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Der Gefreite Köhler, den Hauptmann Müller mitbrachte aus Rudolstadt, als man Rödiger ablöste und Müller die Kompanie übernahm, sagte vor dem Bahnhofsgebäude, ich war schon im Gehen, die anderen wollten noch ein Bier trinken: «Und dir möchte ich dringend raten, nicht weiterhin den Marxismus-Leninismus zu verdrehen ...».

Ganz plötzlich sagte er es, ganz überraschend, es kam aus besagtem heiteren Himmel, der tatsächlich blau war und wolkenlos an diesem herrlichen ersten Tag der Freiheit, aus Köhlers Mund kam es. Und er meinte mich, ganz bestimmt und ohne Spaß mich, dieser Lehrer für Geschichte, Deutsch und Staatsbürgerkunde, den sie noch geholt hatten kurz vor seinem dreißigsten Jahr, Parteimitglied, «überzeugt», wie Hösel, der Waschmaschinen­monteur, meinte.

Er lag mit Köhler in einem Zimmer die letzten beiden Monate: «Weiß alles besser, wie es sich für einen Lehrer gehört, ich bin aber nicht sein Schüler», sagte Hösel. Sie hatten oft Streit, Hösel sprach von Ersatzteilen, Brigadefeiern, Schwarzarbeit und Intershops, von Biersorten und <Ausgangsmiezen>.

Köhler hörte zu und eröffnete dann eine Schulungsrunde, erläuterte, wie es sein müßte, könnte, sollte, gab Fehler zu, räumte zumindest ihre «gesellschaftlich mögliche Existenz» ein, weigerte sich aber, Hösel in seine Waschmaschinen-, Kollegen- und Kumpelwelt zu folgen, auch nicht für Augenblicke oder um einige Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen. 

Wenn Hösel wütend wurde, stürmte er auf den Gang und rief meinen Namen: «Komm mal, du hast doch auch die Bücher gelesen, Lenin, Parteitag und so weiter... Er sagt das, ich das, weil ich es erlebt habe, das sind die Fakten... was ist denn nun...»

Hösel wollte, daß ich ihm recht gebe und ein Zitat der Klassiker des Marxismus-Leninismus zur Verfügung stelle im Kampf gegen Köhler, «der hier ankommt aus Rudolstadt und gleich schlaue Reden hält ...». Köhler schüttelte den Kopf, schwieg meist, wenn Verstärkung angefordert wurde von der Gegenseite. Mittelgroß, schmal im Gesicht, grau, aufmerksam, geduldig, unnachgiebig, so stand er im Gang und wartete ab, bis Hösel in den Klubraum rannte in Pantoffeln, um Kaffee zu trinken. Ich kam selten dazu, etwas zu sagen. Meist wurde der Streit vertagt, einem Kännchen frisch gebrühtem Kaffee vorgezogen, oder etwas anderes kam dazwischen, eine <Maßnahme>, ein Pfiff im gefliesten Gang des Kasernenneubaus in Plauen, im Erdgeschoß, wo der Nachrichtenzug untergebracht war. Köhler lächelte, wenn er mich sah, blieb freundlich, abwartend und fest entschlossen, weiterhin recht zu haben, wenn Hösel seine Ansichten äußerte.

Als ich beauftragt wurde, einen <Kulturnachmittag> durchzuführen, las ich aus Simonows Buch Man wird nicht als Soldat geboren, auch die Stellen über Stalin, die ihn als harten, intriganten Menschen vorkommen lassen. Köhler hatte sich vorher erkundigt, welche Seiten ich lesen werde. 

In der anschließenden Diskussion, die nicht stattfand, weil sich nur Köhler meldete und einen Absatz aus den Erinnerungen von Shukow vortrug, in dem Stalin als erfahrener, erfolgreicher Feldherr erschien, grinsten einige, klatschten Beifall und zwinkerten mir zu, andere gingen schnell in den Waschraum, um das Kaffeegeschirr abzuspülen. Köhler las seine Stelle vor, ich schwieg, er nahm seine Unterlagen und verschwand in Müllers Zimmer.

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Hösel war während der Lesung eingeschlafen, «eine Hitze hier, den ganzen Tag draußen, hervorragende Lesung, nicht reinreden lassen, Köhler will alles besser wissen...». Als Fahrer des Reparaturtrupps hatte er am Signalzaun gearbeitet, ganz vorn am Grenzstreifen, wenige Meter vor der anderen Seite, treu und brav war er dort herumgekutscht mit seinem <Ello>, einem Kleinlaster, anderthalb Tonnen mit Geländeantrieb, drei andere und ein Offizier waren noch mitgewesen, jetzt gähnte er, schimpfte, sein Hauptfeind war an allem schuld, der Kaffee duftete, Hösel rannte los, holte noch Zigaretten; «endlich in Ruhe ein Käffchen...». 

Bei der Lesung hatte ich mit Köhler zu tun. Man hätte diskutieren können, ja, aber die Zuhörer waren schon unruhig, wollten ihre Freizeit haben... Handelte Köhler im Auftrag, sollte er die ideologische Linie wahren? Immerhin hatte Simonow einige kritische Töne gewagt, das Buch war in der DDR erschienen, es erzählte vom Krieg, von Soldaten, die Auswahl konnten sie mir nicht vorwerfen, außerdem handelte es sich um einen sowjetischen Schriftsteller. So dachte ich. Köhler dachte etwas anderes. Vielleicht war in der Parteigruppe über den bevorstehenden <Kulturnachmittag> gesprochen worden. Müller wollte Simonow verbieten, zumindest andere Zitate anordnen, «nichts aus dem Zusammenhang reißen». Vielleicht hatte Köhler ihm widersprochen und einen anderen Vorschlag gemacht, darüber diskutieren und so weiter, auch das war möglich.

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Einmal unterhielten wir uns im Gang über einen georgischen Film, der im Fernsehen gelaufen war. Wir fanden ihn beide gut. Überrascht stellten wir diese Übereinstimmung fest. Schnell verschwand jeder in seiner Stube. Hösel wird im Streit mit Köhler oft auf mich zurückgegriffen haben. Für ihn zählte, daß er mich länger kannte, ich auch irgendwie <dagegen> war, nicht in der Partei, kein Lehrer, trotzdem «Abi und Bücher im Spind». Also wurde Köhler mein Feind und sagte zum Abschied böse Worte.

Das wäre eine Erklärung. «Nicht weiterhin den Marxismus-Leninismus verdrehen», das mußte nicht ohne Folgen bleiben. Das war starker Tobak, ein schwerer Vorwurf, eine Entlarvung des Klassenfeindes. Wir gingen auseinander, wie geohrfeigt schlich ich zum Bahnsteig, kehrte noch einmal um, trabte durch die Anlagen des nahe gelegenen Parks, setzte mich auf Bänke, starrte, bald fuhr der Zug. Nach Hause wolltest du doch. Wohin ist das denn, nach Hause? Jetzt, wo es soweit war, hielt dich etwas zurück. Eine Enttäuschung nahte, etwas Leeres, das nicht aufgehalten werden konnte durch Wetter und Tag. Warum sagte Köhler so etwas.

Und Biellau hatte sich kurz verabschiedet, war zum Bus gelaufen. Kein Gespräch mehr, keine Versöhnung. Müller hatte ihn öfters in sein Zimmer rufen lassen. Sollte er etwas erzählen? Hatte er etwas erzählt? So ging man auseinander. Alles wurde fremd, unwirklich, als wäre es nicht gewesen. Laß doch Köhler reden, der hat sich mit Hösel nicht vertragen, wer weiß, was ihn noch ärgerte.

Als eine Abordnung sowjetischer Soldaten zu Gast war vom <Patenregiment>, einer Raketeneinheit, stationiert auf der anderen Seite der Stadt, regte sich Köhler auf, weil keiner sitzen blieb im Speiseraum, «um mit den sowjetischen Genossen ungezwungen zusammenzutreffen».

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Ich hatte Dienst, Biellau wartete im Funkraum auf die Ablösung, worüber hätte man ungezwungen reden sollen im Speiseraum, wenn Müller dabeisaß? Er sprach fließend Russisch, hatte ein Jahr in Moskau studiert. 

Drei Monate vor dem ungezwungenen Zusammentreffen hatte es sonntags Alarm gegeben, «ein bewaffneter Grenzverletzer bewegt sich in südliche Richtung». Plauen und Umgebung wurde abgeriegelt, Panzerwagen und Jeeps fuhren auf, Schützenketten wurden gebildet, Posten standen an Kreuzungen, die Rote Armee rückte an, um einen der ihren, einen <Verräter> mit Einzelkämpfer-Spezialausbildung, aufzuhalten. Wahrscheinlich wollte er über die Grenze. Im Wachlokal quartierte sich eine Verstärkung ein, sie kam aus Leningrad, hieß Pawel und fragte sofort: «Skolko?» Wieviel? Die Tage... Sie zählten also auch, er sprach immerzu von <damoi> und bot Papirossi an.

Russisch fünfte Klasse, ich verstand schon, was er sagte, wenn er langsam sprach. Wir rauchten, nickten, fühlten eine Verbundenheit, waren unter uns. «Muschkoten wie wir», sagte Krüger, als der Alarm abgeblasen wurde. Den Flüchtling hatte man im Plauener Park gestellt und erschossen, er soll bewaffnet gewesen sein und Handgranaten geworfen haben. Vielleicht hatte er sich auch den Lauf seiner MPi in den Mund gesteckt, als alle Wege versperrt waren. In Plastiksäcke sollen sie die Körperteile eingesammelt haben, erzählte Jahoda, der es von einem Polizisten erfahren haben wollte. 

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Worüber sollte man mit den sowjetischen Genossen reden beim ungezwungenen Zusammentreffen im Speisesaal in Anwesenheit von Müller? Über den Sozialismus, über einen Grenzalarm? Wann wer nach Hause geht? Darüber hätte man sprechen können. Aber lieber mit Pawel und allein, nicht mit Müller.

Im Sommer fanden zwei Spiele statt, Fußball und Volleyball. Fußball gewann <Deutschland>, wie Hösel sagte, Rödiger hatte es gehört und grinsend den Kopf geschüttelt, Volleyball <die Freunde>. Alle Sätze gingen an sie, Deutschland hatte keine Chance. Als wir uns am Netz gegenüberstanden und <Sport frei> rufen sollten, sagte mein Gegenüber mit leiser, scharfer Stimme durch das Volleyballnetz hindurch: «Germanski tott.» Köhler hatte nicht mitgespielt, seine deutsch-sowjetische Freundschaft sah anders aus, Grußadressen, Fahnen, Trinksprüche, «von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen», Studium der letzten Parteitagsreden, auswerten in den Zirkeln des <Abzeichens für Gutes Wissen in Gold, Silber oder Bronze>. Wer verliert ist tot. Haß schlug durch das Netz. War seine Familie umgekommen, hatte einer auf seinen Vater geschossen, gab es Begegnungen in Stalingrad oder kurz vor Moskau? Vielleicht gab es Begegnungen, wo geschossen wurde, gestorben. Deutschland war nicht über die Grenze gekommen, um Fußball zu spielen oder Volleyball. Germanski tott. Lieber verlieren oder gewinnen am Netz, als herumliegen unter der Erde, wenn nicht gesprochen wird und die Jahre vergehen, Frühling, Sommer, Herbst und Winter, lieber Fußball und Volleyball, einer gewinnt, einer verliert, lieber Tore schießen und am Netz stehen, Sport frei, Germanski tott, als Töten und Herumliegen in Stalingrad oder im Plauener Stadtpark. 

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Abzeichen für Gutes Wissen in Gold, Prüfung mündlich und schriftlich, was wurde denn gefragt? Gefragt wurde etwas über modernen Revisionismus, über Konterrevolution und brüderliche Hilfe. Was hast du gesagt über modernen Revisionismus, über Konterrevolution und brüderliche Hilfe? Ich habe gesagt, was die Antwort war. Was sie hören wollten? Ja. Warum sollte ich ehrlich sein vor diesen Kommissionen? Damit Müller und Köhler recht behalten? Damit du auch noch sagst, was Müller und Köhler sagen? Wer hört, was ich sage, außer Müller und Köhler? Hösel? Der schläft ein. Biellau will Medizin studieren. Rödiger redet mir zu, es ist ein Kampf, ein anderer Krieg, ein anderes Sterben. Im Kopf, verstehst du, mit Worten, aus Mündern. Ich wollte nicht verlieren, mein Herz nicht auf diese Tische legen.

Auf einer Parkbank sitzt du herum. Willst du nicht nach Hause? Der Zug fährt. Es ist der letzte Tag. Köhler. Den Marxismus-Leninismus verdrehen. Es ist eine Religion. Fußball, Volleyball.

Die sowjetischen Soldaten standen herum mit Händen in den Hosentaschen, redeten mit den Offizieren, lachten, hakten sich unter, hatten ein anderes Verhältnis. Wahrscheinlich auch Prügel, wie Kinder geprügelt werden von Eltern, die auch geprügelt worden waren von ihren Eltern. Der Abstand fehlte, das Strammstehen und ernste Grüßen der Deutschen, sie waren lockerer, näher, schutzloser. Pawel hatte im Wachhäuschen gesagt: «Wir hier, nix Heimat, dort Heimat, auch Offiziere, gute, schlechte, alles Heimat.» 

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Köhlers deutsch-sowjetische Gespräche im Speiseraum werden anders ausgesehen haben. Und wenn er auch nicht ehrlich war, eine Rolle spielte, spielen mußte? Der georgische Film hatte uns beiden gefallen. Er nahm es mir sicher übel, daß ich nicht sitzengeblieben war im Speisesaal, «verdrückt sich, geht nicht in die Partei, verdreht die Lehre, wenn Hösel mit seinen Ersatzteilen anfängt». Das dachte er. «Ich muß die Drecksarbeit machen, bin im Einsatz bei jedem Anlaß. Der spielt den Kritiker, hält sich raus, Hösel gefällt das. Ich bin der Parteinik.» 

Hösel konnte stundenlang erzählen, wie beschissen alles war, wer alles keine Ahnung hatte und was man tun muß vor dem Ausgang, um «topfit zu sein bei den Mädels». Er aß vier bis sechs Eier, die er vom <Küchenbullen> organisierte für eine Gegenleistung, wahrscheinlich Schnaps, rieb Fliederpomade in sein Haar und Rasierwasser an den Hals. «Mit der Mutti zu Hause ist es am schönsten, aber Ausgang ist Ausgang.» 

Vielleicht hatte Köhler auch diese Reden satt, Hösels Lachen, sein Rauchen und Kaffeetrinken, seine ausgelatschten Hausschuhe, die Witze. Köhler war Lehrer, ein Vorbild, Schüler hatten auf ihn gesehen. In der Partei muß er nicht nur genickt haben.

Drei Tage vor der Entlassung, nachmittags, sollten wir in den Fernsehraum einrücken. <Dienstversammlung. Durchführung: Hauptmann Müller>: groß, schlank, schwarze, volle Haare, sauberer Anschnitt, gepflegte Uniform, ein <schöner Mann>. Vor zwei Monaten war er eingetroffen. Rödiger, zwanzig Jahre dabei, trank gern, schnauzte selten, sagte uns Bescheid, wenn er Kontrollen machte, verlor seinen Posten, wurde Zugführer, Müller Kompaniechef. 

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Der Neue lief langsam und aufmerksam durch die Gänge, sprach wenig, brüllte nicht, verzog keine Miene. Er verbreitete sofort Angst. Die Unteroffiziere, selbst Jahoda, trieben uns zur Eile, teilten ständig neue Dienste und Reinigungskolonnen ein, verzichteten sogar auf ihren abendlichen, verbotenen Schnaps, «der versteht keinen Spaß». Müllers Lieblingssatz war: «Wenn schon Armee, dann richtig.» Im Fernsehraum sagte er, daß wir noch immer Angehörige der Nationalen Volksarmee seien «mit allem, was dazugehört». Er referierte über soldatische Tugenden, «auch etwas tun, was man ungern macht: Befehl ausführen. Beschweren kann man sich hinterher.» Den Wechsel in der Kompaniespitze nannte er «kompliziert, aber ausgestanden». Dann verteilte er Bücher als Anerkennung für gute Leistungen. Biellau bekam Erzählungen von Scholochow, Hösel, Krüger und ich gingen leer aus. Siegfried Biellau sah nicht zu uns herüber. He, Siggi, was ist los? 

Müller belohnt dich, hast öfters mit ihm gesprochen in letzter Zeit, brauchst eine gute Beurteilung, willst Medizin studieren in Leipzig. Warum hast du dich nicht eher gekümmert, meine hat noch Rödiger unterschrieben, «erfüllte die ihm gestellten Aufgaben» mit Stempel und Unterschrift. Welche Aufgaben? Im Funkraum sitzen, hinter gepolsterten, schallschluckenden Wänden, Übungssprüche empfangen und senden nach dem Morsealphabet, Fünfergruppen, Zahlen und Buchstaben gemischt, als <Tastenficker>, von denen es vier gab, sie wechselten sich ab rund um die Uhr. 

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Eine Spezialaufgabe, eine Zuflucht, allein in einem Raum, keiner der Offiziere konnte das schnelle Piepsen entziffern, nachts lesen und ab und zu die Frequenzen wechseln in einer Funkpause, Radio Monte Carlo, die Nachrichten des Deutschlandfunks, BBC oder Radio Luxemburg, Streiks in Polen, keiner sagte, was los ist, erhöhte Gefechtsbereitschaft, «die Polen spuren nicht», nach der Nachtschicht wußtest du, was los war in der Volksrepublik Polen. War Müller diensthabender Offizier, mußte man aufpassen, er schlich sich an, öffnete leise die Außentür, stand plötzlich im Zimmer. 

Gegenmaßnahme: den Empfänger leise stellen, Kopfhörer verwenden, ein Ohr für Monte Carlo, das andere horcht Richtung Tür. Bei verdächtigen Geräuschen, Schritten, Schlüsselklappern sofort die Frequenz wechseln, ins militärische Funknetz zurückkehren. Nicht ein einziges Mal kam ein Funkspruch mit Bedeutung, der entschlüsselt werden mußte. Alles lief über die Telefone der Offiziere und den Fernschreiber. Die Funkstellen hatten komische Namen, die ab und zu gewechselt wurden, auch ihre Rufzeichen änderten sich: <gtlx> war <Gittertür>, das Regiment in Plauen, <vtlb> für Notbeleuchtung), die Funkstelle in Sonneberg. Die Funker erkannten sich an bestimmten Eigenarten, mechanischen oder elektronischen Tasten, den Anfangsbuchstaben ihrer Namen, die bei Antennen­abstimmungen in die gesendeten Töne eingestreut wurden, was eigentlich verboten war... der eine morste schnell, der andere langsam... es gab Anfänger und alte Füchse, die oft Funkamateure waren... der eine war brav, der andere widersprach der Leitstelle, funkte Fragezeichen, war aufsässig... es gab Handschriften, Temperamente, individuelle Möglichkeiten für Rache und Tricksereien. 

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<Nervende> Vorgesetzte, die nicht immer gute Funker waren, konnten mit langen, schnell gesendeten Sprüchen beschäftigt werden. Rückfragen waren möglich, der Empfänger mußte dann den Funkspruch wiederholen, die Fehler eingestehen und korrigieren... So kannte fast jeder jeden, obwohl man sich nie gesehen hatte. Bündnisse wurden geschmiedet, Verräter und Duckmäuser bestraft. Alles in Pieptönen, in einer akustischen, eigenen Welt. Ein Zeitvertreib, eine «militärische Aufgabe», von der Rödiger in seiner Beurteilung schrieb. Ein <guter Job>, eine Abschiebestelle, eine Informationsmöglichkeit nachts... In der Ecke stand ein Holzständer mit einer geladenen Waffe zur «Verteidigung im Ernstfall», für Lebensmüde und Amokläufer, sagten wir. Als Müller die Führung übernahm, wurde die Vorschrift geändert: Die Waffe des Funktrupps in die Waffenkammer, bei Alarm dort abholen oder mit Vollmacht abholen lassen. «Wenn's mal losgeht», sagte Siggi Biellau, «sind wir sowieso die ersten. Die peilen uns sofort an, stationärer Betrieb, die fahrbaren Trupps sind besser dran...» Sie waren nicht besser dran. Sie wurden an der Grenze eingesetzt, mußten ihre Geräte auf Sprechfunk schalten, oft telefonierte der Einsatzleiter. Welchen Einsatz er leitete, kann leicht erraten werden. Bei ihnen ging es los, bei Pritsche und Kraus, die beim Funkerlehrgang immer <66er> unter der Bank gespielt hatten. 

Kraus traf ich zufällig einmal im Ausgang, er war ziemlich betrunken: «Immerzu Hundebellen, das macht mich noch krank. Die hängen an langen Leinen, keiner traut sich mehr ran. Nachts bellen die, heulen... nie wieder, verstehst du, das ist Buchenwald, sag es keinem, ihr seid schön raus, Übungssprüche, allein im Funkraum, nachts lesen oder wichsen, die heulen, das kannst du dir nicht vorstellen, jede Nacht...»

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Kraus war verheiratet, hatte ein Kind, von Beruf Techniker, Fachschule, Fußballverein, ein <ruhiger Beamter>. Von Hunden redete er. Die fahrbaren Trupps waren nicht besser dran.*

Im Fernsehraum, drei Tage vor der Entlassung, als Müller seine Bücher überreichte, stand Köhler plötzlich auf und hielt eine kurze Rede, «Wir danken dem Genossen Kompaniechef» und so weiter, dann dieser Satz, Hösel sah zur Decke, hörte nicht zu: «Im Ziel, Frieden und Verteidigung des Vaterlandes, stimmten wir überein, Genosse Hauptmann. Im Weg, in den Methoden, manchmal nicht. Wir hatten Gelegenheit, darüber in der Parteigruppe zu diskutieren.» Was meinte Köhler? Er wich aus, als ihn Köhler im Gang fragte. «Dir möchte ich dringend raten, nicht weiterhin den Marxismus-Leninismus zu verdrehen.»

Vielleicht wollte er mich warnen. Etwas lag im Licht dieses milden Tages, nicht nur der Mai oder eine hingesagte Redensart, auch eine Gefahr, von der ich noch nichts wußte. Der Zug Richtung Zwickau fuhr aus dem Bahnhof. Ich muß den nächsten nehmen. Was für ein Tag, auf Parkbänken sitzt du herum. Heute früh ließ uns Müller noch einmal antreten, wir hatten schon die Zivilsachen angezogen, die Taschen gepackt. Er suchte seine Schirmmütze. Schon gestern abend hatte er sie vermißt, nach Mitternacht war er noch im Gang herumgeschlichen, hatte an den Türen gelauscht, Hösel erzählte es. «Sie stehen hier, bis die Mütze wieder da ist, dafür werde ich sorgen», sagte er, dunkelrot vor Wut. Der Schuldige wird bestraft, hieß das auch. Scherze gibt es nicht. 

 

OD: Hübsch! Wiederholung (in Prosa) ist die Mutter der Weisheit. - Das liest man gern.

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Angenommen, einer hatte die Mütze, für ihn gab es kein Zurück mehr, keine Rückgabe, kein Pardon. Schweigen. Müllers schwarze Haare glänzten, sein Kopf war gut sichtbar und an Ort und Stelle, freilich, etwas fehlte, Offizier Müller war nicht komplett. Er litt, wir konnten es sehen. Die Zeit verging, zehn Minuten, eine Viertelstunde. Eine lange Zeit, wenn man nach Hause will und herumsteht im Flur einer Kaserne, am letzten Tag. Er wollte es erzwingen. Aber dann machte sich eine gewisse Hilflosigkeit auf seinem Gesicht breit, wir sahen es mit großem Erstaunen. So kannten wir diesen leisen, schneidigen Herrn gar nicht. Nach etwa zwanzig Minuten ließ er uns gehen. Wir rechneten noch mit scharfen Kontrollen am Tor, aber nichts geschah. Krüger, der Fernsehmechaniker aus Potsdam, soll die Mütze lachend unter seiner Jacke hervorgezogen haben, im D-Zug Richtung Berlin, in der Mitropa. Hörte ich von dem, der mir auch die Geschichte mit Jahoda erzählte. Prost, Krüger, hätte ich mich nicht getraut, du warst mutiger. Gelacht habt ihr, ihn verarscht.

Vier Jahre später sah ich Müller zufällig in Saalfeld, in der Bahnhofsvorhalle. Ich erkannte ihn sofort, er mich wahrscheinlich nicht. In Uniform lief er vorbei, ernst, entschlossen, zum Major befördert, eine Schirmmütze auf dem Kopf. Mützen gab es genug in der Kleiderkammer. Als ich ihn kommen sah, trat ich sofort einen Schritt zurück, hinter eine Familie, die sich verabschiedete, hinter gestapelte Koffer und Campingbeutel. Es war ein Reflex: nicht unbedingt gesehen werden, wenn ein Vorgesetzter vorbei­kommt, abducken, möglichst unsichtbar machen, so hieß die Rekrutenregel. Er hatte noch immer Macht über mich.
Die Namen ändern. Müller bleibt Müller.

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Auf nach Seelingstädt. Wieder zur Stelle mit gestutzten Haaren. Marianne aus der zweiten Seminargruppe hatte sie geschnitten. <Coiffeur> stand über der Tür des Salons am Marktplatz, «kurz, hinten kurz», hatte ich gesagt zur Friseuse im November neunundsechzig. Das eine und das andere Mal, die Bilder mischen sich. Mit dem Koffer zum Wehrkreiskommando, am Denkmal vorbei für die Opfer des Faschismus. Nie wieder Krieg, nie wieder. Kannengießer hatte noch lange, fettige Haare, war nicht vorher gegangen. Marianne schnitt behutsam, fast zärtlich. Ihre jüngere Schwester lacht, zeichnet den Besucher <davor> und <danach>, der Vater kommt, er arbeitet als Schlosser bei Zeiß, getrunken hat er, ist fröhlich, hat zwei Rohre unterm Arm, Material­lager, für Reparaturen im Haus nach Arbeitsschluß, Professor Steinbach aus dem zweiten Stock braucht neue Wasser­leitungen im Bad, «alles gefliest, tipptopp, man muß sich zu helfen wissen, Gefangenschaft überstanden, übersteh ich das auch, sag ich immer, zehn Russen sinn mir lieber als een Deutscher, sag ich immer...». Der Student läßt sich die Haare schneiden, Marianne, Tochter eines Arbeiters und Studentin der Psychologie, schneidet behutsam, hält den Spiegel, «na, da muß noch was weg», die Schwester zeichnet, lacht, radiert, jetzt wachsen die Ohren, fertig, spielt mit der Puppenstube, Vierzimmer-Luxus­wohnung mit Balkon und Garten, zu ebener Erde kann man aus

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dem Fenster sehen, ein Hof, Bäume, aufgewachsen im Souterrain, das klingt gut, französisch, Marianne studiert, der Vater lacht, erzählt von seiner Gefangenschaft, die Puppenstube der Schwester hat sich in der Etage geirrt, Professor Steinbach wohnt im zweiten Stock, das hier ist der Keller, Coiffeur stand über der Tür, kurz, hinten kurz. Der Rekrut ist wieder zur Stelle, studieren hilft nicht, Arbeiter- und Bauernmacht hilft nicht, wir sind die Kinder, wir sind zur Stelle. Marianne muß vierzehn Tage später in ein Lager auf Rügen, Zivilverteidigung. Die Frauen dürfen ihre Haare behalten. Einmal war es schon zu Ende, jetzt beginnt es von vorn. Das Direktorat für Erziehung und Ausbildung teilte den Termin mit. Wer wird denn das Studium riskieren. Bildung ja, ihr Proletenkinder, aber dann auch hören, wenn der Ruf kommt. Nicht den Kopf einziehen und Fluchtgedanken hegen. Dann auch dankbar sein und zur Stelle. Bei den Theologen gibt es welche mit Dienst ohne Waffe, sie fahren mit nach Rügen, ins Frauen­lager. Der Rekrut fährt ins Männerlager. Er hat gedient und schießen gelernt. Die Waffe stand im Ständer, man hätte durchladen können, nachts, wenn die anderen schliefen. Wenn die Wut kam oder die Trauer, kein Brief von Eva, Anrufe von draußen, verlogene Sätze über <Prager Konterrevolution> bei der Prüfung, Abzeichen für Gutes Wissen in Gold. Dort steht die Knarre, Gutes Wissen in Gold, dort unten geht Müller. Du spielst mit, großer Kämpfer, bist nicht zu unterscheiden, bist einer von ihnen.

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Jetzt schreibst du es auf. Steck es gut weg. Ob Specht den Mund hält? Die Hefte in die altwaschne Wäsche stecken. Ob sie am Tor die Taschen kontrollieren? Vielleicht Stichproben. Einwickeln, durch den Zaun stecken. Dann draußen vorbeigehen, das Päckchen mitnehmen. Der Posten könnte es sehen. Der Zug könnte abfahren.

Wieder warst du zur Stelle. Acht Uhr neben der Eingangstür der alten Universität, nicht weit vom Schillerhaus, Universal­geschichte. Wieder war es November. Wie geht diese Geschichte weiter? Klein, läppisch, als Wiederholung? In der ganz neuen, anderen Zeit. Ein Lastwagen kommt, aufsteigen. Friedensdienst, Ehrendienst, Reserve, sozialistische Wehrerziehung, das hört nicht auf, kommt immer wieder. Solange du hingehst, zur Stelle bist, mitmachst. Solange kommt es immer wieder. Nach dem letzten Tag kommt ein erster Tag. Solange du mitmachst. Das weißt du jetzt, an diesem Abend ist es dir eingefallen, auf dem Doppelstockbett mit Blick auf die Stahlmatratze über dir, wenige Stunden vor der Abfahrt, da ist es dir eingefallen. Solange du mitmachst, zur Stelle bist, hingehst. Du liegst und starrst, hörst LKWs, Schritte, Lachen, die anderen feiern, trinken ihre zugeteilte Flasche Greizer Bier. Sie wurde ausgeteilt, obwohl es eine Schlacht im Speisesaal gab. «Das ist ein gutes Zeichen», sagte Pilz, «dann machen sie keinen Aufstand.» Was wird sein, wenn du das hier nicht mehr mitmachst? Was werden sie mit dir machen? Allerhand. Es gibt einen Preis. Überleg es dir gut. Es gibt Folgen, unangenehme Folgen. Es gibt noch andere Gegenden, andere Lager, andere Pritschen. Die Straße, die weiß-rote Schranke des Übergangs. Neubauten, fremd, vertraut, wie ein Zuhause, das plötzlich allen anderen Häusern ähnelt.

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Keine Spur, kein Halt, kein Happy-End, nur die eingleisige, von Kohlezügen zerfahrene Eisenbahnstrecke Werdau—Wünschendorf. Vielleicht behalten sie uns doch hier nach dem <Vorkommnis> im Speisesaal. Quatsch, die wollen selber nach Hause. Siehst doch, das Bier haben sie ausgeteilt. Tage zählen hilft nicht, Heimlich Dagegensein hilft nicht. Nein sagen. Aufschreiben, was du siehst und hörst. Anfälle von Zweifel. Alles undeutlich machen, zerreißen, verbrennen. Ins Allgemeine heben. Ins Historische schieben. Lyrisch werden. Das doppelte Spiel fortsetzen. Aber es ist zu Ende. Du weißt, daß es zu Ende ist. Was in den schwarzen Heften steht, kannst du nicht mehr zurücknehmen. Die NDL wird es nicht drucken. Ein anderer Druck wird beginnen, wenn du es zeigst, ein anderes Kapitel. Eins mit Akten, Vorladungen und kleinen, verschließbaren Räumen. Angst.

Der eigene Weg. Das Ende einer Feigheit.

Gleise, leere, offene Waggons. Sie schlingern und schlagen in den Kurven, wollen ausbrechen, die Böschung hinunterfahren. Es hört nicht auf, es kommt immer wieder. Es soll aber aufhören und nicht wiederkommen.

Winfried Wiegand. Immerzu mußte ich ihn ansehen an diesem Morgen. Kühl war es, ein paar Grad über Null, dunstig, die Straßen naß, klebrig, November. Ab und zu etwas Sonne, aber eine müde, strähnige Sonne. Unten braunes, zertretenes Laub. Einer bog aus der Oberlauengasse, ging an den langen Schaufenstern der Universitätsbuchhandlung vorbei, trug Uniform, war ein Offizier und hatte Wiegands schwarze, eckige Honeckerbrille auf der Nase.

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Die schwarzen, glänzenden, dünnen Halbschuhe bewegten sich rasch fort, die Bügelfalten wippten steif und spitz in Höhe der Knöchel, das sture Schlenkern der Arme, der schwarze, vollgepackte <Reiselord> an der einen Hand, schwarze Brille, schwarze Schuhe, schwarze Tasche, das alles erinnerte sehr an Winfried Wiegand, der nachts über mir lag im quietschenden Eisenbett der Unterkunft Jena-Zwätzen (ein Einzelzimmer in der Stadt, irgendein Loch, nur keine Baracke, keine Unterkunft, keine Kaserne!). 

Wiegand, älterer Jahrgang aus Sonneberg, ein Ministerium hatte ihn zum Studium geschickt, also war er gegangen, willig, wenig begeistert, «Stress», sagte er oft, «so ein Stress auf meine alten Tage...» Knapp über dreißig war er. Was er lernen sollte und wozu, blieb geheim, ein Lächeln, vielleicht wußte er es selber nicht. Wenn er sprach, dann langsam, schleppend, auf der Hut, jedes Wort mußte verschiedene Kontrollstellen passieren, das dauerte, drehte sich müde im Mund. Worüber noch reden, ein paar Sätze, ein paar Witze blieben übrig, «Tag», «Guten Morgen» und «So ein Stress». Von Stress sprach er, wenn er hungrig war oder müde, dann stellte er die schwarze Tasche in seinen Spind und holte aus dem Kühlschrank eine durchsichtige, viereckige Dose, Wurst und Käse sorgfältig getrennt, er bevorzugte bereits geschnittenes Brot, rasch begann er zu essen. Auf andere wartete er nicht, nahm nichts an, gab nichts ab, aß. Anschließend rauchte er. Er tat, was er wollte. 

Und im Englisch-Seminar stöhnte er, wenn viele unbekannte Vokabeln an der Tafel stan-

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den, er mußte alle nachschlagen, «so ein Stress», sagte er, etwas verwundert, daß ihm das passierte, irgendwie war er da hineingeraten, nun machte er mit, «die werden sich schon was dabei gedacht haben», so saß er in den Seminaren, lächelnd, etwas unwillig, aber doch eher gleichgültig, folgsam, es geschah eben. Später wird man sehen.

Eines Tages hängte er ein Schloß vor seinen Spind, «für alle Fälle», wie er sagte, ein ziemlich großes Sicherheitsschloß. Die drei übrigen Bewohner sahen erstaunt zu: Harry Folkert aus Dessau, Sohn zweier Lehrer, zweimal in der Woche Kegeln in der Hochschulsport­gemeinschaft, Liebhaber von Free Jazz, keine Veranstaltung ließ er aus, seine schwarzen Haare reichten auf die Schulter, er schüttelte den Kopf und zündete sich eine <Karo> an, eine Zigarette ohne Filter, nikotinreich und bestialisch im Geruch

Reiner Schaurig, der vielleicht Männer liebte und seine Augen ein wenig anmalte, sah von seinen Aufzeichnungen hoch, die Zungenspitze lugte aus der oberen linken Ecke des Mundes und berührte sein Bärtchen, so schrieb er und dachte nach, abends saß er lange und übertrug Vorlesungs­mitschriften in seine sauber und farbig geführten Hefter, auf deren Ausgestaltung leider keine Zensuren mehr gegeben wurden... Ich legte mein Buch weg. Wie Diebe starrten wir auf Wiegands Schloß. In Fachrussisch und Englisch kassierte er weiterhin schlechte Zensuren, die Schulzeit lag weit zurück, man hatte Deutsch gesprochen und schon gewisse Funktionen gehabt, Überblick und eine gewisse Ruhe, wußte, wer man war, jetzt das.

Ein Skatklub schickte ab und zu eine Blumenschale.

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Da freute sich Winfried Wiegand, schüttelte den Kopf, las mehrmals die beiliegende Schmuckkarte, auf deren Umschlag Sonneberg stand, dort kam er her, das hatte er immerhin kopfnickend bestätigt, vielleicht sehnte er sich nach seiner bergigen Thüringer Heimat, das Geschenk stellte er auf den Tisch, die Karte verschwand im Schrank, er freute sich, wußte aber mit Blumenschalen nichts anzufangen, «nur Arbeit», sagte er, «nur Stress». Die Pflanzen schienen das Signal einer Zugehörigkeit zu sein, man hatte ihn nicht vergessen. Das freute ihn, konnte man sehen, aber sein Mund blieb verschlossen. Erst nach zwei, drei Gläschen, wenn er Bier trank oder Schnaps im Hotel International, in der Bar oder beim Theologenball, wo er auch aufkreuzte, konnte es vorkommen, daß er zu scherzen begann: «Die schicken Pflanzen, da brauche ich noch 'ne Gießkanne, nee, nee, lieber andere Getränke...» Vielleicht hatte er auch Geburtstag gehabt, Schaurig fragte ihn, bekam aber keine klare Antwort. Freitags fuhr Winfried Wiegand mit seinem gelben Trabant-Kombi davon, vielleicht hinauf nach Sonneberg, aber nur vielleicht, er konnte schweigen. Als die Pflanzen vertrocknet waren, warf er sie weg, auch die Tonschale mit der Erde und den Wurzeln, in den großen Müllcontainer am Tor.

Ich mußte ihn immerzu ansehen an diesem Morgen, seine Uniform, die Tasche, die Schuhe, die Brille, die Schirmmütze, alles paßte zusammen, ein Oberleutnant war er. Ich hätte ihn im Wohnheim, in Seminarpausen oder am Abend im gemeinsam bewohnten Zimmer nach seinem Dienstgrad fragen können. Aber Winfried Wiegand stellte man keine Fragen. 

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Zu erwarten war, daß die Antwort ausblieb, daß er lächelte, wegsah, vielleicht einen Schlüssel zückte, einen kleinen Schlüssel für ein großes Schloß, sein Sicherheitsschloß. Aber vielleicht hätte er doch geantwortet, es war kein Geheimnis, daß einige von unserer Seminargruppe abkommandiert waren zum Studium, geschickt vom Militär, vom Sicherheitsapparat, vom <MdI>, Ministerium des Inneren, drei Buchstaben, drei merkwürdig wichtige Worte. «Vom MdI» oder «MfS», da wurde es still, keine Widerrede, keine Diskussion, sie waren Engel, Boten, Mitarbeiter, Richter und Henker, Spitzel und Götter, möglichst den Mund halten, keine Kritik, keine unnötigen Fragen oder Details, man möchte in Ruhe leben und umhergehen, sich nicht anlegen mit dieser Macht. Nun befand sich einer im selben Zimmer, fast im selben Bett, so war die Lage. An diesem Morgen zeigte er sich uniformiert, ausgestattet mit Koppel und glänzendem Mützendach, ein Oberleutnant. Und er war nicht verlegen, eher befreit und sicher stand er vor der Eingangstür der Friedrich-Schiller-Universität. Gibt es noch irgendwelche Unklarheiten, Zweifel? Jetzt zählen wieder die Sterne auf der Schulter, nicht die Zahl der Vokabeln, nicht die Aussprache von Vokalen oder der Klang des <th>. Ganz locker stand er da an diesem Morgen, auf der anderen, wichtigeren Wacht. So kannte er sich, nur du kanntest ihn so nicht. Paß auf, paß gut auf! Als du die Baracken in Zwätzen sahst, die Studentenunterkünfte, warst du fertig: Schon wieder Viererzimmer, Eisenbetten und blaugewürfelte Bezüge, Pförtner, Wäscheausgabe, Waschräume. Die Armee war doch vorbei! Ein Einzelzimmer, aber wie bekommen in einer fremden Stadt. 

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Du hast dich vorher nicht einmal erkundigt, ahnungslos bist du losgefahren zum Septembertermin, glücklich, daß es doch noch geklappt hatte. Wieder Baracken, dann noch MdI im Zimmer... Harry Folkert hatte es irgendwoher erfahren und eine Andeutung gemacht im Waschraum... <Firma>... da wußte ich es.

Winfried Wiegand, und er war es ohne jeden Zweifel, stand vor der historischen Tür der Universität kurz nach acht am zweiten November, einem Donnerstag. Er sah mich, nickte, lächelte kurz. Ich trug noch Zivil, hatte keine Uniform zu Hause im Schrank hängen. Vielleicht hat er darum das große Schloß angebracht, weil er nicht wollte, daß jemand seine Uniform entwendete und anderswo auftrat als Oberleutnant, als Hauptmann von Köpenick. Ich hatte mich nicht länger verpflichtet, war kein Reserveoffizier geworden per Unterschrift, obwohl die Werbeaktion auf vollen Touren lief, die Hochschullehrer bestellten ihre Studenten, diese dachten an Prüfungen und spätere Stellen... das Forschungsstudium, die Dissertation... Eine Gruppe Offiziere stand jetzt zusammen vor der ehrwürdigen Tür, einige Gesichter kannte ich aus der Mensa! Gestern noch unterwegs mit Schreibzeug, diversen Büchern, irgendwelchen bunten Jacken und Pullovern, keiner hatte es ihnen angesehen. Jetzt standen sie als Vorgesetzte bereit.

Specht stellte seine Reisetasche ab, bot eine Zigarette an. Er hatte sein Oberlippenbärtchen doch nicht abrasiert.

«Das Wehrkreiskommando hat nichts dagegen», sagte er. «Wer?» «Das Wehrkreiskommando. Ich habe angerufen.» Er hatte angerufen, so weit war er also gegangen.

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Er wollte sein Bärtchen behalten. «Und, was haben sie gesagt?» fragte ich. «<Kommt darauf an.> Muß also eine Kann-Bestimmung sein. Wir sind Studenten, keine Soldaten, es ist ja nur ein zeitlich begrenzter Lehrgang...» «Wir sind vereidigt», sagte ich. Stefan Specht warf einen enttäuschten Blick auf mich. «Wird schon gehen», fügte ich hinzu. Auch er hatte den Wehrdienst hinter sich. Keine begeisterten Krieger standen da beisammen und unterhielten sich. Sein Vater arbeitete in Berlin, Literaturwissenschaftler. Specht las und bekam <Westbücher>, vor allem Gedichte und Stücke des Suhrkamp-Verlages. Er wußte, was das Weib dem Soldaten sagte, der loszog mit dem Messer im Gurt. Er kannte Verszeilen und Melodie. «Wir müssen in die Partei», hatte er einmal zu mir gesagt, «den neuen Kurs unterstützen. Die sind alle drin, es wimmelt von MdI, wie soll sich da was ändern? Jeden gewinnen, keinen zurücklassen>, kommt rein, versucht es zumindest», hatte Specht zu mir und Reinhold Lammke gesagt im Dezember einundsiebzig, als wir von der Vorlesung <Allgemeine Psychologie> gehalten von Professor Hiebsch, Richtung Holzmarkt liefen und in die Neugasse einbogen. Lammke hatte genickt, war schon eingetreten, ich wußte nicht recht, was ich tun sollte. Hatte eigene Gedanken und eine düstere Erfahrung. Aber davon erzählte ich nicht. Specht zitierte Brecht, aus dem <Lob der Partei>, und wollte «das andere, Gute, nicht nur ein Haus mit Telefonen». Lammke warf ein, daß Brecht selber nie eingetreten war. Specht: «Dichter, konnte es sich leisten. Wenn wir zögern, passiert hier gar nichts. Die stoppen den frischen Wind. Die hocken drin und tun so, als ob alles

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richtig läuft, haben Marx und Engels für sich gepachtet... Dabei haben sie keine Ahnung, haben nie 'ne Seite gelesen, nur Sekundärliteratur durchgekaut...» So redete Specht, als wir in die Neugasse einbogen und überlegten, ob wir noch ein Täßchen Mokka trinken sollten im <Kaffee Größenwahn> wie wir es nannten, im kleinen Eckcafe am Neutor.

 

Da drüben die Offiziere. Stefan Specht wollte sein Bärtchen behalten. Abrasieren muß er es, die Pause ist um, es geht wieder los. Gar nichts Neues dachte ich, nichts Weltbewegendes, als Wiegand und die anderen vor der großen, verschnörkelten Tür standen, kurz nach acht. Wieder antanzen. Wir kommen nicht gegen sie an, Specht, mit unseren Parteigeschichten. Von wegen Erneuerung. Sieh sie dir doch an, sieh doch hin. Die sind stärker, die überstimmen uns oder werfen uns raus, wenn wir aufmucken und von Biermann anfangen oder Havemann. Die knöpfen ihre Uniform zu und aus ist es mit dem Diskutieren. Wir stehen unter Befehl. Hast du schon daran gedacht, Stefan, wie viele unter Befehl stehen? Beim Wehrkreiskommando hatte er angerufen. Da drüben stehen die Vorgesetzten. Du kannst ja Wiegand fragen, was mit deinem Bärtchen wird. Gestern hatten sie alle noch normale Kleidung an. Da kommt Lehmann aus der zweiten Seminargruppe, was, bloß Unteroffizier? Vielleicht stimmen die Dienstgrade gar nicht, sind Tarnung. Paranoia. Es lebe der Sicherheitsapparat! Wie brav alle ankommen, große, kräftige Männer... Es lebe die Anwendung der psychologischen Wissenschaften auf das Kampfgebiet der unsichtbaren Front! Immerhin, einige Kämpfer waren jetzt gut sichtbar, sie trugen Uniformen, sahen aus wie gewöhnliche Militärs. 

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Es gibt keine gewöhnlichen Militärs. Auch Specht, der Gefreite der Reserve da neben dir, auch er kann dabei sein. Und Lammke, Harry Folkert... Sie haben es dir nur nicht gesagt. Schaurig hat ein Attest, gut vorgesorgt... Ob ich Wiegand militärisch grüßen muß? Natürlich. Aber noch hast du Zivilsachen an. In ein paar Stunden, in Seelingstädt bekommst du auch deine Uniform aus der Kleiderkammer. Da geht es wieder los, auch das Grüßen und Marschieren. Wiegand ist also ein Oberleutnant. Du kennst seine vertrockneten Blumenschalen, seinen gelben Trabant-Kombi, das große Schloß vor dem Spind. Der Riß ist da, die Trennung, die Unterscheidung, die Hierarchie. War sie nicht von Anfang an da, spätestens von dem Augenblick an, als Harry Folkert im Waschraum zu dir sagte: «Weißt du, wo die herkommen...» Jetzt war alles sehr offenbar geworden: Sie haben das Sagen. Fachrussisch und Fachenglisch zählen nicht, auch nicht die Qualität der Beiträge in den Seminaren. Es geht nicht um Verstand oder Wissen in dieser Rangordnung. Die Machtfrage ist beantwortet, daran darf keiner herummachen. Auch nicht neue Kandidaten der Partei, auch nicht Schlauberger und Brecht-Leser. Sollen die doch reingehen. Man wird sehen, wohin der neue Kurs führt. Und wann der Genösse Hager einiges richtigstellen muß. Der Klassenfeind schläft nicht, der schleicht sich in jede Initiative, nutzt geschickt die Stunde. Wir sind wachsam. Wir studieren auch Psychologie. Wir haben Uniformen angezogen, sehen aus wie Offiziere. Sind auch welche. Aber was noch ist mit uns, wo wir eingesetzt werden, wer uns genau schickt, was wir später tun werden, das weiß keiner. 

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Da können sie glotzen, wie sie wollen. Sollen die doch rübersehen und Vermutungen anstellen. Die genauen Einsatzorte kennen wir selbst nicht. Staatsfeinde ausfindig machen, Geständnisse erreichen, vielleicht sogar Einsatz im Ausland, mal sehen, aber nicht darüber reden. Psychologie können wir auch. Seelingstädt, na ja, so ein Lager, nicht viel Neues. Aber auch wieder mal schön, nicht jeder kann mehr an einem vorbeilatschen mit Händen in den Hosentaschen. Es gibt eben nicht nur den zivilen Bereich. Nach Hause fahren werden wir schon können zwei-, dreimal, das genügt auch. Dazu noch Ausgang, wozu hat man sich verpflichtet. Gleichheit hin, Gleichheit her, es gibt eben keine. So war es, so wird es sein. Ohne Führung und Autorität geht es nicht. Und wir stehen auf der richtigen Seite. Das ist kein schlechtes Gefühl, auch an solch einem miesen Morgen nicht, bei dem Wetter. So etwa, dachte ich, denken sie, als ich mit Specht herumstand und Wiegand sah, Lehmann, auch Jochen Gierka, der noch keine Uniform trug. Gehörte auch zu ihnen, vielleicht hat er sie im Koffer. Ob die Herren Offiziere mit einem eigenen Wagen fahren, mit einem Dienstwagen? Vielleicht kommt ein Bus. Oder mit der Bahn. Nein, es soll ein Lkw kommen. Kalte Füße, kalter Kaffee. So ist es, verstehst du, so ist es eben. Da ist die Macht, sie steht dort drüben vor der Tür. Und die Toffel, die Rekruten, das Wachpersonal, die stehen auf der anderen Straßenseite. Und hinter den Schaufenstern liegen die Bücher, die Romane, Belletristik, Botanik, Philosophie, Anatomie, auch Lyrik, Cibulka und Günter Kunert. Was willst du, es ist nicht so schlimm. Alles hat seinen Platz, seinen Ort, seine Zeit. 

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Auch du bist freiwillig hergekommen. Oder hat dich einer gezwungen? Na also. Ich will studieren, also muß ich hier sein um acht. Studieren muß keiner, du hast doch gewußt, worauf du dich einläßt. Die paar Wochen, andere müssen zur Reserve ein Vierteljahr, hab dich nicht so. Ich weiß schon, ich will nicht mehr, ich habe die Schnauze voll. Sag es doch laut. Winfried Wiegand gibt dir dann eine Antwort, schneller und klarer vielleicht, als er je gesprochen hat. Und Specht mit seinem Bärt-chen, der sagt vielleicht auch was. Der will ja den Sozialismus retten. Sein Vater und Bertolt Brecht in Berlin, er, Lammke und du in Jena, so ist es doch? Also rein in die Partei, nicht wahr? Geh doch rein, tu doch, was er sagt. Wenn sie dich nehmen, das ist noch mal eine andere Frage. Du kommst aus der Arbeiterklasse, zumindest steht es so im Personalbogen, ein Pluspunkt, jetzt zwar Student, wer weiß... Und die Offiziere, sind die auch Intelligenz? Nein, alle Arbeiterklasse, hat Lehmann mal gesagt, weil sie <auf Friedenswacht stehen und nur abkommandiert sind>... Geh doch rein. Dann bist du drin. Dann wollen wir mal erleben, was der junge Genösse tun kann mit seinen vielen Gedanken.

Ein dunkelgrüner Armeelastwagen bog um die Ecke, hielt, aus dem Fahrerhaus stieg ein beleibter Major, eine Liste in der Hand. Namen wurden aufgerufen, verglichen und abgehakt, «vollzählig, aufsitzen!». Also doch alle zusammen unter einer Plane, einem Himmel. Etwa dreißig waren wir, von anderen Sektionen hatte man auch <Gediente> herbeordert für die Wachmannschaft. «Zwei Leute», rief der Major. Lehmann, der vorn an der Klappe saß, stand auf, auch Gierka machte Anstalten. Der Major winkte ab, zeigte auf Specht und mich.

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Von der Mannschaft sollten es welche sein. Wir hatten eine Kiste vom ersten Stock auf die Straße zu tragen und aufzuladen, zwischen die Holzbänke zu schieben. Wiegand und Lehmann hoben die Beine, die glänzenden Spitzen von Wiegands Lederschuhen fuchtelten vor Spechts Gesicht herum, vor seinem Bärtchen und dessen unsicherer Existenz. «Wir dürfen ja nicht», sagte Gierka lächelnd. Aufsitzen, der Fahrer schloß die Wagenklappe, zwei Türen schlugen, der Motor wurde angelassen, unsere Fahrt begann. Nach Neulobeda, dort auf die Autobahn Richtung Gera bis Abfahrt Ronneburg, knapp zwei Stunden. 

Im Wagen behielt Wiegand seine Schirmmütze auf, Specht wollte Zeitung lesen, Das Volk, die bezirkliche SED-Zeitung, schlug den Sportteil auf, ließ es aber bald sein, die Seiten zitterten, wir saßen auf einem hart gefederten Armeelaster, nicht zu Hause im Sessel oder auf einem gepolsterten Stuhl im Cafe Neutor bei Mokka, Kuchen und langen Debatten. Laß sein, Specht, es steht auch nichts drin von uns und diesem Laster, dem Lager, in das wir fahren, davon steht nichts drin, wenn du etwas suchen solltest außerhalb der Sportseite, Berichte zum Zeitgeschehen, nichts von uns und dieser kurzen Reise, der Holzkiste und von deinem Bärtchen, davon steht nichts drin. Das ist etwas anderes, ist Praxis, Geheimnis, Alltag. Später steht vielleicht was drin, in fünfzig Jahren, wenn das hier klar ist, ausgestanden, vorbei, Geschichte, dann steht vielleicht was drin. Dann wird es Bücher geben, Geschichten und Berichte. Wir erleben es gerade. Da sitzen Wiegand, Lehmann und Gierka, Schaurig war schlau, hat sich rechtzeitig ein Attest verschafft. 

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Gierka hat noch Zivil an, mal sehen, was er aus dem Koffer holt oder in der Kleiderkammer auf den Tisch gelegt bekommt. Vielleicht einen Genossen Leutnant? Klug ist er, dieser Gierka, er weiß, was wir denken. Aber er ist auf der anderen Seite. Vielleicht möchte er uns überzeugen, gewinnen, besiegen. Carmen Z. überlegt noch, Gierka oder einen anderen, er ist auch in einem Wettbewerb, ist mit Professor Vorwerg verwandt, diskutiert, liest Bücher, sein Vater hat eine Stelle beim Bezirk, er möchte kein MdI-Büttel sein, kein Befehlsempfänger, er möchte es gut und besser wissen und dann der Partei sagen. Und das soll Carmen Z. gefallen. Ob es ihr gefällt? Wir sind ziemlich schwach, Specht, wenige und nicht zu unterscheiden. Dein Bärtchen mußt du wohl abrasieren in Seelingstädt. Ist es richtig, daß wir mitspielen? Haben wir eine Wahl? Ändert sich was? Und wenn sich nichts ändert, nur wir uns ändern, was ist dann? Steht was bei Brecht darüber? Vielleicht in unveröffentlichten Manuskripten.

Ein Vater am Tor einer Kaserne winkt, als er den Sohn kommen sieht, bringt ein Kuchenpaket. Sie sprechen kurz miteinander. In der Tür des Wachhäuschens Oberfeldwebel Becker, bekannt für scharfe Stubendurchgänge. Bei Sportveranstaltungen gewinnt er im Langlauf, zäh, knochig, mühelos. Das Paket muß geöffnet werden und Becker sagt: «In Zukunft unterbleiben solche Besuche.» Der Soldat nickt und denkt, nicht immer ist Becker Offizier vom Dienst, andere sagen nichts. Der Vater steigt in ein kleines Auto, einen <F 9>, hupt und fährt davon. Er war einmal Feldwebel. Soldat, Feldwebel und Oberfeldwebel am Tor einer Kaserne. Die Frage wäre, worin der Wechsel der Zeiten besteht. 

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Der Sohn soll es sagen. Vielleicht sagt er es. Oder schreibt in seine schwarzen Hefte. Becker durchsucht Stuben, kontrolliert Stiefelsohlen und steigt auf Hocker, um nachzusehen, ob Staub auf den Lampenschirmen liegt. Pack deine Hefte gut weg. Vielleicht liegt Staub auf den Lampenschirmen. Vielleicht wächst Gras über solche Geschichte. Vielleicht nicht.

G.: Sei froh, daß du nicht an die Grenze gekommen bist. Wärst du eigentlich abgehaun? Nein, ich glaube nicht. G.: Die grüne Waffenfarbe hattet ihr aber...

Ja-

G.: Und, haben die Leute was gesagt?

Nein. Wir waren Soldaten, das haben sie gesehen, keine Polizei oder so was... Nur einmal in Syrau beim Tanz, an der Theke, da quatschten uns zwei junge Kerle an, sie hatten was getrunken, waren vom Ort: «Grenze, peng peng oder wie...» So ähnlich. Krüger sagte zu denen: «Ihr kommt auch noch dran!»

G.: Wie?

Na, zur Armee, zur Musterung, auch noch zur Truppe, so meinte er das. Dann kommt der Einberufungsbefehl und ab geht die Post. Das sollen die mal erleben. Kann man ja nichts beeinflussen oder auswählen. Das wissen die gar nicht. Haare runter, Uniform an. Das blühte denen noch. So hat es Krüger gemeint. Sollen die doch mal dort klarkommen. Manch einer hat schon danebengehalten. Und konnte keine großen Reden halten. Sonst wäre er abgegangen...

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G.: Und, was haben sie gesagt?

Was sollten sie sagen, nichts, haben uns angeglotzt. Wir waren zu viert.

Die Hose offen, auf dem Tisch das aufgeschlagene Buch aus der Regimentsbibliothek, ein jugoslawischer Partisanenroman, Verabschiedungen, Nächte... zerlesen, man mußte nur blättern und hatte die Stellen, viele Finger hatten sie schon, viele Augen. Schnell, die Ablösung könnte kommen, ein diensthabender Offizier... ein kleines Gefühl finden... Was denn, ist das alles? Fast alles. Und bringt auf das, was Leben ist, sein könnte. Etwas fehlte, war nicht da, auch nicht im Ausgang, beim Tanz in Syrau, oder in den Stunden zu Hause bei Eva, wenn das Tonband lief, Pink Floyd, Stones, und die Eltern im Nachbarzimmer fernsahen. Schnell, schnell, bald sind die Tage um, die Stunden. Wo ist es, wann kommt es. Im Fernsehraum, beim Spätfilm, der samstags manchmal erlaubt wurde. Hösel schrie und gurgelte, wenn Brigitte Bardot auftauchte, schwarzweiß das Bild. Einer drehte an verborgenen Knöpfen, suchte den 4. Kanal, wurde verhaftet, Ochsenkopf, Klassenfeind, psychologische Kriegführung. Wann kommt es, wo ist es. Reden kann jeder, es gibt viele Wörter, du sagst sie auch. Na und, was ist, sag sie doch, schreib sie auf, fick deine Mutter, ist es das? Oder im Jahresurlaub, das sind acht Tage, oder nach der Entlassung. Offene Türen, Schlagbäume, zerschwartete, gelbe Bücher mit zerrissenen Umschlägen, eine Nummer auf dem Rücken, umzäunte Gelände. Wenn alles vorbei ist, dann vielleicht.

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Laß, Siggi, es ist alles o.k., du mußt nicht zusammenzucken und dich zum Fenster drehen, wenn ich reinkomme, alles o.k. Einer hat seinen aus Spaß mit Zeitungspapier umwickelt, Edwin von der Moritzstraße, siebente Klasse, ein Jahr älter als wir, sitzengeblieben, man konnte zusehen bis halb vier, dann kam sein Vater von der Arbeit, vom Saatgut in Unterheinsdorf. Edwin heiratete Rosi aus der Oberen Dunkelgasse, zwei Zentner, ein Kind. Etwas fehlte, wo war es. Mit großen Lastern fuhr er herum, wurde Lkw-Fahrer. Große fremde Schäferhunde sah er nur an, da kamen sie angelaufen, winselnd, mit wedelndem Schwanz, er hatte einen Blick, eine Kraft. Wo ist es. Irgendwo wird es sein. 

In amerikanischen Filmen, wenn das Schiff nach Pearl Harbour abfährt, eine Frau ankommt und ein Hotelzimmer gemietet wird, oder Erster Weltkrieg, Italien, ein Angriff, die Toten am Wegrand verstreut, einer sieht es, schlendert vorbei, Flucht in die Schweiz mit einer Krankenschwester, Hemingway, Spanischer Bürgerkrieg, Wem die Stunde schlägt. Uns schlägt sie. Aber eine andere Stunde, eine langweilige, zähe Stunde tickt unter weiterhin geteilten Himmeln, in Kindheitsmustern, fünfundvierzig, davor und danach. Was ist mit uns? In diesem merkwürdigen, vermauerten, übelgelaunten Frieden. Hösel schlägt sechs rohe Eier in eine Tasse, wenn er Ausgang bekommt... «Wolln Se Ihre Nüsse schaukeln», brüllt Firle und befiehlt Marschordnung. Beim Mittwochsfilm im Mehrzweckraum wird gejohlt, wenn das Licht ausgeht. Ist das alles? Fast alles. Der Vorführer merkt sich die Stellen, am nächsten Vormittag eine halbe Stunde reinigen, Türe zuschließen, den Ton ganz leise, nur Trenske darf mit ansehen, der Schreiber, der Urlaubsscheine besorgen kann...

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In schwedischen Filmen sind alle Frauen blond. Und reden, reden, reden, ficken, wichsen, Hosenschlitz auf und zu, wohl schwul, homo, lesbisch oder wie, mach das Licht aus, Trenske, sonst kannst du nichts sehen. Und tagsüber die blonde Zivilangestellte abpassen, wenn sie essen geht. So ein Lächeln hat sie, das die Blicke kennt. Mit den Augen packen, reißen, zerren, Hösel nimmt seine Brille ab. Warte, hör auf, geh weg. Wie soll ich denn weggehen? Es gibt das andere, Schöne, Offene, in Filmen von Godard, bei Tarkowski. Kunst, Zelluloid. Und hier? 

Sonntag Besuchszeit zwischen zwei und vier. Weber vom Transportzug gibt dem <Küchenuffz> zwanzig Mark für den Schlüssel zur Bodenkammer, eine Stunde für ihn und seine Frau, die aus Crimmitschau angereist kam, aber leise, auf alten Matratzen und Zuckersäcken, du kannst ja eigene Handtücher mitbringen. Weber trug Brille und fuhr den Regiments­kommandeur mit einem <Wolga> durch die Gegend. Andere gingen in die Toilette, hielten die Tür von innen zu. Andere saßen an Tischen, sahen vor sich hin, holten lauwarmes Wasser für das Kaffeepulver, die Eltern waren da oder eine kleine ängstliche Frau, die kicherte und aufsprang, wenn der OvD in der Türe stand, schwanger, mit dickem Bauch. Wo ist es, wann kommt es? In manchen Filmen ist es, in Romanen von Semprun und Aitmatow. Auf dem Schuppendach liegen, auf die Straße hinaussehen, in vorbeifahrende Autos, die Dachpappe ist warm von der Mittagssonne, wie Schmirgelpapier ist sie.

Ansonsten blühende Wiesen, eine Steinbrücke, die Eisenbahnstrecke, Apfelbäume, Spaziergänger, eine nahe, sommerliche Welt, wirklich wahr und schön, beinahe kitschig anzu-

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sehen, wenn man auf einem Schuppendach liegt sonntags, kein Besuch kam und die Zeit langsam vergeht, ziemlich langsam. Der Neubau im Rücken, Mülltonnen, den Sonntagsfahrern zusehen oder lesen, Tschechow, «eine ungefederte, abgenutzte Kalesche verläßt die Kreisstadt N. im Gouvernement Z. und fährt mit Getöse die Poststraße entlang... hinter dem Gefängnis tauchen schwarze verräucherte Schmiedewerkstätten auf...».

Ob Stefan Specht wieder einen Bart wachsen läßt? Nein, sagt er.

Details notieren. Es gibt Ablenkungen, Feigheiten, Fluchtbewegungen in dunkle Korridore, große Gefühle, Andeutungen, Pluralbildungen, höhere Gefilde, Literatur... Der Wunsch zu verallgemeinern, sich nicht festzulegen, Wege offenzulassen, Bedeutungsebenen, Ausreden. Ich muß mich festlegen. Schreie, Fleisch, Nächte, Frauen, Leben, Tod, Schwänze, Dreck, Brüste, Tänze, Mord, Gedärme, Schüsse, Gewehre, Schuld, Revolution, Gelächter, Produktion, Analysen, alle Zeiten, alle Orte, keine Zeit, kein Ort: Sprechworte für Schauspieler und Operetten, auf großer Bühne, wirksam und etwas verlogen, die schroffe und die brave Geste, das Auftrumpfen und das Kuschen. Das flache Leiden zeigt sich, hat es hinter sich, es tut nicht mehr weh, man kennt sich aus. Die Haare glatt nach vorn oder hinten, sehr sicher, wie der und der. Aber wie sieht Firle aus, das hassende Kind in der neuen deutschen Uniform, am Finger der Verlobungsring, die braune Pistolentasche am Koppel, der gelbe Glanz der <Qualispange> an der Brust, aus den Augen kommt ein spitzer, ängstlicher Haß.

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Hösel und der betrunkene Hauptmann, der ein Mensch blieb. Der graue, leidende Lehrer Köhler, der alles besser weiß und dich vielleicht warnen wollte. Der schwärzliche Holzzaun hinter dem Neubau. Die Bewegung der Hand, des Unterarms, wenn die schwarze Trillerpfeife an die Lippen gehoben wird. Die Schritte von Frauen in modischen Stöckelschuhen neben den glänzenden Stiefeln uniformierter Männer. Die Eisenbahnstrecke, die harte, glänzende Oberfläche der Schienen, das erste Rad der Lok, die dunkelbraunen, öligen Eichenbohlen, dazwischen einige hellgraue, frisch verlegte Betonschwellen. Der Nachtzug um null Uhr dreiundvierzig. Du kannst wählen, beides erfordert Mut. Der Funkmast und der alte Kirchturm von Syrau hinter den abgeräumten Feldern, die wirren, tiefen Traktorenspuren. Die Abwesenheit von Tieren, die Anwesenheit von Flugzeugen. Das Mädchen draußen auf der Straße sah nicht herüber, als der Posten leise pfiff. Sie lächelte, drohte ein wenig mit der offenen Hand.

War was. Abschlußappell mit <Repräsentanten der Universität>, auf einem Holzpodest, auf dem auch Tänze stattfinden konnten, der Lagerkommandant, Name weiß ich nicht, und Dr. Fließ, Direktorat für Erziehung und Ausbildung, weitere Herren. Major Ludwig läßt uns auf der Lagerstraße antreten, plaudert, macht Witze, rückt dann den Ledergürtel zurecht, die Pistolentasche, die Schirmmütze, sieht auf die Uhr. «Kompanie! Stillgestanden! Im Gleichschritt... Marsch! Links, links, links...»

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Es war gleich zu hören, «Hinkebein, rechtes Bein», wie Pilz das nannte, beim Gehen betonten wir den rechten Schritt. Ohne Absprache, einer, eine Reihe hatte begonnen, andere folgten. UndEINS, undEINS, undEINS, sponTAN, sponTAN ging es los, ein besonderer Rhythmus, LudWIG, LudWIG, es machte Spaß.

Ludwig brauchte etwas Zeit, dann warf er uns Blicke zu, «Links schwenkt!», die Straße noch mal hoch, «anständig», rief er, «marschieren Sie anständig!»

An der Kurve winkte einer, wir sollten kommen, am Holzpodest vorbeidefilieren im Paradeschritt, undEINS, undEINS, «anständig, verdammtnochmal!», LudWIG, LudWIG, nicht abzubringen waren wir von unserem Takt. «Man schämt sich, eine Uniform zu tragen!» schrie Ludwig und führte uns mit Grußerweisung an den Repräsentanten vorbei, alle hörten ihn, unseren Rhythmus, unseren Takt, unseren Tanz, sagten nichts, sahen in verschiedene Richtungen, einige feixten, wandten sich der nächsten Kolonne zu, die um die Kurve bog, unser Vorbeimarsch war beendet, HeimGANG, HeimGANG, LudWIG, LudWIG, der schüttelte den Kopf, versuchte, unserem Tritt auszuweichen, <ordentlich> zu laufen, da mußte er dribbeln, den Schritt wechseln, undEINS, undEINS, HeimGANG, HeimGANG, LudWIG, LudWIG.

«Halt!» Er ließ uns wegtreten, ging wortlos davon. Das war Protest, gemeinsamer, hörbarer. Reaktionen? Keine, bisher jedenfalls nicht. Unser Stampfen wurde offiziell überhört. Oder als Spaß bewertet? Wäre das möglich, eine solche Aktion nicht ernst zu nehmen? Ein lachender Lagerkommandant, der abwinkt und <naja> sagt?

Major Ludwig war zuerst überrascht, dann schrie er und marschierte mit uns vorbei, einer hatte an der Kurve gewinkt, ihm war nichts eingefallen, uns war etwas eingefallen.

Wir lachen, auf der Stube ist Stimmung, über das Ereignis wird kaum geredet: Alle waren es, nicht ich, es geschah. Wer großartig darüber redet, der war es vielleicht, wenn der Hammer kommt... WasDENN, wasDENN, war WAS, war WAS? Ja.

Der Autor als Soldat: immer etwas peinlich, immer auf der falschen Seite.

Das Wort Dienst.

Was ist das Vortragen eines Sonetts gegen das Ausgeben eines Marschbefehls? Specht lacht. Brecht als Soldat, eine komische Vorstellung. In der Armeezeitung sah ich den Schriftsteller Neutsch, liegend, hinter einem Maschinengewehr der NVA. Heinrich Böll, jung, die Zigarette in der Hand, lächelnd, im Krieg, unschuldig, schuldig, ein gutes Gesicht. Borchert räumte Minen im Himmelfahrtskommando neunhundertneunundneunzig. Sein schmales, blasses Gesicht, todkrank, die schulterlangen Haare, siebenundvierzig. Christa Wolf als Mitglied des Zentralkomitees.

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