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15  Mit dem blanken Hans spielen

 

Des Wetters Aussehn betrachtete ich — das Wetter war fürchterlich anzusehn ...
Kaum dass ein Schimmer des Morgens graute, stieg schon auf von der Himmelsgründung schwarzes Gewölk.
In ihm drin donnerte Adad [der Wettergott] ... Eragal reißt den Schiffspfahl [der die Wasser der Erde zurückhielt] heraus, Ninurta geht, lässt die Wasserbecken ausströmen ... Die Himmel überfiel wegen Adad Beklommenheit, jegliches Helle in Düster verwandelnd; das Land, das weite, zerbrach wie ein Topf. 
 
Das Gilgamesch-Epos—

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Die Urangst vor der schrecklichen Gewalt des Wassers ist der menschlichen Psyche tief eingegraben. Das Gilgamesch-Epos bezeugt das genauso wie Noahs Sintflut und Hunderte weniger bekannter Mythen aus der ganzen Welt. 

Wie wir gesehen haben, stand die Wiege unserer Spezies höchstwahrscheinlich an den Seen im ostafrikanischen Graben, wo unsere Vorfahren sich von jeder Menge Fischen, Muscheln, Vögeln und Säugetieren ernährten. Seither haben wir immer wieder versucht, dicht am Wasser zu wohnen, denn das Wasser lockt Lebewesen von nah und fern herbei. Campiert man bei einem Wasserloch, sieht man früher oder später Tiere, die sich zum Durststillen einstellen. 

Aus tief verwurzelten Gründen lebt unsere Art vorzugsweise mit Blick aufs Wasser, vor allem wenn dies einen Strand einschließt, einen See oder einen kurz gehaltenen Rasen, der aussieht, als würde er von großen Weidetieren abgegrast. Immobilienmakler kennen unsere Vorlieben genau und wissen auch, wie viel wir dafür zu zahlen bereit sind. Heute leben zwei von drei Menschen auf der Erde nicht weiter als 80 Kilometer von einer Küste entfernt, und doch wissen wir in unserem Unterbewusstsein, dass das Wasser über das Land kommen und alle unsere hart erworbenen Immobilien wertlos machen kann.91

Vor 15.000 Jahren war der Meeresspiegel mindestens 100 Meter niedriger als heute. Damals war der nordamerikanische Kontinent ein veritables Eisreich, die Menge des auf ihm gefrorenen Wassers übertraf sogar die der Antarktis. Als dann die großen amerikanischen Eiskappen schmolzen, setzten sie allein genügend Wasser frei, um den Meeresspiegel weltweit um 74 Meter steigen zu lassen. Rasch schwollen die Ozeane an, bis vor rund 8000 Jahren der Meeresspiegel sein heutiges Niveau erreichte und sich die Verhältnisse stabilisierten. Überall auf der Welt sahen Menschen zu, wie das Wasser stieg, was es gelegentlich so schnell tat, dass die Küstenlinie sich von Jahr zu Jahr verschob. Heute wäre selbst ein bescheidener Anstieg des Meeresspiegels eine Katastrophe, denn die Küsten sind dicht besiedelt, und das Leben vieler Menschen ist gefährdet.

Der katastrophale asiatische Tsunami im Dezember 2004 hat zwar nichts mit dem Klimawandel zu tun, aber er lässt erahnen, wie verheerend ein steigender Meeresspiegel und turbulentes Wetter sein können. Die Niederlande planen bereits den Bau eines Superdeichs, um sich vor dem heranrückenden Meer zu schützen, und auch die Themse-Dämme sollen verstärkt werden. Aber unzählige Millionen weiterer Menschen wohnen am Meer — einige in teuren Anwesen, andere in bescheidenen Dörfern —, und sie sind ungeschützt. Allein in Bangladesch leben über zehn Millionen Menschen nicht höher als 100 Zentimeter über dem Meeresspiegel.92) 

Alles, was von den großen Eiskappen der Nordhalbkugel heute übrig ist, sind das Inlandeis Grönlands, das Packeis des Nordpolarmeers und ein paar kontinentale Gletscher, und es mehren sich die Anzeichen, dass nach 8000 Jahren auch diese Relikte abzuschmelzen beginnen. Der grandiose Columbus Glacier in Alaska hat sich in den letzten 20 Jahren zwölf Kilometer zurückgezogen; im amerikanischen Glacier National Park wird es binnen weniger Jahrzehnte überhaupt keine Gletscher mehr geben. In Gletschern wie diesen ist genügend Wasser enthalten, um den Meeresspiegel um Zentimeter zu heben.

Das grönländische Inlandeis jedoch ist ein echtes Relikt der kontinentalen Eiskappen, wie sie die Mammute wiedererkennen würden, und es enthält genügend Wasser, um den Meeresspiegel um rund sieben Meter steigen zu lassen.

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Im Sommer 2002 ging es zusammen mit dem arktischen Packeis um den Rekordwert von einer Million Quadratkilometern zurück — das größte je verzeichnete Abschmelzen.93) Zwei Jahre später, in 2004, entdeckte man, dass Grönlands Gletscher zehnmal schneller schmelzen, als man zuvor glaubte.

Vielleicht überrascht es Sie daher zu erfahren, dass über den höchsten Teilen sowohl des Grönland- als auch des Antarktiseises die Temperaturen niedrig bleiben — faktisch sogar sinken. Es sind die einzigen Weltgegenden, in denen eindeutig negative Temperaturtrends zu beobachten sind. Das ist beruhigend, denn laut einer jüngeren Studie wird sich das Grönlandeis nie wieder regenerieren können, wenn es je ganz abgeschmolzen wäre, selbst wenn wir die CO2-Werte der Atmosphäre weltweit auf das vorindustrielle Niveau zurückbrächten.94) 

 

Die größte Eisansammlung der Nordhalbkugel ist das Packeis über dem Polarmeer, und seit 1979 ist sein Umfang im Sommer um 20 Prozent zurückgegangen. Darüber hinaus ist das verbliebene Eis viel dünner geworden. Messungen mit U-Booten ergaben, dass es nur noch 60 Prozent der Stärke von vor vier Jahrzehnten hat. Dieses unglaubliche Abschmelzen wirkt sich jedoch nicht direkt auf den Meeresspiegel aus, jedenfalls nicht mehr, als das Schmelzen eines Eiswürfels in einem Glas Whisky den Flüssigkeitsspiegel im Glas steigen lässt. Der Grund dafür ist, dass es sich beim Eis der Arktis um Packeis handelt, von dem neun Zehntel unter Wasser schwimmen, und wenn es schmilzt, verdrängt nur das Volumen, das vorher den Meeresspiegel überragte, entsprechend viel vorhandenes Wasser. Nur Eis an Land lässt, wenn es schmilzt und abfließt, den Meeresspiegel deutlich steigen.

Obwohl das Abschmelzen des Packeises keine unmittelbare Auswirkung hat, sind die indirekten Folgen aber bedeutend. Wenn der Rückgang im gegenwärtigen Tempo weitergeht, wird am Ende dieses Jahrhunderts nur noch wenig — wenn überhaupt — Arktiseis übrig sein, und das wird die Albedo der Erde in erheblichem Umfang ändern. Erinnern Sie sich daran, dass ein Drittel der auf die Erde fallenden Sonnenstrahlen ins All reflektiert werden. Eis, vor allem das an den Polen, ist für ein gut Teil dieser Albedo verantwortlich, denn es reflektiert bis zu 90 Prozent des Sonnenlichts.

Wasser ist hingegen ein schlechter Reflektor.

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Steht die Sonne senkrecht am Himmel, wirft es bloß fünf bis zehn Prozent des Lichts ins All zurück, allerdings steigt, wie Sie wohl selbst schon einmal bei einem Sonnenuntergang am Meer beobachten konnten, die vom Wasser reflektierte Lichtmenge, wenn sich die Sonne dem Horizont nähert. Ersetzt man das Arktiseis durch einen dunklen Ozean, werden viel mehr Sonnenstrahlen von der Erdoberfläche absorbiert und als Wärme abgestrahlt, wodurch es zu einer lokalen Erwärmung kommt, die — in einem klassischen Beispiel positiver Rückkopplung — das Abschmelzen des verbleibenden Eises noch beschleunigt.

Noch 2001 galt ein Anstieg des Meeresspiegels als eines der die Menschheit weniger bedrängenden Probleme infolge des Klimawandels, denn in den vorangegangenen 150 Jahren war der Meeresspiegel nur um 10 bis 20 Zentimeter gestiegen, was 1,5 Millimeter pro Jahr ergibt — nur ein Hundertstel so schnell, wie Ihr Haar wächst.95 Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts jedoch verdoppelte sich der Anstieg auf rund drei Millimeter pro Jahr. Wissenschaftler sind wegen des zunehmenden Schwungs beim Anstieg besorgt, denn die See ist das größte Schwergewicht auf unserem Planeten, und wenn er erst einmal ein bestimmtes Tempo erreicht hat, können alle Anstrengungen sämtlicher Menschen auf Erden ihn nicht mehr aufhalten.

Im Vergleich zur Atmosphäre sind die Ozeane enorm schwer: Sie haben fünfhundertmal mehr Masse, und sie sind sehr dicht. Wenn wir uns also vorstellen, wie die Atmosphäre die Ozeane verändert, müssen wir an so etwas wie einen VW-Käfer denken, der einen Panzer einen Hang hinunterschiebt. Erst ist es mühsam, das Monstrum in Bewegung zu setzen, aber wenn es dann rollt, kann der Käfer kaum noch etwas tun, um den Kurs des Panzers zu ändern. Ein wichtiger Faktor, der die Reaktion der Ozeane auf den Klimawandel verlangsamt, ist die Schichtung des Wassers. Würde alles Meerwasser so durchmischt, dass es ein und dieselbe Temperatur hätte, würde diese kühle 3,5 °C betragen. Doch fern der Pole sind die oberen Schichten der Ozeane weit wärmer, und sie werden nach unten immer kühler, bis in der Tiefe die Temperatur unter dem Gefrierpunkt liegen kann (weil das Wasser salzig ist).

Jede Abkühlung der Oberfläche trägt dazu bei, dass sich die Wasserschichten leichter durchmischen können, was den Abkühlungsprozess beschleunigt. Wenn sich die Ozeane jedoch erwärmen, fällt

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ihre Schichtung stärker aus, und dann dringt Oberflächenwasser nicht so leicht in die Tiefe vor, sodass es lange dauert, bis die Wärme ihren Weg in die Schichten viele Kilometer in der Tiefe gefunden hat.96 Das bedeutet: Befindet sich die Erde in einer Phase der Abkühlung, gibt es zwischen der Abnahme der Treibhausgase und dem daraus resultierenden Klimawandel nur wenig Verzögerung. Heizt sich unser Planet jedoch auf, brauchen die Oberflächenschichten der Ozeane rund drei Jahrzehnte, um die Wärme aus der Atmosphäre zu absorbieren, und dann dauert es 1000 Jahre oder länger, bis diese Wärme die Tiefen des Ozeans erreicht hat; all das heißt, dass die Ozeane hinsichtlich der globalen Erwärmung noch immer in den siebziger Jahren leben.

Trotz dieser ausgeprägten Trägheit ist die Erwärmung der Meeresoberflächen bereits im Gang, und nach und nach gibt es auch Informationen, dass die Temperaturen in der Tiefe deutlich ansteigen.97 Wir können nichts tun, um diesen langsamen Wärmetransfer aus der Luft ins Meer zu verhindern, was eine sehr schlechte Nachricht ist, denn die Wärme lässt den Meeresspiegel auf zweierlei Weise ansteigen.

Beim Stichwort steigender Meeresspiegel denken die meisten an in die Ozeane abschmelzende Gletscher und Eiskappen. Im Verlauf des letzten Jahrhunderts jedoch war der Anstieg des Meeresspiegels ein gutes Stück weit auf die Expansion der Ozeane zurückzuführen, denn warmes Wasser nimmt mehr Raum ein als kaltes. Diese »thermale Expansion« wird, so erwartet man, den Meeresspiegel im Verlauf der nächsten 500 Jahre um 0,5 bis zwei Meter steigen lassen. Im Jahr 2001 schätzte das Intergovernmental Panel on Climate Change, dass die Ozeane in diesem Jahrhundert (in runden Zahlen) bloß um zehn Zentimeter bis einen Meter ansteigen werden. Die thermale Expansion, vermutete das Panel, würde dazu zehn bis 43 Zentimeter beitragen und abschmelzende Gletscher maximal weitere 23 Zentimeter, wobei der größte Teil des Wassers von Gletschern außerhalb der Polregionen und auf Grönland kommen würde.

Als das Panel Ende der neunziger Jahre diesen Bericht zusammenstellte, war die Abschmelzgeschwindigkeit vieler Gletscher nicht bekannt, und die Lage rund um den Südpol war besonders unsicher. Heroische wissenschaftliche Anstrengungen haben mittlerweile neue

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Daten geliefert, was das Thema Meeresspiegelanstieg zu einem der sich am schnellsten verändernden Bereiche der Klimaforschung macht. Typisch für diese neue Generation von Untersuchungen ist die von Eric Rignot vom Jet Propulsion Laboratory in Pasadena und seinen Kollegen veröffentlichte Studie.98 Sie maßen die Abschmelzrate des patagonischen Eisfelds — der größten Eismasse der gemäßigten Breiten auf der Südhalbkugel — und stellten fest, dass es pro Flächeneinheit mehr Wasser zum globalen Meeresspiegelanstieg beisteuert (0,1 Millimeter pro Jahr) als sogar die gigantischen Gletscher Alaskas.

Die alarmierendsten Nachrichten über das Eisabschmelzen kommen aber aus der Antarktis. Im Jahr 2004 füllten wissenschaftliche Aufsätze über ominöse Veränderungen am Eis der Antarktischen Halbinsel und der angrenzenden Gebiete in mittlerweile rascher Folge die Seiten der akademischen Zeitschriften. Diese Untersuchungen machten klar, dass sich am Südende der Welt ein erheblicher Dominoeffekt bemerkbar macht — die Destabilisierung des einen Eisfelds führt zur Zerstörung eines benachbarten. Da immer größere Eismassen verschwinden, ist mittlerweile klar, dass das Abschmelzen des Südpolareises in den kommenden Jahrzehnten den bei weitem größten Beitrag zum Meeresspiegelanstieg leisten wird.

Die ersten dramatischen Anzeichen für trübe Aussichten wurden im Februar 2002 bekannt, als das Eisschelf Larsen B — mit 3250 Quadratkilometern so groß wie Luxemburg — binnen weniger Wochen auseinander brach. Die Wissenschaftler wussten zwar, dass die Antarktische Halbinsel sich schneller erwärmt als so gut wie jede andere Gegend der Erde, aber wie schnell und abrupt Larsen B kollabierte, schockierte viele. Im Nachhinein fanden die Wissenschaftler heraus, dass es eine wichtige und bislang übersehene Ausnahme von der Regel gibt, dass schmelzendes Packeis nicht den Meeresspiegel verändert. Fast unmittelbar nach dem Zusammenbruch begannen die Gletscher, die sich in Richtung des jetzt fragmentierten Eisschelfs vorschieben, schneller zu fließen. Gletscher bewegen sich natürlich viel langsamer als Flüsse, aber sie fließen tatsächlich, und der Zusammenbruch von Larsen B zeigte überdeutlich, dass einer der wichtigsten Faktoren, die das Tempo eines Gletschers bestimmen, die Eismasse an seinem Zungenende ist. Ein dickes Eisfeld fungiert ganz

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ähnlich wie ein Damm und bremst die Bewegung des Gletschers Richtung Meer und damit auch die Geschwindigkeit seines Abschmelzens. Ist der Eisdamm weg, nimmt der Gletscher sozusagen Fahrt auf.

Es ist schwierig und kostspielig, die Gletscher und Eisfelder der Antarktis zu untersuchen, doch was mit Larsen B geschah, brachte die Wissenschaftler rasch dazu, sowohl die Details seines Untergangs als auch die anderen Eisschelfe genau zu prüfen. Im Jahr 2003 enthüllte eine Untersuchung, bei der im Lauf von zehn Jahren gesammelte Satellitendaten zusammengefasst wurden, den eigentlichen Grund für den Zusammenbruch des Larsen-Eisschelfs. Die Erwärmung sowohl der Atmosphäre als auch des Ozeans ließ das Eis in den Sommern an der Ober- und an der Unterseite gleichermaßen schmelzen, bis es so dünn und von Spalten durchzogen war, dass sein Zerbrechen unvermeidlich wurde.9' Das Abschmelzen des Eises von unten war dabei der wichtigste Faktor. Das Tiefenwasser des Weddellmeers, das am Eisschelf entlangfließt, war noch immer kalt genug, um einen Menschen binnen Minuten zu töten, es hatte sich aber seit 1973 um 0,32 °C erwärmt, und das reichte aus, um das Abschmelzen in Gang zu setzen.100

Wissenschaftler sind davon überzeugt, dass irgendwann in diesem Jahrhundert auch der Rest des Larsen-Eisschelfs zerbrechen wird, bis dahin aber werden wir unsere Aufmerksamkeit schon längst auf das Schicksal weit größerer Eismassen gerichtet haben.101 Als Erstes wird das Packeis der Amundsensee vor der Küste der westlichen Antarktis in unser Bewusstsein rücken. Ende 2002 entdeckten Wissenschaftler unter Führung der NASA, dass es schnell dünner wird. In ihrem im Oktober 2004 veröffentlichten Bericht steht, dass weite Bereiche so dünn geworden sind, dass sie sich dem Punkt nähern, an dem sie sich von ihren »Verankerungen« auf dem Meeresboden lösen, frei herumtreiben und wie Larsen B kollabieren können.102 Dieser für das Amundseneis fatale Punkt, vermuten sie, könnte schon binnen fünf Jahren erreicht werden, denn das Dünnerwerden hat bereits zu einer Beschleunigung des Gletschernachschubs geführt. Zum Zeitpunkt der Untersuchung hatten die in die Amundsensee kalbenden Gletscher ihren Eintrag bereits auf rund 250 Kubikkilometer Eis pro Jahr gesteigert — genug, um den Meeresspiegel weltweit um 0,25 mm per

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annum steigen zu lassen. Da diese Gletscher, die sich in die Amundsensee ergießen, genug Eis enthalten, um den Meeresspiegel weltweit um 1,3 Meter ansteigen zu lassen, betrifft ihre Temposteigerung — wie der eingeleitete Zusammenbruch ihrer Eis-»Bremsen« — uns alle.

Rund um die Antarktische Halbinsel liegt einer der größten verbliebenen Packeisgürtel der Welt. Der Eisschild der Westantarktis ist locker auf dem Grund des flachen Meeres verankert. Die Möglichkeit, dass er sich destabilisieren könnte, wurde erstmals in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts diskutiert, als der Glaziologe John Mercer von der University of Ohio auf Ähnlichkeiten zwischen der westlichen Antarktis und der eurasischen Arktis hinwies. Beide Regionen, führte er aus, weisen flache Meere von ähnlicher Topographie auf, die von riesigen Eismassen bedeckt sind (beziehungsweise waren). Die Eisschilde der eurasischen Arktis zerbrachen vor 15.000 bis 12.000 Jahren auf spektakuläre Weise, und Mercer war besorgt, dass infolge der globalen Erwärmung (etwas, das damals so gut wie unbekannt war) mit dem westantarktischen Eisschild dasselbe passieren könnte.103) 

Jüngst wurde entdeckt, dass es an den Rändern des westantarktischen Eisschilds sich rasch bewegende »Eisströme« gibt, die über Kies fließen, was unter bestimmten Umständen ihr Tempo beschleunigt.104) Wie schwierig es ist, die Fließgeschwindigkeit dieser »Ströme« zu messen, zeigte eine zweiwöchige Untersuchung des Whillans-Eisstroms. Lange hielt man ihn für stabil — ja, man glaubte sogar, er verlangsame sein Tempo —, was ein gutes Zeichen für die Stabilität des Eisschilds insgesamt gewesen wäre. Doch bei der Untersuchung kam heraus, dass er sich mit der extrem hohen — für Eis jedenfalls — Geschwindigkeit von einem Meter pro Stunde bewegen kann! Dies geschah allerdings nur bei einem bestimmten Gezeitenstand; bei anderen kam der Eisstrom zum Stillstand.105) Wenn der Eisstrom also so fein ausbalanciert ist, kann man sich leicht vorstellen, dass ein steigender Meeresspiegel oder das Dünnerwerden des Eises das Fließtempo dauerhaft erhöht.

Sollte sich der westantarktische Eisschild je vom Meeresboden lösen, würde er zum Meeresspiegelanstieg bis zum Jahr 2100 etwa 16 bis 50 Zentimeter beitragen. Und noch schlimmer wäre, dass die Gletscher, die ihm den Nachschub liefern, sich beschleunigen und den Meeresspiegel noch viel mehr ansteigen lassen würden.

Alles in allem enthalten die 3,8 Millionen Kubikkilometer Pack- und Gletschereis des westantarktischen Schilds genügend Wasser, um den Meeresspiegel weltweit um sechs bis sieben Meter zu heben.

Einen Lichtblick gibt es allerdings in dieser Sache. Da es an den Polen vermehrt zu Niederschlägen kommen wird, erwartet man, dass es hoch oben auf dem Inlandeis der Antarktis mehr Schnee geben wird, der einen Teil des Eises wettmacht, das an den Rändern des Kontinents verloren geht, obwohl momentan niemand sagen kann, für wie lange und in welchem Umfang dieser Ausgleich erfolgen wird.

In der Wissenschaft von den Eisschilden hat sich vieles so rasch verändert, und die Trägheit des »Schwergewichts« Ozean ist so groß, dass die Klimaforscher jetzt diskutieren, ob die Menschen schon den Schalter umgelegt haben, der zu einer eisfreien Erde führen wird. Wenn ja, haben wir unseren Planeten und uns selbst bereits zu einem Ansteigen des Meeresspiegels um rund 67 Meter verdammt. 

Die nächste große Frage lautet dann: Wie lange braucht das Eis zum Abschmelzen? Viele Wissenschaftler glauben, dass unabhängig vom Umfang des zu erwartenden Abschmelzens das Steigen des Meeres­spiegels massiv nach 2050 einsetzen wird und es Jahrtausende dauern wird, bis alles Eis geschmolzen ist. Dennoch sagen einige Wissenschaftler einen um drei bis sechs Meter höheren Meeresspiegel­anstieg im Verlauf von ein bis zwei Jahrhunderten voraus.106)

Die Zukunft vorherzusehen, zählte noch nie zu den Stärken der Menschheit, aber dank der technischen Fortschritte in den letzten beiden Jahrzehnten — wozu die Satellitenüberwachung der planetaren Oberflächen­veränderungen, bessere Computer und ein gefestigtes Wissen um Systeme wie den Kohlenstoffzyklus zählen —, konnten Wissenschaftler virtuelle Welten bauen, mit denen man annähernd abschätzen kann, wie die Dinge sich entwickeln werden und wie sie sich gestalten würden, wenn wir unsere Lebensweise änderten. Dieses wunderbare neue Spielzeug der Wissenschaft kann uns viel über unsere klimatische Zukunft in den kommenden Jahrzehnten sagen.

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