Magdalena

In der Täter-Falle — "Magdalenas" hoher Ton

Von Marko Martin aus der Zeitschrift Kommune bei oeko-net.de 

(d-2006:)  Eine etwas kritische Besprechung - aber auch gut und richtig.

 

Wer von Zeit zu Zeit die Zeit liest, hat nicht nur das Vergnügen, regelmäßig auf die Mahnpredigten der unsterb­lichen Gräfin Dönhoff oder auf die verschnupften Global-Analysen von Exbundeskanzler Helmut S. zu stoßen, sondern er wird in diesem Blatt auch eine Art hanseatisch gepushten Dauer-Ossi vorfinden, der aus dem Thüringischen stammt und auf den Namen Christoph Dieckmann hört. 

Unmöglich, die ganzseitigen Dieckmann-Aufsätze zu übersehen, bemühen sie sich doch seit nunmehr schon über einem halben Jahrzehnt, den Leser wortmächtig davon zu überzeugen, daß der deutsche Osten ganz, ganz anders sei und man Ladungen von Vorurteilen über Bord kippen müsse, um Neufünfland und dessen Bewohner wirklich zu verstehen. Man liest dann sehr viel von Kindheit und Jugend des Herrn Dieckmann, von Rockmusik und Bratwurst, vom 1. FC Jena und dem ersten Schneefall kurz vor Weihnachten im verschlafenen Weimar. Alles schnurrt hübsch und handlich zur Episode zusammen, Angst und Diktatur­erfahrungen kommen nicht mehr vor oder werden aphoristisch weggewitzelt, und der brave Zeit-Leser im Westen hat dann zweierlei gelernt:

Erstens war es drüben ja auch fast wie hüben, FrühlingSommerHerbstundWinter spielten auch dort ihre Melodei, weshalb also schrille Dissonanzen pflegen? Zweitens war es drüben doch soviel anders als hüben, so daß man als Unbeteiligter am besten gar nicht urteilt, sondern dies lieber dem Herrn Dieckmann mit dem so schaurig-schönen, fröhlich-melancholischen Stil überläßt. Das milde Abendlicht, in das der Piefke-Staat hier permanent und gar nicht ungeschickt getaucht wird, weiß nichts von Tätern und Opfern, nichts von ängstlich zusammengebissenen Lippen und herausgestreckten Uniform-Bäuchen; Frieden herrscht statt dessen in der Landschaft, und der Zeit-Redakteur pfeift besinnlich irgendeine falsch verstandene Liedzeile von Bob Dylan.

Diese eigentlich sehr leicht zu durchschauende Fröhlichkeit lügt und nervt, man sollte Antwort darauf zu geben wissen. Jürgen Fuchs, Vogtländer, Student in Jena, Schriftsteller, Freund von Havemann und Biermann, dann Stasi-Häftling und in den Westen Ausgebürgerter, hätte genau diese Antwort geben können.

 

Wer etwas über Anpassung und Verweigerung, über die ganz banalen und ganz konkreten Gesten der Macht und die Integrität des Widerstehens erfahren möchte, kommt an Fuchs' Prosaarbeiten Gedächtnisprotokolle und Vernehmungsprotokolle nicht vorbei, ganz zu schweigen von seinen hypergenauen Armeebüchern, die man auch acht Jahre nach dem Ende der Unterwerfungsmaschinerie NVA noch immer lesen sollte.

Das neue Buch indessen, das keineswegs ein "Roman" ist, sondern ein konfuser, grummelnder Dauer-Monolog, langerwartet, ist nichts als eine einzige Enttäuschung. Die Antwort auf das nivellierende Dauer-Witzeln gerann nur, wahrscheinlich darin sehr osttypisch, zum sauertöpfischen Dauer-Lamento, das sich durch seine Larmoyanz selbst ins Abseits katapultiert. Von soziologischem Interesse könnte es dennoch sein, zeigt es doch par excellence, wie eine im Osten geschulte Ästhetik des Widerstands vor der unendlich komplexeren West-Wirklichkeit kapitulieren muß und damit zur Karikatur ihrer selbst wird.

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Jürgen Fuchs, vor den ehemaligen Stasi-Gebäuden in der Ostberliner Ruschestraße: "<DR> ist zu lesen, Deutsche Reichsbahn, dann <DB>, Deutsche Bahn ... Nur ein Buchstabe muß geändert werden! Deutsche Beamte wollt ihr sein und bleiben, Deutsche Wärter, Deutsche Dienstgrade, Deutsche Vorgesetzte und Vorzimmerdamen ... Wichtig und korrekt gekleidet, gesichert und anerkannt vom jeweiligen Staat, brav und scharf oder milde, wenn die Zeiten so sind ... Is was? Nee!" 

Die Anklage deutscher Kontinuität, die Zurückverwandlung des Schergen in den Spießer — ist das nicht in der Tat ein großes Thema? Allerdings. Nur wird bei Fuchs alles zu fast hysterischem Pathos, eifernder Rhetorik, und — das Buch hat knapp 500 Seiten — mit von Mal zu Mal unerträglicher werdender Suggestivfragen.

 

Wer schweres Geschütz auffährt, sollte genau sein: Woher weiß Fuchs etwa, daß die braven Bahner ehemalige MfSler sind, woher kommt dieser Generalverdacht gegenüber jeglicher Institutionalisierung und bürgerlichen Existenzform? Der Aufklärer sitzt hier auf einmal in einer recht deutschen Falle: Ein Amt ist ein Amt ist ein Amt, die Sesselfurzer bescheißen uns alle, Krawattenträger sind durch die Bank weg krumme Hunde. Statt am konkreten Fall weiterwirkende Mentalitäten zu beschreiben, das Fortwirken alter autoritärer Muster, blafft Jürgen Fuchs wie der populistische Mann von der Straße schräg nach oben und wittert dort überall, wenn nicht schon Verbrechen, so dann doch zumindest Karrierismus und Wortbrüchigkeit. Der Haken dabei ist nur, daß man mit derlei ungewollt die Unterschiede zwischen Diktatur und Demokratie einebnet und die bürokratisch-unsensiblen Stasiaktenverwalter von heute flugs mit den perfiden Stasiaktenverfassern von einst gleichsetzt. 

Der Untertitel seines Buches, "Horch&Gauck", ist denn auch eine äußerst dümmliche Gleichsetzung, die auch des Neuen Deutschland würdig gewesen wäre. Daß Jürgen Fuchs auch noch nach zwanzig Westjahren seinen provinziellen Habitus nicht abgelegt hat und die Realität in der Bundesrepublik nicht wahrzunehmen in der Lage ist, sollte man ihm nicht vorwerfen; die deutsche Kultur wimmelt nur so von Waldschraten und sich selbst marginalisierenden Zauseln, für die jede Ironie schon eine Täter-Strategie ist, um ihnen ihr Leben zu entwerten.

 

Dennoch berechtigt ihn nichts dazu, jene, die im Westen leichter ankamen, nun pauschal des Opportunismus zu zeihen. Mag Joachim Gauck, dessen Seidenhemden Jürgen Fuchs anscheinend ebenso empören wie dessen Eitelkeit als Behördenchef, vor 1989 auch ein eher unauffälliger DDR-Bürger gewesen sein — daß eine auf sanfte Amnesie eingestellte öffentliche Meinung im Westen schließlich doch von der absoluten Notwendigkeit der Akten-Öffnung überzeugt werden konnte, ist vor allem sein Werk

Die rhetorische Geschliffenheit, die vorzeigbaren Manieren (also all das, was Fuchs für sekundären Tand hält) haben es Joachim Gauck ermöglicht, schließlich auch die Ohren des jederzeit einseitig "versöhnungsbereiten" Mainstreams in dieser Republik zu erreichen. Chapeau für jeden, der es schafft, mit dem Stasi-Thema auch in ansonsten nur banal dahinplätschernden Talkshows zu reüssieren!

Daß eine radikale Gegnerschaft zur DDR und das Bemühen, die Hinterlassenschaft dieses Regimes aufzuarbeiten, etwas durch und durch Emanzipatorisches, und als solches auch innere Befriedigung Spendendes ist diese Einsicht würde man auch Jürgen Fuchs gern wünschen. Dann könnte er wahrscheinlich auch gelassener werden und müßte nicht mehr Aufklärer in (gute) Rollkragenpulloverträger und (anpasserisch-gleißnerische) Pfeifenraucher selektieren. An einer Stelle seines Buches heißt es: "Der verfluchte Augenblick der moralischen Überlegenheit". Eine schöne Formulierung, die noch besser würde, wäre sie beherzigt worden.

Ein anderes Beispiel: Jürgen Fuchs steht vor der ehemaligen Haftanstalt und wird nicht hineingelassen. Eine Bescheinigung vom Senat, einen Passierschein brauche man, knurrt das Wachpersonal und läßt sich auch durch Fuchs' Erwiderung, daß er hier doch früher Häftling war, nicht erweichen. Wer nun auch nur etwas Herz hat, wird mit Jürgen Fuchs mitfühlen. Wer zynisch ist, bemerkt achselzuckend, daß es eben keine Gerechtigkeit in der Geschichte gibt. Wer in seinem Politikwissenschafts-Seminar aufgepaßt hat, wird entgegnen, daß das Wachpersonal sehr gut daran tat, jemanden ohne Passierschein nicht einzulassen, da sich die liberale Demokratie ja gerade durch die Einhaltung der für alle geltenden Regeln definiert.

Wer nun ein guter Schriftsteller wäre, könnte dies alles zusammendenken, über die schmerzliche Inkompatibilität all dieser drei Wahrheiten nachdenken und beim Leser eine fortwirkende, produktive Beunruhigung hinterlassen. Jürgen Fuchs' Reaktion ist leider wiederum simpelste Hausmannskost: Die Hände des Wachpersonals, die auf Knöpfe drücken, sind das nicht ... Wir ahnen, wie es weitergeht, verstehen die Zulässigkeit dieser Reflexion und sind doch nur angeödet von ihrer dauernden Dominanz.

Jürgen Fuchs schließlich beim Radio-Hören, Jürgen Fuchs in der Einkaufspassage oder auf der Frankfurter Buchmesse; es ist stets das gleiche Lied. Die Täter des Ostens everywhere und dazwischen die klugen, doofen, sanften, schrillen West-Stimmen, die wieder einmal nix kapieren. Hätte Fuchs in seinen zwanzig Westjahren auch nur einmal die volkseigenen Tomaten von den Augen genommen, wüßte er, daß genau dies die Demokratie ausmacht, ein dauerndes Gewusel und Gedrängel, in dem niemand richtig untergeht, aber auch niemand wirklich ernsthaft wahrgenommen wird, eine Gesellschaft, in der es ununterbrochen lärmt.

What a beautiful noise, könnte man da fast mit Neill Diamond singen, denn selbstverständlich ist all dies unendlich besser als das menschenzerstörende Schweigen in Zellen und Verhörzimmern, unendlich harmloser als die verordneten Geräusche auf Appellplätzen, Aschenbahnen oder Partei-Tribünen. Beim Lesen dieses Buches drängt sich der Verdacht auf, daß gerade Fuchs aber diese Vielfalt empört, bei der er nur die Nivellierung der Erinnerung, aber nicht die Chance für eine unbehelligte Gegenwart wahrnimmt.

 

"Viele wollen unsere Erfahrungen nicht wahrnehmen", klagt der Autor. Na und, möchte man da fast schnippisch antworten. Wer will schon irgendwelche Erfahrungen wahrnehmen? Trotzdem muß man es versuchen, immer und immer wieder, ein listiges Eichhörnchen im Dschungel der Postmoderne. Wahrscheinlich aber gab es im Vogtland keine Eichhörnchen. Regelrecht paranoid wird es dann, wenn Jürgen Fuchs auf der Frankfurter Buchmesse den lauten Eitelkeits-Trubel beklagt und allen Ernstes schreibt: "Oh, ihr flotten, schlauen Kommentare! Ihr wollt uns besiegen und immer im Trend liegen, gut gekleidet, gut formuliert."

Vorher erwähnte Fuchs noch Matthias Domaschk und die Mutter seiner Frau, beide von der Stasi in den Tod getriebene Menschen; hätte er über deren Schicksal eine Erzählung geschrieben, er hätte sie tatsächlich dem Vergessen entreißen können. So aber sind sie nur Namen, rhetorische Kürzel, und die ergreifende Totenklage verröchelt in einem unsäglichen Volkshochschulton, der in der Bücherschau wohlgemerkt einer unzensierten Bücherschau lediglich "Kunst und Kommerz" ausmacht. Dies aber hätte auch ein ND-Korrespondent in seine Schreibmaschine tippen können.

 

Imre Kertész, der Auschwitz und Buchenwald überlebte und in beeindruckenden Büchern von seinen Traumata Zeugnis gab, brachte das Problem einmal hervorragend auf den Punkt: "Osten und Westen, der neurotische und der normale Typ. Neurose: die ständig regressive Wiederholung eines traumatischen Erlebnisses in Form stets gleichbleibender Symptome, bis in alle Ewigkeit, das heißt bis zum Tod. Normal: traumatische Störung, darauf die bewußte Aufarbeitung des Traumas, die Schaffung rationaler Garantien zur Vermeidung der Regression, des Rückfalls in die Symptome. Das eine ein Höllenerlebnis: das stets erneute Durchleben von Krankheitszuständen ohne Ende und ohne Ausweg; das andere: Katharsis, Weg der vollen Entfaltung und eines tragischen Glücks."

Vielleicht sollte Jürgen Fuchs statt dauernd alte Havemann-Fotos zu betrachten und alte Biermann-Lieder zu pfeifen - einmal über die kluge Definition dieses ungarischen Juden nachdenken: Sie weist einen Weg ins Freie.

Dies jedenfalls wäre ergiebiger, als verkniffenen Spott über jene auszukippen, die bereits innerlich frei geworden sind; Reiner Kunze etwa in seinen Gedichten oder den Namibischen Notizen. Dem neurotischen Fuchs fällt dazu jedoch nur die nächste Verschwörungstheorie ein: "Sie wollen Schmuckstücke ihres Hasses aus uns machen, Spinner, Schizophrene, der eine als Wildfarmer in Namibia..."

Spätestens hier kann Literaturkritik nicht mehr mithalten; Jürgen Fuchs, immerhin ein erfahrener Psychologe und Therapeut, müßte eigentlich ahnen, daß er in Gefahr ist, selbst zum Patienten zu werden.

Kurz nach seiner Haftentlassung 1978 hatte er ein sehr schönes Gedicht geschrieben, das in seiner Lakonie bereits alles aussagt: 

DAS SCHLIMME ist nicht
In einer Zelle zu sitzen
Und verhört zu werden

Erst danach
Wenn du wieder vor einem Baum stehst
Oder eine Flasche Bier trinkst
Und dich freuen willst
Richtig freuen
Wie vorher
Erst dann

Es wäre erfreulich, wenn Jürgen Fuchs irgendwann einmal diese Einsicht über sein Leben, ein vom Staats­sicher­heits­dienst der DDR schwer geschädigtes Leben, wiedergewinnen könnte.

Ich stelle mir vor, daraus würde ein gutes Buch, eine eindringliche Selbstreflexion über die eigenen Komplexe, paranoiden Phantasien und sehr wohl begründeten Angstvorstellungen. So etwas aber verlangt Ehrlichkeit, ein schonungsloses Betrachten seiner selbst immerhin seit Montaigne eine in Europa nicht gänzlich unbekannte Art, sich über die eigene Person klarzuwerden. Eine psychische Beschädigung ist keine Schande, sie weist zurück auf jene, die sie zufügten nach genauem Maßnahmeplan und Operativvorgang. Ungut wird es nur dann, wenn man diese Beschädigung konsequent ignoriert und sich mit der Zentnerlast unaufgearbeiteter Traumata daran macht, die zivile Gesellschaft für ihre vermeintlich geschichtslose Gelassenheit zu schelten.

 

Jürgen Fuchs hätte uns allen etwas zu erzählen — über sich, über einen jungen Mann, der eines Tages im November 1976 aus einem Auto gezerrt wurde und für den deshalb auch heute noch die Welt und das Leben aus einem einzig gültigen Hauptwiderspruch zu bestehen scheint: Stasi oder nicht Stasi. Er könnte darüber nachdenken, wie seine Vergangenheitsbewältigung längst in die Falle der Täter gegangen ist, läßt er sich doch von jenen Bütteln bis heute die Thematik vorgeben — und sei es in der radikalen Anklage. 

Aber nicht jede Aufarbeitung muß in einer Manie enden, und nicht jedes innere Freiwerden ist mit Verdrängung erkauft. Eine jenseits der DDR und der Stasi gelegene Welt mit ihren Widersprüchen, aber auch unvergleich­lichen Schönheiten, scheint für Jürgen Fuchs nahezu inexistent zu sein — weshalb dies aber so ist, darauf könnte nur Fuchs selbst Antwort geben. Falls er überhaupt die existentielle Dringlichkeit dieser Fragestellung wahrnehmen will. Als Intellektueller, der er ist, könnte man dies freilich von ihm erwarten.

Am Ende von Hannah Arendts Totalitarismus-Buchs steht das schöne Augustin-Zitat "Initium ut esset, creatus est homo", das einen Ausweg aus den Höllen dieses Jahrhunderts vorschlägt: "Dieser Anfang ist immer und überall da und bereit. Seine Kontinuität kann nicht unterbrochen werden, denn sie ist garantiert durch die Geburt eines jeden Menschen."

Wünschen wir Jürgen Fuchs, diesem durch und durch integren Menschen und — falls er will — unbestechlichen Autor, die Kraft dieses Neuanfangs.

 


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