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 2.3 Wie sich Kunst verwirklicht  

 

 

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Die Kunst, sagten wir, sei die eigentliche Sprache der Menschheit, weil sie Welterfahrung als Erlebnis vermittle. Und wir zitierten in diesem Zusammenhang den Aphorismus von Nietzsche: »Das Leben ist wert, gelebt zu werden, sagt die Kunst. Das Leben ist wert, erkannt zu werden, sagt die Wissenschaft.«

De facto liefern diese zwei lakonischen Sätze eine entschiedenere Standortbestimmung der Kunst als mancher dickleibige Wälzer zum Thema Ästhetik, der sich, anstatt zum Wesentlichen vorzudringen, im Für und Wider erschöpft. 

Ohne Umschweife behauptet nämlich der Philosoph, daß Kunst im Dienst des Lebens selbst stehe, die Wissenschaft hingegen das Leben zergliedere, indem sie es vornehmlich dem reflektierenden und analysierenden Bewußtsein ausliefere. Genau umgekehrt hatte Hegel argumentiert, als er die Kunst als etwas »Vergangenes« charakterisierte, dem der objektiv erkennende Geist überlegen sei. Er nämlich stifte, so meinte er, eine höhere Wirklichkeit als die von der sinnlichen Natur repräsentierte, weil er das Sein an sich übernatürlich-objektiv offenbare.

Unter dem spirituellen Signum menschlicher Fortschrittsvorstellungen hatte Hegel zweifellos recht. Denn Kunst ist alles andere als fortschrittlich. Obwohl sie in ihren formalen Mitteln und in der Wahl der Themen an den Wandlungen des Zeitgeistes teilnimmt, beharrt sie doch in ihrem wesentlichen Kern auf ihrer unermüdlich verlautbarten Aussage, daß »das Leben wert sei, gelebt zu werden«. Gerade diese Beharrlichkeit bedingt nicht nur die Faszination, die Kunstwerke hervorrufen, sondern sie garantiert auch deren Zeitlosigkeit. 

Entgegen vordergründiger Meinung sind es nämlich nicht primär die aus der Zeit geschöpften Themen, die das Interesse der Nachlebenden gleichsam antiquarisch-historisch fesseln, sondern es ist die Betroffenheit auslösende Schicksalhaftigkeit der menschlichen Existenz schlechthin, die aus diesen Themen zeitgeist-unabhängig spricht - und die ergreift. Ob diese Betroffenheit mit psychologisch-realistischen oder expressionistischen Stilmitteln erreicht oder ob ihr Exempel an Bettlern oder Königen, an einer Landschaft oder einer biblischen Szene statuiert wird, ist dabei zweitrangig. Die interessantesten Themen verblassen und die raffiniertesten Stilmittel bleiben wirkungslos, wenn ein künstlerischer Schwächling ihnen nicht Leben einzuhauchen, sie nicht mit Leben aufzuladen und ihnen Spannung zu verleihen vermag. »Der Gang der Sätze zeigt«, schreibt Nietzsche, »ob der Autor ermüdet ist.«

Als thematische Fakten jedenfalls könnten die primitiven Familienverhältnisse der Atriden oder die Streitigkeiten der Capu-lets und Montagues allenfalls unsere archivarische Anteilnahme erwecken; auch Tizians Karl V. oder das zerknitterte Greisenantlitz Rembrandts wären ergriffener Aufmerksamkeit ebenso wenig sicher wie jene Noten, die Mozart zur musikalischen Verzierung der Haffnerschen Hochzeitstafel aufzeichnete. Insofern wird die ausschließlich soziologische Deutung der Kunst, so interessant sie den künstlerischen Schaffensprozeß in Korrespondenz mit der Zeit und deren gesellschaftlichen Verhältnissen thematisch und formal auch aufschlüsseln mag, nur unzulänglich gerecht - was heißt, daß sie ihm eigentlich nicht gerecht wird.

Indem wir sagen, die Kunst sei im Gegensatz zur Wissenschaft in ihrem Wesenskern nicht »fortschrittlich«, sie nehme an den Wandlungen des Zeitgeistes nur durch Variation und Anpassung ihrer Ausdrucksmittel teil, im Grunde aber beharre sie auf ihrem Grundthema, nämlich der Apologie des Lebens -indem wir dies sagen, sprechen wir zugleich auch die Vermutung aus, daß die künstlerisch-schöpferischen Bekundungen des Menschen wahrscheinlich einem anderen Antrieb gehorchen als die wissenschaftlichen. Die Ästhetik gibt schon durch die Eigenart ihres Namens einen entsprechenden Hinweis.

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»Aisthesis« faßt im Griechischen das zusammen, was wir Gefühl, Wahrnehmung, Empfindung nennen. Der Begriff betont die Wahrnehmung der Welt durch die Sinne. Diese Sinneswahrnehmung ist primär, und sie funktioniert gen-programmiert. Ohne sie kann auch geistige Reflexion nicht tätig werden. Das heißt: der Ablauf des kognitiven Prozesses und die auf ihm beruhende Gestaltwahrnehmung ist dem Menschen als Erbgut auf seinen Entwicklungsweg mitgegeben worden. Selbst dem intelligentesten Menschen würde es nie gelingen, ohne Sinneseindruck und nur gestützt auf sein erkennendes Denken die Wirklichkeit seiner Umwelt, in der er sich zurechtfinden muß, wahrzunehmen, geschweige denn zu erkennen und zu beurteilen.

Trifft der Blick eines Menschen auf ein Objekt - auf ein Pferd z. B. - und erregt dieses Objekt seine Aufmerksamkeit, so erfaßt er es spontan als Ganzes, als festumrissene und subjektiv empfundene realistische Gestalt. Die ihm angeborenen kognitiven Mechanismen lassen ihm keine andere Wahl. Die Wirklichkeit ist so (wir werden darüber später noch von Lorenz Näheres erfahren), wie der Mensch sie tatsächlich sieht. Und indem er sie sieht und erkennt, erfühlt er sie auch und mißt ihr einen Wert bei - wobei zunächst dahingestellt bleiben mag, was, je nach der Erlebnissituation, dieser Wert signalisiert.

Diese spontane Gestaltwahrnehmung wird auch dadurch nicht außer Kraft gesetzt, daß der menschliche Wissensspeicher zu der ganzheitlichen Erfassung des Eindrucks »Pferd« noch eine Fülle von zusätzlichen Informationen aus seinem Wissensspeicher zu assoziieren vermag, die das Urteil über die wahrgenommene Gestalt differenzieren. Eigentümlichkeiten des Körperbaues, rassische Merkmale, Visionen von Schlachtgetümmel, von Schlachthof oder Westernfilm-Erinnerungen können, um nur ein paar durcheinandergewürfelte Beispiele zu nennen, die primäre Wahrnehmung ergänzen, moderieren, einschränken, steigern oder gar verwirren. Nur eines können diese Zusatzinformationen der - nach Kant - kritischen Vernunft nicht: Sie können den Grundeindruck nicht ersetzen. Er ist, nehmen wir den Begriff beim Wort: Voraus-Setzung.

Wenn nun freilich die Überfülle der erworbenen und denkerisch miteinander verknüpften, sich nicht nur an dem Wahrgenommenen, also an den Objekten, sondern auch an sich selbst orientierenden Informationen den primären Sinneseindruck überwuchert, entstehen notgedrungen Verwirrung und Unsicherheit, die hinwiederum zu Fehlschlüssen und Irrtümern verleiten. 

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Unverwirrt irrt das Gefühl nie; der Geist aber irrt oft, gerade weil ihm so viele Möglichkeiten gedanklicher Verknüpfungen und Assoziationen zu Gebote stehen. Indem er irrt, verstellt er zugleich aber auch willkürlich den spontanen Zugang zur Wirklichkeit. Das, was man den gesunden Menschenverstand nennt, wird getrübt.

Was man dem Gefühl attestieren kann, nämlich daß es, wo es rein sich zu entfalten vermag, nie irre, das läßt sich auch von der Kunst behaupten. Kunst, wo sie überzeitliche Spontaneität erreicht, irrt nicht und lügt nicht. Sie ist wahr.

Wo sie diese Wahrheit, nämlich das als wahr Erkannte und für wahr Genommene, überzeugend zum Ausdruck bringt, »versinnbildlicht« sie, wörtlich genommen, das Schicksal der Spezies.

Aber ist die Kunst, weil sie wahr ist, deshalb auch gut und ist sie deshalb auch schön?

Das Schicksal des Ödipus ist ebensowenig schön wie die Leiden des alten König Lear schön sind. Die Taten des Mörders Macbeth oder die Realistik des Isenheimer Altars, der Anblick des von Pfeilen durchbohrten Sebastian oder das Elend Woyzecks, der von Schwären übersäte Arme Heinrich oder die musikalisch aufgeheizte Liebestragödie von Tristan und Isolde, die melancholische Resignation im Antlitz Karls V. in Tizians Bildnis oder die Physiognomie des heruntergekommenen Rem-brandt - dies alles und mehr aus dem Arsenal künstlerischer Überlieferung: Ist es schön, ist es gut? Nun beides ist es wohl kaum. Aber wahr ist es. Wobei allerdings merkwürdig erscheinen mag, daß die Dichtungen, Malereien, Skulpturen und Notationen, die hier als »wahr« apostrophiert werden, mit den Tatsachen der Wirklichkeit ziemlich frei umspringen oder über-laupt reine Erfindung sind. Dennoch gelten selbst Phantasiebilder wie die Dämonen des Hieronymus Bosch oder die Walpurgisnacht in Goethes >Faust< sowie die jenseits aller Realität angesiedelten Bilder Chagalls als künstlerisch »wahr«, obwohl doch jede rationale Erfahrung gegen deren Tatsachen-Aussage zu sprechen scheint. Wenn Mörike dichtet:

»Hier lieg ich auf dem Frühlingshügel: 
Die Wolke wird mein Flügel, 
Ein Vogel fliegt mir voraus. 
Ach, sag mir, all-einzige Liebe,
Wo du bleibst, daß ich bei dir bliebe!
Doch du und die Lüfte, ihr habt kein Haus...«

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Wenn Mörike dies dichtet, warum sollen diese Worte mehr wert, warum sollen sie wahrer sein als ein Wetterbericht von irgendeinem Maientag irgendeines Jahres im 19. Jahrhundert, zumal das, was hier gesagt wird, doch, bei vernünftigem Lichte besehen, wie unwirklicher Humbug anmutet?

Empfinden wir nun, falls wir für solche Aussagen überhaupt empfänglich sind, ein solches Gedicht deshalb als wahr, weil es formal schön ist - weil Versbau, Wortwahl und rhythmische Schwingung uns betören? Oder halten wir umgekehrt ein solches Gedicht für schön, weil es, indem es in uns verwandte Saiten anschlägt, das Gefühl der Übereinstimmung auslöst? Oder machen wir uns gar etwas vor, indem wir behaupten, diese Zeilen seien mehr als nur eine Anhäufung von raffiniert angeordneten Wortsignalen?

Das sind Fragen über Fragen. Mit Piatons Idee des Schönen kommen wir der Antwort auf sie ebenso wenig näher wie mit der aristotelischen Vorstellung, Kunst entwerfe Bilder dessen, was sein könnte oder sein sollte. Denn nach allem, was wir bisher gehört haben, scheint die Kunst weder einer Idee zu huldigen noch ein Wunschbild des Wahren, Guten und Schönen in die Gesellschaft zu projizieren, sondern sie exemplifiziert die Realität des menschlichen Daseins im Angesicht der Ewigkeit; das heißt: sie sagt, was Leben ist, jedoch nicht in jenem albern-oberflächlichen Sinn, mit dem Objekt-Kunst zum Beispiel die Wirklichkeit auf die Müllhaufen-Ebene zu reduzieren trachtet.

Will man sich über Kunst und deren Kriterien verständigen, muß man sich zunächst einmal auf einen Ausgangspunkt einigen. Ernesto Grassi zitiert in dem bereits ausführlich erwähnten Werk über die >Theorie des Schönen in der Antike< den italienischen Kunsthistoriker L. Venturi, der 1918 schrieb: »Die Geschichte der Kunst bedarf eines klaren Bewußtseins vom Wesen der Kunst .. ., um unterscheiden zu können, ob ein Bild oder eine Skulptur Bildwerke - oder rationale, ökonomische, moralische Werke sind.«

Was hier über das grundsätzliche Kriterium der bildenden Kunst gesagt wird, gilt gleichermaßen auch für die anderen Künste. Demnach verbürgt die Verwendung künstlerischer Mittel zu einem tendenziösen, also zeitbezogenen und damit

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auch zeitvergänglichen Zweck nicht den überzeitlichen Bestand und die überzeitliche Verbindlichkeit eines Kunstwerks, mögen die artistischen Mittel auch noch so virtuos eingesetzt werden und mögen die tendenziösen Absichten zunächst auch noch so mitreißend erscheinen, weil sie den zeitgeistigen Nerv treffen. Wo Tendenz in Kunst umschlägt, ist sie bereits keine Tendenz mehr; sie verwandelt sich ins Zeitlose.

Beispiele für solche Verwandlungen bietet die Geschichte aller Kunstgattungen übergenug; man denke nur, um ein paar Stichworte zu nennen, an Schillers >Räuber<, an Büchners >Woyzeck<, an Hauptmanns > Weben, an Brechts <Mutter Courage> oder an Hemingways <Wem die Stunde schlägt> - aber auch an Beethovens napoleonbegeisterte >Eroica< oder an den bildnerischen Tribut, den Maler wie Hans Holbein d.J. oder Velazquez den Herrschern ihrer Epoche zollten. Wie schmal der Grat zwischen Tendenz und Kunst ist, demonstrierte der größte Dramatiker deutscher Sprache, nämlich Heinrich von Kleist. Die patriotische >Hermannschlacht< verblaßt neben dem >Prinzen von Homburg< zu einem Kunst-Schemen, obwohl die für die >Hermannschlacht< eingesetzten sprachlichen Mittel kaum weniger eindrucksvoll anmuten als die Sprache des >Prinzen von Homburg<.

In einem bereits angesprochenen Bereich allerdings stellt sich das Tendenzproblem nicht, obwohl auch hier, vordergründig betrachtet, Tendenzen vertreten werden: im Bereich der Religion. In deren Dienst veranschaulicht die Kunst gleichsam metaphysische Offenbarungen, indem sie diese in Wort, Bild oder Ton versinnbildlicht, das heißt: indem sie diese an sich nicht sinnlich begreifbaren Botschaften greifbar macht. Und indem sie dies tut, verschränkt sie Jenseits und Diesseits zur sinnlichirdisch erfahr- und erlebbaren Wirklichkeit. Dabei bleibt die Kunst ihrem eigenen Wesen nicht nur treu, sondern im Bündnis mit der Religion erfüllt sich dieses Wesen sogar auf besondere Weise. Nichts anderes nämlich als die Kunst verkündet auch die Religion, die Aufhebung irdischer Zeitlichkeit im Erlebnis des Ewigen.

Das klingt pathetisch; aber dieser Eindruck täuscht. Denn in der Tat bedrückt das Bewußtsein der unerbittlich fortschreitenden Zeit und damit auch das Bewußtsein der Vergänglichkeit individuellen Lebens den aus dem Paradies verstoßenen Menschen am meisten. Nichts vergällt ihm die Lebensfreude an seinen Erdentagen mehr als der Gedanke an den Tod. 

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Und je entschiedener ihn dieser Gedanke beherrscht, desto energischer trachtet er danach, ihn zu verdrängen. Das Bekenntnis zum materiellen Fortschritt erweist sich, aus diesem Blickwinkel überprüft, als der gigantische Versuch des homo sapiens, die simple Wahrheit zu vertuschen, daß der Mensch durch das, was er für Fortschritt hält, der Zeit kein Schnippchen schlagen kann, sondern daß er in den ewigen Prozeß von Werden und Vergehen eingebettet bleibt. Dies ist auch die Quintessenz jener Menschheitsparabel vom Doktor Faust, die Goethe als anthropologisches Vermächtnis der Nachwelt hinterließ und deren Grundthema bereits im vorsokratischen Zeitalter der antiken Philosophie angeschlagen worden war. Heraklit sagt: »Nachdem die Menschen geboren sind, nehmen sie es auf sich, zu leben und den Tod zu erleiden. Sie ziehen vor, (im Tode) auszuruhen und Kinder zu hinterlassen, die (auch wieder) dem Tode geweiht sind.« Dagegen, so heißt es an anderer Stelle bei Heraklit, helfe auch Anhäufung von Wissen wenig. Denn: »Vielwis-serei führt nicht zu wahrem Verstehen. Sonst hätte sie den He-siod klug gemacht und den Pythagoras und Xenophanes und Hekataios.«

Was aber meint Heraklit nun, wenn er das »wahre Verstehen« gegen die »Vielwisserei« - und das heißt doch wohl: gegen die nur wissenschaftlich-rationale Erkenntnis der Welt und den damit aufgerufenen Zweifel an der Wirklichkeit - ins philosophische Spiel bringt? Zwei knappe Fragmente sind überliefert, die darauf eine Antwort geben. Das erste Fragment lautet: »Im Sich-Widerstrebenden: Vereinigung. Aus Sich-Unterschei-dendem: Die schönste Harmonie.« Und das zweite Fragment besagt: »Verbindungen: Ganzes und Nicht-Ganzes, Zusammenstrebendes und Auseinanderstrebendes, Disharmonisches und Harmonisches - aus Allem Eines und Einem Alles.«

Man hat Heraklit gelegentlich den »Dunklen« genannt, weil die spärlichen Bruchstücke seines verlorengegangenen philosophischen Werkes eher pythischen Weissagungen zu ähneln als den Gesetzen logischer Beweisführung zu gehorchen scheinen. Aber so dunkel, wie mancher meinen mag, sind sie durchaus nicht. Im Gegenteil: sie sprechen mit schier divinatorischer Klarheit aus, was auch die Kunst ausdrückt, nämlich: In der scheinbaren Disharmonie der uns erscheinenden Welt können wir der unvergänglichen Einheit des Kosmos selbst innewerden und aus dieser Er-Innerung Vertrauen zur eigenen Existenz gewinnen. Oder theologisch formuliert: aus der Offenbarung des Ewigen kann der Mensch Trost schöpfen.

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Denn Disharmonie als Erlebnis des Widerstreites im Reich des Lebendigen ist, nach Heraklit, durchaus kein Beweis für die »kaputte« Welt und damit für eine, vom menschlichen Standpunkt her gesehen, miese Schöpfung, sondern sie bekundet das Urgesetz der Polarität, das den Pulsschlag des Kosmos ebenso bedingt wie den Körperrhythmus des Regenwurms, und das selbst noch den Zusammenhalt der anorganischen Substanzen verbürgt.

Aber damit nicht genug. Dieses Gesetz verbürgt auch, daß das absolute Gleichgewicht zwischen Energie und Materie im »Werdeprozeß«, wie Heraklit sagt, aufrecht erhalten wird, was bedeutet, daß kosmisch keine Vernichtung, kein Tod, sondern nur Verwandlung sich ereignet.

Nichts anderes als die beseligende Gewißheit dieser Geborgenheit im Ewigen bekennen die berühmten Schlußsätze von Hölderlins Briefroman <Hyperion>: »Wie der Zwist der Liebenden sind die Dissonanzen der Welt. Versöhnung ist mitten im Streit, und alles Getrennte findet sich wieder. Es scheiden und kehren im Herzen die Adern und einiges, ewiges glühendes Leben ist alles.«

Wissenschaftlich nüchtern hat diesen poetisch vorgebrachten Sachverhalt wenige Jahrzehnte später Julius Robert Mayer unwiderlegbar bekräftigt, als er das Gesetz von der Erhaltung der Energie entdeckte und physikalisch-chemisch formulierte.

Unbestreitbar ist und bleibt der Mensch, trotz seines gewaltigen Erkenntnis-Arsenals und der dadurch verbürgten Freiheit gedanklicher Kombinationen und Verknüpfungen, und auch trotz der daraus entspringenden Fähigkeiten der Einsicht und Voraussicht, des kritischen Urteilens und des abstrakten Kalküls - unbestreitbar bleibt und ist der Mensch leibseelisch ein Naturwesen, und zwar unbeschadet der Tatsache, daß dieses Naturwesen nur noch technisch-kulturell existieren kann. In wesentlichen Bereichen seines Daseins verkörpert der homo sapiens nach wie vor den uralten Adam aus der Zeit vor der Vertreibung aus dem Paradies. Und es erscheint vielleicht gar nicht so abwegig, die wirklichkeitsbezogenen Wertempfindungen und Reaktionen, die jenem vererbten organismischen Urgepäck entstammen, als »seelische Regungen« zu bezeichnen. Sind es doch diese Regungen, die den Menschen unmittelbar in den Werdeprozeß des Lebens einbeziehen, oder genauer gesagt: die ihn empfinden lassen, daß er selbst als Teil dieses Werdeprozesses individuell in Erscheinung tritt.

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Dies auszusprechen ist kein Sakrileg. Weder die Einmaligkeit der Spezies Mensch wird dadurch geleugnet, noch werden die geistigen Fähigkeiten des homo sapiens unterbewertet oder gar verteufelt. Denn nicht zuletzt legt gerade die Kunst Zeugnis dafür ab, wessen der Mensch fähig ist, wenn er der Sprache der Seele vertraut und zugleich die erkennende und formende Kraft seines Geistes einsetzt. Insofern artikuliert Kunst mehr als nur dumpf raunende Emotion. Im Gegenteil: Indem sie Erlebtes durch die Form auf seinen wesentlichen Gehalt beschränkt, erzeugt sie ein geistig-seelisches Spannungsfeld, das durch seine Intensität stimulierende Wirkung auf die menschlichen Individuen auszuüben vermag. Es stellt sich als Reaktion jenes Gefühl der erlebnissteigernden Ergriffenheit ein, von dem bereits die Rede war.

Das Historische, schreibt Ludwig Tieck, »ist leicht mitzuteilen. Dies aber ist nicht die Wissenschaft von der Poesie, sondern alles, was in der Poesie da ist, und alles, was über diese Fakta gesagt werden kann, sind nur fragmentarische Belege dazu. Einsicht in die Poesie ist die Einsicht in alle Kräfte der Welt, in Natur und Geschichte, die psychologia vera.«

Wie aber verwirklicht sich nun diese psychologia vera, wie tritt sie in Erscheinung, und wodurch wird sie herausgefordert? Denn sie muß ja wohl, da es sie von altersher gibt und da die Menschen ihrer, trotz Hegels Nekrolog und trotz der Bilderstürmer unserer Jahrzehnte, noch immer nicht entraten möchten - sie muß ja wohl einem tieferen menschlichen Bedürfnis entspringen als nur dem Verlangen nach schönem Schein und stimulierendem Zeitvertreib.

Erinnern wir uns in diesem Zusammenhang an Otto Koehlers Versuch mit der Maus im Labyrinth (siehe >Adam malte abstrakte) und an den Begriff »unbenanntes Denken« als Merkzeichen für das »denkerische Vermögen« von Tieren, so dürfte unschwer erkennbar werden, daß uns nicht nur Welten von unseren tierischen Verwandten trennen, sondern daß uns auch Welten mit ihnen verbinden.

Obwohl wir uns nämlich inzwischen fast ausschließlich der benennenden Sprache zu bedienen scheinen und unsere Daseinserkenntnis in Begriffe und Formeln verschlüsseln, können wir auch heute des unbenannten Denkens nicht entraten, weil dieses unbenannte, vorsprachliche Denken unseres Fleisches Erbteil ist. Welchen Gebrauch allein die Werbe-Industrie von dieser Ur-Sprache zu machen versteht, davon vermittelt allabendlich das Fernsehen einen beklemmenden Eindruck. Aber auch jedes Verkehrsschild verweist durch seine Bildsymbole auf diesen Sachverhalt.

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Denn das unbenannte Denken, das nicht mit sprachlich fixierten und mit in Buchstaben chiffrierten Begriffen umgeht, sondern, wie Koehler sagt, seine Informationen aus der Anschauung bezieht, vollzieht sich in Bildern und ist dementsprechend auch für Bilder empfänglich. Insofern hat auch Klages sicher recht, wenn er der Seele die »Welt der Bilder« zuordnet. Unverkennbar nämlich wird die menschliche Frühzeit durch eine Bildhaftigkeit ohnegleichen geprägt. Alles Erlebte, Erfahrene, alle Wünsche und alle Freuden und Leiden, ja selbst die metaphysisch-religiösen Vorstellungen werden in Bilder gefaßt, in Bildern erzählt und in Bildern realisiert. Der Mythos ist dafür nur ein Beispiel, die bildhafte Farbigkeit der homerischen Epen ein anderes. Macht es doch nur einen graduellen, nicht aber einen prinzipiellen Unterschied aus, ob diese Bilder in Stein, in Farbe, als Töne oder in Worten beschworen werden: Wie auch immer sie Gestalt annehmen, da sie Bilder sind, fällt ein Glanz des Ursprungs auf sie, werden sie durchströmt von Leben und können erlebt werden. Selbst die billigsten Schlagerschnulzen, die sich nur noch bildhafter Versatzstücke bedienen, profitieren von diesem Ursprungs-Verlangen nach unbenanntem Denken in Bildern. Denken, schreibt Goethe in einem Beitrag zur Optik, »Denken ist interessanter als Wissen, aber nicht als Anschauen«.

Er, der Augenmensch par excellence, der im >Faust< die ganze Geschichte der Menschheit ins Anschauliche übersetzte und vergegenwärtigte, wußte (und zwar nicht zuletzt auch durch seine naturwissenschaftlichen Forschungen), wie viel mehr die Anschauung der Welt zu vermitteln vermag als jene »Vielwisse-rei«, die schon Heraklit beklagte. Welterfahrung dieser Art aber hebt die Grenzen der Zeit auf; sie macht das Vergangene gegenwärtig, weil das lebendig erfüllte Bild nichts Endliches birgt, sondern vom Strom des Lebens gespeist wird, der es durchpulst.

Am 3. November 1823 sagt Goethe zu Eckermann: »Jeder Augenblick ist Repräsentant einer ganzen Ewigkeit.« Und an anderer Stelle äußert er: »Ein Gefühl aber, das bei mir gewaltig überhand nahm und sich nicht wundersam genug äußern konnte, war die Empfindung der Vergangenheit und Gegenwart in Eins; eine Anschauung, die etwas Gespensterhaftes in die Gegenwart brachte.«

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Auch die Kunst bringt in diesem Goetheschen Sinn etwas »Gespensterhaftes« in die Gegenwart, indem sie dem Menschen in der sinnlich erregenden Bildsprache des unbenannten Denkens die Botschaft von der Dauer im Wechsel der Erscheinungen übermittelt. Ob Ödipus oder Madame Bovary, ob Stefan Dädalus oder Doktor Schiwago, ob die Chorlieder der griechischen Tragödie oder Mahlers >Lied von der Erde<, ob der Apoll von Belvedere oder die Pietä von Ignaz Günther und die im Sfumato verschwimmenden Landschaften fernöstlicher Maler, ob die Totempfähle der sogenannten Primitiven oder die Schreckensmasken Polynesiens - was diese durch Form bewältigten künstlerischen Visionen jenseits von Rassen- und Sprach-^ grenzen über die Kontinente sowie über die Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg miteinander verbindet und sie als gegenwärtig erscheinen läßt, das ist die in raumzeitlichen Vorstellungsbildern veranschaulichte, versinnbildlichte Erlebniswelt der Seele.

Wenn wir Orests Leiden innewerden oder mit Becketts Existenz-Clowns auf Godot warten, so ergreifen uns nicht die zeitgeistigen Kostüme, in denen diese Figuren auftreten, sondern es ergreifen uns die Grunderlebnisse des Leidens, der Hoffnung und der Hoffnungslosigkeit, die den Menschen zu allen Zeiten heimsuchten und die ihn auch zu allen Zeiten unbeschadet aller Heilsversprechungen heimsuchen werden. Insofern wird den Nachfahren unserer Epoche in fünfhundert oder tausend Jahren Becketts >Warten auf Godot< zum Beispiel sicher nicht minder bedeutsam erscheinen als die Atriden-Tragödien des Ai-schylos. Solche Werke erweisen sich als Gedächtnisprotokoll der Menschheit schlechthin - einer Menschheit, die nur auf die Weise der Kunst zum Augenblick sagen kann: Verweile doch, du bist so schön - weil du wahr bist.

Im Hinblick auf die raumzeitliche Aneignung solcher Grunderlebnisse schreibt Ludwig Klages, dessen Werk gerade im Hinblick auf die Forschungen von Lorenz wieder entschiedene Aufmerksamkeit verdient - hierzu schreibt Klages in der 1921 erstmals erschienenen Schrift >Vom Wesen des Bewußtseins< unter dem Stichwort »Raumzeitlichkeit des Erlebens« folgendes:

»Kein Klang kann als wirklich gedacht werden, der nicht einen Raum durchzöge und eine, wenn auch noch so kurze Zeitspanne klänge; keine Farbe, die nicht eine, sei es auch punktartig kleine, Fläche bedeckte und eine von Null verschie-

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dene Zeitfrist bestände. Nehmen wir den Raum und die Zeit hinweg, so haben wir auch schon mit hinweggenommen: Farben, Geräusche, Düfte, Geschmäcke, Temperaturen, Hartes, Weiches, Nasses und so fort. Alle sinnlichen Arteigenschaften sind also Eigenschaften von etwas Raumzeitlichem. Vermittelt uns nun das Erleben Arteigenschaften, so muß es uns auch vermittelt haben deren Raumzeitlichkeit; und kann es uns jene nur vermitteln, weil es selber artlich durch sie >gestimmt< worden ist, so diese nur durch seine eigene Teilhaberschaft am räumlichen und zeitlichen Außereinander.

Die geringste Besinnung belehrt uns ferner, daß weder der Raum noch die Zeit aus je einer Summe unteilbarer Einheiten bestehe. Wir können keine >Zeitstrecke< derart teilen, daß jeder Teil nicht wieder eine beliebig teilbare Zeitstrecke wäre; kein Raumvolumen, daß jedes Teilvolumen nicht abermals ins Unbeschränkte geteilt werden könnte. Der verschwindend kleine Raum ist von einer und derselben Natur mit dem unbeschränkt großen Raum, die verschwindend kurze Zeit von einer und derselben Natur mit der unbeschränkt langen Zeit. Innerhalb der jeweils von uns gesteckten Grenzen haben beide das Merkmal grenzenloser Stetigkeit. Folglich muß auch die Raumzeitempfänglichkeit unseres Erlebens das Merkmal grenzenloser Stetigkeit haben. - Raumzeitlichkeit, Stetigkeit und Artlichkeit sind außergeistig und demgemäß unbegreiflich.«

Die im Wortbild sich äußernde Poesie, die in Stein gemeißelte Gestalt, das auf die Leinwand gemalte Bild, die in Tönen ver-lautbarte Melodie, die tänzerische Gebärde und die schauspielerische Gestaltung menschlicher Wirklichkeit sind in diesem Sinn nichts anderes als schöpferische Erinnerung (und als Erinnerung zugleich Vergegenwärtigung) raumzeitlichen Welterlebens; diese Erinnerung sprengt die individuellen Grenzen auf, indem sie dem Menschen die Ganzheit des Lebens, die Harmonie des Ewigen erschließt. Denn der Raum und die Zeit sind ebensowenig endlich wie die Pole Energie und Materie, zwischen denen sich Leben als Werdeprozeß unablässig ereignet. Der Künstler, dem sich diese Gewißheit, ob bewußt oder unbewußt, nicht mitteilt, ist entweder gezwungen, illusionistisch zu schwindeln oder zu verzweifeln. Nur der Glaube, daß sich das Leben auch durch die schrecklichsten Verwicklungen, in die es die Individuen schicksalhaft durch die relative Freiheit ihres Willens verstrickt, nicht selbst verneint, beflügelt ihn, den »Ekelgedanken über das Dasein« (Nietzsche) durch die Manife-

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Station der Kunst zu überwinden. Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis, diese Botschaft aus dem Schlußchor des >Faust< verkündet auch die Kunst. Denn, um in diesem Zusammenhang noch einmal auf Hölderlin zu verweisen, »alles Getrennte findet sich wieder . . .«

Das Happy-End des Kintopps seligen Angedenkens ist für diese »Versöhnung mitten im Streit«, die wir im Kunstwerk (und sogar noch im Pseudokunstwerk) erleben, ein nicht minder treffendes Beispiel als die Katharsis der griechischen Tragödie oder der Schlußakkord einer Beethoven-Symphonie. Mit dem billigen Popanz der »heilen Welt«, den sich die gesellschaftskritischen Kunsttheoretiker unserer Tage als Punching-ball aufgehängt haben, um daran ihr intellektuelles Mütchen zu kühlen - mit diesem Popanz haben solche Überlegungen nicht das geringste gemein.

Artur Kutscher, der Begründer und führende Vertreter der Theaterwissenschaft, veröffentlichte, was leider wenig bekannt geworden ist, nach dem letzten Krieg eine >Stilkunde der deutschen Dichtung«, die manchen Gedankengängen, die hier vorgetragen wurden, bereits vorgreift, insbesondere im Hinblick auf die Rolle der Natur im künstlerischen Schöpfungsakt. Kutscher betonte, und er konnte sich dabei auf Herder und Goethe ebenso berufen wie auf Hippolyte Taine, auf Nietzsche oder Klages (und er würde sich heute sicher auch auf Lorenz berufen) - Kutscher betonte den, wie er sagt »energetischen« Charakter der Dichtung und der Kunst schlechthin. Dessen Merkmal sei, daß er Leben nicht abstrahiere, sondern steigere, indem er es verdichte. Das heißt: indem der Künstler kraft seiner Phantasie Vorstellungsmodelle erinnerter menschlicher Wirklichkeit schafft, konzentriert er diese Bilder auch auf ihren wesentlichen Gehalt. Weder haftet ihnen die weithin unbedeutende Langweiligkeit des Alltäglichen an, noch zehren sie von brutaler Dramatik tatsächlich erlebter Katastrophen. Durch die Form, durch den Stil gewinnen sie einen höheren, exemplarischen Rang.

Ähnlich verfährt jeder Mensch, wenn er sich erinnert. Die Erinnerungsbilder erscheinen, von den herabziehenden und beklemmenden Schlacken des Tatsächlichen gereinigt, in einem verklärenden Licht, und zwar auch dann, wenn sie Unangenehmes ins Bewußtsein zurückrufen. Wir erfreuen uns sozusagen an dem, was wir einmal erlebt haben. Diese Freude aber ist Ausdruck der Genugtuung, die Lebensbewältigung dem Indivi-

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duum schenkt. Das »Vergnügen« an tragischen Gegenständen, von dem Schiller in seinem berühmten Aufsatz über die Tragödie spricht, meint nichts anderes. Erregt aber könnte solches Vergnügen, herausgefordert könnte die Erregung durch das Kunstwerk nie werden, wenn es sich nicht als Bewegung in pulsierenden Rhythmen verwirklichen, das heißt: in Wirklichkeit umsetzen würde. Vom Farbkontrast bis zur proportionalen Spannung, von der melodischen Tonsprache bis zur Dynamik des dichterischen Wortes signalisiert das Kunstwerk jenen UrRhythmus, den schon das Ungeborene im Mutterleib spürt. Ja: indem es ihn reproduziert, verkörpert es (in des Wortes unmittelbarstem Sinn) diesen Ur-Rhythmus selbst.

Solche rhythmische Verdichtung des Ausdrucks zu einem energetisch aufgeladenen und reizvollen, nämlich mit Reizen angefüllten Vorstellungsbild wirkt wie ein sinnlicher Auslöser. Er stellt ein Lebenssignal dar. Hier kommen wir wieder auf Lorenz zurück, der sagt, daß die menschliche Wahrnehmung und die Bewahrung der aufgenommenen Informationen nur dann einen Lebenssinn gewännen, wenn dadurch dem menschlichen Organismus Energien zugeführt würden, die den Lebenszustand des Individuums bereichern, ihn in Spannung versetzen und steigern.

Aber lassen wir nun Artur Kutscher zu Wort kommen, der in seiner >Stilkunde der deutschen Dichtung< schreibt: »Gewiß wird auch der Geist, wird auch die Philosophie und sogar die Ästhetik im künstlerischen Schaffen mitwirken können . . . das ist bei den verschiedenen künstlerischen Typen, bei den verschiedenen Künsten und sogar bei den verschiedenen Kunstgattungen ganz verschieden. Aber Geist, Philosophie, Ästhetik spielen im Kunstschaffen nie die erste Geige, sie sind überhaupt nicht >schöpferisch<. Der Geist, und mag man ihn noch so hoch fassen und scharf von Vernunft und Intelligenz trennen, enthält nicht die eigentlichen kunstbildenden Kräfte. Schöpferisch ist allein die Seele. Wir können ihre Macht genau bestimmen. Sie setzt sich zusammen aus zwei Teilen, von denen wohl der erste ohne den zweiten, aber nicht der zweite ohne den ersten bestehen kann: nämlich Blick für die Dinge, Menschen, Verhältnisse, welcher die Beziehungen vermittelt, in denen sie zueinander und zu ihren inneren Bestimmungen stehen. Fähigkeit zu unmittelbarer, kernhafter Erfassung des Lebens und seiner Erscheinungen, wie sie Gott selbst gewollt hat, also Fantasieanschauung tiefster, vollkommenster Art, Intuition - und von

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dieser Kraft geweckt, erregt, gesteigert, Gestaltungstrieb, kein bloß ideenhafter, abstrakter, sondern ein auf eine ganz bestimmte Materie bezogener, auf Farbe, Stein, Ton, Holz, Metall, Sprache. Im Künstler verbindet sich Intuition mit dem Drange, neues Leben sinnlich faßbar zu machen. Die Lebendigkeit des Kunstwerks wird in jeder Materie eine andere sein und die feinsten bildnerischen Kräfte erfordern und ebenso auch die feinsten kritischen Kräfte. Hier liegen die höchsten Aufgaben der Stilkunde. Von Kunst kann erst da die Rede sein, wo Fantasie ihren Schöpfungsprozeß in einer eigenen Welt beginnt und Wesen erzeugt, deren bestimmende Kraft wir spüren.

Diese Erkenntnis geht im Grunde zurück auf den englischen Philosophen Anthony Ashley Cooper Shaftesbury (1671-1713), der gegen einen älteren aufklärerischen Empirismus den Sensualismus vertritt, die Lehre vom sinnlich genialen Schöpfergedanken. Shaftesbury fordert in seinem Dialog >The Moralist< von der Kunst organische Lebendigkeit. Für ihn ist das Kunstwerk ein verkleinertes Abbild des Lebens, der Welt, ein Mikrokosmos, Schöpfung im Kleinen, Tat des Genius, eines halbgöttlichen prometheischen Wesens. Entscheidend sind diese beiden Sätze: >Der Mann, der den Namen des Dichters wahrhaftig und im eigentlichen Verstände verdient, und der als ein wirklicher Baumeister in seiner Art Menschen und Sitten schildern und einer Handlung ihren wahren Körper, ihre richtigen Verhältnisse geben kann, ist ein zweiter Schöpfer, ein Prometheus unter einem Jupiter. Gleich dem obersten Werkmeister, oder gleich der allgemein bildenden Natur schafft er ein Ganzes, wo alles miteinander im Zusammenhange, in richtigen Verhältnissen steht, und wo sich die Bestandteile gehörig untergeordnet sind.<

Alle Forderungen, die Shaftesbury dem Künstler und dem Kunstwerke gegenüber erhebt, beruhen auf der Wesensähnlichkeit mit Gott und dem Naturleben. Er will eine organische, gleichsam biologische Gestalt.« Soweit Kutscher.

Tatsächlich kann Kunst durch die Begriffe Schön und Häßlich kaum zureichend definiert und erklärt werden, wie dies noch immer unter positiven und negativen Vorzeichen geschieht. Das Unzureichende dieser Begriffe als ästhetische Charakteristika bemerkte übrigens schon Friedrich Schiller, der, nachdem er sich lange genug mit den Kantschen Ideen herumgeschlagen hatte, am 7. Juli 1797 in einem Brief an Goethe schrieb: »Unsere allerneuesten Ästhetiken lassen sichs recht

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sauer werden, das Schöne der Griechen von allem Charakteristischen zu befreien und dieses zum Merkzeichen des Modernen zu machen. Mir däucht, daß die neuern Analytiker durch ihre Bemühungen, den Begriff des Schönen abzusondern und in einer gewissen Reinheit aufzustellen, ihn beinah ausgehöhlt und in einen leeren Schall verwandelt haben, daß man in der Entgegensetzung des Schönen gegen das Richtige und Treffende viel zu weit gegangen ist und eine Absonderung, die bloß der Philosoph macht, und die bloß von einer Seite statthaft ist, viel zu grob genommen hat. Viele, finde ich, fehlen wieder auf eine andere Art, daß sie den Begriff der Schönheit viel zu sehr auf den Inhalt der Kunstwerke als auf die Behandlung beziehen, und so müssen sie freilich verlegen sein, wenn sie den vaticani-schen Apoll und ähnliche, durch ihren Inhalt schon schöne Gestalten, mit dem Laokoon, mit einem Faun oder anderen peinlichen, ignobeln Repräsentationen unter einer Idee von Schönheit begreifen sollen. Es ist, wie Sie wissen, mit der Poesie derselbe Fall. Wie hat man sich von jeher gequält und quält sich noch, die derbe, oft niedrige und häßliche Natur im Homer und in den Tragikern bei den Begriffen durchzubringen, die man sich von dem griechischen Schönen gebildet hat. Möchte es doch einmal einer wagen, den Begriff und selbst das Wort Schönheit, an welches einmal alle jene falsche Begriffe unzertrennlich geknüpft sind, aus dem Umlauf zu bringen und, wie billig, die Wahrheit in ihrem vollständigsten Sinn an seine Stelle zu setzen.«

Indem wir uns zu diesem Satz bekennen, schließt sich zugleich der Kreis unserer Betrachtung, die einzig und allein die Absicht verfolgte, einige anthropologisch bedeutsame Aspekte der Kunst herauszuarbeiten, um damit das Kunstwerk selbst von dem Odium des Schönen und auch des Guten zu befreien, in dessen Dunstkreis es mehr als zweitausend Jahre lang ästhetischen Mißverständnissen ausgesetzt war. Was als erinnernde Vergegenwärtigung durch den schöpferischen Wiedergewinnungsakt der Wirklichkeit Kunst-Wahrheit wurde, entsinnlichte die Fiktion von der Idee des Schönen und versucht es dem abstrahierenden Geist anzubequemen. Daß sich die Kunst so lange und so entschieden gegen diesen Versuch wehrte, spricht für ihre lebendige Widerstandskraft, es spricht aber auch für den alten Adam im Menschen, der sich noch immer gegen die Vielwisserei seines Hirns zur Wehr setzt und Ausflucht sucht aus dem Kerker seines Ichs.

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Noch immer verspürt er die Macht jenes »kosmogonischen Eros«, die selbst Plato nicht leugnen wollte - eines Eros, der mächtig die Welt bewegt, indem er schafft und vernichtet, und der uns dabei noch Lust empfinden läßt, weil er vereint, was er trennt, und wieder trennt, was er vereint. Insofern könnte des jungen Nietzsche Bekenntnis zum Dionysischen in der Schrift >Die Geburt der Tragödie< vielleicht auch aller Kunstweisheit letzter Schluß sein, der besagt: »Erst aus dem dionysischen Geist der Musik heraus, verstehen wir eine Freude an der Vernichtung des Individuums. Denn an den einzelnen Beispielen einer solchen Vernichtung wird uns nur das ewige Phänomen der dionysischen Kunst deutlich gemacht, die den Willen in seiner Allmacht gleichsam hinter dem principio individuationis, das ewige Leben jenseits aller Erscheinung und trotz aller Vernichtung zum Ausdruck bringt. Die metaphysische Freude am Tragischen ist eine Übersetzung der instinktiv unbewußten dionysischen Weisheit in die Sprache des Bildes: Der Held, die höchste Willenserscheinung, wird zu unserer Lust verneint, weil er doch nur Erscheinung ist und das ewige Leben des Willens durch seine Vernichtung nicht berührt wird. Wir glauben an das ewige Leben, so ruft die Tragödie; während die Musik die unmittelbare Idee dieses Lebens ist.«

Freilich: sehr zeitgemäß mutet das alles wohl kaum an. Aber das Zeitgemäße ist selten das Wahre, und nur um dieses Wahre haben wir uns bemüht. Wir dürfen dabei mit Goethe bekennen: »Ich bilde mir nicht ein, daß ich recht habe. Aber daß ich auf das Rechte losgehe, das weiß ich.« In diesem Sinn hoffen auch wir, auf einem rechten Weg gewesen zu sein, als wir Ursprung und Wesen der Kunst aufzuhellen und gegen deren Verächter zu verteidigen suchten. Was die unmittelbare Auseinandersetzung mit diesen Verächtern angeht: Nun, sie konnte hier nicht auch noch geboten werden. Aber für den aufmerksamen Leser lief sie im Kontext ohnehin deutlich mit.

Denn indem wir entgegen pseudofortschrittlichen Vernunftspekulationen einige, seit frühen Menschheitszeiten wesensbestimmende Grundtatsachen künstlerischer Hervorbringungen und künstlerischer Wirkungen darzustellen versuchten, übten wir auch Kritik an Kunstübungen, die sich nur moralisierend, agitierend, desillusionierend oder nur formal experimentierend am Prüfstein der Kunstwahrheit vorbeizumogeln versuchen. Es mag sein, daß, wie heute nicht wenige Auguren behaupten, Hegel recht behält. 

Vielleicht ist die Kunst, wie sie hier interpretiert wurde, tatsächlich zusammen mit dem Typus Mensch, der für sie empfänglich war, zum Untergang verurteilt. Aber wenn dem so ist, dann muß man wissen, daß damit auch die Sprache der Humanität selbst zum Tode verurteilt ist. Wie sagt doch Goethe? »Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil.« Ist der Mensch nicht mehr fähig, diesen Schauder zu empfinden und in der Sprache der Kunst zu veranschaulichen, um sich mit seiner eigenen Existenz und der Schöpfung zu versöhnen, so beginnt die Barbarei. Und mit ihrer Heraufkunft wird dann allerdings auch das hier angeschlagene Thema nicht mehr länger zur anthropologischen Debatte stehen.

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