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  Fuchs-1984

 

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Ich gehe die Schulgasse hinauf mit dem Koffer, in dem ist, was vorgeschrieben wurde auf einem Blatt Papier: Socken, Rasierzeug, weiße Kragenbinden, Schuhcreme, Bürsten, Nähzeug, Handtücher, Unterwäsche und die schwarze Reisetasche, der «Reiselord».

«Wohin gehst du?»
«Ich gehe zur Armee.»
«Ach», sagt sie und lächelt.

Ich weiß nicht, wohin ich gehe. Ich habe Geschichten gehört, die endeten immer: Auch das geht vorbei. Aber jetzt sollte es beginnen.
Die Schulgasse hinauf mit dem Koffer. Da ist die Altstadtschule, über der Tür, halbrund, in großen Buchstaben:
«I. polytechnische, allgemeinbildende zehnklassige Oberschule».

Schnell vorbei, den kleinen steilen Berg hinauf, Richtung Marktplatz, Richtung Bahnhof, Richtung Wehrkreiskommando, Richtung Friseur.

«COIFFEUR» steht über der Tür, daneben die Eisdiele, geschlossen, es ist zu früh, 9 Uhr und ein paar Minuten. Zwei Kugeln Vanille, eine Zitrone. Zu früh, kurz nach neun, dort ist die Uhr, kreisrund, Rat des Kreises, Rat der Stadt.

Dort hinein, den Koffer abstellen, keiner ist vor dir. Du kommst gleich an die Reihe. Eine junge Frau, ein Mädchen:
«Wie möchten Sie es haben?»
Dann sieht sie in den Spiegel, lächelt, lächelt nicht mehr.
«Zur Armee gehst du ...»
«Ja.»
«Ach», sagt sie.
«Kurz, hinten kurz.»
«Ja», sagt sie, «ich weiß.»
«Aber nicht zu sehr. Und an den Seiten, nicht zu sehr.»
«Nein», sagt sie und beginnt zu schneiden.

Der Koffer steht bei den Stühlen, keiner wartet. Die Spiegel, die Gerüche, Haarwasser, Dauerwelle. Im hinteren Raum sprechen Frauen. Sie sitzen unter Hauben und lesen Illustrierte, «FÜR DICH» und «FF-DABEI». Für dich, wer bin ich? Wer werde ich sein in wenigen Stunden? Wer ist das da, am Tag der Einberufung, in diesem Friseursessel?

Die Schulgasse hinauf. Einberufung. Wer hat denn gerufen? Das Vaterland? Der Sozialismus? Noch einmal umdrehen, zur «Schönen Aussicht» hinübersehen, dort unten ist Mylau, das Eltwerk, die stillgelegten Kühltürme, das Werk, in dem der Vater arbeitet.

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Das Göltzschtal, das Transformatorenwerk, das salpeterzerfressene, rötlich-weiße Gesicht der kleinen Häuser am Hang. Webergasse, Färbergasse. Verstecke, Spiele, Schnee, Weihnachten, Ferien, Freistunden, Zahnarztgeruch. Eine Klammer für die Schneidezähne. Sanitätsrat Dr. Johannes Ott. Die Schlägereien im Wartezimmer, bevor die Sprechstunde begann. Fünfzehn Kieferregulierungen warten auf einen Arzt.

Selbst diesen Koffer tragen.
9 Uhr 50 am Wehrkreiskommando einfinden, dann Abmarsch zum Bahnhof. Selbst gehen. Gerufen werden.
Meinen Einberufungs­befehl erhalten per Einschreiben. Aber selbst gehen, packen, Abschied nehmen. «Auf Wiedersehen.» Die Arbeit der Eltern beginnt um sieben. Auf Wiedersehen. Nicht winken, nur aus dem Küchenfenster sehen, der Mutter nachsehen, wie sie in der Blumengasse verschwindet mit kleinen schnellen Schritten. Der Sohn wird ein Mann. Was denn für ein Mann? Einer in Uniform? Einer, der an der Wand im Wohnzimmer der Großmutter hängt? Einer, der Rudi heißt oder Hans? Der gefallen ist in Afrika oder Ungarn? Mit 20, mit 26? Einer, der mit Indianern spielte und mit Soldaten und Cowboys?

Der schwarze Stoffstreifen an den Fotografien hinter Glas.
«Der Dank des Vaterlandes ist dir gewiß», sagt die Großmutter.
«Der Dank des Vaterlandes», sagt sie.
Und hustet wie jeden Morgen. Und spuckt in den Aschenkasten des Küchenherdes. Und winkt ab. Und hustet und sagt:
«Wo ist der Dank? Wo sind die Jungs? Wo sind sie?»

Die Schulgasse hinauf, an den Bahnschranken vorbei, am Gemüseladen, an der unteren Kirche, die groß ist und grau.

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Daneben das Schulgebäude. Grau und groß und sieht zu mit vielen Fenstern. Und ohne Hilfe. Pfarrer Meinel liegt im Krankenhaus, fiel plötzlich um. Die Bibel oder «Weltall, Erde, Mensch». Fiel plötzlich um. Er fragte, er wollte es wissen. Er zweifelte. Er stand an der Tür und sagte:
«Denkt nach. Am Kreuz ist er gestorben. Und hat geweint und gezweifelt. Und hätte auch nicht gewußt, was richtig ist: Konfirmation oder Jugendweihe. Schule oder Kirche. Staatsbürgerkunde oder das, was ich euch sage. Er hätte auch gezögert», sagte er an der Tür des Gemeindehauses.
«Es ist schwer. Denkt nach. Kommt wieder.»

Mit wem soll einer sprechen, der weggeholt wird kurz nach dem Abitur und studieren will und jetzt dienen soll?

Die Schulgasse hinauf. Den Reisekoffer mit dem Reißverschluß in der rechten oder linken Hand. Achtzehn Monate sind nicht viel. Und sind eineinhalb Jahre. Das Weinen kommt. Und darf nicht kommen, weil es losgeht, weil das Leben beginnt und seine Befehle erteilt. Im Koffer obenauf eine schwarze Tasche wie vorgeschrieben für «Urlaub und Ausgang». Und ein Buch, nein, nicht Semprun, «Die große Reise», nein, nicht. Sein Buch steht im Bücherschrank. Sein Abtransport, sein Güterwagenweg ins Lager. Der Junge aus Semur ist tot. Ein Zögern ist da, eine Angst, ein Wegschieben: ein anderes Buch.

So schlimm wird es nicht werden. Das läßt sich nicht vergleichen. Ein anderes Buch. Bobrowski, Gedichte, «Wetterzeichen».
«COIFFEUR» steht über der Tür.
Sie schneidet vorsichtig, behutsam, fast zärtlich. Sie ist jung, eine Freundin, eine Friseuse. Einer wird jeden Abend warten auf einem Motorrad. Sie läßt sich Zeit, schneidet, gleicht aus, hält skeptisch den zweiten Spiegel:

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«Na, da muß noch was weg. Sonst regen sie sich auf.»
Woher weiß sie?
Saßen noch andere in diesen Sesseln?
Bestimmt. Ganze Jahrgänge saßen hier. Zehn, zwanzig, vielleicht zweihundert aus einer kleinen Stadt wie dieser. Jahr für Jahr.
«So müßte es gehen.»
Cape abbinden, abbürsten, 1 Mark 60. Danke. Alles Gute. Den Koffer nehmen, über den Marktplatz gehen, halb Kopfstein­pflaster, halb Asphalt. «Alles Gute.» 

Einige Autos, Skoda, Trabant, Moskwitsch. Einige Fahnen. Schwarz-Rot-Gold. Hammer und Zirkel. Hammer und Sichel nicht. Rot, glatt rot. Da innen ist alles wund, will schreien, wird fühllos, geht weiter. An der Tombola vorbei. Ein Los? Eine Niete? «Ein Baustein für den Frieden»? Gar nichts, gar kein Baustein. Ein Druck, eine Last: Was wird aus mir? Ein Nichts? Ein Stillgestanden? Ein Zu-Befehl?

Die Zenkergasse. Heute der Hauptgewinn. Die Volksbuchhandlung. Der Karl-Marx-Platz. Heute ist es soweit. Busse fahren ab. Nach Treuen, Plauen, nach Lengenfeld. Weitergehen. Einen Koffer in der Hand. Die Richtung nicht verfehlen. Alles ist zu vertraut und will sich nicht trennen. Nicht zu spät kommen. Richtung Amtsgericht, Richtung Bahnhofstraße, Richtung «Tonhalle». Tanzabend am nächsten Sonnabend. Da bin ich weg. Heute ist der 4. November. Am nächsten Sonnabend bin ich weg. 

Die Goethe-Schule. Auf Wiedersehen, Herr Direktor Übel. Sie haben die Listen eigenhändig ins Wehrkreis­kommando getragen: Näser, Stoll, Sperber, Lietz, Taubert und ich. Danke, recht schönen Dank dafür.

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Anständige Staatsbürger sollen aus uns werden, das ist der Sinn, ich weiß. Das haben Sie uns gesagt. Danke, recht schönen Dank dafür, Genosse Major der Reserve Wolfgang Übel. Wer auffiel mit gewissen Reden und zu langen Haaren, wozu braucht der Abitur? Der kann in den umliegenden Betrieben seinen Facharbeiter machen, nicht wahr? Ab in die herrschende Klasse. Und die anderen zur Armee. Sein Vorgänger Buchta verließ die Schule, und Übel übernahm die Führung: graue Haare, klein, nicht mehr jung. Die ersten Maßnahmen: Ordnungs­gruppen bilden. Armbinden verteilen. Zur Hofpause im Kreis gehen. «Schulfunk und Schlagermusik ist was für westliche Gymnasien. Bei uns nicht. Eine Schülerzeitung? Genügt das Zentralorgan unserer Partei nicht? Es wird ja immer schöner.» 

Zu Beginn der Stunde erfolgt eine Meldung an den jeweiligen Fachlehrer. Ein Musikzug wird gegründet, bestehend aus Bläsern und Trommlern. Jeden Montag Fahnenappell. Marschübungen in Vorbereitung auf den 1.Mai: «Es muß klappen.»
Intensivierung der vormilitärischen Ausbildung. «Und wer wird Berufsoffizier?
Na, Jungs, ich will ein erstklassiges Abschneiden unserer Schule. Denkt an den Klassenfeind. Und blamiert mich nicht», sagte er. «So, Sie verpflichten sich also nicht. Na ja.» Und dann muß er sich gedacht haben, unser Direktor und Biologielehrer: Ab zur Truppe, das ist die letzte Rettung.
Seinen Durchschauer-Blick, den werde ich nicht vergessen. Und was einer aus meiner Klasse wußte von seinem Vater: ein HJ-Führer aus Adorf hieß auch Übel. Aber was heißt das, was beweist das? Ein FDJ-Funktionär hieß auch Fuchs. Alles hängt zusammen, nicht wahr? Und ist etwas ganz anderes, etwas völlig anderes. Seine Macht, sein Ernst, die graue Offiziersbluse, die er gern trug, den weißen Kittel, den er vor dem Unterricht über
zog ... das leichte Zittern der Hände, der Stimme, die Festigkeit bekam, wenn sie laut wurde ... und unsere blauen Blusen.

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Unsere guten Zensuren. Unsere braven Gesichter, wenn ein Lehrer in Sicht kam: Goethe-Schule. Warum Goethe? Ich weiß es nicht.

Ich muß jetzt um diese Ecke biegen. Rechts das Denkmal für die Opfer des Faschismus. «Nie wieder Krieg.» Nie wieder. Kränze, Blumen. Nie wieder. Nie wieder Krieg.
Ein Zaun aus Eisen.
Spitze, schmiedeeiserne Zacken. Eine Fabrikantenvilla im Besitz des Volkes, des Staates, der Armee. Da stehen welche. Siehst du? Solche wie du.
«Tag.»

Schweigen, verlegenes, unwilliges Nicken. Die anderen aus der Schule mußten schon am Vortag weg. Da steht Kannengießer, den ich aus der Milchbar kenne. Er hat noch lange Haare:
«Ich gehe nicht freiwillig.»
Kannengießer hat noch lange fettige Haare. Kannengießer steht da, klein, mit Koffer und langen Haaren.
«Ich nicht», sagt er, «mit mir nicht», sagt Kannengießer und sieht sich unsicher um.

Und ich war beim Friseur. Bin ich feige? Oder wird Kannengießer noch sehen, was sie mit ihm machen? Ich war beim Friseur. Ich komme mir gut vor und feige, gehorsam und beschissen. Kühl ist es an den Ohren, am Hals. Windig. Was ist mit den Coiffeur-Haaren für 1 Mark 60 am Marktplatz neben der Eisdiele ... Was denkst du?

Ich denke nicht viel. Ich stehe so herum und warte. Einer aus Oberreichenbach kommt an, kräftig, groß, ein Schlosser aus der Renak, mit kurzen Haaren. Er fuhr immer Motorrad, eine 250er. Ich habe ihn beneidet.

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Der hatte auch eine Mähne, viel länger als ich. Jetzt kommt er an, zu Fuß, fluchend, war auch beim Friseur. Grüßt keinen, kennt keinen. Ist auch vorher gegangen.
«Reinkommen, der Reihe nach.»

Unwillig, aber gehorsam, in einer zögernden Schlange, auf zwei Beinen, mit Koffern und Taschen. Wer hat gesagt «reinkommen»? Wer war das? Unwillig, aber gehorsam, mit fettigen Haaren, pünktlich, frisch frisiert mit wenigen Ausnahmen, fluchend, aber zur Stelle, an den kunstvollen Gittern der Bourgeoisie vorbei, die es hier nicht mehr gibt. An den Zäunen der herrschenden Klasse vorbei, an ihren spitzen, altmodischen Zacken. Die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen wurde beseitigt. Die Verhältnisse, unter denen der Mensch ein erniedrigtes und beleidigtes Wesen war, sind vorbei.
Gut zuhören.
«Hier rein. Warten», sagt einer in Zivil, ein Mittelgroßer, Blasser, sagt es so hin: «Warten.» Es ist noch davor. Abmarsch zum Bahnhof, steht auf dem Zettel.

«So, mal herhören: Rauchen einstellen, Personalausweise abgeben», sagt ein anderer in Uniform, älter, dicker, einen Ton schärfer, aber auch noch zivil, fast väterlich: «Personalausweise abgeben.» Ernst, das schon, fordernd, ja, aber nicht scharf. Die Ausweise werden ihm hingereicht, er geht weg durch eine hellgetäfelte Bürotür, die zuklappt. Warten, nicht rauchen. Stille. Keiner flucht.

Es hat begonnen.

Einer hat gesagt: Personalausweise abgeben. Sie werden ihm hingereicht. Er muß sie nicht einsammeln. Da hinein, in diese Hände, in diesen Stapel, zwischen diese Finger, in diesen väterlichen, behaarten Griff. Da hinein. Du hast in die Brieftasche gegriffen und fertig.

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Ihre Fahrkarten bitte. Ihren Führerschein bitte. Keine Frage, kein Wer-sind-Sie, Was-soll-das, wozu und warum?

«Personalausweise abgeben.»
Da werden sie hingereicht. Ein Brief ist angekommen mit Einschreiben, dein Jahrgang ist dran, die Musterung hat ergeben, an dem und dem Tag, vorher zum Friseur. Und jetzt bin ich mit Koffer zur Stelle. Die anderen auch.
«Kommen Sie mal hier hinein.»
«Ich ?»
«Ja, Sie.»
Eine Tür steht auf, ein Mann winkt, ich tue, was er lagt:
«Türe zu. So, nehmen Sie mal hier Platz. Wo waren Sie gestern abend? Ich bin von der Kriminalpolizei.»
«Gestern abend? Bei meiner Freundin. In der Rosenstraße ... warum fragen Sie?»
«Ich muß das wissen. Es ist etwas vorgefallen. Wir ermitteln noch. Wo waren Sie gestern abend?»
«Das sagte ich doch schon, in der Rosenstraße.»
«Also in der Rosenstraße. Wie lange?»
«Bis halb, um zwölf.»
«Und dann?»
«Dann bin ich nach Hause.»
«Wie sind Sie gegangen?»
«Na, die Zwickauer Straße runter, durch die Unterführung. An der Post vorbei, Graben, Reichsstraße.»
«Ohne Umwege?»
«Ohne. Was ist denn passiert?»
«Wo wohnen Sie?»
«Am Mühlgraben 13, in der Altstadt.» Er öffnet eine Mappe, sucht, nickt:
«Was hatten Sie an?»

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«Da muß ich überlegen ... meinen grünen Pullover. Und schwarze Hosen.»
«Welche Schuhe?»
«Braune.»
«Diese hier?» Er beugt sich über den Tisch.
«Nein.»
«Wo befinden sich diese Schuhe jetzt?»
«Zu Hause, bei meinen Eltern.»
«Und Ihnen ist unterwegs nichts Verdächtiges aufgefallen? Betrunkene, Randalierer?»
«Nein.»
«Überlegen Sie.»
«Nein.»
«Haben Sie getrunken?»
«Wenig, ein Glas Rotwein.»
«Ein Glas?»
«Ja, ich ... wir sind herumgelaufen. Es war der letzte Abend.»
«Wo?»
«Wo? Ach so, am Stadtrand, an den Bahnschienen.»
«In Oberreichenbach?»
«Ja.»
«Und was haben Sie sonst gemacht?»
«Sonst?»

Da lächelt er. Da sehe ich ihn an. Er hat gesagt: «Kommen Sie mal hier hinein.» Vogtländisch, das «ei» gedehnt, flach und doch tief hinunter im Singsang, man muß es hören. Das ging ganz schnell, mein Koffer blieb im Vorraum stehen. «Hier hinein» und gleich los mit den Fragen. Ich bin verwirrt, antworte ohne Vorsicht. Das gehört wohl dazu... Zuerst die Personalausweise abgeben, dann diese Fragen über den letzten Abend. Er lächelt:

«Was Sie gemacht haben, kann ich mir schon denken. Wie heißt Ihre Freundin?»

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«Eva Blau.»
«Straße?»
«Rosenstraße 27.»
«27», wiederholt er und schreibt es auf. «Sie sind also umgelaufen, an den Bahnschienen, durch die Gärten ... sind Sie schwermütig?»
«Wie?»
«Schwermütig ... neigen Sie zu solchen Sachen?»
«Wozu, ich verstehe nicht...»
«Schon gut, also weiter. An den Neubauten in der Zwickauer Straße sind Sie nicht vorbeigekommen?»
«Nein.»
Er macht sich Notizen in einer kleinen, flinken Schrift. So ist er: klein und flink. Das Gesicht einer Maus. Sogar die Zähne stehen vor. Der Kugelschreiber in keiner Hand scheint zu leben, huscht, äugt, lauert.

 

Jetzt bin ich wieder auf dem Flur. Mein Koffer steht noch da, meine Utensilien. Ich wurde nicht verhaftet. Was sollten die Fragen? Ich habe brav geantwortet. Kriminalpolizei. Was hätte ich tun sollen? Es ging so schnell. Man ist gleich einen Kopf kleiner ... Außerdem befinde ich mich im Wehrkreiskommando am Tag der Einberufung. Wenn man in solch ein Gebäude gegangen ist und vorher beim Friseur war, gibt es keinen Ausweg mehr.

Was er wissen wollte ... Andere werden auch in das Zimmer geholt, Kannengießer auch. Habe ich zu freundlich geantwortet? Was er nur wollte. Ich habe nichts gemacht. Ich war überrascht. Über den gestrigen Abend habe ich nicht viel gesagt. Nichts über die Bahnschienen, über die vorbeifahrenden Züge. Wir haben kaum gesprochen. Eine Gefahr, ein Befehl lag über uns. Etwas Stärkeres, ein Datum, eine vorgedruckte Karte in einem Umschlag per Einschreiben.

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«Das sind meine Hände, das ist mein Haar», sagte sie.
«Ich habe Angst um mich», wollte ich sagen. Aber ich sagte es nicht.
Ein Güterzug mit Diesellok, drei Personenzüge und eine Dampflokomotive, allein, ohne Wagen, fuhren vorbei.
«Morgen früh gehe ich zum Friseur», sagte ich.
«Geh nur», sagte sie und lachte.

 

Einer kommt aus der Bürotür in voller Montur:
«Hier ist Rauchen verboten, hat Ihnen das keiner gesagt?»
Kannengießer drückt seine Zigarette zwischen den gelben Fingerkuppen aus und steckt sie weg.
«Major Linke mein Name. Ich bringe Sie zum Bahnhof. In Zweierreihen, ohne Tritt, aber ordentlich, kein Sauhaufen, wenn ich bitten darf.»

Major Linke trägt einen dünnen Uniformmantel mit Gürtel und geflochtenen silbernen Schulterstücken, auf dem Kopf eine Schirmmütze. Neu und geleckt sieht er aus. Etwa fünfzig, gut genährt, nicht fett. Selbstsicher, mit brauner Hornbrille. Ein Buchhalter, einer vom Wehrkreiskommando. Ein Politoffizier vielleicht. Es gibt Leute, die sehen aus wie ein Befehl. So sieht er aus. Er weiß alles besser. Widersprechen ist sinnlos. So sieht er aus.

«Koffer aufnehmen, in Zweierreihen antreten. Ohne Tritt! Marsch.»
Neben mir geht Kannengießer.
«Auf dem Bahnsteig zusammenbleiben», sagt Linke.
Keiner antwortet.
«Und die Ausweise?» fragt einer.
Linke sieht geradeaus, hat wohl nichts gehört.

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«Und die Ausweise, Herr Leutnant?» 
Keine Antwort. Linkes Backenknochen beginnen zu mahlen.
«Und die Ausweise, Genosse Major?» sagt Kannengießer. Linke dreht seinen Kopf und sieht auf Kannengießers fettige Haare.
«Bekommen Sie in achtzehn Monaten wieder», sagt er, einen Ton in der Stimme, der noch etwas ahnen läßt.
«Sie bekommen Dienstausweise», sagt er. Aber dann muß es heraus, vorwurfsvoll, etwas Ekel schwingt mit:
«Auf dem Einberufungsbefehl steht was von kurzem militärischem Haarschnitt. Und Sie?»
«Ich wußte nicht, was das ist», sagt Kannengießer halblaut, außer Atem, klein, schleppend, den Kopf zur Seite geneigt. Er schwitzt, sein Koffer ist groß und schwer.
«So, so, das wußten Sie nicht. Nun, das werden Sie bald für den Rest Ihres Lebens wissen», sagt der Genosse Major. «Wie heißen Sie?»
«Kannengießer.»
Linke dreht den Kopf weg, was wohl heißen soll:
«Keine weiteren Diskussionen. Bald sind wir am Ziel, dann sehen wir weiter.» Diesen Namen wird er sich merken.

 

Die Blätter der Kastanienbäume liegen braun und trocken auf der Bahnhofstraße. Die Sonne scheint durch die Schornsteine der Textilfabriken. Es ist Herbst, ein Novembertag, der Vierte des Monats, kein Regen, kein Wind. Hoch über den Dächern sind helle, dünne Wolken zu sehen, die keine Ahnung haben. Auf der kleinen Mauer neben der Tankstelle, gegenüber der Kreisleitung der Partei, zählt ein Junge Kastanien. Ein dicker, kurzer Stock liegt neben ihm. Ein Wurfgeschoß, das er in die Bäume schleudert, wenn keine Fußgänger kommen.

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Jetzt kommen Fußgänger. Mit Koffern und komischen Augen. Wie Schüler, wie Touristen, wie Schafe, wie Gefangene sehen sie aus. Einer in Uniform hat die Aufsicht, das ist unverkennbar. Er läuft sehr gerade, hält Abstand, weiß den Weg. Ein Güterzug bremst oben am Bahndamm, schneidend und schrill. Wechselt einer die Straßenseite? Kehrt einer um und geht seiner Wege? Ein «Trabant-Kombi» hupt ohne erkennbaren Grund. Jetzt fliegt der dicke, kurze Stock durch die Bäume, berührt einen Ast, schlägt hart auf. Wo ist der Junge? Fortgegangen? Wer weiß.

 

Am Bahnhofsvorplatz warten Uniformierte und einige Eltern. Verlegene Blicke, Floskeln und dieses Verziehen der Mundwinkel, das keine Freude ausdrückt. Es geht nicht ins Ferienlager, nicht ans Schwarze Meer oder an die Pöhler Talsperre. Reisende kommen an und gehen weg. Wer weiß schon, wohin der andere fährt.

Weint eine Mutter? Ich sehe keine weinen. Meine ist auf Arbeit. «Laß mich bloß allein wegfahren», habe ich gesagt. Sie wird im Betrieb an ihrer großen Schreibmaschine sitzen und Listen tippen. Einige Väter bewegen sich zackig, die Situation steckt an. Sie zwinkern und nicken den Offizieren zu. Es soll wohl heißen: «Wir wissen auch Bescheid. Nehmt sie ruhig ran. Sie vertragen etwas, das schadet ihnen nicht.» Etwas Anbiedern ist dabei auf diesem Bahnsteig, wir Männer, nicht wahr, und diese jungen Spunde ...

«Mal herhören», sagt Linke, «wenn der Zug kommt, mir nach.»
«Wohin fahren wir», fragt einer.
«Das werden Sie schon sehen.»
«Erst nach Zwickau, dann nach Johanngeorgenstadt», weiß eine Stimme.

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«Ruhe jetzt», faucht Linke, «sonst kommen Sie vors Militärgericht. Ist das klar? Ab heute sind Sie Soldaten.»

Soldaten, sagt er auf dem Bahnsteig, ab heute sind Sie Soldaten. Der Zug kommt, die Türen öffnen sich, «gewöhnliche» Reisende steigen ein und aus, eine Gruppe junger Männer verschwindet im letzten Wagen des Personenzugs Plauen-Zwickau. «Einsteigen, Türen schließen, Vorsicht bei Abfahrt des Zuges.» Nach einem kurzen Aufenthalt verläßt dieser Zug fahrplanmäßig den Bahnhof. Zu sehen ist das Übliche: Menschen winken, bleiben zurück, hinter Signalen und Brücken verschwinden Gesichter und Hände, mitunter auch weiße Taschentücher. Ein leerer Bahnsteig. Stille. Entfernte Rangiergeräusche. Ein Gepäckkarren holpert vorbei, auf zwei Anhängern liegen wüst gestapelte Fahrräder.

Ich sitze neben Kannengießer, der sofort einschläft, und starre wie blind in eine Landschaft, die ich gut kenne. Linke verteilt kleine Fahrkarten aus Pappe. Sie tragen in der Mitte einen dicken, hellroten Streifen: Militärfahrkarten. Habe ich «danke» gesagt, als er sie mir gab? Vielleicht. Vielleicht habe ich «danke» gesagt. Ich nehme an. Und weigern, ich hätte mich doch weigern können ... Weigern? Ich bin gemustert. Habe den Einberufungsbefehl erhalten und ihn angenommen. Auf andere Ideen bin ich nicht gekommen. Oder habe sie weggeschoben.

 

Musterung.
In der ganzen Stadt hingen Plakate. «Jahrgang 1950», alle männlichen Bürger haben sich dann und dann dort und dort einzufinden. An einem Vormittag fuhr ich mit dem Rad nach Mylau, vom Unterricht freigestellt. Ich war siebzehn. Ein großer Raum in einem frisch verputzten Flachbau. Viele warten. Broschüren liegen aus.

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«Werde auch Du Soldat auf Zeit.» Buntfotos, lachende Soldaten, freundliche Offiziere, glänzende Panzer, silberne Düsenjäger, blauer Himmel. «Zum Schutze unseres sozialistischen Vaterlandes – zur Verteidigung des Friedens», Losungen, Sprüche. Ich warte. Einer in Armeeuniform kommt.

«Die nächsten zehn zum Hörtest.»
Wir werden in ein Zimmer mit schrägen Wänden geführt.
«Hier sind Zettel und Bleistift. Schreiben Sie Ihre Namen auf. Notieren Sie, was Sie hören. Lang oder kurz, Punkt oder Strich. Alles klar?»
Piep, piep. Laut, leise, länger, kürzer.
«Zettel abgeben. In Dreierreihen zur Untersuchung. Ausweise bereithalten. Den Gang hoch, dann warten.»

Weiße Mäntel, Uniformen, Männer, einige Frauen, Krankenschwestern, Sekretärinnen. «Kommen Sie hier rein. Ausziehen bis auf die Turnhose. Urin in dieses Glas. Dort ist die Toilette. Hier wieder abgeben.» Es kommt nur wenig. Den Wasserhahn aufdrehen. Von einem Bein auf das andere treten. Nur ja den Auftrag erfüllen. Viel ist es nicht. Der nächste steht in der Tür. Man feixt und tut lässig. Aber es gelingt nicht ganz. Klopfen an eine Tür, auf der «Labor» steht. «Hier bitte.» «Jetzt zum Arzt, da hinein.» Blutdruck messen. Ach, den kenne ich doch, Dr. Oel aus dem Krankenhaus, seine Tochter geht in unsere Schule. Ein «Ziviler», kein Militärarzt. Er sieht kaum auf von seinen Papieren, notiert sich etwas, horcht, klopft, schreibt, ist abwesend. «Da hinten zum Wiegen.» Und eine Krankenschwester fügt hinzu: «Schuhe aus, dort an die Meßlatte, gerade, 180. Und jetzt da hineinblasen, was in der Lunge ist. Ja, Sie können vorher Luft holen. Sonstige Beschwerden?

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Diesen Bogen sorgfältig ausfüllen, die Kinderkrankheiten nicht vergessen. Der nächste bitte.» Ärzte, Schwestern und Offiziere Hand in Hand. Medizin und Armee. Die jungen Frauen lächeln, taxieren, machen Bemerkungen. Was soll man sagen in solch einem Aufzug? Wie rund sind die Beine? Wie blaß die Haut, wie schmal die Schultern?

«Jetzt in dieses Zimmer.»

Ein Arzt und zwei Schwestern. Sie kennen sich aus, scherzen, sind ein Team. «Legen Sie sich mal auf die Pritsche.» Abtasten des Bauches, der Leistengegend.
«Aufstehen, Hosen runter, die Vorhaut zurück. Weiter, noch weiter. Haben Sie wohl noch nie gemacht? Na so was. Fertig. Kerngesund.»

Ich zog mich an und setzte mich auf eine Bank im Flur. Nackt, besichtigt. Mit einer sturen Leere im Kopf, einem Durchschalten. An- und Ausziehen, wie in Gefängnisfilmen. Mit dem Unterschied, daß ich mitspielte. In der Hauptrolle? Nein, eher in einer Nebenrolle, einer von vielen. Statisten sind wir, und doch ist alles sehr persönlich, nackt, hautnah, wie es heißt. 

Als Kind im Freibad benutzte ich Umkleidekabinen, war wenig frei, war hastig, nervös. Konnte die eigene Blöße nicht ertragen vor anderen, hatte Angst vor «Überraschungen», Bemerkungen und fremden Augen. Und jetzt sahen fremde Augen zu, waren im Dienst, machten, was sie wollten. Ich tat, was ich sollte. Ein eigentümlicher Zustand von Abwesenheit stellte sich ein. Mein Wille war außer Kraft gesetzt. Ein langer Flur, Steinplatten, viele Türen. Losungen an der Wand. Welche? Vaterland, Frieden, Sozialismus, Verteidigung ... Eine Jugendherberge als «Musterungsstützpunkt». 

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Gleichaltrige kamen und gingen. Mit Uringläsern, Wehrpässen, nackten Oberkörpern, in Unterwäsche, verschämt, gleichgültig, ängstlich, wütend, mit und ohne Bartwuchs, gebräunt, gut gebaut, selbstsicher, krumm. Kinder? Schüler? Männer? Soldaten? Sehr verschiedene Menschen eines Jahrgangs kurz vor dem Gleichschritt, kurz vor der Uniform. Dazwischen einige Frauen, Blicke, Kichern.

Eine Tür öffnete sich.
Mein Name wurde genannt.
Ein älterer Mann in einer hellgrauen Offiziersbluse winkte mich ins Zimmer. Hinter zusammengerückten Tischen saß eine Kommission, ernst, amtlich, offiziell.
«Wir sind die Musterungskommission», sagte der ältere Mann. «Nehmen Sie Platz. Sie sind truppendiensttauglich für den Ehrendienst in den Reihen unserer Nationalen Volksarmee. Wir beglückwünschen Sie. Hier ist Ihr Wehrpaß. Wir haben beschlossen, Sie der Waffengattung Nachrichten zuzuteilen. Haben Sie noch Fragen?»

Ich verneinte.
«Dann unter das Paßbild mit diesem Stift eine Unterschrift, Vor- und Zuname. Lesen Sie die Bestimmungen auf Seite 39 gut durch.»

Ich unterschrieb. Er gab mir den Paß. Seine Haare waren glatt nach hinten gekämmt. An die anderen erinnere ich mich nicht. Er sah mich freundlich an. Von den anderen weiß ich nur: Es saß eine Kommission im Raum. Sie saß hinter Tischen und musterte mich.
«So, das war's für heute, auf Wiedersehen», sagte der mit den nach hinten gekämmten Haaren.

Ich trat auf den Flur, die Tür schloß sich. Ich war erleichtert, verwirrt, fast glücklich: Sie waren freundlich, «wir beglück­wünschen Sie». Die Angst war weg. Sie behandelten mich freundlich! Das hohe Gericht erhob keine Anklage, im Gegenteil, es beschloß, daß ich bald dazugehören werde. Daß ich gesund bin, gesund und tauglich. Der Hörtest fiel gut aus.

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Gemustert für die Waffengattung Nachrichten. Durfte ich jetzt stolz sein? Der Vater war Funker im Zweiten Weltkrieg, die Armee hieß Deutsche Wehrmacht. Die Waffengattung: Nachrichten. Hitler, ganz schlimm, Faschismus. Der Vater war Funker bei der Luftwaffe und wurde auch befördert. Funker ist vielleicht nichts Ganz-Schlimmes, mehr etwas Technisches. Das Morsealphabet ist international. Es gibt Amateurfunker in aller Welt. «Wir beglückwünschen Sie.» Sie haben nicht geschimpft.

Vor der Tür traf ich einen aus Schönbrunn, den ich vom Fußball kannte. Glücklich, erlöst startete er sein Moped: «Habe ich ein Schwein», rief er, «Asthma muß der Mensch haben. Untauglich! Habe ich ein Schwein! Asthma! Und du?» Er wartete nicht ab, was ich sagte. Er winkte, lachte, gab Gas, fuchtelte mit den Beinen, fuhr davon. Ich sah ihm nach, steckte meinen Wehrpaß weg, öffnete das Fahrradschloß.

«Wir beglückwünschen Sie.»
«Hose nach unten, Vorhaut zurück.»
«Werde auch Du Soldat auf Zeit.»
«Truppendiensttauglich.»
«Asthma muß der Mensch haben.»

Ich war gesund, kerngesund. Ein junger, gesunder, zukünftiger Soldat, der auf dem Fahrrad nach Hause fuhr. In der Reichsstraße traf ich Juliane. «Gar keine Schule?» «Gar keine Schule?» «Ich war zur Musterung», sagte ich ganz nebenbei, ganz erwachsen. «Aha», sagte sie und blieb stehen. Sie wollte wohl weitersprechen, war nicht abgeneigt, noch ein kleines Gespräch zu führen. «Also dann», sagte ich und fuhr weiter, trat wie wild in die Pedale, winkte, lachte, fuchtelte mit den Beinen wie der aus Schönbrunn. Ich war gemustert. Und gesund. Kerngesund.

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Neumark. Lichtentanne, Zwickau, eine kurze Fahrt, zwanzig, dreißig Minuten. «Kannengießer, aufwachen, Zwickau. Wir müssen umsteigen.»
«So, mal herhören», sagt Linke. «Aussteigen, in Zweierreihen, und ohne Ausflüge in die Mitropa, auf Bahnsteig 6. Der Bahnhof ist voller Menschen, wir werden gesehen.»

«Zu Befehl», sagt eine Stimme. Nicht ironisch, es klingt eher nach neu erworbenem Vokabular. Bahnsteig 6. Koffer absetzen. Was ist denn da los? Einer mit Rucksack und schulterlangen Haaren diskutiert mit einem Uniformierten.

«Gut», sagt der Langhaarige, «gut, ich gehe. Zu Befehl, jawoll, ganz wie Sie meinen.»

Er verbeugt sich, andere lachen. Nach zehn Minuten kommt er wieder, kahl, fast Glatze, die weiße Kopfhaut leuchtet. Alle sehen ihn an, ja, Gelächter, aber anders, dumpf, hohl, mitleidig, auch etwas ängstlich: Darf man das? Ist das nicht schon Protest, Verweigerung eines Befehls, ihn so übertrieben auszuführen? Das wußte ich von vormilitärischen GST-Übungen und Fahnen­appellen: Gerade die bewußt-genaue Erfüllung eines Auftrags, der formvollendete Gruß, der Arm, der in Zeitlupe einknickt, die Hand, die an den Käppirand federt, die Augen, die starr auf dem Vorgesetzten ruhen — können die Unterwerfung aufheben, weil sie etwas tun ohne das Wichtigste: ohne Angst. 

Dieser da auf dem Bahnsteig, mit seinem Rucksack, seiner neuen Frisur, er gehört auch zum «Sammeltransport». Ich stehe da, sehe es, denke verschiedenes und weiß doch gar nichts, bin still, drehe mich um nach Kannengießer, halte mich dicht an die anderen, warte. Was wird werden? Dieses bange, geduckte Fragezeichen ist in mir.

26


Ich höre und sehe. Aber wer begreift schon, was er hört und sieht, wenn es gerade geschieht.

Ich hätte «Bausoldat» werden sollen. Ich hätte sagen sollen, sagen müssen: Dienst ohne Waffe! Aber «Dienst» wäre es dennoch, mit Uniform und Kaserne, einen Spaten auf den Schulterstücken ... Wo liegt der Unterschied? Wie hätte ich es anstellen müssen? Ich wußte nicht, wen ich danach hätte fragen sollen. Ich kannte keinen, der diesen Weg gegangen war. Und außerdem: «Werden Sie Offizier, werden Sie Soldat auf Zeit!» Diese Werbung war um mich, dieser Druck. Wenn ich sagte: «Nur anderthalb Jahre, ich will studieren», war das schon viel, fast frech. Dazu gehörte Mut, da verzogen sich schon einige Gesichter. Major Übel wollte ein »erstklassiges Abschneiden unserer Schule». Und ich will studieren ... 

Als «Bausoldat» kann ich die Psychologie in Jena vergessen. Und daß ein junger Mann zur Armee, zur «Fahne» kommt, das «ist eben so». Das betrifft alle, das kommt von oben, das war schon immer so. Was sollte ich auf die Frage: «Willst du dein Vaterland, deine Heimat verteidigen? Willst du das gemeinsam Geschaffene schützen?» anders antworten als: «Ja, das will ich»?

Ich hätte sagen können, daß Schutz und Verteidigung des Lebens nicht mehr mit Waffen zu erreichen ist im Zeitalter der Atombomben. Da wäre ich gefragt worden: «Sollen wir die Hände in den Schoß legen? Sollen wir den Revanchisten und Kriegstreibern das Feld überlassen? Hätte sich die Rote Armee nicht wehren sollen, als die Faschisten das Land überfielen?» Darauf hatte ich keine Antwort. 

27


Ich dachte auch an den Einmarsch in die Tschechoslowakei im vergangenen Jahr, an die Panzer, die durch unser Viertel fuhren. An die Protestdemonstrationen, die es in Prag gab, ich sah Bilder im Westfernsehen... muß man sich nicht wehren gegen solche «brüderliche Hilfe»? Aber wie? Mit Waffen, mit Gedichten? Wenn ich sagte: «Ohne Gewalt», geschah das aus Feigheit? Aus Mut? Weil einem nichts anderes übrigblieb?

Und was ist jetzt? Auf welchem Bahnsteig stehe ich? Ich werde Soldat in der «Nationalen Volksarmee», die sich beteiligt hatte am Einmarsch. Deutsche Uniformen kamen wieder über die Grenze. Und jetzt mache ich noch mit ... Und hätte ich bei der Einberufung gesagt: «Ihr wollt uns nur das Laufen beibringen, das Kuschen», dann hätten sie von der «Notwendigkeit einer bewußten Disziplin» gesprochen, «kein Schiff kommt aus ohne Kapitän und Offiziere, ohne Befehle. So ist es auch im übrigen Leben.» Und dann hätten sie sich an das Wort «kuschen» erinnert: «Haben Sie kuschen gesagt? Wissen Sie, was Sie da gesagt haben?» Und dann mußte man schon Glück haben, um der Staatssicherheit und dem Staatsanwalt zu entgehen. Da wären die Jalousien runtergegangen: «Das sind Unterstellungen und Zweifel an den Grundfesten unseres Staates, Sie sprechen wie ein Feind, das ist ideologische Diversion» ...

Ich will auch die Eltern nicht enttäuschen. Sie rackern sich ab in ihrem Betrieb und wollen «Erfolge» sehen, gute Zensuren, keine Klagen, einen Studienplatz. Aus dem Jungen soll «etwas werden».

«Nicht wie wir», sagten sie und gaben Geld für Bücher, waren stolz, daß ich las: Dostojewski, Tolstoi, Gorki, Sartre, Brecht, Thomas Mann. «Nicht wie wir», sagten sie, «jedenfrüh in die Mühle und abends müde. Andere fahren mit dem Auto. Du sollst es besser haben» ...

Das sind Rechtfertigungen ...

Ich stehe in Zwickau auf dem Bahnsteig und warte auf einen Zug. Ich weiß nicht, woher er kommt und wohin er fährt. Ob es ein Sonderzug ist? Wen soll ich fragen?

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Es ist auch ein Kitzel dabei: Uniform, Waffen, Schießen ... Wie in Kriminalfilmen, wie im Krieg wird es vielleicht, nur ohne Verwundungen, ohne Tod und Sterben. Der Lange, Karl vom Spielplatz hat sich freiwillig zur Marine gemeldet, drei Jahre, jetzt fährt er auf einem Schiff, einem Kanonenboot. Das ist etwas. Als Matrose kam er nach Hause mit ganz weiten Hosen. Alle haben ihn beneidet, die Mädchen sahen ihm nach... 

Als ich mit vierzehn die Lehre bei der «Deutschen Reichsbahn» begann, eine Woche Berufsausbildung, drei Wochen Oberschule, und mit dem Zug nach Plauen fahren mußte, in die «Kleiderkasse», wie ungern habe ich diese dunkelblauen Klamotten in Empfang genommen! Da mußten wir auch schon Schirmmützen tragen und Schulterstücke mit gelben Lehrlings-«Balken». Im ersten Lehrjahr einen Balken, im zweiten und dritten zwei. Wer ohne Mütze gesehen wurde, bekam Minuspunkte. 

Wuchsen die Haare etwas länger: «Wie sehen Sie denn aus, wollen Sie die Deutsche Reichsbahn blamieren?» Als ob die Predigten zu Hause nicht schon genügt hätten zu diesem Thema. Das kotzte mich alles an. Die Lehrmeister, die Fahrdienstleiter mit ihren ausrasierten Hälsen, auch die jüngeren, alles kleine und große Feldwebel, die «schon ganz andere Zeiten» erlebt hatten. Sie sagten «jawoll» und trommelten mit den Fingern, waren pünktlich und ordentlich, ließen nichts durchgehen. Wenn ich an Lehrausbilder Seiler denke, dieses dünne, blonde Bürschchen, das einen «Berliner Roller» fuhr und Karriere machen wollte. So eine Schläue war in seinem Blick, eine Hinterhältigkeit... Andere waren anders, ich habe «ruhige Beamte» kennengelernt, die von Unfällen und Kriegserlebnissen erzählten, kaum Arbeiten schrieben und uns auch mal eine Stunde früher gehen ließen. Aber sie waren Ausnahmen.

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Auf den Dienststellen an der Strecke mußte es pünktlich und korrekt zugehen, das sahen wir ein. Weichen und Signale mußten fehlerlos bedient werden, klarer Fall. Haltepunkt Limbach, Bahnhof Herlasgrün, Stellwerk und Fahrkartenausgabe ... 

Aber was war mit dem Lehrling, der in krummer Haltung durch die Tür trat und nicht gleich «Guten Tag» sagte? Der vielleicht sogar rauchte? Der konnte etwas erleben, da wurde geschwiegen und kommandiert, da ging der Blick durch und durch, der berühmte Blick der Kasernen, Katheder und kleinen Bahnstationen. Da hatte ich früh einen Haß und einen Ekel. Nein, um die Uniform reiße ich mich nicht, nach der dunkelblauen jetzt die feldgraue ...

Auf den Güterböden und Umladebühnen traf ich die «Proleten», die manchmal nur tageweise angestellten Arbeiter mit den Lederschürzen und den dicken Handschuhen. Sie konnten schwere Kisten mit einer Hand in die Güterwagen bugsieren, als wäre das ganz leicht. Sie sprachen nicht viel, aber erkanntet! sehr schnell, wer arbeitete und wer nicht. Ob jemand rumstand und die anderen machen ließ oder zupackte. Wenn einer arbeiten konnte, waren sie bald freundlich und zutraulich, fuhren selbst die schweren Sachen, erklärten Tricks, warnten vor Gefahren und schimpften auf «die von vorn, vom Bahnhof, die Sesselfurzer, die mit ihren Uniformen Spazierengehen und kontrollieren, daß wir keine Güterwagen mit nach Hause nehmen».

Die Lehrzeit ist gerade vorbei, man ist kein Affe mehr, kein Bockwurstholer, dem Seiler auf der Nase herumtanzt ... Das Abitur ist überstanden, der Schüler hat es hinter sich ... Und was kommt dann? Der Einberufungsbefehl ... Wieder sind wir die letzten Pisser, die dastehen mit Koffern und kurzen Haaren. Gut, vielen anderen ergeht es auch so ...

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Es stimmt, daß ich mit Pistolen gespielt habe. Auf dem Dachboden habe ich eine kleine silberne gefunden, in der Holztruhe. Vorn konnte man Pfeile hineinstecken, eine Feder wurde gespannt, dann abdrücken ... ein richtiger Abzugshahn ... Das war eine Entdeckung! Eine Pistole aus Blech, silbern, glänzend, fast wie eine richtige, «ein Damencolt» ... Wie kühl, wie aufregend, wie berauschend er sich anfassen ließ auf dem Dachboden ... Und später im Sandpark, als die Jungen um mich herumstanden und staunten. Alle wollten sich aus dem Westen Zündplättchenpistolen schicken lassen ... Und die selbstgebaute Holz-MPi nach Originalmaßen mit Trageriemen, eine Kalaschnikow, schwarz und rot angestrichen, der Kolben mit Blech beschlagen, das war doch etwas ganz Großes ... Die Mädchen sollten ruhig mit Puppen spielen und Mami rufen ... und wir, wir anderen, wir Stärkeren, wir Männer, wir Soldaten, wir spielten Krieg. Polizei, Räuber und Gendarm. Und waren im Recht. Und hatten die Macht. Und es machte Spaß. Und wenn einer vorbeikam von der Bergstraße oder aus der oberen Stadt und blöde glotzte, konnte er was erleben. Wie im Film, wie in den Büchern, egal, ob einer Old Shatterhand oder Tschapajew, der Held der Roten Reiterarmee, war an diesen Nachmittagen. Oder «ein deutscher Soldat» ...

Und jetzt soll ich es wirklich werden. Oder bin es schon, wie ich von Linke auf dem Bahnsteig in Reichenbach erfahren habe. «Ruhe jetzt, ab heute sind Sie Soldaten, sonst kommen Sie vors Militärgericht.» Ab heute bin ich ein deutscher Soldat.

Ich weiß genau, wie mich meine Großmutter ansah, wenn ich Krieg spielte in ihrer Küche. Sie hat nichts gesagt, hat nicht geschimpft. Hat gar nichts gesagt, das war es. Ist still geworden und hat hochgesehen zu den Fotografien mit den schwarzen Stoff streifen, hat die Jungs angesehen, die nicht mehr nach Hause gekommen waren.

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Und später die Flüche der Älteren aus meinem Viertel, die zur Armee mußten. Der Lange Karl ging zuerst freiwillig und gern, aber dann hat er sich zu Hause eingeschlossen und getrunken, wenn er auf Urlaub kam ... Nicht zu vergessen der Zirkus der «vormilitärischen Ausbildung» in den Schulferien. Luftgewehrschießen, Eskaladierwand, Orientierungsmärsche ... lustloses Trotten nach Karte und Kompaß, ständiges Blödeln und Suchen nach Ausflüchten und Entschuldigungen, nach Möglichkeiten, sich unauffällig «abzuseilen». Das Gefühl von Sinnlosigkeit und Langeweile, das in keinem Verhältnis zur rotwangigen Aufgeregtheit des Erdkundelehrers stand, der als Verantwortlicher «die Zeit nahm» und sich offenbar wichtig vorkam ... Dazu das zersetzende Gift der Bücher, Barbusse, «Das Feuer», Tolstoi, «Krieg und Frieden», Böll, «Wo warst du, Adam?», ausgeliehen in der Stadtbücherei am Museumsplatz, Wolfgang Bordiert, Brecht, Biermann, seine verbotenen Lieder auf Tonband, kaum hörbar, die sechste heimliche Überspielung, «Soldat, Soldat».

Ich habe nachgedacht, habe mich herumgequält.
Und jetzt stehe ich doch auf diesem Bahnsteig.

Zwei Monate vor der Musterung sagte ich meinem Klassenlehrer im Chemieraum, er hieß Grund, ich hatte Vertrauen zu ihm: «Wahrscheinlich werde ich den Wehrdienst verweigern.» «Um Gottes willen», rief er, «sagen Sie nicht so was. Dann ist alles vorbei, Abitur, Studium. Sagen Sie das nie mehr. Dieses Gespräch bleibt unter uns.» Er schloß die Tür.
«Aber ich bin gegen den Krieg», sagte ich. «Ja, natürlich, das sind wir alle», entgegnete er, «ich auch. Unsere Armee schützt den Frieden, jeder muß seinen Beitrag leisten
«Aber die Befehle, das Marschieren, das gefällt mir nicht.»

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«Mir auch nicht», sagte er. «Ich habe schon gehört, wie Sie sich im Sportunterricht aufführen, wenn Ordnungsübungen dran sind. Sie können sich nicht einordnen. Übertreiben Sie da nicht etwas?» Und heftig fügte er hinzu: «Machen Sie bloß keinen Unsinn. Versprechen Sir mir das, ich bin Ihr Klassenlehrer. Sagen Sie nie mehr etwas von Verweigerung!»
«Ich habe Wolfgang Borchert gelesen. Bei ihm steht der Satz: <Wir werden nie mehr antreten auf einen Pfiff hin.>» «Jürgen, ich flehe Sie an, überlegen Sie sich das. Das ist Literatur.
Es geht um Ihr Leben, Ihre Zukunft. Von meiner Rolle als Klassenlehrer will ich gar nicht sprechen. Sie verpfuschen sich alles.» Er sah mich an.

Die Formeln und Gleichungen an der Tafel verschwammen, wurden wirr, gingen nicht mehr auf.
«Ich verstehe Sie», sagte er, «aber versprechen Sie es mir?»
Ich zögerte, nickte dann. Er drehte sich um und begann, die Tafel abzuwischen. Ich nahm meine Tasche und ging auf den Flur. Es klingelte.

Ein Zug hat Einfahrt. Am Zeitungsstand kauft eine Frau einem Mädchen eine «Atze» und legt noch zehn Pfennig für Kaugummi dazu. Ein alter Mann mit Spazierstock steht auf der Bahnhofswaage neben den Fahrplänen und wartet. «Warum geschieht nichts?» fragt er. «Sie müssen Geld einwerfen», sagt eine junge Frau und liest weiter in ihrem Buch. Zwei Bahnarbeiter in öligen schwarzen Hosen holen Bier an einem Kiosk. Sie stecken die Flaschen schnell weg in einen Faltbeutel und zünden sich Zigaretten an, «Juwel» mit Filter.

Der Zug fährt ein, ein gewöhnlicher Personenzug. «Vorsicht am Bahnsteig 6.» Die schwarze Dampflokomotive kommt an, die Scheinwerfer wie starre Augen, die nichts sehen.

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Das gepreßte, sinnlose Schluchzen der Bremsen, einige Türen werden geöffnet, Uniformierte mit Stahlhelmen und Maschinenpistolen springen aus den Wagen und schreien:

«Beim Einsteigen beeilen, nicht einschlafen!»
Sie tragen Armbinden und sind in guter Stimmung, lachen, scheuchen, grölen aus vollem Halse. Wenn eine junge Frau zu sehen ist: «Frauen müssen draußen bleiben, schaaade!»

Ein Zug kam an, der ist unter ihrer Kontrolle. Das ist nicht zu überhören, nicht zu übersehen. Hinter den Fenstern sitzen junge Männer, solche wie wir, was weiß ich, wie sie heißen, wer sie sind. Solche wie wir ... Nein, keine Güterwagen, die Sitze sind gepolstert, gute 2. Klasse mit WC und Lüftung.

«Los, los!»
Selbst Kannengießer beeilt sich, schiebt seinen großen Koffer ins Wageninnere. Ich weiß nicht, wo Linke blieb, er ist plötzlich verschwunden, hat wohl seinen Auftrag erfüllt. Andere übernehmen seine Funktion. Wir setzen uns auf freie Platze und werden gefragt, woher wir kommen, sagen es, hören andere Orte: Leipzig, Werdau, Crimmitschau, Fürstenwalde.
«Und wohin?»
«Alle nach Johanngeorgenstadt ins Ausbildungslager der Grenztruppen.»
«Berüchtigtes Schleiferlager», sagt einer am Fenster, «weiß ich von meinem Bruder, der war schon dabei. Schöne Scheiße.»
Draußen Geschrei, laut, bellend, wie ein verunglücktes Lachen. Der Zug fährt an, die Uniformierten kommen durch die Wagen, stoßen die Zwischentüren auf, sehen sich um.
«Kein Alkohol. Ist das klar? Ob das klar ist?»

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Sie warten, bis jemand «ja» sagt.

Etwas findet statt, etwas geht breitbeinig und waffenklirrend durch diesen vollbesetzten Personenzug, etwas hat Spaß daran und unterscheidet sich von den üblichen Ausweis- und Fahrkartenkontrolleuren. Etwas Angeberisches, Halbstarkes stolziert da durch den Mittelgang der Wagen. Diese jungen Männer mit ihren Stiefeln und Armbinden, die MPi locker über der Schulter, nur einige Gesichter sehen älter aus, beanspruchen die Macht. Es kommt nicht mehr auf irgendeinen gültigen Fahrausweis an, den man hat oder nicht hat, bei dessen Fehlen man sich in der Toilette versteckt, Strafe bezahlt, weiterfährt oder an der nächsten Haltestelle aussteigt.
An der nächsten Haltestelle wird keiner von uns aussteigen. Vielleicht werden welche zusteigen und fragen, wohin diese Reise geht. Dann wird der am Fenster sagen, was er von seinem Bruder weiß. Die Zwischentüren werden sich öffnen, und einer mit Maschinenpistole wird fragen, «ob das klar ist». Und er wird warten, bis eine Antwort kommt. Und sie wird kommen, wird nicht lange auf sich warten lassen. Einer wird «ja» sagen und dann auf den Fußboden sehen. Er wird sich schnell eine Zigarette anzünden und etwas Spaßig-Belangloses vom Stapel lassen, weil ja fast nichts geschehen ist, fast gar nichts von Bedeutung.

 

Ich hocke auf meinem Platz, der Reisekoffer über mir, höre zu, was andere sagen, sehe aus dem Fenster. Es geht hinauf ins Erzgebirge. Kannengießer sitzt zwei Bänke weiter. Ich will rauchen, es ist ein Raucherabteil, da kann ich sicher sein, überall sind Aschenbecher angebracht. Ich will rauchen und zögere, weil ich nicht weiß, ob es erlaubt ist. Ob sie es erlauben, ob ich darf. Erst als ich schräg gegenüber einen mit Pfeife entdecke, zünde ich mir eine Zigarette an. Ich tue selbstverständlich, als habe es dieses kurze, bedeutsame Zögern, das alles sagte über mich und die Situation, in der wir uns befinden, nicht gegeben.

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«Schneeberg» steht auf dem Schild am Stellwerk. Kannengießer kommt, beugt sich vor und sagt leise:
«Jetzt weiß ich, was <GR 10> heißt: Grenzregiment 10. Wir kommen an die Grenze.»
«An die tschechische, polnische?» frage ich.
«Westgrenze», flüstert er vergnügt, aus irgendeinem Grunde vergnügt, «stell dir vor, stell dir das vor.»
Ich verstehe ihn nicht und sage:
«Na und, war doch fast anzunehmen.»
«Ja, schon, aber jetzt weiß ich es genau», sagt er und geht zurück an seinen Platz, als habe er das ganz große Los gezogen, als sei jetzt alles klar. Ich bin eher bedrückt, sehe Fernsehbilder, Hundelaufgräben, Signalzäune und Postentürme ... Ich kann nichts tun, vielleicht stimmt es gar nicht, so schlimm wird es nicht werden, woher will der das so genau wissen ... ein ganzes Geschwader von Beschwichtigungen ist parat. Ich trenne ab von mir, kenne mich auf diesem Gebiet gut aus.

Oberschlema, Aue.

«Du darfst nicht töten», schrieb die andere Großmutter im letzten Brief in ihrer großen Kinderschrift auf liniertes Papier: «Auch wenn du zur Armee gehen mußt, lieber Jürgen, du darfst nicht töten.» Die Bauersfrau aus Oberschlema hörte nicht auf, erzgebirgisch zu sprechen, als sie ihrem Mann nach Thüringen folgte. Sie band ihr Kopftuch um und hackte den Garten, unermüdlich, als wäre sie auf dem Feld. Es konnte regnen oder heiß sein. «Geh baden, ich bin gleich fertig», sagte sie. Ich mußte ihr nicht helfen, nur, wenn ich wollte. In den Sommerferien wohnte ich bei ihr. Auch ihr Vorname gefiel mir: Olga. Sie arbeitete stundenweise in einer Gärtnerei und ging ab und zu auf die umliegenden Dörfer, half bei der Ernte.

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«Hitler, dieser österreichische Sauhund», sagte sie, «ich habe aufgeatmet, als die Amerikaner nach Gotha kamen. Sonst hätten sie mich noch gemeldet, stur und verbohrt, wie sie waren, dein Großvater und die anderen, die bis Mai 45 an den Endsieg glaubten. Mich haben sie ausgeschimpft, haben mir gedroht. In der eigenen Familie passierte das», sagte sie. «Von wegen deutsche Abfangjäger, das waren die Engländer, große Geschwader. Ich habe bei den Bauern viel erfahren, die hörten Radio London und wußten genau Bescheid.» Jeden Abend las sie in ihrer Bibel, allein, ohne sich überlegen zu fühlen. Ich mußte nicht mit zur Kirche und durfte bis zum Dunkelwerden auf der Straße bleiben. Sie erzählte oft «von früher», am Ende ihrer Geschichten seufzte sie und sagte: «Jeder muß seinen Weg finden.» Sie agitierte nicht, ging mit mir Pilze suchen im Thüringer Wald. Pilze suchen und Eis essen, «aber nicht in die feinen Cafes. Wer fühlt sich da wohl? Ich nicht.» Sie ließ locker, hatte Verbindung mit einem guten Gott und backte zweimal in der Woche Kuchen, große Bleche, Johannisbeer, Kirsch und Quark.

 

In Aue steigt eine größere Gruppe zu. Zwei von ihnen finden Plätze in meiner Nähe. Einen aus Schwerin höre ich vorwurfsvoll sagen:
«So nahe an zu Hause, das gibt's doch nicht. Bevor ich ankomme, ist der halbe Urlaub weg.»

Einer von ihnen entgegnet:
«In der Heimat und kein freier Mann, das wünsche ich keinem.» Er fügt hinzu: «
Wer weiß, wohin wir versetzt werden.» Dann zieht er den Kopf ein, sieht sich lächelnd und unsicher um: «Hoffentlich habe ich jetzt nicht zuviel gesagt.»

37


Ein Berliner tippt an die Stirn: «Mach dich bloß nicht verrückt. Mir verbietet keiner den Mund. Wenn hier welche «auf Zeit» dabei sind, dann sollen sie ruhig zuhören. Bald kriechen wir alle im Gelände rum, ohne Unterschied. Nach der Grundausbildung können sie Befehle geben.»

Der Schweriner fragt nach:
«Was, hier sind auch Längerdienende mit drin? Wirklich?»
«Klar, weißt du nicht? Da gibt es auch eine Unteroffiziersschule. Da werden sie ausgebildet. Schleifen und so weiter.» Der Berliner hebt die Stimme:
«Sind hier welche dabei, ich meine zukünftige?»
Der aus Aue, der vorhin von der «Heimat» sprach, wird rot und zeigt auf sich. Wir starren ihn an. Nach einer Weile fragt der Berliner:
«Du? Warum denn das?»
Der aus Aue zuckt mit den Schultern, fällt in sich zusammen, richtet sich wieder auf:
«Da darfst du mich nicht fragen. Ich hab halt unterschrieben.
Als ich hörte, was man da nach einem halben Jahr verdient, da habe ich halt unterschrieben. Das ist bares Geld. Das kann ich sparen. Mehr verdiene ich im Betrieb auch nicht. Dafür eben die doppelte Zeit, na ja, die doppelte Zeit. Frag mich nicht...»

Die Zwischentür klappt, die Streife schlendert durch den Wagen, stellt diesmal keine Fragen. Der andere aus Aue sagt plötzlich:
«Also, ich finde, wenn sich jemand verpflichtet hat, soll er auch dazu stehen. Das ist jedenfalls meine Meinung.»
Der so Angesprochene nickt mehrfach mit dem Kopf, zuckt mit den Schultern, fällt in sich zusammen, richtet sich wieder auf:
«Das meine ich auch. Ich wollte bloß sagen, daß ich länger diene, weil gefragt wurde. Weil gefragt wurde, wollte ich es bloß sagen. Mehr nicht.»

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Der Berliner sieht beide an und nimmt sich einen Apfel.
«So so», sagt er, «so so.» Mit lauten Kaugeräuschen ißt er den Apfel.

Je länger die Fahrt dauert, je steiler die Berge werden, die man draußen sieht, desto weniger wird gesprochen. Eine nervöse Gespanntheit erfaßt uns. Jeder sitzt für sich allein, wenn auch dicht bei den anderen. Auch der Berliner hat zu reden aufgehört. Das Kommende, das keiner kennt, nähert sich ... man sieht aus dem Fenster, raucht, blättert hastig in Zeitungen und Zeitschriften, legt sie weg, nimmt sie wieder zur Hand. Die Streife kann jeden Augenblick kommen, der Vorgesetzte, der Direktor...

«Noch ein paar Minuten», sagt der aus Aue, der sich länger verpflichtet hat.

Es ist still geworden. Die Schienenschläge sind gut hörbar. Sie beruhigen nicht. Jeder von uns könnte immerzu nur über das eine sprechen: Über diese inszenierte Annäherung an einen bedrohlichen Ort und eine gefürchtete Zeit. Andere Züge sind in diesen Stunden unterwegs in andere «Ausbildungslager» und Kasernen. Tage vorher hatte ich auf dem Bahnhof Entlassene getroffen, «Heimgänger», «EKs», «Entlassungskandidaten», die, weit aus den Fenstern und Türen der Züge gelehnt, ihre Heimatorte ausriefen als Wichtigstes auf Erden. Ihre Heimatorte und die verbliebenen, genau abgezählten Armeetage: «Null.» Das war ein Schrei, glücklich, erwartungsvoll, trunken. Anders als das laute, blökende «Hurra, hurra, hurra» in Reih und Glied, das ich von Paraden und Aufmärschen kannte. 

39/40

«Null» oder «Heimgang», ein Schrei aus der Seele, gurgelnd und dumpf brach er ab, als die Streife auftauchte ... Ob er in Köln und Kiew auch zu hören ist? Vielleicht ist er überall zu hören, wo welche zur Armee gezogen und nach Monaten oder Jahren wieder entlassen werden. «Null» ...

Wenn ich doch erst so etwas schreien könnte ...

Sie lehnten sich aus den Zugfenstern und verabschiedeten Aussteigende mit Trillerpfeifen und lauten Bemerkungen. Jeder, der zufällig vorbeikam, mußte es doch wissen: Sie hatten es überstanden, es war vorbei. Also erklärten sie nichts, sprachen in den vertrauten Andeutungen, machten Witze, lachten. Das kannte ich von meinem Schwager, der im Frühjahr entlassen worden war. Die wenigsten, die es nicht selbst erlebt hatten, begriffen, worum es ging. Es mußte ja auch geschwiegen werden über «militärische Geheimnisse», man war belehrt worden...

So sah ich die Entlassenen am Bahnhof einige Tage vor meiner Einberufung. Einige Frauen schüttelten die Köpfe, lachten, sagten «Verrückte» und gingen achselzuckend weiter. Ich zog den Kopf ein. Andere werden sich gefragt haben: «Wann bin ich dran, wann werde ich gezogen?» In meiner Klasse gab es welche, die uns beneideten: «Euch holen sie gleich nach dem Abi, und was ist mit uns? Wir können warten und bibbern ...»

So sehr ich mir wünschte, schon zu den Heimgängern zu gehören, als ich sie sah, taten sie mir leid: So laut sie auch riefen, so sehr ihre Augen auch leuchteten: Sie waren allein, umgeben von Neugier und etwas Mitleid, auch von Furcht und Scheu, von Gleichgültigkeit und stummer, weggeschobener Angst. Ihre Rufe wurden auch geduldet, weil sie dazugehörten, weil sie sich nicht offen empörten, weil sie abbrachen, wenn die Streife um die Ecke bog. Sie waren allein, wie wir im Sonderzug 2. Klasse auf den letzten Kilometern vor dem Luftkurort Johanngeorgenstadt. Wie wir, die es noch vor sich haben.

Wie ruhig, wie routiniert und teilnahmslos dieser Krankenwärter vor seinem Häuschen steht und die Fahne hebt. Wie freundlich und ahnungslos die kleinen Mädchen da an ihren Fahrrädern lehnen und warten, bis der Weg wieder frei ist. Wie qualvoll alltäglich das alles ist. Niemand steht Spalier, kein Signal versagt, kein Wagen entgleist, wenn ich in ein Lager gefahren werde.

Darf ich Lager sagen, wenn es Lager heißt, «Ausbildungslager»?

40-41

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