Teil 2 -  Eine von Zehntausend       Start    Weiter

 9 - Die entzauberte Welt  (Flannery-2005)

Durch eben die Zerrüttung wandeln sich 
Die Jahreszeiten: silberhaar'ger Frost 
Fällt in den zarten Schoß der Purpurrose.
— W. Shakespeare, Ein Sommernachtstraum —

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Die globale Erwärmung verändert das Klima ruckweise: Klimamuster springen von einem stabilen Zustand in einen anderen. Weil die Atmosphäre ein telekinetisches Wesen hat, können sich diese Veränderungen im selben Augenblick überall auf dem Globus manifestieren. Die beste Analogie ist vielleicht der Finger auf einem Lichtschalter: Eine Zeit lang passiert gar nichts, aber wenn man allmählich den Druck erhöht, wird ein bestimmter Punkt erreicht, an dem plötzlich etwas passiert, und die Umstände wechseln schlagartig von einem Zustand in einen anderen.

Die Klimatologin Julia Cole bezeichnet die Klimasprünge als »magische Tore«, und sie behauptet, seit die Temperaturen in den siebziger Jahren rasch zu steigen begannen, habe unser Planet zwei dieser Ereignisse erlebt — 1976 und 1998. Diese Daten sind wichtig, denn immer wieder markieren sie den Beginn bemerkenswerter Phänomene.

Die Überlegung, dass die Erde im Jahr 1976 klimatisch ein magisches Tor passierte, hat ihren Ursprung in dem abgelegenen Korallenatoll Maiana im pazifischen Inselstaat Kiribati. Genauer gesagt, wurde sie durch einen Methusalem unter den Korallen angestoßen, der dort lebte und wuchs — einer 155 Jahre alten Lochkoralle (Pontes) und damit einer der ältesten je gefundenen Korallen. Maiana liegt an einer wichtigen Stelle, denn der Zentralpazifik ist die Gegend, in der erstmals El Ninos entdeckt wurden, die von erheblichem Einfluss auf das Klima der Erde sind. 

Als Forscher ein Stück aus dieser alten Koralle bohrten, stellten sie fest, dass sie detaillierte Aufzeichnungen der Klimaveränderungen bis zurück ins Jahr 1840 enthielt.1 Das magische Tor selbst manifestierte sich als ein plötzlicher und nachhaltiger Anstieg der Oberflächen­temperatur des Meeres um 0,6°C und einem Rückgang des Salzgehalts um 0,8 Prozent.

Zwischen 1945 und 1955 sank die Oberflächentemperatur des tropischen Pazifiks in der Regel auf unter 19,2 °C, aber seit dem magischen Tor von 1976 ist sie nur selten unter 25°C gefallen.2) »Der westliche tropische Pazifik ist der wärmste Bereich der Weltmeere und ein bedeutender Klimaregulator«, sagt Martin Hoerling vom Climate Diagnostics Center in Boulder, Colorado, denn unter anderem steuert er die meisten tropischen Niederschläge und die Position des Jetstreams, dessen Winde Schnee und Regen nach Nordamerika bringen. 

1977 veröffentlichte die Zeitschrift <National Geographic> einen Bericht über die Wetterkapriolen des vorangegangenen Jahres, zu denen ungewohnt milde Wetterverhältnisse in Alaska und Schneestürme in den weiter südlich gelegenen 48 Bundesstaaten zählten.3) Unmittelbare Ursache war eine Verlagerung des Jetstreams, aber nicht allein die Vereinigten Staaten waren davon betroffen: Selbst in so weit entfernten Weltgegenden wie Südaustralien und auf den Galapagos­inseln kam es zu Auswirkungen.

Seit Charles Darwin anhand der Finken der Galapagosinseln seine Theorie der Evolution durch natürliche Auslese darlegte, ist die Gegend ein Mekka der Biologen, die dort Forschungsstationen zur Beobachtung der einheimischen Lebensformen einrichteten. Forscher, die den hier beheimateten Fink Geospiza fortis studierten, mussten hilflos zusehen, wie die Dürre von 1977 die Spezies auf einer der Inseln fast ausrottete. Von 1300 Tieren, die es dort vor der Dürre gab, überlebten nur 180, und dies waren die Exemplare mit den größten Schnäbeln, weil die sie in die Lage versetzten, sich von schwer zu knackenden harten Samen zu ernähren. Von den 180 überlebenden Vögeln waren 150 Männchen, und als endlich wieder Regen fiel, fanden sich die männlichen Finken in einem harten Wettbewerb um die wenigen Weibchen wieder. Abermals waren es die mit den größten Schnäbeln, die gewannen. Mit diesem Doppelschlag der natürlichen Auslese, bei dem alle bis auf jene mit den allergrößten Schnäbeln ausgesiebt wurden, kam es bei dieser Inselpopulation zu einer messbaren Änderung der Schnabelgröße.4

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Darwinfinken werden überwiegend anhand ihrer Schnabelgröße klassifiziert, denn je nach dem, was sie damit fressen können, teilen sie die ökologischen Nischen der Inseln unter sich auf; und da man nun auf fast zwei Jahrhunderte Schnabelmessungen zurückblicken kann, hatten die Biologen den Eindruck, sie würden Zeugen, wie sich eine neue Spezies bildet.

 

Auch das magische Tor von 1998 hatte mit dem Wechselspiel von El Nifio und La Nina zu tun, einem zwei bis acht Jahre dauernden Zyklus, der einem Großteil der Welt extreme Klimaverhältnisse bringt. Während der La-Nina-Phase, die bis vor kurzem anscheinend der dominante Teil des Zyklus war, weht der Wind westwärts über den Pazifik und häuft warmes Oberflächenwasser vor der Küste Australiens und den ihm nördlich vorgelagerten Inseln an. Da das warme Oberflächenwasser nach Westen geblasen wird, kann vor der Pazifikküste Südamerikas der kalte Humboldtstrom an die Oberfläche steigen, der die Nährstoffe mitführt, von denen die reichsten Fischgründe der Welt leben. 

Der El-Nino-Teil des Zyklus beginnt mit einem Abflauen der tropischen Winde, sodass das warme Oberflächenwasser nach Osten zurückströmt, sich über den Humboldtstrom legt und Feuchtigkeit in die Atmosphäre entlässt, die den normalerweise trockenen Wüsten Perus Regen bringt. Kühleres Wasser dringt nun im fernen westlichen Pazifik nach oben, und da es nicht so leicht verdampft wie warmes Wasser, sind Australien und Südostasien von Dürre betroffen. Wenn El Nino extrem genug ausfällt, können zwei Drittel des Globus unter Trockenheit, Überschwemmungen und anderen extremen Wetterverhältnissen leiden.

Das El-Nino-Jahr 1997/98 hat der World Wide Fund for Nature (WWF) als »das Jahr, in dem die Welt Feuer fing« unsterblich gemacht. Trockenheit hielt einen großen Teil des Planeten im Würgegriff, und auf allen Kontinenten kam es zu Bränden; vor allem aber in den normalerweise feuchten Regenwäldern Südostasiens wüteten die Feuersbrünste. Über zehn Millionen Hektar verbrannten dort, die Hälfte davon uralter Regenwald. Auf der Insel Borneo gingen fünf Millionen Hektar verloren — ein Gebiet von knapp der Größe der Niederlande.5) Viele der verbrannten Wälder werden sich in einem Zeitrahmen, der für die Menschheit von Belang ist, nicht wieder erholen, und die Auswirkungen auf die einzigartige Fauna Borneos werden aller Wahrscheinlichkeit niemals voll erfasst werden können. 

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Der Klimatologe Kevin Trenberth und seine Kollegen glauben, dass die Vorgänge von 1997/98 eine Extremform der generellen Auswirkungen des El-Nino-La-Nina-Zyklus darstellten, die auf die globale Erwärmung zurückzuführen ist. Seit 1976 sind die Zyklen außergewöhnlich lang — normalerweise sollte man derart gedehnte Zyklen nur ein Mal in mehreren Tausend Jahren erwarten —, und es gibt ein Ungleichgewicht zwischen den Phasen: Fünf El Ninos und nur zwei La Ninas.6) Computermodelle unterstützen ihre Forschungsergebnisse und deuten darauf hin, dass eine Steigerung der Treibhausgas-Konzentrationen in der Atmosphäre zu einem quasi permanenten El-Nino-ähnlichen Zustand führen wird.

Die Überlegung, dass schwere El Ninos das globale Klima auf Dauer verändern könnten, wurde erstmals 1996 veröffentlicht und galt damals als höchst spekulativ. Die Vorgänge von 1998 änderten das, denn es wurde genügend Wärmeenergie freigesetzt, um die globale Temperatur um rund 0,3°C auf einen Spitzenwert zu steigern. Der Grund dafür scheint eine Ansammlung warmen Meerwassers zu sein, die sich im zentralen Westpazifik aufbaut. Das warme Wasser wird aus dem gesamten Pazifischen Ozean dorthin gezogen: Faktisch fungiert die Ansammlung als Konzentrator und Verstärker all der kleinen globalen Temperaturanstiege aufgrund der Treibhausgase, und das wiederum verstärkt durch Rückkopplung die Intensität des El-Nino-Zyklus.

Einige der Veränderungen von 1998 erwiesen sich als permanent, denn seither hat das Wasser im zentralen Westpazifik häufig 30°C erreicht, während der Jetstream sich in Richtung Nordpol verlagert hat. Die neuen Klimaverhältnisse scheinen auch dazu prädestiniert zu sein, extremere El Ninos hervorzubringen — auf dieses Thema werden wir später zurückkommen. Jetzt ist es an der Zeit, zu untersuchen, wie unser sich wandelndes Klima verschiedene Pflanzen- und Tierpopulationen in Mitleidenschaft zieht.

Wenn Wissenschaftler die Reaktionen der Natur auf den Klimawandel dokumentieren wollen, zählen die Aufzeichnungen von Vogelschützern, Fischern und anderen Naturbeobachtern zu den besten Quellen, die sie finden können. 

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Einige dieser Notizen reichen sehr weit zurück — eine englische Familie vermerkte das erste Quaken von Fröschen und Kröten auf ihrem Anwesen in jedem Jahr zwischen 1736 und 1947 —, und solche Aufzeichnungen sind von höchster Bedeutung, wenn es darum geht, wie die Dinge standen, als sich der Vorhang zwischen dem Anthropozän und unserer ungewissen Zukunft zu heben begann.7 

Eine riesige Untersuchung, die sich auf solche historischen Natur­beobachtungen stützte, wurde 2003 in der Zeitschrift <Science> veröffentlicht; sie offenbart das immense Ausmaß der Veränderungen, die heute im Gange sind. Die Wissenschaftlerin Camille Parmesan von der University of Texas und ihr Mitarbeiter Gary Yohe machten sich alle Mühe, um zweifelhafte Daten auszuschließen, und die konservativsten statistischen Tests wurden auf die Zahlenmengen angewandt.8

Parmesans und Yohes Ausgangsdaten umfassen Dokumentationen über mehr als 1700 Spezies und stützen sich auf einen Corpus von Naturbeobachtungen, der bis in die Tage von Gilbert White zurückreicht, welcher mit seinem Buch <The Natural History of Selborne> im 18. Jahrhundert ein Pionier der Natur­schrift­stellerei war. Zu den Informationen zählen detaillierte Aufzeichnungen der Wanderungen, Brutgewohnheiten und Verteilung von Vögeln durch Amateur-Vogelbeobachter, die Notizen von Botanikern über das Blühen und Austreiben von Pflanzen und Kapitänslogbücher von Walfangschiffen. Viele Aufzeichnungen waren von Clubs und Gesell­schaften aufbewahrt worden, andere wurden in wenig gelesenen Zeitschriften wie dem Victorian Naturalist veröffentlicht. Die Quellen waren so vielfältig und so schwer zugänglich, dass frühere Versuche, sie zusammen­zustellen und auszuwerten, deswegen aufgegeben worden waren.

Parmesan und Yohe stellten zwei Grundsatzfragen: Lässt sich ein Trend feststellen, der alle dokumentierten Regionen, Habitate und Organismen betrifft? Und wenn ja, weist dieser Trend ungefähr in die Richtung, die man angesichts dessen, was wir über den Klimawandel wissen, erwarten sollte?

Sie fanden heraus, dass es vor 1950 kaum Anzeichen für irgendeinen Trend gab, sich aber von diesem Zeitpunkt an überall auf dem Globus ein sehr deutliches Muster auszubilden begann. 

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Dies äußert sich darin, dass sich die Artenverteilung im Durchschnitt um sechs Kilometer pro Jahrzehnt in Richtung der Pole sowie um 6,1 Meter pro Jahrzehnt die Berghänge hoch verlagert und das Einsetzen von Frühlingsaktivitäten sich pro Jahrzehnt um 2,3 Tage nach vorn verschiebt. Diese Trends stimmen so sehr mit der Größenordnung und Richtung des Temperaturanstiegs durch die Treibhausgas-Emissionen überein, dass Parmesans und Yohes Befunde als Entdeckung eines global stimmigen »Fingerabdrucks des Klimawandels« gefeiert wurden. Solche Trends mögen klein erscheinen, wenn man sie mit Veränderungen in geologischen Zeiträumen vergleicht, faktisch aber vollziehen sie sich so rasch und deutlich, als hätten die Wissenschaftler das CO2 dabei erwischt, wie es die Natur mit der Peitsche in Richtung Pole treibt. 

Eine der bemerkenswertesten Veränderungen in der Artenverteilung wiesen winzige Meeresorganismen auf, die man Kopepoden (Ruderfußkrebse) nennt; sie wurden 1000 Kilometer von ihrem natürlichen Habitat entfernt entdeckt. Subtilere, aber immer noch substanzielle Verlagerungen gab es bei 35 ortsfesten Schmetterlingsarten der Nordhalbkugel, deren Verbreitungsgebiete sich nach Norden ausweiteten, manchmal um stolze 240 Kilometer, während sie gleichzeitig am Südrand ihres Habitats auszusterben begannen, da die Verhältnisse ihnen dort nicht mehr zuträglich waren.9 Selbst tropische Spezies sind in Bewegung geraten, die Vögel aus dem Tiefland Costa Ricas haben sich im Verlauf von 20 Jahren 18,9 Kilometer weiter nach Norden ausgebreitet.10

Menschliche Eingriffe in die Umwelt behindern unvermeidlicherweise die Migration sehr vieler Arten. 

Ein treffendes Beispiel dafür liefert der Schecken­schmetterling Euphydryas editba. Eine unverwechselbare Subspezies lebt im nördlichen Mexiko und im südlichen Kalifornien, und gestiegene Frühlings­temperaturen haben dazu geführt, dass die Pflanze, von der sich die Raupen ernähren — eine Löwenmäulchenart —, früh verwelkt, sodass die Larven hungern und sich nicht verpuppen können. Für die Spezies geeignete Habitate waren einst weiter nördlich im Überfluss vorhanden, und die Population hätte gut dorthin ziehen können, wenn ihr das weit auseinander gezogene San Diego nicht den Weg versperrt hätte. Da Euphydryas editba jetzt auf nur noch 20 Prozent seines ursprünglichen Verbreitungsgebiets leben kann, wird diese südliche Subspezies ohne menschliche Hilfe das nächste Jahrhundert nicht mehr erleben.11

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Die meisten fruchtbaren Weltgegenden sind heute von menschengemachten Umweltbedingungen geprägt, sodass in sehr viel mehr Fällen als bislang dokumentiert Spezies und Populationen bereits jetzt vor dem Aussterben stehen.

Die Vorverlagerung von Frühlingsaktivitäten ist ein eindeutiges Anzeichen für einen Klimawandel. In der Vogelwelt hat die Trottellumme (Uria aalge) im Verlauf der Zeit, in der ihr Nistverhalten untersucht wurde, mit dem Eierlegen im Durchschnitt pro Jahrzehnt 24 Tage früher begonnen. In Europa knospen und blühen zahlreiche Pflanzenarten 2,4 bis 3,1 Tage pro Dekade früher, ihre Verwandten in Nordamerika machen das 1,2 bis zwei Tage früher. Europäische Schmetterlinge tauchen 2,8 bis 3,2 Tage früher pro Jahrzehnt auf, und Zugvögel kommen in Europa 1,3 bis 4,4 Tage früher pro Dekade an.12) 

Eines der wichtigsten Ergebnisse von Parmesans und Yokes Untersuchung ist jedoch, dass nicht alle Spezies gleich auf den Klimawandel reagieren. Unter­schiedliche Arten beginnen aufgrund verschiedener Anzeichen mit Vorgängen wie Brüten oder Vogelzug, und die Fähigkeiten der Spezies, sich Veränderungen anzupassen, variieren. Während also einige Arten rasch ihr Verbreitungsgebiet verlagern, bleiben andere zurück, und Parmesan und Yohe warnen, diese Trends »könnten leicht das Wechselspiel zwischen den Spezies zerstören und ... in zahlreichen Fällen zum Verschwinden und möglicherweise zum Aussterben« führen.13 Dies kann zum Beispiel passieren, wenn sich ein wichtiger Teil der Nahrungskette zu spät einstellt, um einem Raubtier noch zu nutzen, oder sich zu weit nach Norden verlagert, sodass er von dem Räuber nicht mehr gefressen werden kann.

Ein typisches Beispiel für solche Probleme stellen die Raupen des Kleinen Frostspanners (Operophtera brumata) dar. Ihre einzige Nahrungsquelle sind junge Eichenblätter, die nur ein paar Wochen weich und nahrhaft genug für sie sind. Die Schwierigkeiten entstehen, weil Eichen und Frostspanner auf unter­schiedliche Anzeichen für den Frühlingsbeginn reagieren. Das wärmere Wetter lässt die Eier des Kleinen Frostspanners reifen, bis die Raupen schlüpfen, die Eichen aber zählen die kurzen kalten Wintertage, und das sagt ihnen, wann es an der Zeit ist, Blätter auszutreiben. 

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Der Frühling ist wärmer als noch vor 25 Jahren, die Anzahl kalter Wintertage hat sich aber nicht geändert. Infolgedessen schlüpfen die Raupen heute bis zu drei Wochen bevor die Eichen ihre ersten Blätter tragen. Da die Raupen nur zwei bis drei Tage ohne Nahrung überleben können, gibt es heute viel weniger von ihnen, und die Überlebenden wachsen im Allgemeinen schneller, weil es weniger Nahrungskonkurrenz gibt, was bedeutet, dass die Vögel weniger Zeit haben, sie zu finden.

In diesem Fall wird wahrscheinlich die natürliche Auslese so auf den Kleinen Frostspanner einwirken, dass sich der Zeitpunkt des Schlüpfens ändert, aber das wird nur durch ein Massensterben der früh schlüpfenden Raupen geschehen, und zumindest mehrere Jahrzehnte lang können wir erwarten, dass die Spezies sich rar macht. Ob die Vögel, Spinnen und Insekten, die die Raupen als Nahrungsmittel brauchen, den Zusammenbruch ihrer Nahrungsquelle überleben können, ist eine andere Frage. Marcel Visser vom Institut für Ökologie der Niederlande, der das Spanner-Dilemma entdeckte, glaubt, dass dies nur ein Beispiel unter Millionen ist. »Wenn die Leute nach solchen Auswirkungen suchen«, sagt er, »werden sie sie überall finden.«14) Trifft das zu, müssen wir uns um jene Arten an der Spitze der Nahrungspyramide, die sich von Kleinen Frostspannern ernähren, noch mehr Sorgen machen, denn aller Wahrscheinlichkeit nach gehen ihnen viele potenzielle Nahrungsquellen verloren. 

Praktisch müssen wir uns um unser Ökosystem als Ganzes viel mehr Sorgen machen, denn die Schlussfolgerung muss lauten, dass überall auf der Welt das empfindliche Netz des Lebens zerrissen wird.

Jüngste Untersuchungen haben ähnliche Verlagerungen auch in Wasser-Ökosystemen aufgezeigt. Im Verlauf der letzten paar Jahrzehnte sind Molche immer früher zum Brüten in die europäischen Teiche gegangen, Frösche aber nicht. Das heißt, dass die Larven der Molche schon ziemlich groß sind, wenn die der Frösche erst aus den Eiern schlüpfen, und Erstere fressen Letztere nun in größeren Stückzahlen, was sich auf die Froschpopulationen auswirkt. Einige Reptilien sind von der globalen Erwärmung viel unmittelbarer bedroht, denn bei ihnen hängt das Geschlechterverhältnis von der Temperatur ab, bei der die Eier ausgebrütet werden. 

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Verschobene Geschlechterverhältnisse wurden bereits bei der Zierschildkröte (Chrysemis picta) beobachtet, und man sagt voraus, dass die Population bloß noch aus Weibchen bestehen wird, wenn die Wintertemperaturen auch nur ein wenig über ihr gegenwärtig schon hohes Niveau steigen. Krokodile und Alligatoren sind auch gefährdet, denn die Eier des amerikanischen Alligators (einer gut erforschten Spezies) bringen nur Männchen hervor, wenn sie bei über 32°C ausgebrütet werden, und nur Weibchen, wenn dies bei weniger als 31°C geschieht.15) 

Noch heikler ist die Lage für die Brückenechse (Sphenodon-Spezies), ein einzigartiges Reptil, das als letztes seiner Abstammungslinie heute nur noch auf ein paar abgelegenen Inseln bei Neuseeland lebt. Wie es sich fügt, tut sich das arme Wesen mit der Reproduktion schwer, denn das Männchen ist das einzige Reptil, das keinen Penis hat (bei der Paarung werden die Kloaken zusammengedrückt), und von der Paarung bis zum Schlüpfen der Jungen vergehen zwei Jahre. Wenn die Eier kühl bleiben, schlüpfen Weibchen, bei wärmeren Verhältnissen aber nur Männchen. Die Brückenechse lebt in relativ hohen Breitengraden in Umgebungen, die der Klimawandel wahrscheinlich drastisch treffen wird, und so hängt ihr Überleben am seidenen Faden.

 

Eine ganz andere Folge des Klimawandels wurde kürzlich im Tanganjikasee in Afrika entdeckt, der zu den ältesten und tiefsten Süßwasserseen der Welt zählt. Knapp südlich des Äquators gelegen, ist er von einer Fülle einzigartiger Spezies bevölkert. Wie bei den meisten Seen ist sein Wasser geschichtet, das wärmste schwimmt oben. In der Regel mischen sich die sauerstoffreichen oberen Schichten nicht mit den nährstoffreichen unteren, folglich mangelt es Pflanzen in den von der Sonne beschienenen oberen Schichten an Nährstoffen und denen in den unteren Schichten an Sauerstoff. In der Vergangenheit wurde die Schichtung des Sees in der entsprechenden Jahreszeit dank des Südost-Monsuns durchbrochen: Er peitschte das Wasser stark genug auf, um die Lagen zu vermischen, und das führte zu einer spektakulären Biodiversität.

Seit Mitte der siebziger Jahre hat die globale Erwärmung jedoch die Schichtung im See so verfestigt (durch das Aufheizen der Oberflächenschichten), dass der Monsun nicht mehr ausreicht, um die Wasserlagen zu durchmischen. Infolgedessen gelangen keine Nährstoffe mehr an die Oberfläche und kein Sauerstoff mehr in nennenswerte Tiefe. 

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Unvermeidlicherweise ist das Plankton, von dem die meisten Lebensformen im See abhängen, jetzt auf weniger als ein Drittel des überreichlichen Angebots von vor 25 Jahren zurückgegangen. Die einzigartige Schnecke Tiphoboia horei, die es nur in diesem See gibt, hat zwei Drittel ihres Habitats verloren; heute findet man sie nur in Tiefen von maximal 100 Metern, während sie sich vor 25 Jahren dreimal so tief wagte.16 Diese Veränderungen, warnen Wissenschaftler, gehen weiter, und es droht ein Zusammen­bruch des gesamten Ökosystems im See. Unter dem Gesichtspunkt der Biodiversität ist der Tanganjikasee einer der wichtigsten der Welt, in seiner Verwundbarkeit gegenüber dem Klimawandel aber nicht einzigartig. Überall auf der Erde erwärmen sich die Oberflächenschichten von Seen, was das Durchmischen des Wassers verhindert und die Basis ihrer Produktivität bedroht.

Sogar entlegene, scheinbar unberührte Regenwälder sind von der globalen Erwärmung betroffen. In Gegenden am Amazonas, die weit ab von irgendwelchen direkten menschlichen Einflüssen liegen, verändern sich die Anteile der Bäume, die das Blätterdach bilden. Angetrieben von höheren CGvNiveaus schießen schnell wachsende Arten in die Höhe und verdrängen langsamer wachsende. Da die wenigen rasch wachsenden Spezies ihre Nachbarn verschatten, vermindert sich die Biodiversität des Regenwaldes, denn die Vögel und andere Tiere, die von den langsamer wachsenden Arten als Nahrungsquelle abhängig sind, verschwinden mitsamt ihren Ressourcen. In anderen Regenwäldern hat man beobachtet, dass die von Herbivoren benutzten Pflanzen schneller wachsen, ihre Blätter aber nicht mehr so nährstoffhaltig sind, weil die Pflanzen trotz des vermehrten CO2 von anderen entscheidenden Nährstoffen nicht mehr bekommen können. Dieser Rückgang des Nährwerts ist so groß, dass die Populationen einiger Blätter fressender Säugetiere — beispielsweise die der in australischen Regenwäldern lebenden Fuchskusus — vermutlich stark zurückgehen werden.17) 

Der aus steigenden Temperaturen resultierende Wandel der tropischen Biodiversität ist nicht immer so subtil. El Nino von 1997/98 verheerte die Länder, die am südwestlichen Pazifik liegen. Welche Auswirkungen er auf die großen Wälder Borneos hatte, haben wir bereits gehört, weniger genau aber weiß man, wie er die Wälder Neuguineas getroffen hat, der zweitgrößten Insel der Welt.

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Das um Australien konzentrierte Gebiet östlich der Wallace-Linie, auch als Meganesien bekannt, hat eine uralte, ganz eigene Flora und Fauna. Das reichste Habitat in ganz Meganesien sind die Eichenwälder in den Bergen Neuguineas, und am besten ausgebildet sind sie zwischen 1500 und 2000 Metern Höhe in Tälern, die sich von der Wasserscheide in der Mitte der Insel nach Norden ziehen. Wenn die Früchte reifen, ist dort der satte Humus des Waldbodens mit großen, glänzenden braunen Eicheln übersät. Hebt man eine auf, entdeckt man höchstwahrscheinlich, dass darauf herumgebissen worden ist, denn diese Wälder sind die Heimat von mehr Kletterbeutler- und Riesenbaumrattenarten, als es irgendwo sonst auf Erden gibt, und viele von ihnen tun nichts lieber, als Eicheln zu fressen.

Als ich erstmals diese wundersamen Wälder sah — 1985 im Nong-Tal nördlich von Telefomin — erstreckten sie sich vor meinen Augen als ein ununter­brochenes, urzeitliches Band der Wildnis in die blaue Ferne. Als erster Säugetierspezialist überhaupt in jener Gegend zu arbeiten war ein seltenes Privileg, denn sie erwies sich rasch als Heimat vieler ungewöhnlicher Spezies, von denen einige ausschließlich hier vorkamen und der Wissenschaft völlig unbekannt waren. Bei einer dieser Kreaturen handelte es sich um einen gräulichen, katzengroßen Kuskus mit großen braunen Augen, kleinen Pfoten und einem kurzen Schwanz, den die Telefol (die manchmal zum Jagen in das Tal gingen) matanim nannten. Sie kannten ihn natürlich seit Jahrtausenden, aber für Wissenschaftler wie mich war er völlig neu. Er erwies sich als eine primitive Spezies, deren Ursprünge dicht an der Basis des Kuskus-Stammbaums Neuguineas lagen; und wie ich den Gesprächen mit den Jägern entnehmen konnte, ernährten sich die Tiere hauptsächlich von Feigenblättern, Früchten und dem verrottenden Holz bestimmter Bäume.

In das Nong-Tal zu kommen, ist alles andere als leicht. Als sich mir 2001 die Gelegenheit bot, dorthin zurückzukehren, griff ich also sofort zu. Man kann sich vorstellen, wie aufgeregt ich war, aber noch ehe der Hubschrauber landete, war meine Stimmung auf einem Tiefpunkt. Das gesamte Tal samt der umliegenden Gipfel hatte sich in einen Hain aus Grabstelen verwandelt, die einst Pflanzen gewesen waren.

Später erzählten mir meine alten Telefol-Freunde, dass in der zweiten Hälfte des Jahres 1997 kaum oder gar kein Regen gefallen war und der wolkenlose Himmel bitteren Frost geschickt hatte, der die Bäume tötete. Bis Neujahr waren die Reste des Waldes knochentrocken, und der Boden war mit den Blättern der toten Bäume bedeckt. Als dann das Feuer kam, raste es das Tal hinunter und die angrenzenden Gipfel hoch. Monatelang brannte es, und selbst noch ein Jahr später flackerte es immer mal wieder aus dem Moos und den tief in der Erde vergrabenen Pflanzenresten wieder auf.

Diese Ereigniskette hatte die Region vollkommen verwüstet, die wilden Tiere aus ihren Verstecken getrieben und, wie die große Zahl von als Trophäen ausgestellten Marsupialier-Kiefern bezeugte, die letzten unberührten Rückzugsgebiete den Jägern zugänglich gemacht. Bei früheren Besuchen war mir aufgefallen, dass Kiefertrophäen etwas Seltenes waren, weil das Gelände so schwierig war und der dichte Waldbewuchs den Zugang erschwerte. Jetzt hingen Ketten von Kiefern der größeren und selteneren Tiere wie beispielsweise Baumkängurus, Kletterbeutlern und Riesenbaumratten über den Feuerstellen und zeigten, dass selbst einem mittelmäßigen Jäger seine Beute gewiss war. 

Hing dort unter diesen Trophäen, fragte ich mich, vielleicht der Kieferknochen des allerletzten matanim auf Erden? Es würde Jahre der Forschung brauchen, um das Vorhandensein oder Fehlen eines so seltenen und schwer zu findenden Tieres zu bestätigen. Aber was ich bei meinem Besuch im Jahr 2001 sah, brachte mich zu dem Schluss, dass sein Überleben als ein Wunder gelten müsste.

In tropischen und gemäßigten Gegenden ist das Tempo des Klimawandels nicht außergewöhnlich hoch, und bis jetzt wurden nur relativ wenige Spezies davon in Mitleidenschaft gezogen. An den Enden der Erde jedoch vollzieht sich der Klimawandel mittlerweile mit doppelt so großer Geschwindigkeit wie irgendwo sonst. Wenn wir die Auswirkungen eines rapiden Wandels untersuchen wollen — wie er den gesamten Planeten in der Zukunft betreffen wird —, müssen wir in jenes große Reich des ewigen Eises und Schnees vordringen, das als Kryosphäre bekannt ist.

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