Teil 1      

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2.5.  Sondierung Nr. 2: 

 

Selbsttötungen in der Nationalen Volksarmee

 

 

 

2.5.1  Selbsttötung und Wehrpflicht  

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Hat die Einberufung zur Nationalen Volksarmee (NVA) Selbsttötungen begünstigt oder gar junge Rekruten »in den Tod getrieben«? — Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Frage bei einer repräsentativen Meinungs­umfrage unter ehemaligen NVA-Soldaten mit »Ja« beantwortet würde, ist groß. Bereits die bevorstehende Einberufung bewirkte bei nicht wenigen jungen Menschen ein Gefühl der unerträglichen Einengung. Die Aussicht auf eine mindestens 18-monatige Trennung von Freundin oder Ehefrau, auf permanentes Eingesperrtsein, Drangsalierungen und zwischenmenschliche Härte sowie die bevorstehende Ausbildung zum Töten weckten Widerwillen und Angst. 

Und so finden sich in den kriminalpolizeilichen Akten der DDR auch Beispiele dafür, dass junge Männer im Tod eine letzte Möglichkeit sahen, die drohende Einberufung abzuwenden: Im März 1981 erhängte sich zum Beispiel in Nauen ein 19-jähriger Arbeiter, nachdem er eine Postkarte mit der Aufforderung zur Musterung erhalten hatte. Im November 1982 sprang ein 23-jähriger Elektromonteur in Berlin unmittelbar vor dem Einberufungstermin vor eine fahrende S-Bahn; die Polizei ermittelte, dass er Angst vor der NVA hatte und davor, während dieser Zeit seine Freundin zu verlieren.235)

Nach der Einberufung der zumeist 18- oder 19-Jährigen zur NVA, nach der Fahrt zur Kaserne, dem Abspringen vom Lkw, nach der »Begrüßung« im Befehlston, den Pfiffen und Befehlen auf dem Kasernenflur, dem hektischen Essen, dem Drill während der Grundausbildung, den Schikanen durch das dritte Diensthalbjahr — nach dieser »Einführung« in den militärischen Alltag mag wohl mancher beim Zurücksenden der Zivilsachen in dem mitgebrachten Pappkarton gezweifelt haben, ob er das achtzehn Monate lang aushalten würde. 

So erging es wohl jenem jungen Mann, der sich wenige Tage nach seiner Einberufung zu den Grenztruppen die Pulsader aufschnitt, weil, wie es im unmittelbar nach dem Vorkommnis vom MfS aufgesetzten Telegramm hieß, »ihn die vielen neuen Ereignisse (Einberufung) sehr anstrengen und er sich den Anforderungen der bevorstehenden Ausbildung nicht gewachsen fühlt.«236) Er wurde allerdings gerettet.*

In den Akten der SED-Bezirksleitung Potsdam ist der Bericht eines Parteisekretärs enthalten, der Mitte der 1960er Jahre einen Kollegen nach der Einberufung besucht und sich mehrere Stunden mit ihm unterhalten hat.237) »Ich muß ehrlich gestehen, daß ich von dem Gehörten erschüttert bin«, schrieb der Parteisekretär.

235)  Vgl. BLHA, Rep. 471/15.2, BdVP Potsdam, Nr. 1272 und 1285, n. pag.
236)  BStU, MfS, HA I, Nr. 16, Bl. 507. 
237)  Vgl. BLHA Potsdam, SED-BL Potsdam, Rep. 530, Nr. 3362, n. pag. 

* (d-2010:)   "allerdings" ?


Postkontrolle, Briefzensur, häufige Diebstähle, Härte und Rücksichtslosigkeit hätten »ein sehr schlechtes politisches Klima« erzeugt. Zum Essen würde es im Laufschritt gehen, sein Kollege hätte deswegen schon Sodbrennen bekommen. Ein anderer Soldat hätte sich nach dem Essen übergeben müssen, dafür ließ man ihn zehn Türen abschrubben — als Erziehungsmaßnahme. »Es sind nach meiner Meinung ausgesprochene Barrassmethoden, die es doch bei unserer Armee nicht geben sollte«, schrieb der empörte Genosse, der auch darauf hinwies, »daß sich im vorigen Jahr ein Soldat wegen der dort herrschenden Zustände auf dem Boden der Kaserne aufgehangen hat«. Letzteres wurde zwar vom Regimentskommandeur dementiert, in den letzten zwei Jahren hätte es angeblich keine Selbsttötung in der Kaserne gegeben. Aber immerhin macht der Bericht deutlich, dass Selbsttötungsgedanken zu Beginn des Wehrdienstes weit verbreitet waren.

Während der gesamten Zeit des Bestehens der NVA gab es hierzu keine wissenschaftliche Untersuchung. Lediglich eine Diplomarbeit des Militärkriminalisten Ernst-Armin Pickert, der als Untersuchungsführer beim Militärstaatsanwalt tätig war, ging am Rande darauf ein: »Eine auffallende Tatsache ist die außerordentliche Häufigkeit der Suicide im 19. Lebensjahr«, stellte der Autor fest, der 349 Selbsttötungen von NVA-Angehörigen ausgewertet hatte.238)

52 Selbsttötungen waren durch Angst vor Strafe bzw. dienstliche Probleme motiviert; um welche dienstlichen Probleme es sich im Einzelfall handelte und wie diese Probleme Selbsttötungen bewirkt oder zumindest begünstigt hatten, darauf ging diese Diplomarbeit, die sich auf eine psychopathologische Erklärung beschränkte, nicht näher ein. Andere Quellen, vor allem Einzelfall-Meldungen des MfS, lassen hingegen einige typische Suizid-Konstellationen bei jungen Rekruten erkennen.

 

a) Drangsalierungen

Ein Chiffriertelegramm des MfS berichtete im Mai 1989 davon, dass ein neu einberufener Soldat versucht hatte, sich zu erschießen, weil er vom Stubenältesten drangsaliert wurde. Einerseits verwies der berichtende Offizier auf den »labile[n] und sensible[n] Charakter« des Soldaten und bezeichnete das als »Ursache«, andererseits sah er »begünstigende Bedingungen« in den Schikanen des Stubenältesten. (Dass es tatsächlich zu Drangsalierungen gekommen war, ist daraus ersichtlich, dass der Stubenälteste einen »strengen Verweis« erhielt.)239

 

238)  Vgl. Ernst-Armin Pickert, Eine Untersuchung zur Problematik der Selbsttötung, Diplomarbeit Berlin 1971. Privatarchiv Prof. Werner Felber.  
239)  Vgl. BStU, MfS, HA I, Nr. 10216, Bl. 500, 502.

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Ein anderes Telegramm meldete am 20. Oktober 1980 den Suizidversuch eines Unteroffiziersschülers, der in zwei Abschiedsbriefen als Grund für sein Handeln die ständigen Schikanen durch einen Unteroffizier angegeben hatte. Bei der Untersuchung bestätigten sich die Vorwürfe, so war der 20-Jährige von seinem Vorgesetzten grundlos für längere Zeit an einem Mast festgebunden worden. Die Vorgesetzten reagierten auf die »gestörten sozialistischen Beziehungen«, indem sie den Unteroffizier degradierten und den Unteroffiziersschüler in eine andere Einheit versetzten. Bei der Untersuchung kam aber auch heraus, dass sich die Situation für den jungen Unteroffiziersschüler durch zwei familiäre Todesfälle innerhalb von zwei Tagen zugespitzt hatte: Seine Großmutter war gestorben, und ein Cousin hatte sich das Leben genommen, um auf diesem Wege dem Wehrdienst zu entgehen.240)

 

b) Rüder Umgangston

Ein 29-jähriger Reservist nahm sich im Februar 1988 das Leben, nachdem er während eines Alarms mit Worten wie: »Sind Sie dazu nicht in der Lage [...] Sie brauchen das doch nur ablesen« lautstark zurechtgewiesen wurde, obwohl er nicht eingewiesen war und insofern, wie es im MfS-Telegramm hieß, »objektiv nicht in der Lage war, die Aufgaben zu erfüllen«. Danach war der Reservist mit dem Vorwurf der »Unfähigkeit« von seinem Posten abgelöst worden. Hinzu kam, dass ein für das darauf folgende Wochenende eingereichtes Gesuch um Kurzurlaub ohne Angabe von Gründen abgelehnt worden war.

Zwar handelte es sich laut MfS-Bericht nicht um eine Schikane; es wurden für dieses Wochenende wegen Wachgestellung generell keine Urlaubsscheine ausgestellt. Dennoch muss es bei dem ruhigen, zurückhaltenden und sensiblen Menschen das Gefühl der Demütigung noch verstärkt haben. Obwohl die Untersuchungskommission einen Zusammenhang zwischen der rüden Behandlung und dem Suizid ohne Angabe von Gründen verneinte, gelang es ihr nicht, andere Gründe für die Selbsttötung zu ermitteln, auch nicht nach Öffnung des letzten Briefes der Ehefrau, der kurz nach dem Todesfall in der Kaserne eintraf.241)

 

240)  Vgl. BStU, MfS, HA I, Nr. 5998, Bl. 81, 83.  
241)  Vgl. BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, Mb-271, Bd. I, Bl. 317-321.  
242)  Vgl. BStU, MfS, HA I, Nr. 10216, Bl. 355f.

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c) Probleme mit der Freundin

Ein Unteroffizier auf Zeit, der seit fünf Monaten bei der »Fahne« war, erschoss sich Anfang August 1989, nachdem sich bereits die zweite Freundin während der Armeezeit von ihm getrennt hatte.242) Ein anderer Soldat richtet im Juni 1980 die Waffe auf sich, weil er Probleme mit seiner Freundin hatte, aber wegen einer Pflichtverletzung nicht in den Urlaub fahren durfte.243

Ein Unteroffiziersschüler, der sich für eine zehnjährige Dienstzeit verpflichtet hatte, vergiftete sich im September 1987. Er hatte sich unter der Maßgabe verpflichtet, die Armeezeit in Leipzig, wo seine Verlobte studierte, zu absolvieren. Dann aber wurde er entgegen dieser Zusage an einem anderen Ort stationiert. Wenige Monate später trat das ein, was er befürchtet hatte: Seine Verlobte teilte ihm mit, dass sie sich wegen der Beziehung zu einem Studenten von ihm trennen wolle. Daraufhin unternahm er den Versuch, sich zu töten.244

Auch bei einem Soldaten, der Ende April 1981 versuchte, sich mit Hilfe seines Bandmaßes aufzuhängen, spielten Probleme mit der Freundin eine Rolle. Der Soldat hatte sich eine Flasche Schnaps besorgt, um sich während des Wachdienstes zu betrinken. Der Schnaps wurde bei einer Kontrolle entdeckt und der Soldat umgehend in eine Arrestzelle eingesperrt, wo er einen Suizidversuch unternahm. Nach seiner Rettung gab der 24-Jährige an, Probleme mit der Verlobten zu haben, weshalb ihn die am selben Tag erfolgte Entlassung der Soldaten des dritten Diensthalbjahres seelisch besonders stark belastet hätte.245

Damit steht wohl außer Zweifel, dass die Lebensumstände in den NVA-Kasernen in Einzelfällen ursächlich oder verschlimmernd für suizidale Konfliktlagen sein konnten. Die Frage, die es im Folgenden zu beantworten gilt, ist aber, wie viele der jungen Männer ihrem Leben tatsächlich deshalb ein Ende setzten. Berichte des MfS aus den Jahren 1978 bis 1980, in denen Motive für Selbsttötungen aufgelistet wurden, erwecken den Eindruck, dass Missstände nur in wenigen Fällen eine Rolle spielten.246 So enthielt der Bericht für 1979, der 32 Fälle auswertete, nur eine Motivangabe »wurde drangsaliert«. Die Analyse zum Jahr 1980 gab bei zwei Suizidversuchen als Motiv »Drangsalierungen« an.

Demgegenüber stufte das MfS im Jahr 1978 allein 12 der 28 ausgewerteten Fälle als familiär bzw. persönlich motiviert ein. Auf den Armeedienst bezogene Gründe fand dieser MfS-Bericht bei zwei Selbsttötungen, wo als Motiv »Vernachlässigung der Dienstpflichten« angegeben wurde, sowie bei drei Selbsttötungen, für die »Finanzbuchungen und Schulden« ursächlich gewesen sein sollen — wobei auch hier das MfS die eigentliche Schuld den Betroffenen selbst zuwies.247

 

243)  Vgl. BStU, MfS, HA I, Nr. 5998, Bl. 216f.  
244)  Vgl. BStU, BV Karl-Marx-Stadt, AKG, Nr. 6130, Bl. 145 f.  
245)  Vgl. BStU, MfS, HA I, Nr. 15, Bl. 73-76.  
246)  Vgl. BStU, MfS, HA I, Nr. 5911, Bl. 59-64. Ausgewertet werden jeweils die ersten acht Monate des Jahres.

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Den Analysen des MfS zufolge hat das militärische Umfeld also nur wenig zur Erhöhung der Häufigkeit von Selbsttötungen beigetragen. Statistische Angaben in Sitzungsprotokollen des »Kollegiums«, des höchsten Führungsgremiums der NVA, bestätigen diese Vermutung. So wurden im Zeitraum von Dezember 1975 bis November 1984 in der NVA insgesamt 444 Selbsttötungen registriert. Daraus ergibt sich eine durchschnittliche Selbsttötungsrate von 29,5, die in etwa der Selbsttötungsrate der männlichen DDR-Bevölkerung in der Altersgruppe 20 bis 24 Jahre entsprach (32,4). 

Das Zusammenspiel solcher Faktoren wie Herausgerissensein aus der gewohnten Umgebung, Unausweichlichkeit der Kaserne, knappe und willkürliche Verteilung von Urlaubsgenehmigungen, militärischer Drill, Wachestehen, Politschulungen und andere als sinnlos empfundene Beschäftigungen haben offenbar entgegen der Anfangsvermutung nicht zu Selbsttötungen in statistisch relevantem Ausmaß geführt. Auch Drangsalierungen im Zuge der »EK-Bewegung« scheinen keinen größeren Einfluss gehabt zu haben.248

Lediglich Ende der 1950er Jahre kam es in der 1956 aus der Kasernierten Volkspolizei hervorgegangenen NVA zu letztlich nicht erklärbaren Schwankungen. Im 1. Halbjahr 1958 ereigneten sich 22 Selbsttötungen, im Vergleichszeitraum 1959 waren es 29. Gleichzeitig stieg die Zahl der registrierten Suizidversuche von 5 auf 14.249 Damit erhöhte sich die Zahl der Selbsttötungen gegenüber dem 1. Halbjahr 1958 um fast ein Drittel, die Zahl suizidaler Handlungen (Suizide + Suizidversuche) sogar um 60 Prozent. Wirklich vergleichbar wären nur die auf die jeweilige Truppenstärke bezogenen Selbsttötungsraten.250 Da für das Jahr 1958 eine Statistik der Truppenstärke vorliegt, lässt sich die Selbsttötungsrate der NVA für dieses Jahr relativ exakt bestimmen, sie betrug 44,6.251 Im gleichen Jahr wurden in der DDR 36,7 Selbsttötungen pro 100.000 männliche Einwohner registriert, die Selbsttötungsrate der Armeeangehörigen lag also in diesem Jahr deutlich über dem Landesdurchschnitt.

 

247)  Im Jahr 1979 sah die ermittelte Motivverteilung ähnlich aus. In 14 von 32 Fällen wurden persönliche oder familiäre Konflikte als Motiv angegeben, zweimal scheiterten Offiziere an dienstlichen Aufgaben.

248)  Ein deutliches Indiz hierfür ist, dass die Selbsttötungsraten bei der NVA im Verlauf der 1960er Jahre den Selbsttötungsraten des zivilen Bereiches nahekamen, während sie vor Einführung der allgemeinen Wehrpflicht (1958-1961) die Selbsttötungsrate der männlichen Bevölkerung im Alter von 20 bis 24 Jahren überschritten.

249)  BA-MA Freiburg, DVW 1, 55503, Bl. 3, 52 und 157.

250)  Das Umrechnen auf Relativzahlen ist vor allem in den ersten Jahren des Bestehens der NVA unerlässlich, denn in dieser Zeit unterlag die Truppenstärke erheblichen Schwankungen. Zunächst wurde sie von 104000 (KVP 1956) etwas abgesenkt, um dann auf 147000 (inklusive Grenztruppen) im Jahr 1963 anzusteigen. Vgl. Schreiben von Dr. Rüdiger Wenzke, Militärgeschichtliches Forschungsamt Potsdam, an den Verfasser vom 19. November 2001.

251)  Der starke Anstieg der Selbsttötungen im darauffolgenden Frühjahr 1959 könnte Folge einer forcierten Rekrutierung gewesen sein. Um diesen Effekt genau zu quantifizieren, fehlt jedoch das erforderliche Zahlenmaterial.

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Das für die Jahre nach 1960 nicht lückenlos überlieferte Zahlenmaterial lässt keine generelle Aussage zu, die vorhandenen Daten machen es jedoch sehr wahrscheinlich, dass die Selbsttötungsraten in der NVA nach 1961, wie auch später in den 1970er und 1980er Jahren, nicht höher als im zivilen Bereich lagen.

Um zufällige Schwankungen, die sich aufgrund der geringen Zahlen sehr stark auf den Kurvenverlauf auswirken, auszugleichen, wurden für die Darstellung in Abbildung 10 die Selbsttötungsraten jeweils als Mittelwert aus zwei Jahren (des vorhergehenden und des angegebenen) berechnet. Hier zeigt sich noch deutlicher, dass die Selbsttötungsraten im zivilen und militärischen Bereich ab 1970 nahezu gleich verliefen. Die scheinbar recht niedrigen Werte in den 1960er Jahren sind nicht vergleichbar, da sie (für die ersten beiden Jahre) auf MfS-Angaben basieren.252 

Da die karteimäßige Erfassung der Vorkommnisse durch die MfS-Hauptabteilung I erst im Jahr 1965 begann, ist anzunehmen, dass die niedrigen, aber ansteigenden Suizid-Zahlen in diesen Jahren den Prozess der Etablierung des Meldesystems widerspiegeln, dass also eine zeitweise Untererfassung der Armee-Suizide vorlag. In den 1970er Jahren lagen die unabhängig voneinander erhobenen Suizid-Zahlen von NVA und MfS dann in gleicher Größenordnung.253 

Allein die Übereinstimmung der Resultate zweier unabhängiger Erfassungswege legt nahe, dass die Statistiken der NVA als relativ zuverlässig einzuschätzen sind. Zwar gilt keine Selbsttötungsstatistik der Welt als absolut vollständig, und auch bei der NVA ist, trotz strenger Meldeordnung,254 eine Untererfassung nicht auszuschließen. So gab es innerhalb der NVA eine Regelung, dass man in unklaren Fällen (das heißt, wenn kein Motiv und keine Selbsttötungsabsicht zu ermitteln war) als offizielle Todesursache »Unfall« angeben konnte, was eine Möglichkeit für »Umklassifizierungen« darstellte. Im Einzelfall hatte das die Konsequenz, dass ein Soldat, der sich erschossen hatte, als »Unfalltoter« registriert wurde. Da die Zahl der tödlichen Unfälle bei der NVA größer war als die Zahl der Selbsttötungen, kann die Dunkelziffer der als Unfälle deklarierten Selbsttötungen theoretisch sehr hoch gewesen sein.

Ob solche — vermuteten — Verschleierungen aber in so großer Zahl stattfanden, dass sie statistisch ins Gewicht fallen, ist eher anzuzweifeln; bei der NVA wurden jedenfalls zahlreiche Selbsttötungen, bei denen das Motiv nicht geklärt werden konnte, auch als solche registriert.

 

252)  Bernd Eisenfeld sei für die Auszählung der Suizid- und Suizidversuchsmeldungen in der MfS-Vorkommniskartei und die Überlassung der Ergebnisse ganz herzlich gedankt.
253)  Ein exakter Vergleich ist nicht möglich, da NVA und MfS die jeweiligen Bezugszeiträume anders festgelegt haben.
254)  Vgl. Meldeordnung vom 7. Dezember 1964, in: BA-MA Freiburg, VA-01, 5622, Bl. 24.

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255) Zahlen aus Kollegiumsprotokollen der NVA: BA-MA Freiburg, DVW 1, 55503, 55511, 55523, 55526, 55532, 55553, 55576, 55595, 55601, 55608, 55615, 55621, 55631, 55636, 55641, 55647, 55654, 55660 sowie VA-01, 13388, Bl. 2-7. Zur DDR allgemein: Felber/Winiecki, Material.

256)  Zahlen der NVA ab 1968 aus Kollegiumsprotokollen: BA-MA Freiburg, DVW 1, 55553, 55576, 55595, 55601, 55608, 55615, 55621, 55631, 55636, 55641, 55647, 55654, 55660. Zahlen der NVA 1967 und 1968: Schreiben von Bernd Eisenfeld, BStU Berlin, an den Verfasser vom 23. Juli 2001. Zur DDR allgemein: Felber/Winiecki, Material.

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Ihr Anteil an den registrierten Selbsttötungen lag im Jahr 1978 bei 14 Prozent, im Jahr 1979 bei knapp 19 Prozent.257 Zivile Motivstatistiken enthielten ganz ähnliche prozentuale Anteile von Suiziden mit nicht geklärtem Motiv.258 Auch die MfS-Akten, die ja teilweise der Kontrolle der Ermittlungen der Militärstaatsanwaltschaft dienten, lassen den Schluss zu, dass die »Umklassifizierung« zum Unfall nur in einer geringen, statistisch nicht relevanten Zahl von Fällen erfolgt ist.

 

Im Rahmen dieser Untersuchung waren zwei Fälle nachweisbar, bei denen eine offensichtliche Selbsttötung vom Militärstaatsanwalt als »Unfall« eingestuft wurde. Im ersten Fall aus dem Jahr 1982 handelte sich um einen Berufsunteroffizier, der in einer Konfliktsituation ein Unkrautbekämpfungsmittel eingenommen hatte, um »einmal für längere Zeit auszuspannen«. Er hatte das getan, ohne die tödliche Wirkung des Mittels zu kennen, insofern ist die Einstufung als »Unfall« zumindest partiell nachvollziehbar.259 Im zweiten Fall ging der Klassifizierung als »Unfall« eine längere Kontroverse innerhalb der Militärstaatsanwaltschaft voraus, was als Zeichen dafür gewertet werden kann, dass die Angabe einer falschen Todesursache eine Ausnahme darstellte.260 

Es kam sogar vor, dass die Militärstaatsanwaltschaft zunächst einen Unfall vermutete, im Verlauf der eingehenden Untersuchung dann aber doch zahlreiche Anzeichen für eine Selbsttötung feststellte.261 Auch im Fall eines Stabsoffiziers, der sich im August 1984 erschoss, dabei aber einen Unfall vortäuschte, indem er sein Waffenreinigungsgerät ausbreitete und die Waffe teilweise auseinanderbaute, wurde die Selbsttötung klar nachgewiesen.262 Alles in allem ist bei der Militärstaatsanwaltschaft keine Intention erkennbar, Selbsttötungen systematisch oder in größerem Umfang zu vertuschen.263

Die internen statistischen Angaben der NVA, die der strengen Geheimhaltung unterlagen, sind daher als relativ zuverlässig einzuschätzen. Eine Dunkelziffer von zehn bis dreißig Prozent liegt im Bereich des Vorstellbaren, ähnliche Werte ermittelte eine Geheimstudie in Ost-Berlin aber auch im zivilen Bereich, so dass festzuhalten ist: Die Selbsttötungsrate in der NVA war generell nicht höher als die der Zivilbevölkerung.264)

 

257 BStU, MfS, HAI, Nr. 5911, Bl. 59-62.

258 19 Prozent Suizide ohne klares Motiv registrierten z.B. G. Wessel/W. Koch, Über das Suizidgeschehen im Kreise Quedlinburg, in: Zeitschrift für die gesamte innere Medizin 18 (1963) 15, S. 677-686, hier 681.

259 Vgl. BStU, MfS, HA I, Nr. 18, Bl. 66-69.

260 Nachdem der Militärstaatsanwalt den Fall am 19. Mai 1988 aufgrund des äußerlichen Handlungsablaufs als Selbsttötung eingeschätzt hatte, deklarierte der Militäroberstaatsanwalt den Todesfall am 8. September 1988 als Unfall. Es handelte sich aber, auch wenn das Motiv unklar blieb, mit großer Wahrscheinlichkeit um eine Selbsttötung. Der Unteroffizier erschoss sich unmittelbar nach einem Telefongespräch mit einer weiblichen Person. Vgl. BA-MA Freiburg, GT-Ü-006205, Bl. 91.

261 Vgl. BStU, MfS, AS 187/66, Bl. 133-135.

262 Vgl. BStU, MfS, HA I, Nr. 10355, Bl. 808, 810.

263 In den Statistiken der Todesfälle verzeichneten NVA und MfS ähnliche Werte, die Zahl der erfassten Suizidversuche lag hingegen beim MfS deutlich niedriger. Offenbar hat das MfS alle Suizide bei der NVA, aber nur eine Auswahl der nicht tödlichen suizidalen Handlungen registriert.

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2.5.2    Selbsttötung und Dienststellung  

In den deutschen Streitkräften vor 1945 war mehrfach eine im Vergleich zur Zivilbevölkerung erhöhte Selbst­tötungsrate registriert worden; insbesondere war das in den Jahren um 1880 und in den 1920er Jahren der Fall.265) In der Zeit zwischen 1873 und 1895 erreichte die Selbsttötungshäufigkeit im deutschen Heer Werte, die anderthalb- bis zweimal so hoch waren wie die der 20- bis 25-jährigen Männer im Zivilleben. Danach kam es zu einer Normalisierung der Selbsttötungshäufigkeit; in der Zeit zwischen 1895 und 1912 lag die Selbsttötungsrate des deutschen Heeres mit Werten um die 40 in ähnlicher Größenordnung wie die Selbsttötungsrate der 20- bis 25-jährigen Männer (die in Preußen zwischen 30 und 40 betrug).266

Auch in der NVA hatte es in den Anfangsjahren (allerdings nur um etwa ein Drittel) erhöhte Selbsttötungsraten gegeben, die sich rasch normalisierten. Seit 1961 fiel die Selbsttötungshäufigkeit in der NVA im diachronen Vergleich verhältnismäßig moderat aus.

Lediglich im synchronen Vergleich mit der Bundeswehr erschien die Selbsttötungsrate der NVA als erhöht; denn die Suizidalität war in der Bundeswehr stets niedriger als in der Zivilbevölkerung. Zwischen 1957 und 1981 pendelte die Selbsttötungsrate der 20- bis 24-jährigen Bundeswehr-Soldaten relativ konstant um einen Mittelwert von etwa 15, während die Rate der gleichen Altersgruppe im zivilen Bereich zwischen den Zeiträumen 1957 bis 1961 und 1977 bis 1981 von 22,9 auf 33,0 stieg; das war ein Anstieg um 44 Prozent.

»Dieses relativ gute Ergebnis der Bundeswehr bei jüngeren Soldaten kann an der qualitativen Auslese vor und während der Dienstzeit, an der [...] gesicherten materiellen Existenz der Soldaten oder an einem besseren Zusammenhalt von militärischen gegenüber zivilen Gruppen liegen«, vermutete Klaus-Jürgen Preuschoff.267 Anders als in der NVA wurde in der Bundeswehr die Entlassung als Maßnahme zur Verminderung der Selbsttötungen angesehen; so versuchte die Bundeswehr, zwischen 1977 und 1980 durch großzügige vorzeitige Entlassungen die Zahl der Suizidversuche zu senken.268

 

264)  Vgl. Leonhardt/Matthesius, Zu suizidalen Handlungen, S. 74-80.  
265)  Vgl. R. Brickenstein, Suicidprävention in der Bundeswehr, in: Nervenarzt 43 (1972) 4, S. 11-216.  
266)
Vgl. Bernd Aedtner, Der Selbstmord im deutschen Heer von 1873 bis 1913, Diss. Leipzig 1998, S.19; Füllkrug, Selbstmord, S.57.
267)  Vgl. Klaus-Jürgen Preuschoff, Suizidales Verhalten in deutschen Streitkräften, Diss. Regensburg 1988, S. 259.

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Inwiefern in der Bundeswehr ein besserer Zusammenhalt tatsächlich vorhanden war, bleibt spekulativ; zumindest aber war das Zusammenleben in den Kasernen offenbar »in den allermeisten Fällen so menschlich und loyal, daß keinen jungen Soldaten mehr die Verzweiflung zu packen braucht.«269

Für eine solche Behauptung spricht zum Beispiel ein von der Bundesregierung im Jahr 1984 auf Anfrage der »Grünen« erstellter Vergleich der Selbsttötungsraten von Bundeswehr-Soldaten und Zivildienstleistenden. Im Zeitraum 1980 bis 1983 betrug die durchschnittliche Selbsttötungsrate für Wehrpflichtige 16,4, für Zivildienstleistende 29,3. Zwar sank die Differenz stark ab, im Zwei-Jahres-Intervall 1982/83 lag die Selbsttötungsrate der Zivildienstleistenden mit 24,4 aber immer noch um ein Drittel höher als die der Bundeswehrsoldaten (18,4).270

Die Frage, die sich angesichts dessen für die NVA ergibt, ist also vor allem, wieso in der NVA nicht auch eine niedrigere Selbsttötungsrate im Vergleich zur Zivilgesellschaft zu verzeichnen war. Eine mögliche Antwort ist, dass hier die Bedingungen für Ausgang und Urlaub wesentlich restriktiver waren als in der Bundeswehr, wodurch sich im Einzelfall das Gefühl der unentrinnbaren Einengung verstärkt haben könnte.

Eine andere Erklärung wäre, dass es in der NVA kaum eine »qualitative Auslese« gegeben hat. Man musste schon schwere gesundheitliche Schäden nachweisen, um nicht eingezogen zu werden. Das Beispiel eines suizidalen Soldaten, der einen frühkindlichen Hirnschaden erlitten und bereits vor der Armeezeit mehrere Suizidversuche unternommen hatte (die er überlebte), belegt diese Einberufungspraxis auf drastische Weise — erst nachdem der Soldat sich 1982 während eines Wachdienstes in die Brust geschossen hatte, wurde er aus der NVA entlassen.271

Drittens könnten sich in der Summe der Selbsttötungen aller Dienstgrade auch noch einmal gravierende Unterschiede »verbergen«; denkbar wäre, dass bei Offizieren eine geringe, bei Wehrpflichtigen eine höhere Suizidhäufigkeit registriert wurde. (Ein »besserer Zusammenhalt« dürfte bei den Wehrpflichtigen der NVA kaum vorhanden gewesen sein; hier machte man sich durch die sogenannte »EK-Bewegung«272 das Leben eher doppelt schwer.)

Um Vergleichswerte zu gewinnen, zunächst ein Blick auf die Selbsttötungsraten in verschiedenen Dienststellungen in der Bundeswehr:

 

268)  Vgl. M. Heuser/J. Scherer, Prävention von Suizid und Suizidalität in der Bundeswehr, in: G. A. E. Rudolf/R. Tolle, Prävention in der Psychiatrie, Berlin u.a. 1984, S. 81-83.  
269)  Joachim G. Görlich, Verzweifelte Rekruten, in: Rheinischer Merkur 32 (1977) 37, S. 14.  
270)  Vgl. Preuschoff, Suizidales Verhalten, S. 260.  
271)  Vgl. BStU, MfS, HA I, Nr. 21, Bl. 20f.  
272)  Vgl. Klaus-Peter Möller, Der wahre E. Ein Wörterbuch der DDR-Soldatensprache, Berlin 22000.

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1967-1971

1972-1983

Offiziere

Unteroffiziere

Wehrpflichtige

22,8 

16,4 

12,9

19,1 

21,3 

16,6

Tab. 7: Selbsttötungsraten in verschiedenen Dienststellungen in der Bundeswehr.273

 

1967-1971

1972-1981

20-59 Jahre

20-24 Jahre

35,9 

27,0

35,5 

31,1

Tab. 8: Selbsttötungsraten der männlichen Bevölkerung der Bundesrepublik.274

 

Wie die Selbsttötungsrate in der Bundeswehr insgesamt, so lagen auch die Selbsttötungsraten der einzelnen Dienststellungen unterhalb der Raten in der korrespondierenden männlichen Zivilbevölkerung. Bei den Wehrpflichtigen wurde im Zeitraum 1967 bis 1971 eine Selbsttötungsrate registriert, die nur knapp halb so groß war wie die der Altersgruppe der 20- bis 24-jährigen Männer. Diese Differenz verringerte sich in den folgenden zehn Jahren nur geringfügig.

Die höhere Selbsttötungsrate der Offiziere kann ganz einfach mit dem höheren Durchschnittsalter der Offiziere erklärt werden; bekanntlich steigt das Selbsttötungsrisiko mit zunehmendem Alter an. Letztlich erreichte die Differenz der Selbsttötungsrate der Offiziere zur vergleichbaren zivilen Altersgruppe der 20- bis 59-jährigen Männer ähnliche Werte wie bei den Wehrpflichtigen. Im Zeitraum 1967 bis 1971 betrug die Selbsttötungsrate der Offiziere 63,5 Prozent, im Zeitraum 1972 bis 1981 nur noch 53,8 Prozent der Rate der 20- bis 59-jährigen Männer im zivilen Leben.

Die Selbsttötungsrate der Unteroffiziere bewegte sich zwischen den beiden Werten, nahe an der Selbsttötungsrate der Offiziere, und bedarf damit keiner gesonderten Interpretation.

Wie sahen die entsprechenden Selbsttötungsraten in der NVA aus? Bezogen auf die Gesamtzahl der Selbsttötungen in der NVA, konstatierte eine MfS-Studie im Jahr 1970 einen unterdurchschnittlichen Anteil der Soldaten im Grundwehrdienst.275 Nur knapp 38 Prozent der suizidalen Handlungen entfielen auf Wehrpflichtige, während deren Anteil an der Truppenstärke etwa 54 Prozent betrug.276

 

273 Zahlen aus: Preuschoff, Suizidales Verhalten, S. 258, 279.
274 Zahlen aus: Armin Schmidtke, Zur Entwicklung der Häufigkeit suizidaler Handlungen im Kindes- und Jugendalter in der Bundesrepublik Deutschland 1950 bis 1981, in: Suizidprophylaxe 11 (1984) 1, S. 45-79.
275 Vgl. Information über die Entwicklungstendenzen der Selbstmorde und Selbstmordversuche in der NVA im Zeitraum vom 1.1.1969 bis 20.2.1970, in: BStU, MfS, HA I, Nr. 13241, Bl. 253-260.

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Diese punktuelle Beobachtung lässt sich für die 1970er und 1980er Jahre mehrfach bestätigen. In der NVA lag die Selbsttötungsrate der Wehrpflichtigen in der gleichen Größenordnung wie die der 20- bis 24-jährigen Männer, beide beliefen sich auf Werte im Bereich von 20 bis 25 Selbsttötungen auf 100.000 Personen pro Jahr.277 Wenn also der Schock der Kasernierung, der Drill der Grundausbildung und die Schikanen der »EK-Bewegung« Selbsttötungen bewirkt haben, so haben diese höchstens die möglicherweise »positiven« Effekte der Armee auf andere potenzielle Suizidenten kompensiert, das Endergebnis lautete in etwa »plus minus null«. 

Die Selbsttötungsrate der Offiziere war zumeist leicht niedriger als bei der Vergleichsgruppe der 20- bis 59-jährigen Männer der DDR.278 Als Gründe für die geringfügig geminderte Suizidhäufigkeit kommen »Auslese« und »Zusammenhalt« ebenso wie soziale und materielle Absicherung in Frage. Die Selbsttötungsraten der zweiten Gruppe von Vorgesetzten, der Unteroffiziere und Fähnriche, sind wegen der starken Schwankungen nur schwer einzuschätzen. Die verfügbaren Zahlen erwecken den Eindruck, als hätte die Suizidwahrscheinlichkeit in dieser mittleren Dienststellung nicht nur deutlich höher gelegen als bei den Soldaten, sondern auch höher als bei den Offizieren. Diese Vermutung wird durch die schon erwähnte MfS-Information von 1970 bestärkt, die ebenfalls einen auffallend hohen Anteil von Berufssoldaten und Soldaten auf Zeit feststellte.

Führte der Umstand, dass es für NVA-Angehörige, die sich für zehn oder 25 Jahre verpflichtet hatten, nahezu unmöglich war, diesen Weg vorzeitig zu verlassen, auch wenn er sich für sie ganz klar als Irrweg erwies, zu einer erhöhten Suizidalität bei den Berufssoldaten? Warum aber nicht bei den Offizieren, die nicht nur zehn, sondern 25 Jahre zu dienen hatten? Kompensierte bei den Offizieren das größere Sozialprestige und die höhere Stellung in der militärischen Hierarchie die lange Dienstzeit?

Einige Beispiele stützen diese Vermutungen: Am 9. November 1982 erschoss sich ein Feldwebel, der in seiner Dienststelle für die Verschlusssachen verantwortlich war. Im Verlauf der Untersuchung stellte sich heraus, dass sowohl der Stabschef als auch der Kommandeur der Einheit laufend gegen Dienstvorschriften verstoßen hatten. Die Hinweise des offenbar sehr pflichtbewussten Feldwebels auf solche Verstöße wurden unterdrückt; auf die Ankündigung einer Eingabe reagierte der Stabschef mit den Worten: »Sie können schreiben / ich bin Ihr Vorgesetzter / zuerst lese ich die Eingabe usw.«282 Diese offensichtliche Ausweglosigkeit war es, die den Feldwebel zu seiner Verzweiflungstat bewegte.

 

276  Zur Truppenstärke: GKdos Nr. A/05086, in: BA-MA Freiburg, VA-01, 18973.  
277  Eine Ausnahme bildeten lediglich die Anfangsjahre der NVA. Zu dieser Zeit erreichte die Selbsttötungsrate der Soldaten einen (allerdings nur geschätzten) Wert von ca. 40. Über die Ursachen kann nur spekuliert werden. Möglicherweise war das ein Effekt der anderen Altersstruktur, da zu dieser Zeit noch keine Wehrpflicht bestand und daher auch ältere Jahrgänge Soldat wurden. 
278  Ausnahme auch hier die Jahre 1958/59. Vgl. BA-MA Freiburg, DVW 1, 55503, Bl. 153-160, hier Bl. 158.

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1958+1959279

1972/73

1985/86

1986/87

1987/88

1986-1988

Offiziere

Uffz./Fähnriche

Soldaten

51,4 56,2 40,5

42,8 39,4

18,4

38,5 64,7 29,5

42,8 47,8 23,3

47,1 30,9 22,1

42,8 47,8 25,0

Tab. 9: Selbsttötungsraten in verschiedenen Dienststellungen in der NVA.

 

1961

1972

1986

20-24 Jahre 25-29 Jahre 30-34 Jahre 20-59 Jahre

30,04 41,44 31,49 41,42

26,16

4,72 40,82 45,06

25,91 28,91 38,68 44,18

Tab. 10: Selbsttötungsraten verschiedener Altersgruppen der männlichen Bevölkerung der DDR.281

 

Ein Berufssoldat, der mit 18 Jahren in die SED eingetreten war und sich, in der Aussicht auf ein Medizin­studium auf der Militärakademie, zu einem zehnjährigen Dienst verpflichtet hatte, reichte Anfang 1966 ein Entlassungsgesuch ein, »da ihn die Armee in seiner Persönlichkeitsentwicklung einenge und er jetzt auch andere politische Ansichten vertrete«. Als das Gesuch abgelehnt wurde, unternahm er im März 1966 einen Suizidversuch mit Tabletten.

»Die Ablehnung des Entlassungsgesuches traf ihn schwer, da er keine Möglichkeit sah, den weiteren sieben Jahren Armeedienst, den er nur noch widerwillig ausführte, zu entgehen. Ihm war klar, daß er nach den politischen Schwierigkeiten von dort auch nicht zum Studium delegiert würde, er wollte sich damit nicht abfinden. Unternahm den Suicidversuch als Protest gegen die Vorgesetzten, war dabei aber echt verzweifelt, wie die hohe Dosis beweist.«283

 

279 Hier lagen Zahlen jeweils nur für das 1. Halbjahr vor. Es handelt sich also nicht um eine »echte« Selbsttötungsrate, die sich immer auf ein ganzes Jahr bezieht: Da im Frühjahr die Suizidhäufigkeit ein Maximum erreicht, lag die tatsächliche Selbsttötungsrate wahrscheinlich etwas niedriger. Vgl. Ministerium für Nationale Verteidigung, Einschätzung der Selbstmorde und Selbstmordversuche im 1. Halbjahr 1959, in: BA-MA Freiburg, DVW1, 55503, Bl. 153-160, hier Bl. 158.

280 Berechnet auf der Basis der Soll-Truppenstärke von 1964 mit 23 348 Offizieren, 35 565 Unteroffizieren und Fähnrichen und 81455 Soldaten. Vgl. GKdos Nr. A/05086, in: BA-MA Freiburg, VA-01, 18973. Zahlen zu Suiziden aus Kollegiumsprotokollen: BA-MA Freiburg, DVW 1, 55576, Bl. 65; DVW 1, 55641, Bl. 114; DVW 1, 55647, Bl. 164; DVW 1, 55654, Bl. 179.

281 Zahlen aus: Felber/Winiecki, Material.

282 BStU, MfS, HA I, Nr. 13279, Bl. 172f.

283 Vgl. Ehle, Entwicklung, S. 41-43, zit. 43.

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Am 4. Oktober 1982 erschien ein Unterfeldwebel nicht zum Dienst. Als ein Offizier ihn von zu Hause holen wollte, zeigte er diesem seine aufgeschnittenen Arme. Nach dem Motiv befragt, brachte er neben persönlichen Problemen (Scheidung der Eltern) zum Ausdruck, dass er »dienstlich überfordert sei«. Er bekomme »nur Druck von oben und unten«.284

Wahrscheinlich wirkten bei den Offizieren die größeren Machtbefugnisse und die damit verbundene Möglichkeit des Ausagierens von Aggressionen insgesamt suizidhemmend, während sich in den mittleren Diensträngen Frustrationen akkumulierten. Möglicherweise liegt hier die Erklärung für die relativ hohe Selbsttötungsrate der Berufsunteroffiziere.

 

2.5.3.  Suizidversuche in der NVA  

Bisher wurden nur die »erfolgreichen« Suizide betrachtet, deren Häufigkeit in der NVA zwischen 1958 und 1973 um 40 Prozent absank. Hinsichtlich der nicht eindeutig auf einen tödlichen Ausgang angelegten Suizidversuche muss indes ein gegenläufiger Trend konstatiert werden.285 Deshalb stieg die Gesamtzahl der erfassten suizidalen Handlungen (Suizide und Suizidversuche) in der NVA zwischen 1958 und 1973 auf das Dreifache. Zwar kam es gleichzeitig zu einer Erhöhung der Truppenstärke (von 100.000 auf 167.000), die starke Zunahme der Suizidversuche ist damit aber nur teilweise erklärbar.

Zudem muss bei den Suizidversuchen eine erheblich höhere Dunkelziffer veranschlagt werden. Während es in der NVA nur schwer möglich war, Selbsttötungen zu verheimlichen, war das bei Suizidversuchen (die ebenso wie vollendete Selbsttötungen der Meldepflicht unterlagen) etwas einfacher. Ein Beispiel hierfür ist dem MfS im Juni 1988 berichtet worden. Ein Soldat hatte sich geweigert, die Nachtruhe einzuhalten, und wurde nach einer tätlichen Auseinandersetzung mit einem Vorgesetzten arretiert. In der Arrestzelle versuchte er zunächst, sich zu erhängen. Dann schlug er eine Scheibe ein und »zerkratzte sich mit Scherben den Unterarm«, was zu einer Verbringung in den »Medpunkt«286 führte. 

Der Bataillonskommandeur, der am nächsten Tag von dem Vorkommnis erfuhr, wies an, »über die Vorkommnisse in der Arrestanstalt Stillschweigen zu bewahren. Die dort sich selbst zugefügten Verletzungen seien im Handgemenge [...] auf dem Kompanieflur entstanden.« Er begründete seine Anweisung damit, auf diese Weise »unnötigem Ärger aus dem Weg gehen zu können«.287

 

284)  Vgl. BStU, MfS, HA I, Nr. 13279, Bl. 703, 705.  
285)  Der Militärpsychiater Gestewitz kam 1978 zu dem Ergebnis, dass bei einem Viertel der Suizidversuche in der NVA überhaupt keine Tötungsabsicht verfolgt wurde. Vgl. Bernd-Joachim Gestewitz, Zur Erkennung, Behandlung und militärmedizinischen Begutachtung selbstmordgefährdeter Armeeangehöriger, Diss. Greifswald 1978, S. 111.  
286)  Vom sowjetischen Militär übernommene Bezeichnung für die medizinische Behandlungsstätte in der Kaserne.  
287)  BStU, MfS, HA I, Nr. 13273, Bl. 521 f.

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Abb. 11: Gesamtzahl der durch NVA, MfS sowie die SED-Abteilung für Sicherheitsfragen 
erfassten suizidalen Handlungen von NVA-Angehörigen.288)

 

Auch andere Gründe könnten zur Vertuschung von Suizidversuchen geführt haben. Im Mai 1981 stürzte ein Obermatrose betrunken vom Balkon der Wohnung seiner ehemaligen Freundin. Er hatte die Ex-Freundin aufgefordert, in ein Nachtlokal mitzukommen, was diese abgelehnt hatte; daraufhin hatte er sich über die Balkonbrüstung gebeugt und war auf den Rasen gestürzt. Diese Handlung wurde zunächst als Selbsttötungsversuch gemeldet, in der Abschlussinformation dann aber »als Unfall gewertet«. Wahrscheinlich geschah diese Uminterpretation aus versorgungsrechtlichen Gründen, denn der Obermatrose wurde wegen der schweren Verletzungen aus der NVA entlassen.289 Im Falle einer Bewertung des »Vorkommnisses« als Suizidversuch hätte er laut NVA-Begutachtungsordnung kaum eine Chance gehabt, Versorgungsansprüche durchzusetzen.290

Wie ist die Verdreifachung der Zahl suizidaler Handlungen von 1960 bis 1972 zu bewerten? Die Auswertung von Einzelfällen erweckt den Eindruck, dass Drangsalierungen oder ungerechte Behandlung als Motive für Suizidversuche möglicherweise sogar eine größere Rolle gespielt haben als bei vollendeten Suiziden. Beispielsweise fügte sich kurz vor Weihnachten 1977 ein Soldat mit einer Rasierklinge Verletzungen am Unterarm zu. Anlass für die Verzweiflungstat war eine kollektive Demütigung: Der junge Soldat war nach dem Abendessen von 15 »Kameraden« gezwungen worden, auf einen Schrank zu steigen und zu bellen. Bei einer Befragung gab er an, dass »er durch seine Handlung auf sich aufmerksam machen wollte«, weshalb die Tat als »vorgetäuschter Selbstmordversuch« bewertet wurde.291

 

288)  Für die Jahre 1959, 1966-1971, 1980 und 1987-1989 sind keine vollständigen Statistiken der NVA vorhanden. Die Vorkommniskartei des MfS konnte nur für 1965-1980 herangezogen werden. 
289)  Vgl. BStU, MfS, HA I, Nr. 16, Bl. 468 f., 473 f.  
290)  Vgl. Ordnung Nr. 060/9/002 des Ministers für Nationale Verteidigung, in: BA-MA Freiburg, DVW 1,44052, Bl. 111.

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Dass Suizidversuche und -drohungen teilweise nach Drangsalierungen erfolgten, blieb der Armeeführung nicht verborgen. Am 15. Juni 1978 wurde in einem Protokoll des »Kollegiums« vermerkt, dass »in nicht wenigen Einheiten [...] eine Atmosphäre der Angst und Unsicherheit bei jüngeren Soldaten und Unteroffizieren« bestehen würde. Die Reaktionen würden bis zu »Selbsttötungsgedanken« reichen.292 

Das Kollegiumsprotokoll vom 24. September 1975 enthält einen Bericht darüber, dass in einer Mot.-Schützen-Division »ein Soldat des 1. Diensthalbjahres von Angehörigen des 2. und 3. Diensthalbjahres psychisch gequält und zu menschenunwürdigen Handlungen genötigt« wurde, »bis er einen Nervenzusammenbruch mit erheblichen Angstzuständen erlitt, der eine längere Behandlung im ZAL [Zentrales Armeelazarett; U.G.] notwendig machte.« In einer anderen Einheit »führte ein Unterfeldwebel mit einem Soldaten >Strafexerzieren< bis zum physischen Zusammenbruch durch, weil der Soldat sich weigerte, eine Tasse Bohnenkaffee für den Unterfeldwebel zu kochen.« Der Soldat musste danach medizinisch behandelt werden.293

Die allen Idealen einer sozialistischen Menschengemeinschaft widersprechenden Zustände waren den Offizieren bekannt, wurden aber toleriert:

»Bedenklich und zugleich politisch verantwortungslos ist, daß neben einem Teil der Soldaten und Unteroffiziere auch Vorgesetzte, Politoffiziere und Parteimitglieder die Störungen kennen und als nicht veränderbar hinnehmen. [...] Begünstigend wirkt, daß Vorgesetzte ungerechtfertigte Forderungen von Soldaten und Unteroffizieren des letzten Diensthalbjahres tolerieren, weil sie darin ein Mittel der selbstregulierenden Disziplinierung sehen.«294

Wie groß der Anteil der durch Drangsalierungen ausgelösten Verzweiflungstaten war, ist nicht ermittelbar. Zeitzeugen berichteten mehrfach von Suizidversuchen bei der NVA, deren Ziel nicht der Tod, sondern die Ausmusterung war. Auch in den MfS-Akten finden sich Beispiele dafür. So nahm ein Soldat im November 1983, eine Woche nach seiner Einberufung, 30 Tabletten eines Beruhigungsmittels, um sich der Grundausbildung zu entziehen. Ein inoffizieller Mitarbeiter, der ihm im Krankenhaus begegnete, berichtete an das MfS:

 

291  Vgl. BStU, MfS, HA I, Nr. 7, Bd. 2, Bl. 599f.  
292  BA-MA Freiburg, DVW 1, 55608, Bl. 79.  
293  BA-MA Freiburg, DVW 1, 55595, Bl. 348 f.  
294  Kollegiumsprotokolle vom 24. September 1975, in: BA-MA Freiburg, DVW 1, 55608, Bl. 79 f.

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»Er betrieb im Krankenhaus offen Werbung und Propaganda für die Friedensbewegung. Hat eine absolute Abneigung gegen die NVA. Ihm wäre jedes Mittel recht um entlassen zu werden, er würde sogar bis zur Selbstverstümmelung gehen, so seine eigenen Worte. Er war auch sehr stark auf Simulantentum eingestellt, was ihm zum Teil auch gelang.«295

Diese Strategie war erfolgreich: Im Januar 1984 wurde der Soldat ausgemustert.

 

In einer Kollegiumssitzung am 9. April 1962 wurde berichtet, dass etwa zehn Prozent der Selbstmordversuche erfolgt wären, »um eine vorzeitige Entlassung aus der Armee zu erreichen«.296 Das waren jedoch nur die Fälle, bei denen eine solche Motivation nachgewiesen werden konnte.

Auf Ausmusterung angelegte Suizidversuche kamen nicht nur bei Wehrpflichtigen vor. Aus einer Motivstatistik des MfS von 1970 ging hervor, dass acht von 87 Suizidenten das Ziel verfolgt hatten, mit dem Suizidversuch die Verpflichtung als Berufssoldat bzw. Soldat auf Zeit rückgängig zu machen.297

Zieht man den Vergleich mit der Bundeswehr, dann erscheint die Zunahme der Suizidversuche nicht als Spezifikum der NVA. In der Bundeswehr stieg die Häufigkeit der registrierten Suizidversuche zwischen 1957 bis 1961 und 1977 bis 1980 von 65,1 auf 235,8, also auf das Dreieinhalbfache.298

Anders als in der DDR löste diese Entwicklung aber öffentliche Diskussionen aus. Dabei stellte sich heraus, dass (im Unterschied zu den Selbsttötungen) bei den Suizidversuchen »die jährlichen Ziffern der Mannschaften — insbesondere der Wehrpflichtigen — diejenigen von Unteroffizieren und Offizieren bei weitem übertreffen«.299 Zudem zeigte sich noch einmal eine Häufung in den ersten drei Monaten der Dienstzeit.

Trotzdem glaubte etwa »Der Spiegel« im Jahr 1978 feststellen zu können:

»Ursachen sind nach Ansicht von Militärseelsorgern weder der Umgang mit der Waffe noch der rauhe Kasernenton, sondern vielmehr die Angst, nach der Dienstzeit den Arbeitsplatz zu verlieren, sowie die Furcht, daß menschliche Beziehungen im Heimatort zerbrechen.«300

Der Bundeswehrpsychologe Hermann Flach sah in den Suizidversuchen vor allem Anpassungsreaktionen an einen als extrem empfundenen Stress:

 

295  BStU, MfS, HA I, 5974, Teil 1, Bl. 306f., 309, zit. 307.

296  BA-MA Freiburg, DVW 1, 55511, Bl. 56.

297  Information über die Entwicklungstendenzen der Selbstmorde und Selbstmordversuche in der NVA im Zeitraum vom 1.1.1969 bis 20.2.1970, in: BStU, MfS, HA I, Nr. 13241, Bl. 253-260.

298  Vgl. Preuschoff, Suizidales Verhalten, S. 261.

299  Hermann Flach, Ergebnisse der 9. Herbsttagung der Deutschen Gesellschaft für Selbstmordverhütung vom 02.-04. Oktober 1981 in Lüneburg, Arbeitsgruppe Suizidales Verhalten in der Bundeswehr, in: Suizidprophylaxe 9 (1982) 3, S. 169-184, zit. 172.

300  Soldaten in Not, in: Der Spiegel 32 (1978) 46, S. 19.

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»In unserer jetzigen permissiven und toleranten Gesellschaft wird eine primär anbrüchige, zu abnormen Reaktionen neigende Persönlichkeit — ein Leistungsverweigerer, ein Versager — nicht so leicht auffällig bzw. sogar straffällig wie in einer hierarchisch gegliederten und straff geführten Armee. Hier ist >Blaumachen<, eigenmächtige Abwesenheit, Alkohol am Arbeitsplatz . ein Dienstvergehen und Aufsässigkeit kein Kündigungsgrund, sondern Anlaß für eine disziplinare Maßnahme.

Da alle im Zivilleben bewährten Ausweichmechanismen hier versagen bzw. mit Strafen bedroht sind, bieten sich für den ichschwachen, empfindsamen und ängstlichen Soldaten parasuizidale Gesten geradezu an, zumal wenn er erfahren hat, daß andere damit Erfolg hatten — hinsichtlich vermehrter Fürsorge, Versetzung oder sogar vorzeitige[r] Entlassung aus dem Wehrdienst.«301

Wie eine 1976/77 durchgeführte Fragebogenaktion des Wehrbeauftragten des Bundestages ergab, war die Suizidversuchsrate in der Bundeswehr mit 293,5 zwar hoch, lag aber noch an der Obergrenze der geschätzten Suizidversuchsrate Jungerwachsener im zivilen Bereich.302 Offenbar war die Zunahme der Suizidversuche, in der Bundeswehr ebenso wie in der NVA, nur teilweise durch das militärische Umfeld bedingt. Im Wesentlichen aber war diese Entwicklung Teil eines allgemeinen Trends, der zur gleichen Zeit in weiten Teilen der westlichen Zivilisation registriert wurde (vgl. auch Abschnitt 4.7).

 

2.5.4 »Opfer des Grenz- und Terrorregimes der DDR?« — Zur Suizidalität in den Grenztruppen

Dietmar Schultke behauptete in einem 1997 publizierten Aufsatz über das Grenzregime der DDR, dass »die Atomisierung in den Grenzkompanien einen psychischen Druck auf die Grenzsoldaten erzeugte, der bis ins Pathologische forciert werden konnte. Viele litten unter dem Psychoterror der Stasi, und nicht wenige zerbrachen daran.«303 Zum Beweis dieser These zitierte Schultke armeeinterne Fernschreiben über Suizide und Suizidversuche. Obwohl aus diesen Dokumenten kausale Zusammenhänge zum Grenzdienst oder zur MfS-Bespitzelung kaum ersichtlich wurden, spekulierte Schultke:

 

301  Flach, Ergebnisse, S. 175. 
302  Franz Xaver Lochbrunner, Die Ergebnisse der Fragebogenaktion des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages über die Selbsttötungsversuche von wehrpflichtigen Soldaten in der Zeit vom 1. Juni 1976 bis 31. Mai 1977, in: Suizidprophylaxe 7 (1980) 4, S. 215-233, hier 217.  
303  Dietmar Schultke, Das Grenzregime der DDR. Innenansichten der siebziger und achtziger Jahre, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 50/97, S. 43-53, zit. 52.

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»Auffallend häufig ist bei den Fernschreiben von angeblich charakterschwachen Soldaten die Rede. Da diese unter die Kriterien der personellen Schwerpunkte< des MfS fielen, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß die Soldaten bereits vor ihrer Tat auf der Liste ihrer >IM-Kameraden< standen. Das eine bedingte das andere: Die Isolierung wurde durch die Stasi-Spitzel gefördert; sie steigerte sich innerhalb der monotonen Grenzdienste — einschließlich der damit empfundenen Sinnlosigkeit — und führte letztlich nicht selten zur Selbstaufgabe. Ein Teufelskreis in der friedliebenden DDR.«304

Auf den ersten Blick mag das einleuchtend klingen. Indes, bei aller berechtigten Abscheu gegenüber der Tätigkeit der Stasi ist es angebracht, genauer hinzusehen. Bespitzelung allein war noch kein »Psychoterror«, schon deshalb nicht, weil sie so angelegt war, dass die Opfer in der Regel lange Zeit nichts bemerkten. Gegen die These, dass der Spitzeleinsatz des Mf S in Verbindung mit dem Rotationssystem der Zu- und Abführung von Soldaten und der kurzfristigen Posteneinteilung (wobei befreundete Soldaten kein Postenpaar bilden durften) zu einer »Atomisierung der Soldaten« geführt hat, die wiederum Selbsttötungen begünstigt haben soll, spricht vor allem die Tatsache, dass die Selbsttötungsrate der Angehörigen der Grenztruppen sich nicht wesentlich von anderen Bereichen der NVA unterschied.

Der Aktenbestand der Grenztruppen enthält für den Zeitraum vom 1. Dezember 1987 bis zum 30. November 1988 Meldungen über 21 Suizidversuche, von denen neun tödlich endeten.305 Für die relative Verlässlichkeit der Zahlen spricht, dass die innerhalb der Grenztruppen gemeldeten Selbsttötungen mit den beim Mf S registrierten Fällen bis auf zwei übereinstimmen. Eine geringfügige Untererfassung kann nichtsdestotrotz dadurch entstanden sein, dass Todesfälle im Urlaub nicht immer erfasst wurden. So fehlt in den Akten die Selbsttötung eines Grenzsoldaten, die durch einen Zeitzeugen berichtet wurde; da dieser Todesfall sich im Heimatort ereignete, fiel er möglicherweise in den Verantwortungsbereich der lokalen Kriminalpolizei.

Dokumentiert ist sowohl in den Akten von Grenztruppen als auch vom MfS der bereits oben erwähnte Fall, bei dem es zu Unstimmigkeiten zwischen verschiedenen Kompetenzebenen der Militärstaatsanwaltschaft kam. Dieser schließlich als Unfall deklarierte Todesfall war höchstwahrscheinlich eine Selbsttötung.306

Zählt man zu den neun Selbsttötungen, die in den Akten der Grenztruppen vermerkt sind, die zwei in den MfS-Akten zusätzlich enthaltenen Selbsttötungen sowie den durch einen Zeitzeugen mitgeteilten hinzu, so ergibt sich die Zahl von 12 Todesfällen, was einer Selbsttötungsrate von 24 entspricht. Zum Vergleich: Die Rate betrug in der NVA 24,0 im Zeitraum vom 1. Juni 1987 bis 31. Mai 1988, und 22,1 im Zeitraum vom 1. Juni 1988 bis 31. Mai 1989.307

 

304 Ebd., S. 53.

305 Vgl. BA-MA Freiburg, GT-Ü-006205, Bl. 56-114.

306 Vgl. BStU, MfS, HA I, Nr. 14957, Teil 3, Bl. 566 sowie BA-MA Freiburg, GT-Ü-006205, Bl. 91.

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Auch der von Schultke behauptete Zusammenhang von Bespitzelung und Selbsttötung erweist sich im Lichte der Zahlen als Fehleinschätzung. Ein Einfluss des MfS auf die Suizidhäufigkeit ist nicht zu erkennen, nicht in negativer, und auch nicht in positiver Hinsicht. Zwar war es das erklärte Interesse des MfS, durch den massiven IM-Einsatz Störungen jeglicher Art, seien es Fluchtversuche, Disziplinprobleme, Alkoholmissbrauch oder eben Selbsttötungen zu verhindern. Die hohe Zahl der trotzdem verzeichneten Vorkommnisse zeigt jedoch, wie begrenzt der Einfluss des MfS war. 

Der Fall eines Unteroffiziers, der sich im März 1988 auf der Wache erschoss, mag das belegen. Grund für die Selbsttötung war, dass die Freundin des Unteroffiziers beabsichtigte, einen Ausreiseantrag zu stellen. Der junge Mann wollte sich dem Antrag anschließen; seine Chancen standen aber schlecht, da er als Angehöriger der Grenztruppen Träger militärischer Geheimnisse war. Die Hintergründe der Selbsttötung wurden aber nicht etwa durch die Briefkontrolle oder die Telefonüberwachung des MfS bekannt, sondern dadurch, dass der Unteroffizier darüber mit seinem Zugführer gesprochen hatte; die Postkontrolle hingegen hatte keine Hinweise erbracht.308

Die Akten der MfS-Hauptabteilung I lassen den Anspruch der Staatssicherheit erkennen, über alles, was von der Norm abwich, bis ins Detail informiert zu sein. Weil das MfS in suizidalen Handlungen Störungen des Dienstablaufs sah, die es zu neutralisieren galt, wurde nach Suizidversuchen die Spitzeltätigkeit verstärkt. So hieß es angesichts eines Hauptmanns, der sich im Februar 1975 nach einem Ehestreit das Leben nehmen wollte: »Einsatz des IMS/GMS-System[s] zur Feststellung des Stimmungsbildes in der Einheit und zur weiteren Absicherung des Hptm. [...] nach Rückkehr aus dem Armeelazarett«.309 

Auch nach der versuchten Selbsttötung eines Postens an einem Grenzübergang im November 1976 lautete der Maßnahmeplan des MfS: »Einsatz und Befragung der IMS [...] zur Feststellung des Motivs der versuchten Selbsttö[t]ung und Erarbeitung eines konkreten Stimmungsbildes unter dem Personalbestand der Kompanie«310. Das MfS besaß die uneingeschränkte Informationshoheit und »gewährleistete« durch das Wirken hinter den Kulissen »die Funktion der Grenzsicherung«, nicht weniger, aber auch nicht mehr.

Teilweise wurden Suizidversuche durch das System der Bespitzelung überhaupt erst bekannt. So berichtete ein IM am 26. August 1976, dass ein Soldat fünf Tage zuvor angetrunken aus dem Ausgang zurückgekehrt war, eine Überdosis Spalttabletten eingenommen und zu seinen Zimmerkameraden gesagt hatte, dass er die »Schnauze von der Armee voll hat und nach Hause will«. 

 

307)  Vgl. BA-MA Freiburg, DVW 1, 55654, Bl. 179, 277.
308)  Vgl. BStU, MfS, HA I, Nr. 14957, Teil 3, Bl. 586-588. 
309)  BStU, MfS, HA I, Nr. 13444, Bl. 32. 
310)  BStU, MfS, HA I, Nr. 13723, Bl. 208. Ein Rechtschreibfehler wurde korrigiert.

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Danach war er in den Keller des Stabsgebäudes gegangen, um sich zu erhängen, was durch die Kameraden verhindert wurde. Der Soldat war bereits seit Anfang August »operativ bearbeitet« worden, weil er seine SED-Mitgliedschaft rückgängig machen wollte. Zudem hatte er Sympathie zu seinem Bruder bekundet, der wegen Staatsverleumdung verurteilt worden war. Ein Zusammenhang zwischen IM-Einsatz und Suizidversuch ist aus dem MfS-Bericht nicht erkennbar. Die MfS-Hauptabteilung I wurde jedoch nach dem Suizidversuch sofort aktiv, meldete das Vorkommnis dem Regimentskommandeur, dessen Untersuchung die Informationen des IM bestätigte. »Ausgehend von der vorliegenden Information muß der Soldat [...] als ein Unsicherheitsfaktor mit potentieller Bereitschaft zu strafbaren Handlungen eingeschätzt werden und ein weiterer Selbstmordversuch unter Alkoholeinfluß bei dem [...] kann nicht ausgeschlossen werden«, resümierte das MfS. Wenige Tage später wurde der Soldat offiziell »für den Einsatz an der Linie abgelehnt«.311

Das war kein Einzelfall. Insgesamt unterschied sich der Umgang mit suizidgefährdeten Soldaten an der Grenze deutlich von dem, was in der NVA allgemein üblich war.312 Während bei den Landstreitkräften als »appellativ-demonstrativ« sowie »kurzschlüssig« eingestufte Suizidversuche kaum mehr bewirkten als einen Lazarettaufenthalt oder, im ungünstigen Fall, ein paar Tage Arrest, genügte es bei den Grenztruppen in manchen Fällen schon, dass Vorgesetzte davon erfuhren, dass sich ein Soldat in einer schweren persönlichen Krise oder in einer Konfliktsituation befand, um ihn aus der Grenzkompanie abzuziehen.

Ein Beispiel: Am 6. Januar 1988 reichte ein Berufsunteroffizier ein Entpflichtungsgesuch ein. In den daraufhin mit ihm geführten Aussprachen gab er nicht nur zu verstehen, dass die enorme dienstliche Belastung mit Einsätzen, die von ihm oft als sinnlos empfunden wurden, zu Spannungen in seiner Ehe geführt hätte. Er äußerte auch die Befürchtung, genau wie sein Vater zu enden, der sich aufgrund persönlicher Probleme das Leben genommen hatte. Im Ergebnis der Aussprachen wurde der Unteroffizier in den Stab versetzt, wo inoffizielle MfS-Mitarbeiter auf ihn angesetzt wurden, um zu berichten, wie er auf die Versetzung reagiert hatte und was die tatsächlichen Motive seines Entpflichtungsgesuches waren.313) 

 

311)  Ebd., Bl. 198-200.  
312)  Ein extremes Beispiel ist der Fall eines »lebensmüden« Unterfeldwebels, der bei den Landstreitkräften trotz eines vorangegangenen Suizidversuches und einer Suizidankündigung zum »Unteroffizier vom Dienst« eingeteilt wurde (was mit dem Zugang zu munitionierten Waffen verbunden war), und der die erste Gelegenheit nutzte, um sich mit der MPi in den Bauch zu schießen. Der Suizidversuch erfolgte aufgrund von Eheproblemen. Ob der Unteroffizier die schweren Verletzungen überlebt hat, ist nicht bekannt. Vgl. BStU, MfS, HA I, Nr. 9, Bl. 732-735.  
313)  Vgl. BStU, MfS, HA I, Nr. 13272, Bl. 653 f.

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Ein 23-jähriger Grenzsoldat, der, wie er angab, einen starken Widerwillen dagegen verspürte, darauf trainiert zu werden, Menschen zu töten, und der sich stattdessen lieber selbst das Leben nehmen wollte, und dieser Aussage Nachdruck verlieh, indem er sich betrunken auf ein Bahngleis stellte, wurde im November 1967 auf einen Truppenübungsplatz versetzt.314) 

Ähnlich fiel die Reaktion auf den Suizidversuch eines Oberleutnants aus, der versuchte, sich zu erhängen, wobei jedoch das verwendete Kabel riss. Er versah seinen Dienst ab Juli 1988 in einer Stabskompanie.315) 

Vor allem die Stabskompanien dienten als »Auffangbecken« für suizidgefährdete Soldaten und Offiziere. Auch der bereits erwähnte junge Soldat, der sich den Unterarm aufgeschnitten hatte, nachdem ihn seine »Kameraden« gezwungen hatten, auf einen Schrank zu steigen und zu bellen, wurde in einen Stab abkommandiert.

Das MfS registrierte Suizidfälle nicht nur, es unternahm teilweise sogar Anstrengungen zur Beseitigung der Ursachen. So warf der »Leiter Abwehr« des Grenzkommandos im zuletzt angeführten Fall von Drangsalierung den Vorgesetzten und der Politabteilung mangelnde ideologische Arbeit und Unterschätzung der »Störung der sozialistischen Beziehungen« (wie die EK-Bewegung offiziell umschrieben wurde) vor, und er forderte eine »disziplinare Ahndung«. Auch dafür wurde die »einleitung notwendiger inoffizieller absicherungs- und bearbeitungsmasznahmen« angewiesen.316

Mehr als die »Wegdelegierung« der Problemfälle bewirkten solche Interventionen allerdings kaum. Laut Dietmar Schultke kam es allein im Jahr 1980 »durch die Schnüffelarbeit des MfS zu 237 Versetzungen bei den Grenztruppen«.317 Ein Berufsunteroffizier, der am 6. Dezember 1977 versucht hatte, sich zu vergiften, wurde nach seiner Rettung auf Betreiben des MfS degradiert, in den Grundwehrdienst eingegliedert und vorzeitig in die Reserve versetzt.318) Ein anderer Berufsunteroffizier — der aus einem defekten Panzerschrank eine Pistole gestohlen hatte, um sich aufgrund von Beziehungsproblemen zu erschießen, es aber dann doch nicht getan hatte — wurde im Juli 1969 in ein Pionierbataillon abkommandiert.

Ein Soldat hingegen, der wegen geäußerter »Absichten der Wehrdienstverweigerung sowie Suizidgedanken« in die Untersuchungshaftanstalt Erfurt überstellt worden war und sich dort Schnittwunden zufügte, wurde Mitte 1988 in eine geschlossene psychiatrische Klinik eingewiesen.319)

Ein weiteres Element, das zu einer gewissen »Auslese« führte, war die »Diensttauglichkeits- und Eignungsordnung«. Die Version von 1987 legte fest, dass Suizidgefährdete möglichst gar nicht erst zur Grenze kamen: Bei allen NVA-Angehörigen war nach einem Suizidversuch in der Akte zu vermerken: »Als Grenzsicherungskräfte nicht geeignet«.320)

 

314 Vgl. BStU, MfS, HA I, Nr. 5932, Bl. 370f.  
315 Vgl. BA-MA Freiburg, GT-Ü-006205, Bl. 82f. 
316 Vgl. BStU, MfS, HA I, Nr. 7, Bl. 599 f.  
317 Schultke, Grenzregime, S. 50.  
318 Vgl. BStU, MfS, HA I, Nr. 43, Bl. 119.  
319 Vgl. BA-MA Freiburg, GT-Ü-006205, Bl. 82f.

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Auf der anderen Seite schuf der Grenzdienst mit dem »Schießbefehl« aber auch ethisch-moralische Konfliktsituationen, die für sensible Menschen Anlass zu Verzweiflungstaten sein konnten. Ein solcher Fall ereignete sich am 21. August 1979 in einer Grenzeinheit im Bezirk Suhl. Ein 19-jähriger Wachposten hatte am Tag zuvor auf einen Flüchtling geschossen, der versucht hatte, die Grenzsperren zu überwinden. Schwer betroffen von den Konsequenzen des eigenen Handelns schrieb der junge Soldat in Briefen an seine Freundin und an seinen Vater, dass ihm der »Grenzverletzer« leidtun würde, da er sich so stark an den Beinen verletzt hätte. In seiner Einheit sah er keine Möglichkeit, jemandem seine Schuldgefühle mitzuteilen. Beim nächsten Wachdienst erschoss er sich.321

Insgesamt scheinen alle genannten Faktoren nicht so massiv gewesen zu sein, dass sie die Selbsttötungsrate bei den Grenztruppen beeinflussen konnten; oder sie haben sich in ihrer Wirkung gegenseitig neutralisiert. Es gibt jedenfalls keine Anhaltspunkte dafür, dass die Selbsttötungsrate der Grenzsoldaten in den 1980er Jahren höher war als in den anderen Truppenteilen der NVA. Die Selbsttötungsrate der Grenztruppen lag damit auch nicht höher als die Rate der vergleichbaren Altersklassen im zivilen Bereich.322

Eine moralische Anklage des Militärs oder der Staatssicherheit kann bei der NVA, ebenso bei den Grenztruppen, nicht mit der Selbsttötungshäufigkeit begründet werden. Vielmehr ist als Ergebnis der zweiten Sondierung festzuhalten, dass die Häufigkeit von Selbsttötungen im Bereich der Nationalen Volksarmee, entgegen der Anfangsvermutung, nicht signifikant höher war als in der korrespondierenden Zivilbevölkerung.

Wie kann dieses Ergebnis erklärt werden? Man könnte in der Tatsache, dass Selbsttötungen in der DDR der Ära Honecker sowohl in den Gefängnissen als auch in der Armee nicht häufiger waren als in der Gesellschaft insgesamt, das Resultat von allgemeinen Homogenisierungsprozessen in der SED-Diktatur sehen, was mit der Annahme der Totalitarismustheorie korrespondiert, »daß totale Herrschaft mit der Entdifferenzierung der Subsysteme einhergeht.«323

Zum anderen relativiert die »normale« Selbsttötungsrate in der NVA den Einfluss der aktuellen Lebensbedingungen und verweist auf die grundlegende Bedeutung psychopathologischer Deutungen, die den in der Kindheit erlittenen seelischen Verletzungen ein weitaus stärkeres Potenzial für die Ausprägung von Suizidalität zubilligen als späteren Lebenskonflikten.

Im Kontrast zur Bundeswehr lag die Selbsttötungsrate der NVA aber auch nicht deutlich niedriger als die der Gesamtbevölkerung. Das lag vermutlich daran, dass bei der NVA weder »Auslese« noch »Zusammenhalt« die Häufigkeit suizidaler Handlungen vermindern konnte. 

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320)  BA-MA Freiburg, DVW 1, 44051, Bl. 165.  
321)  Vgl. BStU, MfS, HA I, Nr. 5003, Bl. 434f. 
322)  Erst recht unhaltbar ist die Bezugsetzung von Wehrdienst und Selbsttötungsfrequenz, denn nur die Hälfte der Selbsttötungen im angegebenen Zeitraum wurde von Grenzsoldaten im Grundwehrdienst begangen.  
323)  Sigrid Meuschel, Totalitarismustheorie und moderne Diktaturen. Versuch einer Annäherung, in: Klaus-Dietmar Henke (Hg.), Totalitarismus, Dresden 1999, S. 61-77, zit. 66.

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2.6  Sondierung Nr. 3:  
Selbsttötungsraten von Schülern und Jugendlichen in der DDR

 

In einer frühen, als Pioniertat einzuschätzenden Studie hat Wolf Oschlies bereits in den 1970er Jahren die Entwicklung der Selbsttötungsraten Jugendlicher in den Ländern des Ostblocks untersucht, wobei er zu dem Schluss kam, dass hier die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen im Vergleich zu westlichen Industrieländern eine wesentlich stärkere Rolle gespielt haben. Laut Oschlies wurden in den sozialistischen Ländern schulische Konflikte öfter (teilweise in mehr als der Hälfte aller Fälle) als Suizidmotiv angegeben, weshalb er annahm, dass der durch das Schulsystem erzeugte Leistungszwang im Osten eine größere Rolle spielte als im Westen, wo häufiger Liebes- und Partnerkonflikte als Motiv für Suizidversuche Jugendlicher ermittelt wurden.324

Gelten diese allgemein für den Ostblock getroffenen Aussagen auch für die DDR? Die Entwicklung der Selbsttötungshäufigkeit der Jugend der DDR ist aufgrund des vorliegenden, als relativ verlässlich einzuschätzenden Zahlenmaterials gut quantifizierbar. Wie die Selbsttötungsraten insgesamt, so lagen seit den 1950er Jahren auch die Raten der Altersgruppe der 15- bis 24-Jährigen in der DDR deutlich höher als in der Bundesrepublik.325

Setzt man die durchschnittlichen Selbsttötungsraten der bundesdeutschen Jugendlichen im Zeitraum 1957 bis 1961 (7,6 weiblich, 18,5 männlich) als 100 Prozent, dann waren die entsprechenden Raten der männlichen Jugend in der DDR um 31, die der weiblichen Jugend um 49 Prozent höher. Damit könnte die Einschätzung von Oschlies zutreffend sein.

Eine nochmalige Steigerung trat zeitgleich zum Mauerbau ein: Zu Beginn der 1960er Jahre verdoppelte sich die Ost-West-Differenz für die männlichen Jugendlichen sprunghaft auf 63 Prozent, für die weiblichen auf 103 Prozent.326 Der in Tabelle 11 vorgenommene Vergleich der Verhältnis-

 

324 Vgl. Wolf Oschlies, Jugendselbstmorde in Osteuropa und im intersystemaren Vergleich, Köln 1979, S. 2 f.

325 Für die Zeit vor 1961 muss aufgrund der statistischen Datenbasis die größere Altersgruppe der 15- bis 24-Jährigen als Indikator für die Selbsttötungsrate der Jugend herangezogen werden.

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zahlen der Selbsttötungsraten in Bundesrepublik und DDR zeigt, dass dieser Anstieg Teil einer generellen Erhöhung der Differenz der Selbsttötungshäufigkeit beider deutscher Staaten in den 1960er Jahren war. Gleichzeitig wird erkennbar, dass sich das Verhältnis bei den Jugendlichen im Vergleich zum Durchschnitt aller Altersklassen ungünstiger entwickelte: Während das Verhältnis der Selbsttötungsraten in der Altersgruppe »15-24 Jahre« vor 1961 noch leicht unterdurchschnittlich war, lagen die Selbsttötungsraten der Jugendlichen ab 1962 im Vergleich zur Bundesrepublik höher als bei anderen Altersklassen.

Der sprunghafte Anstieg macht einen spezifischen Einfluss des Mauerbaus wahrscheinlich, der ein Ereignis darstellte, das besonders für den sehr mobilen Bevölkerungsanteil im Jugend- und Jungerwachsenenalter — so war 1961 die Hälfte der Republikflüchtlinge unter 25 Jahren alt327 — eine Einschränkung von Fluchtmöglichkeiten und Zukunftschancen bedeutete (vgl. dazu Abschnitt 4.6). Die Jahre nach dem Mauerbau waren in der DDR zu-

326 Dabei stieg die Selbsttötungsrate bei der männlichen Bevölkerung in der Altersgruppe 15-24 Jahre in beiden deutschen Staaten, allerdings in sehr verschiedenem Ausmaß. In der DDR stieg die Selbsttötungsrate, die 24,3 im Zeitraum 1957-1961 betragen hatte, auf 31,6 im Zeitraum 1962-1966, d.h. um 30 Prozent. Bei den männlichen Jugendlichen in der Bundesrepublik hingegen belief sich der Anstieg nur auf knapp fünf Prozent.

Die Vergrößerung der Differenz bei den Frauen war das Resultat gegenläufiger Tendenzen; in der Bundesrepublik sank die Selbsttötungsrate weiblicher Jugendlicher im betrachteten Zeitraum um 14 Prozent ab, während sie in der DDR um 17 Prozent anstieg.

327 Vgl. Marc-Dietrich Ohse, Jugend nach dem Mauerbau. Anpassung, Protest und Eigensinn (DDR 1961-1974), Berlin 2003, S. 28.

328)  Zahlen aus: Marita Schulze, Eine sozialhygienische Studie zur Erforschung der Selbstmordziffer der Deutschen Demokratischen Republik, die in internationalen Vergleichen zahlenmäßig relativ hoch erscheint, Diss. Berlin 1969, S. 77, 79; Felber/Winiecki, Material; Schmidtke, Entwicklung der Häufigkeit, S. 61. Die Zahlen von Schulze für 1951 bis 1954 liegen deutlich höher als die im Statistischen Jahrbuch der DDR ausgewiesenen; in späteren Jahren stimmen sie nahezu überein. Da nicht entscheidbar ist, welche der beiden Quellen die zuverlässigere ist, wurden die Angaben, um keinen falschen optischen Eindruck zu erzeugen, für 1951-1954 weggelassen.

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Selbsttötungsrate DDR / Selbsttötungsrate BRD

1957-1961

1962-1966

Frauen 15 -24 Jahre 

Frauen alle Altersklassen 

Männer 15 -24 Jahre 

Männer alle Altersklassen

1,49 

1,67

 1,31

 1,41

2,03

1,90

1,63

1,55

Tab. 11: Verhältnis der Selbsttötungsraten in der Bundesrepublik und der DDR vor und nach dem Mauerbau.

dem Jahre verstärkter innerer Zwänge; neben der unmittelbar nach dem 13. August 1961 einsetzenden und bis ca. Mitte 1962 andauernden Repressionswelle waren für Jugendliche vor allem die 1962 eingeführte allgemeine Wehrpflicht sowie die Einrichtung von Arbeitslagern als »neues Instrument der Erziehungsdiktatur«329 relevant.330

Das Maximum der Selbsttötungshäufigkeit von DDR-Jugendlichen dauerte etwa fünf Jahre an und erreichte bei den männlichen Jugendlichen (nach 1962) noch einmal im Jahr 1966 ein Maximum. Das könnte eine Folge der 1965/66 erfolgten staatlichen Repressionen gegen die an westlichen Vorbildern orientierte Beat-Jugendkultur gewesen sein, wodurch es zu einer temporären Überfüllung der Gefängnisse kam.331 Allein in Leipzig wurden nach der Beat-Demo 1965 insgesamt 357 Jugendliche verhaftet, zudem löste die Volkspolizei in der Messestadt 14 Jugendcliquen auf.332

Möglicherweise hat sich nach dem Mauerbau auch der Leistungs- und Anpassungsdruck in den Schulen erhöht. Mehrere Selbsttötungen von Schülern, die als »Vorkommnisse« gemeldet wurden, scheinen Reaktionen auf sehr strenge erzieherische Maßnahmen von Lehrern gewesen zu sein. So äußerten Schüler mehrfach in ihren letzten Zeilen Angst vor der Schule. »Nach Aussagen der Mutter und Schwester soll der Junge in den letzten Nächten wegen Prüfungsangst im Bett gesessen haben und keinen Schlaf gefunden haben«, hieß es in einem Bericht über einen Schüler der 10. Klasse im Be-

 

 

329 Werkentin, Politische Strafjustiz, S. 244.

330 Vgl. ebd., S. 244-255; Ohse, Jugend, S. 28-31, 36.

331 In einem Bericht des Generalstaatsanwalts der DDR hieß es dazu: »Gegenwärtig befindet sich der weitaus größte Teil der inhaftierten jugendlichen Täter viele Monate in Untersuchungshaft. Eine Dauer von 6 bis 7 Monaten ist keineswegs eine Ausnahme. [...] Diese lange Dauer der Untersuchungshaft hatte zur Folge, daß in Einzelfallen psychische Reaktionen bei den Häftlingen ausgelöst wurden, die zu einem Selbstmord und mehreren Selbstmordversuchen führten.« Der Generalstaatsanwalt der Deutschen Demokratischen Republik, Bericht über Erscheinungen, Ursachen und Verhütung der Jugendkriminalität im Jahre 1965, 12.10.1966. SAPMO-BArch, DY 30, IV A 2/13, 207, Bl. 424f. Natürlich ist eine solche singulare Beobachtung nicht mehr als ein Indiz.

332 Vgl. Ohse, Jugend, S. 80, 97.

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zirk Halle, der sich 1964 das Leben genommen hatte.333 In Jena erhängte sich im gleichen Jahr ein Schüler, dessen Lehrer »offensichtlich die Zensur als Zuchtmittel angewandt« hatte, was als »kalte Herzlosigkeit und reaktionär-bürgerliche Erziehungspraktiken« scharf kritisiert wurde.334

Ende der 1960er Jahre normalisierten sich die Selbsttötungsraten schrittweise auf dem Niveau der 1950er Jahre. In den 1970er Jahren sanken die Selbsttötungsraten der DDR-Jugendlichen dann weiter ab und erreichten nahezu »Westniveau«. Dieses Absinken korrespondierte zeitlich mit dem Gestaltwandel der SED-Diktatur, dem Übergang von »harter« Repression, der für die Phase des sozialistischen Aufbaus typisch war, zu »weichen Herrschaftstechniken«.335 Da bei Jugendlichen erfahrungsgemäß eine (etwa im Vergleich zu alten Menschen) häufigere »gesellschaftliche Bedingtheit«336 von Selbsttötungen vorliegt und psychopathologische Entwicklungen nur sehr selten eine Rolle spielen, ist auch hier ein kausaler Zusammenhang sicher möglich.337

Allerdings könnte auch ein erhöhtes suizidales Risiko der um 1945 Geborenen, deren Kindheit durch Krankheit, häufige Todesfälle, Entbehrung, Hunger, Flucht und Wohnungsnot gekennzeichnet war, die verstärkte Suizidalität in den 1960er Jahren mit bedingt haben.

Die Dissertation der Psychologin Charlotte Bethge warf im Jahr 1964 ein Schlaglicht auf diese Generation, die noch sichtbar an den Folgen des Krieges litt. Sie befragte 96 Jugendliche (Alter bis 25 Jahre), die zwischen Oktober 1958 und März 1961 in ein Ost-Berliner Reanimationszentrum eingewiesen wurden. »Zwei Drittel der Probanden haben kein normales Familienleben kennengelernt, bezw. keine Stetigkeit in den familiären Beziehungen«, konstatierte die Psychologin.338 Viele Kinder verloren ihre Familie teilweise oder ganz. Bei denen, die in Familienstrukturen lebten, erwies sich das Familienklima oft unabhängig von den Zeitumständen als gestört, teilweise wurzelten die psychischen Fehlentwicklungen aber auch direkt in Verfolgungserfahrungen während der NS-Zeit. Ein Jugendlicher »bekam als Kind schlecht Kontakt mit anderen Kindern, da die Mutter Halbjüdin war, wurden

 

333)  LHASA, MER, BT/RdB Halle, Abt. Volksbildung, Nr. 9327, Bl. 103.
334)  ThStAR, BT/RdB Gera, 8.1., Nr. 117, Bl. 371.
335)  Vgl. Christoph Boyer, Totalitäre Elemente in staatssozialistischen Gesellschaften, in: Henke (Hg.), Totalitarismus, S. 79-91, zit. 89.
336)  Vgl. Dinkel/Görtler, Suizidsterblichkeit.
337)  Leider ist diese These anhand der vorhandenen Quellen empirisch nicht beweisbar, weil kaum Quellen für die Zeit vor 1970 vorliegen. Zwar hat das Ministerium für Volksbildung eine lückenlose Erfassung von Suiziden und -versuchen angestrebt; aber erst im Verlauf der 1960er Jahre wurde die Meldung solcher Vorkommnisse durchgesetzt. Ein Vergleich von Meldungen über Schülersuizide aus den 1960er Jahren mit solchen aus den 1970er Jahren, wodurch möglicherweise die konkreten Veränderungen, die zum raschen Ansteigen der Suizidalität nach 1961, später dann zum Absinken der Selbsttötungsraten bis hin zur Angleichung an die Raten der Bundesrepublik geführt haben, nachgewiesen werden könnten, ist also nicht möglich.

338)  Charlotte Bethge, Untersuchungen zur psychologischen Problematik von Selbstmordtendenzen bei Jugendlichen, Diss. Leipzig 1964, S. 26.

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