblick auf die Realität zu erkennen, müssen sie Erklärungen dafür finden, warum Utopia fehlschlägt — ebenso wie die Schuldigen, ihre einstigen Kameraden, die die reine Lehre durch zu weites Abdriften nach rechts oder links beschmutzten, indem sie einige Teile aus der Ideologie des verhaßten alten Regimes guthießen oder irgendwelche anderen der vielen Kinderkrankheiten der revolutionären Bewegung zeigten.

Das bedeutet nicht, daß wir unsere Bemühungen um gerechte politische und soziale Reformen aufgeben oder Tyrannen und totalitäre Regime nicht mehr bekämpfen sollten. Vielmehr ist aus dem Gesagten die Schlußfolgerung zu ziehen, daß die Führer solcher Bewegungen im Idealfall Menschen sein sollten, die innerlich an sich genügend gearbeitet und eine emotionale Reife erlangt haben. Politiker, die ihr inneres emotionales Chaos in ein Programm für ein blutiges revolutionäres Massaker umsetzen wollen, sind gefährlich und sollten keineswegs das Vertrauen und die Unterstützung der Bevölkerung erhalten. Die wahre Aufgabe besteht darin, das Bewußtsein der Allgemeinheit so zu heben, daß sie in der Lage ist, zu dieser Kategorie gehörige Figuren des öffentlichen Lebens zu erkennen und — zu ignorieren.

Andere Phänomene, zu denen Beobachtungen im Rahmen der Selbsterfahrungstherapien Erkenntnisse beitragen, sind die Konzentrationslager, der Massenmord und der Völkermord. Wie schon früher erwähnt, gehört zu den regelmäßigen Erlebnissen in Verbindung mit der zweiten perinatalen Grundmatrix die Identifikation mit den Insassen von Gefängnissen und Konzentrationslagern, mit ihren Gefühlen der Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit, mit ihren extremen Seelenqualen, ihrem Hunger, ihrem körperlichen Schmerz und ihrem Tod in den Gaskammern.

397


Dies geht gewöhnlich mit einer tiefen existentiellen Krise einher. Die Empfindung des Sinnlosen und Absurden der menschlichen Existenz wechselt hier mit der quälenden Sehnsucht und dem Bedürfnis ab, im Angesicht dieser apokalyptischen Realität einen Sinn im Leben zu finden. Es scheint in diesem Zusammenhang kein Zufall zu sein, daß Viktor E. Frankl (46), der Vater der Logotherapie oder Existenzanalyse, seine Erkenntnisse über die Wichtigkeit einer Sinnfindung im menschlichen Leben während seines langen Aufenthalts in einem Konzentrationslager der Nazis gewann.

Wenn die Bilder von Konzentrationslagern im Rahmen der dritten perinatalen Grundmatrix auftauchen, dann identifizieren sich die Betreffenden nicht nur mit den gefolterten, hilflosen Opfern, sondern auch mit den falschen, grausamen und bestialischen Nazioffizieren oder den roten Kommissaren des Archipels Gulag. Eine nähere Betrachtung der allgemeinen Atmosphäre und der spezifischen Lebensbedingungen in Konzentrationslagern läßt erkennen, daß sie die alptraumhafte Symbolik der negativen perinatalen Matrizen grausame Wirklichkeit werden lassen. Die Bilder dieser Lager zeigen Szenen, die von seelischer Abartigkeit und schierem Entsetzen gekennzeichnet sind. Abgemagerte Körper türmen sich zu gigantischen Haufen, sind über die Wege verstreut oder hängen halb verbrannt in Stacheldrahtzäunen. Es sind anonyme Skelette, bar jeder menschlicher Würde und Identität. Um die Silhouetten von Beobachtungstürmen, die mit Maschinengewehren ausgerüstet und von Starkstromzäunen umgeben sind, hört man nahezu unaufhörlich die Geräusche von Schüssen, und die teuflischen Kapos mit ihren abgerichteten halbwilden Schäferhunden patrouillieren auf ihrer Suche nach Opfern.

Gewalttätigkeit und Sadismus, die für perinatale Erfahrungen so typisch sind, wurden hier in einem Ausmaß Wirklichkeit, das man sich nur schwerlich vorstellen kann. 

Die ungezügelte und pathologische Wut der SS-Offiziere, ihre unberechenbare Grausamkeit, und ihr grenzenloses Bedürfnis, die KZ-Insassen lächerlich zu machen, zu demütigen und zu foltern, ging weit über das hinaus, was als Ziel des Konzentrationslager­systems ausgegeben wurde, nämlich die Feinde des Dritten Reiches abzuschrecken, unbezahlte Arbeitskräfte zu bekommen und einzelne Widersacher des Naziregimes sowie »rassisch minderwertige Gruppen« zu liquidieren.

Dies wird besonders deutlich im Hinblick auf die skatologische Dimension, die einen grausamen Aspekt des Lebens in einem Konzentrationslager ausmachte. In vielen Fällen wurden Insassen genötigt, sich gegenseitig in das Gesicht oder in den Mund zu urinieren. Sie durften nur zweimal am Tag die Latrinen aufsuchen, und diejenigen, die es bei Nacht probierten, riskierten von den Wachen erschossen zu werden. So waren manche Gefangene gezwungen, ihre Notdurft in ihre Eßschalen zu verrichten. In Birkenau wurden die Suppenschalen den Gefangenen immer wieder weggenommen und in die Latrinen geworfen, aus denen sie sie wieder herausholen mußten.

398


Die Insassen der nationalsozialistischen Konzentrationslager ertranken im buchstäblichen Sinn des Wortes in ihren eigenen Exkrementen. Todesfälle dieser Art waren nicht selten. Eines der Lieblingsspiele von SS-Leuten bestand darin, Menschen dabei aufzulauern, wie sie ihre Notdurft verrichteten, und sie in die Latrinengrube zu werfen. Aufgrund dieses perversen Vergnügens erstickten innerhalb eines Monats zehn Gefangene in Fäkalien. Diese Praktiken stellten offenbar ein großes Hygiene- und Gesundheitsrisiko dar und standen deshalb im direkten Widerspruch zu den üblichen sorgfältigen Bemühungen, die Epidemie­gefahr in Gefängnissen, bei den verschiedenen Waffengattungen sowie in jeder Situation des öffentlichen Lebens unter Kontrolle zu halten. Sie müssen deshalb als schwere psychopathologische Störungen interpretiert werden. Eine plausible Erklärung ergibt sich, wenn man sie im Zusammenhang mit den perinatalen Matrizen betrachtet.

Der sexuelle Aspekt perinataler Erlebnisse kam unter den Bedingungen eines Konzentrationslagers ebenfalls häufig zum Vorschein. Der sexuelle Mißbrauch von Gefangenen — sowohl hetero- als auch homosexueller Art —, Vergewaltigungen und offene sadistische Praktiken waren an der Tagesordnung. In manchen Fällen zwangen SS-Offiziere zu ihrem eigenen Vergnügen Gefangene dazu, miteinander sexuell zu verkehren. Ausgesuchte Frauen und Mädchen, manchmal auch solche im frühen Jugendlichenalter, wurden Bordellen zugeteilt, in denen sie die sexuellen Bedürfnisse von Soldaten, die auf Urlaub waren, befriedigen mußten. Eine erschütternde Beschreibung der sexuellen Praktiken in deutschen Konzentrationslagern findet sich in dem Buch House of Dolls (96) von dem legendären israelischen Verfasser, der als Pseudonym seine Kennummer als KZ-Insasse — Ka-Tzetnik 135633 — verwendete.

Die perinatale Erfahrung des Ich-Tods ist gewöhnlich mit Gefühlen der absoluten Erniedrigung, Herabsetzung, Entwürdigung und Scham verbunden. Die inneren Erfahrungen und symbolischen Bilder aus dem reichhaltigen Repertoire der unbewußten Matrizen, mit denen man unter LSD-Einwirkung konfrontiert wird, wurden in den Konzentrationslagern abscheuliche Realität. Die Gefangenen wurden ihres gesamten Besitzes, ihrer Kleider, ihrer Haare und ihres Namens beraubt. Man nahm ihnen also alles, was sie als Teil ihrer Identität empfunden haben mochten. Unter den Bedingungen des Lagerlebens nahmen das absolute Fehlen einer Privatsphäre, unvorstellbarer Schmutz und das unerbittliche Diktat der biologischen Funktionen groteske Ausmaße an. Dies bildete sozusagen die Grundlage für ein gezieltes Programm der Entmenschlichung und totalen Entwürdigung, das von der SS betrieben wurde — ebenso methodisch und systematisch in der generellen Strategie wie unberechenbar, regellos und unvorhersagbar in der tagtäglichen Ausführung.

Die Serie der unheimlichen Parallelen zwischen perinatalen Erfahrungselementen und den Praktiken in Konzentrationslagern enthält auch das Element des Erstickens. Das Naziprogramm der systematischen Ausrottung wurde in den berüchtigten Gaskammern durchgeführt, in denen die Opfer auf überfülltem und engem Raum infolge des Einatmens giftiger Gase keine Luft mehr bekamen und daran starben.

399


Das Element des Feuers spielt in der Symbolik sowohl der zweiten als auch der dritten perinatalen Grundmatrix eine bedeutsame Rolle. In der zweiten Matrix gehört es zur Atmosphäre der archetypischen Höllenszenen, in denen die verdammten Seelen unmenschliche Qualen erleiden müssen. In der dritten Matrix taucht es im letzten, pyrokathartischen Stadium des Tod- und Wiedergeburt-Prozesses auf, das das Ende des Leidens kennzeichnet und die Transzendenz ankündigt. Die brennenden Öfen der Krematorien sind Teil der Hölle der Konzentrationslager und Teil der Leichenvernichtungsstätten, in denen die letzten biologischen Überreste der gequälten Opfer ohne jede Spur beseitigt wurden. Dieser Aspekt der perinatalen Symbolik wird mit erschreckender Eindrücklichkeit in einem anderen Buch von Ka-Tzetnik 135633, Sunrise over Hell (97), beschrieben.

In diesem Zusammenhang sei auch erwähnt, daß die Nazis ihren perversen Zorn besonders auf schwangere Frauen und kleine Kinder zu richten schienen — ein Verhalten, das die perinatale Hypothese weiter stützt. Die wohl erschütterndste Passage aus Terrence des Pres' Buch The Survivor (156) ist zweifellos die, in der beschrieben wird, wie ein Lastwagen voller kleiner Kinder in das Feuer geschüttet wird. Unmittelbar darauf folgt die Szene, in der schwangere Frauen mit Knüppeln und Peitschen geschlagen, von Hunden zerfleischt, an den Haaren gezerrt, in den Magen getreten und schließlich noch lebend in den Brennofen geworfen werden.

Ein Wissenschaftler, der über reichliche Erfahrung mit der Behandlung des sogenannten Konzentrations­lager­syndroms verfügt — eines Komplexes emotionaler und psychosomatischer Störungen, der sich bei ehemaligen Insassen solcher Lager erst mehrere Jahrzehnte nach Ende ihrer Gefangenschaft einstellt —, ist Professor Bastians aus Leyden in den Niederlanden. Er hat ein einzigartiges Behandlungs­programm für Personen entwickelt, die unter diesen psychischen Spätfolgen ihrer seit langem vergangenen Qualen leiden. Sie werden unter dem Einfluß von LSD dazu ermuntert, verschiedene traumatische Ereignisse, die sie in ihrer Erinnerung nicht loslassen, wiederzuerleben, abzureagieren und zu integrieren.

In einer Arbeit, in der er dieses Programm beschreibt, kommt Bastians zu einer sehr ähnlichen Schlußfolgerung wie der, die ich auf den letzten Seiten erörtert habe, wenn auch in weit weniger spezifischer Form. Er weist auf die Tatsache hin, daß die Idee zu einem Konzentrationslager ein Produkt des menschlichen Geistes ist. Sie muß demnach — so unakzeptabel dies auch klingen mag — Ausdruck eines bestimmten Aspekts der menschlichen Persönlichkeit und der Dynamik des Unbewußten sein. Dieser Gedanke tritt sehr prägnant im Titel seiner Arbeit zutage, nämlich: »Der Mensch im Konzentrationslager, das Konzentrationslager im Menschen« (9).

400


Die oben dargestellten Beobachtungen enthüllen ein erstaunliches Faktum über die Psyche und die Persön­lich­keits­struktur des Menschen. Wie schon im Fall der Kriege und Revolutionen besitzt das Unbewußte auch funktionale Matrizen, die unter bestimmten Umständen die vielfältigsten passiven und aktiven Erlebnisse hervorrufen können, in denen sich sowohl die allgemeine Atmosphäre als auch spezifische Einzelaspekte von Konzentrationslagern widerspiegeln. Außerdem kommen in perinatalen Sitzungen viele andere Bilder und Erfahrungen von Massenvernichtung und Völkermord im Rahmen verschiedener Kulturen und historischer Zeitabschnitte extrem häufig vor. Sie sind ein wichtiger Kanal für die kathartische Befreiung von dem außerordentlichen Maß an Aggressionen, das mit der Dynamik der dritten perinatalen Matrix verknüpft ist.

 

In den letzten Jahren kam eine unerwartete Bestätigung der Beziehungen zwischen der perinatalen Dynamik und wichtigen sozio-politischen Phänomenen von völlig unabhängiger Seite.

Lloyd de Mause (129,130) — Journalist, Psychoanalytiker und führender Vertreter der Psychohistorik1) — hat Reden von großen militärischen und politischen Führern und anderes Material aus historischen Perioden, die großen Kriegen und Revolutionen unmittelbar vorausgingen und mit ihnen verbunden waren, analysiert. Seine faszinierenden Untersuchungsergebnisse sind als überzeugender Beleg für die These zu werten, daß unverarbeitete Erlebnisse der frühen und frühesten Kindheit — insbesondere solche, die zur biologischen Geburt Bezug haben — in verschiedenen schweren politischen Krisen eine wichtige Rolle spielten.

De Mauses analytische Methode ist einzigartig, phantasievoll und kreativ. Er bezieht sich nicht nur auf traditionelle historische Quellen, sondern auch auf psychologisch relevante Daten aus Witzen, Anekdoten, Karikaturen, Träumen, persönlichen Vorstellungen, Versprechern, Nebenbemerkungen von Rednern und sogar Kritzeleien an den Rändern von Dokumenten.

Die Ergebnisse von de Mauses Untersuchungen der verschiedensten historischen Krisen sprechen in hohem Maße dafür, daß politische und militärische Führer nicht starke ödipale Figuren waren, sondern als »Müllsammler« für verschiedene verdrängte Gefühle von einzelnen Personen, Gruppen und ganzen Nationen zu fungieren scheinen. Für das Projizieren und Ausagieren von Emotionen, die von den gewöhnlichen intrapsychischen Abwehrsystemen nicht mehr unter Kontrolle gehalten werden können, stellen sie sozial gebilligte Kanäle bereit. Nach de Mause regrediert die Psyche in der Gruppe zu archaischen Beziehungsmustern, die für die präverbalen Stadien des Säuglingsalters charakteristisch sind. Die infantilen Gefühle und Körperempfindungen entstammen allen psychischen Organisationsstufen, nicht nur der ödipalen und phallischen, sondern auch der analen, urethralen und oralen Stufe.

Als de Mause das historische Material aus solchen Zeitabschnitten, die dem Ausbruch von Kriegen oder Revolutionen unmittelbar vorausgingen, analysierte, war er von der außerordentlichen Vielzahl von Redewendungen und Bildern, die sich auf die biologische Geburt beziehen, zutiefst beeindruckt.

401


So sprachen Politiker aller Zeiten, wenn sie einen Krieg erklärten oder eine kritische Situation schilderten, immer wieder davon, daß der Feind dem eigenen Volk »an die Kehle« wollte, oder daß das eigene Volk in lebensbedrohlichem Maße nach Luft ringe, um Lebensraum kämpfen müsse oder das Gefühl habe, vom Feind zermalmt zu werden. Ebenso häufig sind Anspielungen auf dunkle Höhlen und verwirrende Labyrinthe, Tunnels, Abstiege in einen Abgrund oder umgekehrt auf das Bedürfnis, durchzubrechen und sich durch das Dunkel einen Weg zum Licht zu bahnen. Des weiteren ist die Rede vom Gefühl, klein und hilflos zu sein, vom Ertrinken, Hängen, vom Feuer, vom Fallen oder vom Springen von einem Turm. Die drei zuletzt genannten Elemente scheinen zwar keinen unmittelbar einleuchtenden Bezug zur Geburt zu haben, doch handelt es sich — wie aus Beobachtungen im Rahmen der psychedelischen Therapie und aus Nandor Fodors analytischer Arbeit mit Träumen (43) zu entnehmen — um häufige perinatale Symbole, die zur dritten Grundmatrix gehören. Die Tatsache, daß schwangere Frauen und Kinder im Mittelpunkt der Kriegsphantasien stehen, verdient in diesem Zusammenhang besondere Beachtung.

De Mauses psychohistorische Beispiele stammen aus vielen geschichtlichen Epochen und verschiedenen Ländern der Welt. Aus der Weltgeschichte werden so berühmte Persönlichkeiten wie Alexander der Große, Napoleon, Kaiser Wilhelm II. und Hitler zitiert. Hinzu kommen Beispiele aus der älteren und jüngeren Vergangenheit sowie der Gegenwart der Vereinigten Staaten. So analysierte de Mause die psychohistor­ischen Wurzeln der Amerikanischen Revolution und erörterte ihre Beziehungen zu Geburtspraktiken und Besonderheiten der Kindererziehung. Er konnte verblüffende Elemente von Geburtssymbolik in den Erklärungen von Admiral Shimada und Botschafter Kurasa vor dem Angriff auf Pearl Harbour feststellen. Besonders erschauern lassen die Anspielungen auf die Geburt in Verbindung mit der Explosion der zweiten Atombombe. Das Flugzeug, das die Bombe transportierte, erhielt als Kosename den Namen der Mutter des Piloten, die Bombe selber trug die Inschrift »The Little Boy«, und der verschlüsselte Funkspruch an Washington nach der erfolgten Detonation lautete: »The baby was born«.

In der Korrespondenz zwischen John F. Kennedy und Nikita Chruschtschow im Zusammenhang mit der Kubakrise wird eine Situation geschildert, die diese beiden Staatsmänner vermeiden wollten. Sie ist symbolisch dargestellt durch zwei blinde Maulwürfe, die sich in einem dunklen Gang unter der Erde treffen und in einen Kampf auf Leben und Tod verwickelt werden. Als Henry Kissinger gefragt wurde, ob die Vereinigten Staaten eine militärische Intervention im Mittleren Osten erwägen, griff er sich an die Kehle und sagte: »Only if another Strangulation occurs...«

402


Zur Stützung der These von de Mause ließen sich noch viele weitere Beispiele anführen. Ein verblüffendes Ergebnis in diesen Untersuchungen war, daß sich Anspielungen auf Luft abschnüren und Bedrängen nur in Reden fanden, die einem Krieg vorausgingen, nicht aber in Kriegssituationen selber, in denen man tatsächlich vom Feind eingekreist war. Außerdem wurde die Anklage, daß der Feind dem eigenen Volk an die Kehle und es zermalmen wolle, gelegentlich gegen Nationen erhoben, die noch nicht einmal unmittelbare Nachbarstaaten waren. Die Tatsache, daß die Massen auf Reden dieser Art emotional reagieren und unfähig sind, das offenkundig Irrationale und Absurde an ihnen zu erkennen, läßt auf einen universell vorhandenen blinden Fleck und eine Verletzbarkeit im Bereich der perinatalen Dynamik schließen.

Lloyd de Mause brachte viele Belege für die Hypothese bei, daß Nationen in Kriegen und Revolutionen aus einer kollektiven Geburtsphantasie heraus handeln. Aus den obigen Erörterungen wird klar, daß seine Unter­suchungs­ergebnisse und Gedanken mit den früher beschriebenen Beobachtungen im Rahmen der psychedelischen Forschung in enger Beziehung stehen. Seine psychohistorischen Forschungen sind eine Fortsetzung der traditionellen tiefenpsychologischen Analysen sozialer Umwälzungen, wie sie erstmals von Gustav le Bon (111) und Sigmund Freud (56) durchgeführt wurden. Obwohl die neuen Daten mit den Schlußfolgerungen dieser beiden Autoren generell vereinbar sind, führen sie zu wichtigen spezifischen Erkenntnissen von großer theoretischer und praktischer Bedeutung. De Mauses Schwerpunktverlagerung vom Freudschen individuellen Unbewußten auf die Dynamik des Geburtstraumas stellt einen »Quanten­sprung« im Verständnis elementarer sozialer Ereignisse dar.

Nach der neuen Interpretation, die gemeinsam von der psychedelischen wie von de Mauses psycho­histor­ischer Forschung gestützt wird, sind die mächtigen Energien und Emotionen, die sich vom Geburtstrauma ableiten oder mit ihm in Beziehung stehen, eine Standardkomponente der menschlichen Persönlichkeit. Werden sie bei einzelnen Menschen durch Faktoren psychologischer Art, biochemische Veränderungen oder andere Einflüsse aktiviert, dann bedingen sie je nach den Umständen individuelle psychopathologische Störungen oder einen Prozeß der spirituellen Umwandlung.

 

Es hat den Anschein, als ob aus gegenwärtig noch nicht ausreichend geklärten Gründen2) die psychischen Abwehrmechanismen, die das Bewußtwerden perinataler Energien normalerweise verhindern, bei einer großen Zahl von Menschen, die zu einer sozialen, politischen oder nationalen Gruppe gehören, gleichzeitig zusammenbrechen können. Daraus entsteht eine generelle Atmosphäre der Spannung, Angst und düsterer Vorahnungen. Die Person, die unter solchen Umständen zum Führer der Massen wird, ist jemand, der sich der perinatalen Kräfte stärker als der »Normalbürger« bewußt ist und der die Fähigkeit besitzt, sie auf Ereignisse der Außenwelt zu projizieren. Er formuliert dann klar seine eigenen Wahrnehmungen für die ganze Gruppe oder Nation und gibt akzeptable Erklärungen für das bestehende emotionale Klima, indem er politische Probleme dafür verantwortlich macht. Der Druck, die Spannungen und das Gefühl des Erstickens werden einer Gruppe von Feinden zugeschrieben, das Empfinden von Gefahr wird nach außen projiziert und eine militärische Intervention als Heilmittel hingestellt.

403


Das Endergebnis der blutigen Konfrontation wird dann metaphorisch in Bildern beschrieben, die zur biolog­ischen Geburt und zur spirituellen Wiedergeburt Bezug haben. Mit Hilfe dieser Symbolsprache ist es möglich, die psychischen Kräfte, die mit dem Umwandlungsprozeß verknüpft sind, für politische Zwecke auszubeuten. Angesichts dieser Tatsache erscheint es äußerst wichtig, die Ergebnisse der psycho­historischen Forschung zu veröffentlichen und die Symbolik für den perinatalen Prozeß allgemein bekanntzumachen.

Es sollte möglich sein, eine Situation zu schaffen, in der demagogische Äußerungen über Ersticken, Zermalmt­werden und Mangel an Lebensraum als Zeichen dafür erkannt werden, daß der betreffende Redner tiefenpsychologisch an sich arbeiten muß, statt solche Äußerungen als echte Antriebe zur Entfesselung eines Kriegs zu akzeptieren. Mit etwas Schulung kann die Öffentlichkeit lernen, die symbolische Sprache von Geburt und Tod zu entschlüsseln und zu verstehen, ebenso wie sie sich schon erfolgreich mit der Freudschen Sexualsymbolik vertraut gemacht hat.

 

Bis zu diesem Punkt stimmen Lloyd de Mauses Spekulationen weitgehend mit den Schlußfolgerungen überein, die ich aus meiner psychedelischen Arbeit gezogen habe. Der einzige größere Unterschied, den ich zwischen den allgemeinen Thesen dieser beiden Interpretationen historischer Krisen gefunden habe, betrifft die Auffassung von den psychischen Mechanismen zum Zeitpunkt des Ausbruchs von Kriegen oder Revolutionen. Wie wiederholt beschrieben worden ist, erfolgt die Kriegserklärung nach einer Phase allgemeiner Spannungen und düsterer Vorahnungen. Sie ist paradoxerweise mit Gefühlen der Erleichterung und der außerordentlichen Klarheit verknüpft. De Mause schreibt dies psychologisch der Tatsache zu, daß Führer und Nation an diesem Punkt bis zur Erinnerung an den Augenblick der Geburt vorgestoßen sind.

In meiner eigenen Interpretation der Vorkriegsatmosphäre hebe ich das Element einer starken emotional-kognitiven Dissonanz zwischen den bestehenden emotionalen Spannungen und dem Mangel einer konkreten äußeren Situation, mit der man diese Spannungen in Verbindung bringen könnte, hervor. Bei Kriegsausbruch befinden sich die schon vorhandenen Gefühle von Führer und Nation plötzlich in allgemeiner Übereinstimmung mit den äußeren Umständen. Die Emotionen erscheinen jetzt gerechtfertigt, und alles, was zu tun bleibt, ist so gut wie möglich mit der düsteren Lage fertig zu werden. Im Laufe des Krieges wird — wie ich oben genauer ausgeführt habe — der alptraumhafte Inhalt der perinatalen Matrizen dann zur Realität des Alltagslebens. Trotz des Absurden, des Entsetzlichen und des Abartigen dieser Situation wohnt ihr eine eigentümliche Logik inne, weil in ihr ja die Ereignisse und die emotionalen Reaktionen der betroffenen Menschen nicht sonderlich auseinanderklaffen.

404


Dieser Mechanismus besitzt Parallelen zu psychopathologischen Störungen bei einzelnen Menschen. Personen, die sich unter dem starken Einfluß einer negativen dynamischen Matrix des Unbewußten befinden, zeigen eine Intoleranz gegenüber emotional-kognitiver Dissonanz. Sie neigen dazu, Situationen aufzusuchen, die mit ihren inneren Empfindungen übereinstimmen, oder wirken sogar unbewußt daran mit, solche Situationen herbeizuführen. Wie auch schon wiederholt beobachtet werden konnte, verschwinden die verschiedensten emotionalen Störungen in der Regel unter bestimmten extremen und dramatischen Umständen. Berüchtigte Beispiele hierfür wären das Konzentrationslager, die Fremdenlegion und das Walfangschiff früherer Zeiten. Die emotional-kognitive Dissonanz löst sich auf, wenn die äußeren Umstände den vorhandenen neurotischen Gefühlen entsprechen oder sie sogar übersteigen.

Die obige Erörterung der perinatalen Wurzeln von Kriegen, Revolutionen und totalitären Systemen spiegelt nur einen wichtigen Aspekt eines sehr komplexen Problembereichs wider. Mit ihr und der darauf folgenden Hervorhebung der perinatalen Dynamik wollte ich neue, faszinierende Erkenntnisse mitteilen, die bisher noch nicht in Erwägung gezogen worden sind. Es war keineswegs meine Absicht, die beteiligten Probleme auf intrapsychische Mechanismen zu reduzieren und ihre bedeutsamen historischen, rassischen, nationalen, politischen und ökonomischen Determinanten zu leugnen oder außer acht zu lassen. Die neuen Daten sollten vielmehr als Beitrag zu einem zukünftigen umfassenden Verständnis der Phänomene aufgefaßt werden, nicht als eine Universaltheorie, die alle anderen ersetzt.

Selbst aus psychologischer Sicht deckt die obige Erörterung nur eine wichtige Dimension bzw. einen Aspekt des Problems ab. Die Tatsache, daß sozio-politische Phänomene mit der perinatalen Dynamik in einem sinnvollen Zusammenhang stehen, läßt sich gut damit vereinbaren, daß die Geschichte bedeutsame transpersonale Dimensionen besitzt. C. G. Jung und seine Nachfolger haben nachgewiesen, daß mächtige archetypische Konstellationen nicht nur einzelne Menschen beeinflussen, sondern auch auf Ereignisse in der phänomenalen Welt und auf die Menschheitsgeschichte einwirken. Jungs Interpretation der Nazibewegung als ein Massenwahn unter dem Einfluß des Ragnorok- oder Götterdämmerungs­archetypus kann hier als ein wichtiges Beispiel angeführt werden (92). Jungs Auffassung von der Geschichte ist vereinbar mit der Archetypenastrologie, die Zusammenhänge zwischen historischen Ereignissen und den Durchgängen der Planeten (Transite) untersucht.

Ich habe bereits auf die faszinierenden Forschungen in diesem Bereich von Richard Tarnas (192) hingewiesen. Die Erörterung der transpersonalen Dimensionen der Menschheitsgeschichte wäre unvollständig, ohne Ken Wilbers systematische und umfassende transpersonale Neuinterpretation der Historie und der Anthropologie zu erwähnen, die er in seinem Buch <Halbzeit der Evolution> (210) ausgeführt hat.

Wilber hat es vermocht, ungewöhnliche Klarheit in den anscheinend undurchdringlichen Dschungel historischer Fakten und Theorien zu bringen und diese auf einige wenige gemeinsame Nenner zu reduzieren. Im Grunde stellt Wilber die Evolution des Menschen als eine Geschichte der Liebesaffäre zwischen der Menschheit und dem Göttlichen dar.

405


Er analysiert jede der aufeinanderfolgenden Entwicklungsperioden unter dem Gesichtspunkt der drei folgenden Schlüsselfragen : (1) Welche Hauptformen der Transzendenz waren zur jeweiligen Zeit verfügbar? (2) Welcher Ersatz wurde geschaffen, wenn diese versagten, oder mit anderen Worten: welche Formen nimmt das »Atman-Projekt« an, sowohl subjektiv für das Selbst als auch objektiv für die Kultur? (3) Welche Kosten waren mit diesem Ersatz verbunden?

Wie ich schon früher ausführte, weichen meine eigenen Beobachtungen von Wilbers Ansichten in bestimmten Einzelheiten ab. Gegenwärtig bin ich nicht in der Lage, das in diesem Buch dargestellte Modell mit seiner faszinierenden Vision reibungslos zu integrieren. Die Ähnlichkeiten zwischen beiden Ansätzen gehen aber so weit, daß eine solche Synthese in naher Zukunft möglich sein müßte. Ich glaube, daß sich letztlich die Einsichten aus der Jungschen Psychologie, der Archetypenastrologie, der psychedelischen Forschung und der Spektrumpsychologie Wilbers zu einer umfassenden Interpretation der Menschheitsgeschichte und der Evolution des Bewußtseins zusammenfügen werden.

*

Nach dieser generellen Diskussion der Geschichte des Menschen möchte ich mich nun auf die gegen­wärtige Lage in der Welt konzentrieren und die praktische Bedeutung der neuen Erkenntnisse untersuchen.

In den letzten Jahren haben viele Autoren versucht, die von der Menschheit selber herbeigeführte katastrophale Situation zu erklären.

Die gefährliche Spaltung, die dahinter steht, wurde in vielfach verschiedener Weise beschrieben, als Ungleichgewicht zwischen der intellektuellen Entwicklung und der emotionalen Reifung der menschlichen Rasse, als unverhältnismäßig starke Weiterentwicklung des Neokortex gegenüber den archaischen Anteilen des Gehirns, als störende Einwirkung triebhafter und irrationaler Kräfte des Unbewußten auf bewußte Prozesse usw.

Welcher Metaphern wir uns auch bedienen, die Situation scheint recht klar. Im Laufe der Jahrhunderte hat die Menschheit unglaubliche Leistungen vollbracht. Sie konnte die Kernenergie freisetzen, Raumschiffe zum Mond und zu den Planeten schicken sowie Töne und farbige Bilder über den gesamten Globus durch den kosmischen Raum übertragen. Gleichzeitig aber war sie nicht in der Lage, bestimmte primitive Emotionen und triebhafte Impulse, die ihr Vermächtnis aus der Steinzeit sind, gefügig zu machen. Als Folge davon lebt die Menschheit — umgeben von einer Technologie, die Science-Fiction-Phantasien Wirklichkeit werden ließ — in chronischer Angst am Rand einer nuklearen und ökologischen Katastrophe.

Die moderne Wissenschaft hat Technologien hervorgebracht, mit denen man die dringlichsten Weltprobleme — Krankheiten, Hungerkatastrophen, Armut und die Energiekrise — lösen könnte. Die Probleme, die dem im Wege stehen, sind nicht technologischer oder ökonomischer Natur. Es sind Kräfte, die der menschlichen Natur innewohnen und zur menschlichen Persönlichkeitsstruktur gehören.

406


Gerade deshalb werden unvorstellbare Energien im Wahnsinn des Rüstungswettlaufs, in Machtkämpfen und im »unbegrenzten Wachstum« vergeudet. Sie verhindern auch eine angemessenere Verteilung des Wohlstands zwischen den Menschen und den Nationen sowie eine vordringliche Behandlung ökologischer Probleme, die für unser Überleben wichtig wäre. Aus diesem Grund dürfte das aus dieser Sicht relevante Material aus der Selbsterforschung von großem Interesse sein.

Schon früher habe ich sehr ausführlich den psychischen Tod- und Wiedergeburt-Prozeß und seine symbolische Sprache beschrieben. Selbst bei oberflächlicher Betrachtung der Situation in der Welt fällt auf, daß wir in unserem gegenwärtigen Leben alle wesentlichen Aspekte der dritten perinatalen Grundmatrix, mit denen sich der einzelne im Umwandlungs- und Entwicklungsprozeß innerlich auseinander­setzen muß, in die Außenwelt verlegt haben. Ich meine damit das titanische, aggressive und sadomasochistische, sexuelle, dämonische, messianische, skatologische und psychokathartische Element dieser Matrix. Der technische Fortschritt hat uns Mittel für die moderne Kriegsführung verschafft, deren Zerstörungspotential jenseits aller Vorstellung liegt. Der aggressive Impuls ist auf der ganzen Welt entfesselt — in Form von mörderischen Kriegen, blutigen Revolutionen, totalitären Regimen, Rassenunruhen, Konzentrationslagern, Brutalität der Polizei und Geheimdienste, Studentenunruhen und zunehmender Kriminalität.

 

In ähnlicher Weise wird die sexuelle Verdrängung aufgehoben. Erotische Impulse äußern sich in verschiedener unmittelbarer und pervertierter Weise. Die sexuelle Freizügigkeit von Kindern, die Promiskuität, die offene Ehe, öffentliche sexuelle Spiele und Filme, die Freiheitsbewegung der Homosexuellen, die pornographische Literatur, Prostituierte, die sich auf sadomasochistische Praktiken spezialisiert haben, Märkte für sexuelle Sklaven oder die Häufigkeit obszöner Anrufe wären nur einige wenige Beispiele für diesen Trend. 

Das dämonische Element drückt sich aus in zunehmendem Interesse an Büchern und Filmen mit okkulten Themen, in terroristischen Organisationen, die verzerrte mystische Impulse ausleben — etwa die Bande um Charles Manson und die Symbionese Liberation Army — sowie in einer Renaissance von Hexenbräuchen und Satanskulten. Der messianische Impuls wird deutlich in den religiösen Bewegungen des neuen Zeitalters, etwa den »Jesus Freaks« oder den Kulten, die die Erlösung von UFOs und einer außerirdischen Intervention erwarten. Die Tatsache, daß eine extrem pathologische Spiritualität, in der nach perinatalem Vorbild Sadomasochismus, sexuelle Perversionen, skatologische Aspekte und selbstzerstörerische Tendenzen kombiniert sind, heutzutage Tausende von Anhängern finden kann, läßt sich am erschütternden Beispiel von Jonestown ablesen.

407


Die skatologische Dimension offenbart sich in der zunehmenden Umweltverschmutzung durch die Industrie, in der rapiden Verschlechterung der Qualität von Luft und Wasser, in der Anhäufung von Abfallprodukten rund um den Globus, in den sich verschlechternden hygienischen Bedingungen der Großstädte und — in einer mehr abstrakten und metaphorischen Weise — in der alarmierenden Zunahme von politischer, sozialer und ökonomischer Korruption. Wie ich schon früher erwähnte, sind Visionen von thermonuklearen Reaktionen, Atomexplosionen und Raketenstarts charakteristisch für den Übergang von der dritten zur vierten Matrix. Die Gefahr, daß unsere fortgeschrittenen Technologien eines Tages plötzlich außer Kontrolle geraten und die Welt vernichten könnten, ist in den letzten Jahrzehnten zu einem kalkulierten Risiko des Alltagslebens geworden.

Wer den Tod- und Wiedergeburt-Prozeß durchmacht, wird mit diesen Motiven innerlich konfrontiert werden. Sie sind von Natur aus Phasen des inneren Umwandlungsprozesses. Er muß durch diese Erfahrung gehen und sie dann integrieren, um eine psychische Gesundheit auf höherer Ebene und ein neues Bewußtseinsniveau zu erreichen. Aus Beobachtungen im Rahmen der psychedelischen Therapie geht deutlich hervor, daß der Erfolg dieses Prozesses wesentlich von der beständigen Internalisierung der beteiligten Erlebnisse und ihrem Durcharbeiten im intrapsychischen Rahmen abhängt.

Wenn diese Bedingung nicht erfüllt wird und die betreffende Person anfängt, das innere Geschehen nach außen abzureagieren, d.h. den inneren Prozeß mit der äußeren Wirklichkeit zu verwechseln, dann kommen große Gefahren auf sie zu. Die triebhaften Impulse werden nicht aufgefangen und innerlich integriert, sondern führen zu zerstörerischen und selbstzerstörerischen Handlungen. 

Der kritische Wendepunkt in diesem Umwandlungs­prozeß ist der »Ich-Tod« und die Zerstörung der alten Wahrnehmungsweise der Welt. Wenn der Tod- und Wiedergeburt-Prozeß nach außen verlegt wird und seine archetypischen Motive nach außen abreagiert werden, dann kann das extreme Endresultat in Selbstmord, Mord und Destruktion bestehen. Im Gegensatz dazu führt die Intemalisierung zum Ich-Tod und zur Transzendenz, die mit einer philosophischen Zerstörung des alten Weltbilds Und dem Aufkeimen einer geistig gesünderen und inspirierteren Lebensweise verbunden ist.

Menschen, die sich gerade in einem Prozeß tiefgehender Selbsterforschung befinden, entwickeln häufig unabhängig voneinander die innerliche Überzeugung, daß die Menschheit als Ganzes in dieser Zeit mit einem Dilemma konfrontiert wird, das dem oben beschriebenen, auf die innere Umwandlung bezogenen Dilemma recht vergleichbar ist. Die sich stellenden Alternativen sind offenbar die Fortsetzung des gegenwärtigen Trends des Ausagierens und der äußerlichen Manipulation der Welt oder die Wendung nach innen und das Durchmachen eines radikalen Umwandlungsprozesses, der zu einer vollkommen neuen Stufe des Bewußtseins und der Wahrnehmung der Dinge führt.

Das leicht vorhersagbare Endergebnis der ersteren Strategie ist der Tod in einem Atomkrieg oder das Ersticken in technologischen Abfallprodukten, die letztere Alternative könnte evolutionäre Perspektiven eröffnen, wie sie in den Schriften von Sri Aurobindo, Teilhard de Chardin, Ken Wilber und vielen anderen dargestellt worden sind.

408


In diesem Zusammenhang erscheint es angebracht, die charakteristischen Veränderungen zu beschreiben, die in der Regel bei Menschen auftreten, die einen solchen Umwandlungsprozeß erfolgreich abgeschlossen und die Erfahrungsinhalte der perinatalen Ebene des Unbewußten integriert haben. Dadurch gelangen wir zu einer konkreteren Grundlage für die Erörterung der Frage, ob der resultierende Menschentypus und die entsprechende Bewußtseinsstufe eine vielversprechende und hoffnungsvolle Alternative zur gegenwärtigen Situation darstellen.

Zahlreiche Beobachtungen legen nahe, daß jemand, der unter dem starken Einfluß der negativen perinatalen Matrizen steht, das Leben und seine Probleme in einer Weise anpackt, die nicht nur unbefriedigend ist, sondern auf lange Sicht für sich und andere schädlich wirkt. Das schon früher beschriebene Gefühl, das Leben sei eine »Tretmühle«, und die damit einhergehende Lebensstrategie ist in unterschiedlichem Maße für die Menschen charakteristisch, die in ihrem Erleben noch nicht mit dem Problem des Todes konfrontiert worden sind und die Gestalt der Geburt noch nicht geschlossen haben.

 

Die Dynamik der perinatalen Matrizen gibt dem Leben einen linearen Verlauf und erzeugt ein starkes, nicht ermüdendes Streben nach der Erreichung zukünftiger Ziele. 

Da die Psyche eines solchen Menschen von der Erinnerung an die schmerzliche Beengung im Geburtskanal beherrscht wird, lebt er nie im Hierund-Jetzt und ist mit dem, was im Augenblick ist, nie zufrieden. Wie der Fötus, der versucht, aus seiner Bedrängnis im Geburtskanal in eine angenehmere Situation zu entkommen, so strebt auch ein solcher Mensch immer nach etwas anderem, als ihm die gegenwärtigen Umstände bieten. Die Ziele, die er sich in seinem Kopf konstruiert, lassen sich mühelos als Ersatz für die abgeschlossene biologische Geburt und die liebevolle Behandlung nach der Geburt identifizieren. Da diese Ziele reine psychologische Surrogate und unrealistische Wunschbilder sind, kann sich das Gefühl der Befriedigung nie einstellen. Die resultierende Frustration bringt neue Pläne hervor oder setzt Ziele der gleichen Art auf einem höheren Anspruchsniveau. Ein solcher Mensch nimmt im allgemeinen auch Natur und Welt als etwas wahr, was potentiell bedrohlich ist und was erobert und unter Kontrolle gebracht werden muß.

Auf kollektiver und globaler Ebene wird so eine Lebensphilosophie geschaffen, die Stärke, Wettbewerb und Selbstbehauptung groß schreibt und den linearen Fortschritt und das unbegrenzte Wachstum glorifiziert. Der materielle Gewinn und die Zunahme des Bruttosozialprodukts gelten als die Hauptkriterien für das Wohlergehen und den Lebensstandard. Eine solche Ideologie und die daraus resultierende Strategie bringen den Menschen in einen ernsthaften Konflikt mit seiner Natur als biologisches System und mit Grundgesetzen des Universums.

409


Während die biologische Organisation generell entscheidend von optimalen Werten abhängt, führt diese Strategie den artifiziellen und gefährlichen Imperativ des maximalen Werts ein.3 In einem Universum, das seiner Natur nach zyklisch ist, tritt sie für Linearität und unbegrenztes Wachstum ein. Dies wird noch weiter dadurch kompliziert, daß man mit dieser Vorstellung von Existenz unfähig ist, den dringenden und absolut vitalen Bedarf an Synergie, Komplementarität, Kooperation und ökologischen Erwägungen zu erkennen und zu akzeptieren.

 

Ein gänzlich anderes Bild bietet ein Mensch, der den perinatalen Prozeß abgeschlossen hat und sich an die Erinnerung an den positiven Zustand im Mutterleib angeschlossen und sich Zugang zu den positiven transpersonalen Matrizen verschafft hat. Die Erfahrung mit dem mütterlichen Organismus auf der Stufe des Fötus ist gleichwertig mit der Erfahrung des Erwachsenen in bezug zur ganzen Welt und zur gesamten Menschheit.

Erstere entspricht in einem gewissen Sinn einem Prototyp oder einem Grundmuster für letztere. Natur und Qualität der perinatalen Matrix, die die Psyche eines einzelnen Menschen beeinflussen, wirken sich somit nicht nur tiefgehend auf die subjektive Erfahrung dieses Menschen aus, sondern auch auf seine Grundeinstellung gegenüber anderen Menschen, der Natur und der Existenz im allgemeinen. Wenn sich in der inneren Erfahrung der Wechsel von den negativen zu den positiven perinatalen Matrizen vollzieht, gewinnt das Leben ungemein an Reiz, und die Lebensfreude nimmt beträchtlich zu. Man ist in der Lage, vom gegenwärtigen Augenblick Befriedigung und Erfüllung zu beziehen und von vielen gewöhnlichen Situationen und Funktionen — etwa vom Essen, von der sexuellen Betätigung, von alltäglichen Begegnungen mit anderen Menschen, von seiner Tätigkeit am Arbeitsplatz, von Kunst, Musik, Spielen oder Spaziergängen in der Natur.

Dadurch verringert sich der emotionale Einsatz für komplizierte Ziele, die man zu einem zukünftigen Zeitpunkt zu erreichen hofft, die aber unabhängig davon, ob man sie erreicht oder nicht, eine Befriedigung nicht vermitteln können, erheblich. Mit diesem Lebensgefühl wird offenkundig, daß das letzte Maß für den Lebensstandard die Qualität der Erfahrung des Lebens als solches ist, nicht die Quantität der Leistungen und des materiellen Besitzes. Gemeinsam mit diesen Veränderungen entwickelt ein solcher Mensch ein tiefes Empfinden für die entscheidende Bedeutung von Zusammenhalt, Kooperation und Harmonie sowie von natürlichen ökologischen Erwägungen. Die früher beschriebene Einstellung zur Natur (zu »Mutter Natur«) entstand nach dem Vorbild der schmerzlichen und konfliktreichen Erfahrung des Fötus mit dem mütterlichen Organismus zum Zeitpunkt der biologischen Entbindung. Die neuen Werte und Einstellungen spiegeln die Erfahrungen des Fötus mit dem Mutterleib in seiner vorgeburtlichen Existenz wider.

Die Elemente der gegenseitigen Bereicherung, der Symbiose und der gegenseitigen Ergänzung in dieser Situation (im Falle eines vorwiegend »guten« Mutterleibs) ersetzen in der Regel ganz automatisch das Streben nach Überlegenheit und Ausbeutung, das das alte Wertsystem charakterisiert.

410/411

Die Vorstellung von der menschlichen Existenz als einem ständigen Kampf ums Überleben weicht einem neuen Bewußtsein, in dem sich das Leben als eine Manifestation des kosmischen Tanzes oder des göttlichen Spiels darstellt.

Es leuchtet unmittelbar ein, daß wir im Endeffekt jedesmal, wenn wir anderen Leuten oder der Natur etwas antun, gleichzeitig uns selber damit schaden. 

Jeder Versuch, die Einheit der Existenz philosophisch, ideologisch, sozio-politisch und spirituell in unabhängige, voneinander getrennte Einheiten mit widerstreitenden Interessen — in einzelne Menschen, Familien, religiöse und soziale Gruppen, politische Parteien, Wirtschaftsbündnisse und Nationen — zu spalten, erweist sich, wenn man ihn als einzig gültige Realität sieht, als mangelnde tiefere Erkenntnis und Kurzsichtigkeit und wird letztlich auf uns zurückfallen. Aus dieser Perspektive kann man sich gar nicht vorstellen, wieso jemand so blind die selbstmörderische Strategie verfolgen kann, sich von den rasch schwindenden Erdölvorräten abhängig zu machen, statt sich mit der absolut lebenswichtigen Aufgabe zu befassen, zyklische und erneuerbare Energiequellen zu erschließen.

Als Folge dieser Veränderung tritt natürlich eine Umstellung im Konsumverhalten und in der entsprechenden Lebenseinstellung ein. Sie tendiert zu der, die Duane Elgin »freiwillige Einfachheit« genannt hat (32). Wie offensichtlich wird, kann die einzige Chance für eine politische und soziale Lösung nur in der transpersonalen Perspektive liegen, die die hoffnungslose Spaltung in »wir und die anderen« überwindet, deren Ergebnis bestenfalls neue Veränderungen sind, in denen die Hauptbeteiligten die Rollen von Unterdrückern und Unterdrückten ausgetauscht haben.

Die einzig wahre Lösung muß die kollektive Natur des Problems erkennen und allen Beteiligten befriedig­ende Perspektiven eröffnen. Die tief empfundene Einheit mit der übrigen Welt führt in der Regel zu einer echten Wertschätzung der Vielfalt der Dinge und zu Toleranz gegenüber Unterschieden. Die durch die transpersonale Dimension bewirkte ungeheure Erweiterung des Weltbildes und des Verständnisses der Realität hat zur Folge, daß sexuelle, rassistische, kulturelle und andere Vorurteile absurd und kindisch erscheinen. 

Nachdem ich das Potential außergewöhnlicher Bewußtseinszustände fast dreißig Jahre lang erforscht habe, hege ich keinen Zweifel daran, daß die beschriebene Umwandlung auf individueller Ebene erreicht werden kann. Ich bin im Laufe der Zeit selber Zeuge vieler dramatischer Beispiele einer solchen Bewußtseins­entwicklung geworden, als ich anderen Menschen in der psychedelischen Therapie und in der Selbsterforschung ohne Zuhilfenahme von Drogen, insbesondere im Rahmen der holotropen Therapie, beistand. Man muß abwarten, wieweit sich der gleiche Ansatz auf breiterer Ebene verwirklichen läßt. Die zunehmende Popularität verschiedener Formen von Meditation und anderen spirituellen Praktiken sowie verschiedener Selbsterfahrungstherapien sind ein vielversprechender Trend in dieser Richtung.

Mögen auch im Hinblick auf die Durchführbarkeit dieser Strategie auf universeller Ebene Fragen offen bleiben, sie dürfte unter den gegenwärtigen Umständen wohl unsere einzige reelle Chance sein. Die derzeit verfügbaren Mittel und Kanäle für die Lösung der globalen Krise lassen einen kritischen Beobachter nicht gerade hoffen. 

In praktischer Hinsicht bedeutet der neue Ansatz, alles was man in der Außenwelt tut, durch einen systematischen Prozeß tiefgehender Selbsterforschung zu ergänzen. Auf diese Weise kann das pragmatische technische Wissen eines jeden einzelnen von uns durch die Weisheit des kollektiven Unbewußten bereichert und von ihm geleitet werden.

Die innere Umwandlung kann nur durch Entschlossenheit, konzentriertes Bemühen und persönliche Verantwortung des einzelnen erreicht werden. Jeder Plan zur Veränderung der Situation in der Welt ist von problematischem Wert, sobald er nicht die systematische Anstrengung beinhaltet, den Menschen, der diese Krise hervorgerufen hat, zu ändern. In dem Maße, wie die Weiterentwicklung und Wandlung unseres Bewußtseins eine lebenswichtige Voraussetzung für die Zukunft unserer Welt ist, hängt das Ergebnis dieses Prozesses von der Initiative eines jeden einzelnen von uns ab.

Ich habe dieses Buch in der Hoffnung geschrieben, daß die in ihm erörterten theoretischen Überlegungen, Techniken und Strategien für alle diejenigen von Wert sind, die sich in einem Umwandlungsprozeß befinden oder sich für diesen Weg interessieren. 

Dieses Buch soll dokumentieren, wie sehr ich an den Entwicklungsprozeß, an dem wir alle beteiligt sind, glaube, und welch tiefes Vertrauen ich ihm entgegen­bringe.

412

 

Ende

 

 

 www.detopia.de     ^^^^