Hans-Lothar Fischer

Nachträgliche Prognose
vom Untergang der DDR

Mit freundlicher Duldung von Herrn Fischer für detopia.de

 

2005 by Verlagshaus Monsenstein und Vannerdat OHG
Herstellung: MV-Verlag Münster 
ISBN 3-86582-001-8 

Hans-Lothar Fischer :  Nachträgliche Prognose vom Untergang der DDR  (2005)  /  Ingenieurhochschule Zwickau   

2005  (*1938)  400+30 Seiten

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Inhalt

 

Vorwort  (1) 

Zum Buch:

Die DDR zerbrach an ihrer Wirtschaftsordnung. Das Ministerium für Staatssicherheit als allgegenwärtiger Wächter — auch über das »richtige« Denken in der Wirtschaft — reichte tief in die Hochschulen der DDR hinein. Allein an der Ingenieurhochschule Zwickau gab es mehr als vierzig Inoffizielle Mitarbeiter unter Professoren, Assistenten, Studenten und Administratoren. Die MfS-Akten dokumentieren dies.

Neben den Tätern und Opfern — also jenen, die sich offiziell oder inoffiziell mit dem »Organ« eingelassen haben und jenen, die unter den vielfältigen Repressionen zu leiden hatten — gab es auch geschickte Nutznießer des Systems. Sie nutzten dessen Besonderheiten zum eigenen Vorteil (Forschungsgelder und Karrieremöglichkeiten o.a.), ohne sich direkt mit dem MfS einzulassen. Das MfS war Adressat für Gerüchte und Denunziationen.

Das blieb nicht ohne Auswirkungen auf das Denken und Wirken der Ökonomen an DDR-Hochschulen. Viele Altkader haben den Zusammenbruch überlebt, lehren jetzt Marktwirtschaft und berufen weitere Altkader. Sie verhindern damit den dringend notwendigen Diskurs über die Ursachen des ökonomischen Desasters. Die Erneuerung der wirtschafts­wissen­schaftlichen Fachbereiche an ostdeutschen Hochschulen kommt nur mühsam voran. Der Untergang der DDR dauert also immer noch an.....

 

Hans-Lothar Fischer (*1938) promovierte bei Hans K. Schneider am Institut für Siedlungs- und Wohnungswesen der Universität Münster über das wirtschaftliche Wachstum von Städten. Von 1993 bis zu seiner Emeritierung in 2003 lehrte er Regional- und Immobilienökonomie an der Westsächsischen Hochschule Zwickau (FH). 

 

1. Sicherung der Volkswirtschaft  (10)

Vom Ende des MfS unter der letzten sozialistischen DDR-Regierung — Das Amt für Nationale Sicherheit und der Runde Tisch — MfS-interne Rechtfertigungsversuche  

2. Logik der Sowjet-Ökonomie  (18)

Die Wirtschaftstheorie von Karl Marx — Stalins autokratisches Ausbeutungskonzept (Verstaatlichung des Bankensystems — Abschaffung des Privateigentums — Hohe Güterpreise, niedrige Löhne — System der Gewinnabschöpfung bei Staatsunternehmen) — Widerstand gegen die Sowjetisierung der Wirtschaft — Sowjetisierung der Gesellschaft basiert ganz wesentlich auf einem perfekt funktionierendem Terror-System — Kollektivierung der Agrarwirtschaft — Beseitigung der Kulaken — Die Rolle der Tscheka — Das System Gulag — Deportationen und Zwangsarbeit — Der Krieg gegen das eigene Volk — "Vaterländischer Krieg" — Ausdehnung des Sowjetimperiums nach Westen   

3. Die Sowjetisierung der ostdeutschen Wirtschaft  (47)

Reparationsziele der Sowjets — Besatzungsregime unter dem NKWD-Terror — Ökonomische Ausgangslage in der SBZ/DDR — Reparationen und Einbindung der DDR-Wirtschaft in den RGW — Vernichtung der „bürgerlichen Ökonomie" — Die Schauprozesse am Zwickauer Landgericht: Teil 1: Schauprozeß gegen Werdauer Schüler — Teil 2: Schauprozesse gegen Meeraner und Glauchauer Industrielle — Das Problem der offenen Grenzen nach Westen — Gründe für Widerstand — Transaktionskosten der Flucht aus dem Unterdrückungssystem in den Westen — Mangel an ausgebildeten Kadern — Grausame Logik des Mauerbaus — Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa-Ausreiseproblematik und Republikflucht 

4. Eroberung der Universitäten  (67)  

Von der "Humboldt-Universität zur "Hitler"-Universität — Von der "Hitler"-Universität zur "Ulbrichf"-Universität — Abkehr vom kritischen Rationalismus — Positive und normative Ökonomik — Wissenschaftler als Parteiarbeiter — Die sozialistischen Hochschulen — Kampf gegen die „Revisionistische Opposition" — Hochschulen im "demokratischen Zentralismus" — Ulbrichts Rede vor dem Auditorium der Universität zu Halle — "Freimütige Worte in Anwesenheit Ulbrichts" — Perspektiven der Personalentwicklung an DDR-Hochschulen

5. Zentralistischer Staatsaufbau der DDR  (92)

Parteiaufbau und Herrschaftsmechanismen — Führungsrolle der SED — Aufbau der Staatsverwaltung — Kaderpolitik (Kadernomenklatur, Kontrollnomenklatur, Kaderentwicklung) — Hochschulen im DDR-Herrschaftssystem — Rolle des MfS

6. Das MfS an der Ingenieurhochschule Zwickau  (108)  

Der hauptamtlich Verantwortliche — Rekrutierung Inoffizieller Mitarbeiter — Studenten als Inoffizielle Mitarbeiter — Inoffizielle Mitarbeiter in Wissenschaft und Administration — Kaderpolitik — Rolle der GMS — Rolle der Massenorganisationen (ABI, FDGB, FDJ, SED-Betriebskampfgruppen) — Informationsquellen — Politisch-ideologische Diversion — Politische Untergrundtätigkeit — MfS-Überwachung der Lehre — Beispielhafte Darstellung eines Operativen Vorgangs anhand der Ingenieurhochschule Zwickau — Die "Frühstücksrunde" an der Ingenieurhochschule Zwickau als Gerüchteküche

7. Zwickauer Instandhaltungsökonomie  (255) 

Instandhaltung in der Wettbewerbswirtschaft und in der sozialistischen Wirtschaftordnung — Instandhaltung in der DDR-Wirtschafts­wissenschaft — Die Sklavensprache der DDR-Ökonomen — DDR-Instandhaltung bei Juristen und Administratoren — Instandhaltung bei „Muckefuck-Ökonomen" — Mathematiker und Informatiker als Hilfsökonomen — Die Rolle der „Algorithmiker" in der Instandhaltung — Instandhaltungs-Wunderwaffe für den Endsieg

8. Rette sich, wer kann  (291)

Die Wende im MfS — Konspiration, Konspiration und noch einmal Konspiration — Wie kommen wir aus der Prädulie? — Ohne Waffen in die Produktion — Die Wende an der Ingenieurhochschule Zwickau — Der letzte Wissenschaftsminister der DDR — Alte und neue Überlebensregeln — Personal- und Evaluierungskommissionen — Der unausgesprochene "Nachhole-Bedarf" — Überholen ohne einzuholen — Personalkommission — Evaluierungskommissionen — Überlebende Altkader

9. Paralysierte Ökonomie  (332)  

Weitere Hausberufungen — Der selbstverwaltete Fachbereich Wirtschaftswissenschaften — Ost-West-Kommunikation — Ungewohnte Berufungsverfahren — Wahlen wie bei Honecker — Wachbuch-Story — Mobbing an der WHZ (1. Teil) — Zweiter Mobbing-Angriff  — "University of applied suppression"   

  

Vorwort

 1

Wirtschaftsordnungen entwickeln sich über sehr lange historische Zeiträume und die Menschen, die — als Konsumenten, Produzenten, Investoren, Bürger, Politiker und Bürokraten — in diesen Ordnungen aktiv geworden sind, haben mit ihrem Tun an der Gestaltung dieser Ordnung mitgewirkt. Im Laufe der historischen Entwicklung haben sich Ordnungen, Institutionen und Regelsysteme herausgebildet, mit denen die Menschen ihr Lebensumfeld so gestaltet haben, daß sie darin nachhaltig leben konnten. 

Das gesellschaftliche Wissen um die Methoden und Prinzipien der nachhaltigen Organisation von Gesellschaften hat sich über Jahrhunderte akkumuliert. Ökonomik ist eigentlich nichts anderes als die Wissenschaft davon, wie man seinen „Haushalt" nachhaltig organisiert. Die Evolutionsökonomik ist ein noch recht junger Zweig der modernen Nationalökonomik. Sie befasst sich mit den Bedingungen für wirtschaftliche Entwicklung, gründet dabei auf den bedeutenden Ökonomen Schumpeter, geht der Frage nach, wie der Wettbewerb von Ideen zu gestalten ist, damit Innovationen in einer Gesellschaft entstehen, folgt dabei den wegweisenden Arbeiten von Hayeks und widmet sich der Bedeutung von Institutionen für den Bestand von Gesellschaftssystemen. Die sog. Neue Institutionenökonomik betrachtet drei wichtige Felder:

• die Theorie der Transaktionskosten (das sind Kosten, die im Zusammenhang mit Anbahnung, Abschluss und Überwachung von Verträgen entstehen) hat unter dem Gesichtspunkt der Funktions­fähigkeit von Gesellschaften eine ganz besonders große Bedeutung.

• Die Gestaltung der Eigentumsrechte in einer Gesellschaft ist von Bedeutung, wenn man nach den Handlungs- und Verfügungsspielräumen von Individuen fragt. Arbeitsteilung und Güteraustausch in einer Gesellschaft funktionieren bei intakten Eigentumsordnungen, in politischen Systemen ohne Eigentumsrechte muss dezentrale Koordination von individuellen Wirtschaftsplänen durch einen Zentral­plan­mechanismus ersetzt werden. Aus vielerlei Gründen erweisen sich diese Gesellschafts­systeme dann als nicht nachhaltig.

• Die Principal-Agent-Theorie befasst sich damit, wie Kooperation zwischen Wirtschafts­subjekten funktioniert, wenn Interessenkonflikte und Informationsasymmetrien vorliegen. Wichtig wird in diesen Fällen, wie die Beziehungen zwischen dem Vertretenen (Principal) und dem Vertreter (Agent) organisiert werden. Man kann diese Beziehungen auf vielen Feldern untersuchen. Hier interessiert der Beziehungszusammenhang zwischen Bürger und Politiker, sowie zwischen Politiker und Bürokrat. Wie wichtig die Existenz einer solchen gewachsenen Ordnung ist, erkennt man immer dann, wenn wesentliche Elemente dieser umfassenden Ordnung plötzlich für einen längeren Zeitraum entfallen und durch neue Regelsysteme ersetzt werden.

So etwas geschah in Ostdeutschland unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg. Der Übergang auf das neue Gesellschaftssystem weckte Widerstand, weil sich die Transaktionskosten dramatisch erhöhten und die über Jahrhunderte gewachsene Eigentumsrechtsordnung aus vordergründigen ideologischen Motiven abgeschafft wurde. Mit dem Ende des Nationalsozialismus und der Errichtung eines sozialistischen Gesellschaftssystems verbanden sich aber auch Hoffnungen bei den Menschen. Das neue Gesellschaftssystem wird auf den Prüfstand gestellt und es muß zeigen, daß es sich bewährt. Die Menschen in einer solchen Transformation der Ordnung entwickeln neue Regeln und Verhaltensweisen, um ihr Überleben zu organisieren.

Die marxistisch-leninistische Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung wurde von außen in die DDR eingeführt. Der Abschnitt 2 behandelt die Logik der Sowjet-Ökonomie. Dabei stellt sich heraus, daß der Marxismus-Leninismus keine tragfähige Grundlage für ein in sich konsistentes und wissenschaftlich begründbares Gesellschaftsmodell bietet. Das hatten die Machtpragmatiker im Kreml nach der Oktoberrevolution ganz schnell erkannt und dann das stalinistische Ausbeutungsmodell konzipiert und umgesetzt. Die „neue" staatliche Ordnung traf aber nicht auf Zustimmung bei allen, sie musste mit bewährten — in der frühen Sowjetunion entstandenen — tschekistischen Mitteln abgesichert werden.

2


Mit der Sowjetisierung Ostdeutschlands nach dem Ende des zweiten Weltkrieges, wird das stalinistische System übertragen (Abschnitt 3). Diese „Sicherungsmaßnahmen" haben die Menschen in der DDR in einem Ausmaß geprägt, das jemand, der dort nicht gelebt hat, kaum ermessen kann. Das Ministerium für Staatssicherheit als Schwert und Schild der SED hat die ideologische Sicherung aller wesentlichen Lebensbereiche in der DDR als sein Aufgabenfeld begriffen. 

In dieser Studie werden nur zwei Bereiche näher untersucht: in der Hauptsache die Hochschulen und Universitäten als wichtige Instrumente und wirtschaftliche Produktivkräfte und eher nebenbei auch die Organisationseinheiten der sozialistischen Wirtschaft. Es soll gezeigt werden, wie sie sich die Menschen hier unter dem allgegenwärtigen Einfluß des Ministeriums für Staatssicherheit verhielten. Die Hochschulen bildeten wichtige Kader für die weitere Entwicklung des sozialistischen Gesellschaftssystems aus und waren daher im ständigen Blickfeld der Machthaber. Dabei wurde besonders auf die richtige Kaderauswahl und die fortlaufende Linientreue derjenigen Kader geachtet, die wichtige Positionen im Wirtschaftssystem der DDR zu übernehmen hatten. 

Die Eroberung der Universitäten, insbesondere die Umgestaltung der bürgerlichen Wirtschaftswissenschaft hin zu einer sozialistischen Systemwissenschaft wird im Abschnitt 4 behandelt. Dabei engt sich das Blickfeld der Wirtschaftswissenschaft unter dem Einfluß der totalitären sozialistischen Ideologie immer mehr ein. Die „bürgerliche Ökonomie" degeneriert zu einer sehr engen und wenig Erklärungsansätze bietenden Vulgärwissenschaft.

"Machtfragen sind Kaderfragen". Das ist das beherrschende Machtprinzip, das auch an den Hochschulen der DDR rigoros durchgesetzt wird. Deshalb wird die Herrschaftsstruktur der sozialistischen Hochschule, die das unter den Nationalsozialisten grundlegend umorganisierte System bis 1968 auf neue Regeln umstellte, im 5. Abschnitt dargestellt.

 3


Der 6. Abschnitt schließlich befaßt sich mit der Arbeitsweise einer MfS-Kreisdienststelle in der Ingenieurhochschule Zwickau. Dabei konnte auf Akten der Bundesbehörde für die Stasi-Unterlagen (Außenstelle Chemnitz) zurückgegriffen werden. Von den riesigen Aktenbergen konnte nur eine vergleichsweise geringe Anzahl an Akten verarbeitet werden. Die Mitarbeiter in der BStU-Außenstelle Chemnitz haben mit ihrem Rat und ihrer Erfahrung wichtige Unterstützung gegeben. 

Die Arbeit des MfS hat natürlich die Arbeit der Menschen in der Hochschule nachhaltig beeinflußt. Forschung und Lehre standen unter ständiger Beobachtung. Mißtrauen und Repression gegenüber Andersdenkenden waren an der Tagesordnung. Das prägte natürlich auch die Arbeitsthemen in der Sektion „Sozialistische Betriebswirtschaft" dieser Hochschule. Die Zwickauer Ingenieurhochschule hatte sich auf die Instandhaltungsökonomie spezialisiert. In der Instandhaltung geht es um die richtige Pflege des betrieblichen und — damit natürlich auch zugleich: — des volkswirtschaftlichen Kapitalstocks. Wenn hier systembedingt Fehler gemacht werden, dann hat das überaus weit reichende Folgen. 

Jeder DDR-Besucher konnte die mangelnden Instandhaltungsleistungen der DDR-Ökonomie erkennen. Der Zerfall der DDR-Städte ist in ganz entscheidendem Maße auf die durch Eingriffe in die Eigentumsordnung und durch die praktizierte Niedrigmietenpolitik ausgelösten dramatischen Instandhaltungsdefizite zurückzuführen. Die volkswirtschaftliche Horte von wichtigen Ersatzteilen hat ein unbeschreibliches hohes Ausmaß angenommen. Das wurde DDR-Besuchern aus dem Westen augenfällig bei einem kurzen Blick in die Privatgaragen vorgeführt. Viel bedeutendere Erscheinungen von Horte hat es in den Industriebetrieben der DDR gegeben. Große Teile der volkswirtschaftlichen Produktion wanderten aus Vorsichtsmotiven in die Horte und wurden damit der wirtschaftlichen Nutzung entzogen. 

Die Zwickauer Hochschule hat ihre „Forschungsergebnisse" auf einer wissenschaftlichen Konferenz mit internationaler (will sagen: aus den sozialistischen Bruderländern) Beteiligung präsentiert und glaubte damit einen Beitrag zu einer neuen Wirtschaftsstrategie der SED zu liefern. Aber es war wohl viel zu spät, über diese Dinge nachzudenken. Die westliche Ökonomik hat sich mit diesem spezifischen Problem sozialistischer Wirtschaft bisher nur am Rande beschäftigt. 

Der Abschnitt 7 beleuchtet dieses interessante Thema etwas eingehender und macht auch klar, warum das Experiment des sozialistischen Wirtschaftssystems in einer entwickelten Volkswirtschaft scheitern mußte.

4


Aus diesem Abschnitt leitet sich auch das beim ersten Hinschauen nicht so unmittelbar einsichtige Thema (Nachträgliche Prognose) dieser Studie ab. Wenn ein Flugzeug abstürzt oder ein Schiff untergeht, dann fragt man ganz selbstverständlich nach den Gründen für diese Katastrophen. Die methodische Vorgehensweise der Analysen ist in diesen Fällen immer gleich: Es gibt Theorien, nach denen Schiffe sich über Wasser halten oder Flugzeuge vom Boden abheben und fliegen. 

Ganz bestimmte Bedingungen müssen nach diesen Theorien erfüllt sein, damit Schiffe und Flugzeuge als stabile Systeme existieren. Folglich sucht man nach den Bedingungen, die diese Systeme destabilisierten. Wichtige Erkenntnisse für die Aufklärung liefern Wetterberichte, Gesprächsprotokolle der Mannschaften untereinander und mit externen Gesprächspartnern (Lotsen, Tower, u.a.), Verteilung und Zustand der Wrackteile und vieles andere mehr. In den vierzig Jahren DDR haben sich alle bedeutenden Rahmenbedingungen für funktionierende Gesellschaften radikal verändert. Im Zusammenspiel aller dieser Faktoren liegen schließlich die Ursachen für den Zusammenbruch der DDR.

Die Abschnitte 3 und 8 behandeln vergleichbare Probleme. In beiden Abschnitten geht es um Transformations­probleme. D.h. es wird umrissen, wie Menschen auf den Zusammenbruch herkömmlicher Ordnungen reagieren und wie sie — individuell oder kollektiv — ihr Überleben organisieren. Die erste Transformation in das sozialistische Gesellschaftssystem geschah zunächst unter massivem sowjetischen Druck und später unter Einsatz eigener Unterdrückungskräfte. Die zweite Transformation vollzog sich unter zivilisierten, demokratischen Bedingungen eines Rechtstaats. Natürlich muß man auch unter diesen Bedingungen mit Widerstand rechnen. Diejenigen, die an das alte System besonders gut angepaßt waren, kamen in Schwierigkeiten. Nicht nur jene, die hauptamtlich oder inoffiziell mit dem "Organ" zu tun hatten, auch diejenigen, die Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten entwickelt hatten, die sich in die neue Zeit nur schwer übertragen und verwerten ließen, werden die Transformationsphase nicht gerade mit Freude begrüßt haben.

Der neunte Abschnitt schließlich behandelt das Aufeinandertreffen zweier völlig fremder Begriffs- und Denkwelten in einem deutschdeutschen Fachbereich für Wirtschaftswissenschaften. Man sprach deutsch und hat sich dennoch nicht verstanden. Die westdeutschen Ökonomen waren unerfahren in totalitären Denkstrukturen. Die ostdeutschen Ökonomen hatten mit Repressionssystemen ausgiebige Erfahrungen sammeln können und mußten nun ständig um ihre wissenschaftliche Reputation kämpfen. Der vom methodologischen Individualismus geprägte Westökonom und der in "solidarischen" Kadersystemen groß gewordene Ostökonom hatten große Schwierigkeiten bei der Gestaltung eines neuen Leitbildes für die Ausbildung von jungen Wirtschaftswissenschaftlern. 

Die in langfristigen Ordnungen und geschichtlichen Zusammenhängen denkenden West-Ökonomen und der ums Überleben kämpfende Ostökonom, der sich — nicht nur von Westökonomen, sondern zunehmend auch von Studenten, Nachbarn und den eigenen Kindern — fragen lassen mußte, welche Rolle er eigentlich in dem vergangenen System gespielt hat, hatten außerordentlich große Kommunikationsprobleme, obwohl sie an der gleichen Aufgabe arbeiteten. Das konnte nicht gut gehen. 

In der zweiten Transformationsperiode mußte es ja eigentlich darum gehen, die durch 40 Jahre DDR völlig entleerten individuellen und kollektiven Akkus, in denen normalerweise die grundlegenden rechtlichen, ordnungspolitischen und ökonomischen Zusammenhänge gespeichert sind, erst wieder zu füllen. Bei dieser Aufgabe ist der Fachbereich Wirtschaftswissenschaften wohl gescheitert. Die durchschnittlichen Studienzeiten liegen deutlich über dem Bundesdurchschnitt und beim deutschlandweit durchgeführten Hochschulranking liegen alle angebotenen Wirtschaftsstudiengänge in Zwickau am untersten Ende der Skala.

 5-6

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