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22   Eine Regierungserklärung

 alternative Regierungserklärungen bei Carl Amery 1983 und Rudolf Bahro 1987 

 

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Nehmen wir an, die geistigen Gewichte in unserer Gesellschaft verschieben sich, weil immer mehr Menschen einsehen: Die bisherige Politik läßt zukünftige Generationen ins offene Messer laufen. Sie ist eine Politik, die langfristig auf Massenmord hinausläuft, demokratisches Handeln verhindert und jenseits jeglicher vernünftigen Verfassung liegt, einschließlich der des Grundgesetzes.

Also ist nicht nur bekannt, sondern auch erkannt, wir brauchen eine Politik der ökologischen Zeitenwende, die eine zukunftsfähige Republik ansteuert, wenn immer mehr Menschen dies denken und auch öffentlich artikulieren und immer mehr Exponentinnen auch in Knotenpunkte der gesellschaftlichen Verstärkung gelangen, alternative Projekte an Ausstrahlung gewinnen, dann kann auch die rückwärtsgewandteste Regierung nicht an diesem Fakt vorbei. Sie muß sich auf das gewachsene neue geistige Klima einstellen. Trotz aller fest gefügten gesellschaftlichen Struktur hängt es von jedem einzelnen ab, ob wir zu einer Rettungspolitik kommen oder im Notstand verenden.

Der Wandel in der Bevölkerung wird sich dann ansatzweise auch in Wahlergebnissen ausdrücken, wenngleich an dieser Schnittstelle über die Perspektive nicht in erster Linie entschieden werden wird. Die Grundvoraussetzung, daß ein Kanzler der ökologischen Wende die politische Bühne betreten kann, ist eine neue geistige Verfaßtheit der Bevölkerung, sonst bekommt er keinen Fuß vor den anderen gesetzt. 

Um dies zu erreichen, ist vor allen Dingen eine radikalisierte Minderheit erforderlich, die dieses Umdenken beständig neu in die öffentliche Debatte bringt. Die verschiedenen Ökologen müssen unabhängig von politischen oder anderen Frontbildungen versuchen, miteinander zu kooperieren. So können sie auch den eigenen Spielraum erweitern. Man muß sich gegenseitig die Bälle zuwerfen, um die Ewiggestrigen ins Aus zu spielen. 

Unter dem wird nichts zu machen sein. 

Wir brauchen eine starke Ökologiebewegung, die auch bereit ist, strategisch-politisch die ökologische Neugestaltung der Gesellschaft entscheidend mitzu­formieren. Es genügt nicht, Unternehmen das Drei-Liter-Auto etc. anzuempfehlen, hier gentechnisch veränderte Lebensmittel versuchen aus den Verkaufs­regalen zu verbannen oder da ein Stück Landschaft vor der Zersiedlung zu retten. Das muß eingebunden sein in das Große-Ganze, darf nicht vergessen lassen, es geht hier um Sein oder Nichtsein der menschlichen Gattung. Ein neues politisches Klima in der Bevölkerung wird zumindest fördern, daß ein Kanzler der ökologischen Wende auftreten kann bzw. daß der potentiell bessere Kandidat die Chance bekommt. 

Hermann Scheer hätte 1998 als Kandidat für die Kanzlerschaft nicht nur die schlechteren Voraussetzungen gehabt als Gerhard Schröder, selbst wenn es eine Mitglieder­abstimmung in der SPD gegeben hätte. Das würde nicht nur daran gelegen haben, daß die Genossen noch nicht so weit sind, wobei das wohl auch zutrifft, aber der entscheidende Punkt ist, in großen Teilen des Massenbewußtseins der Bevölkerung dürfte eine radikale ökologische Wende eher als unzumutbare Angelegenheit in der eigenen Wahrnehmung verankert sein, so sehr man andererseits davon ausgehen mag, daß in Sachen Umweltschutz etwas getan werden müßte. An diesem Dilemma können die Medien einen hohen Anteil für sich verbuchen, aber natürlich auch alle anderen, die Multiplikatoren für Meinungsbildung sind. Der Änderungsbedarf, der hier besteht ist bereits ausführlich angemahnt worden.

Nehme ich nur die erste Regierungserklärung von Gerhard Schröder als SPD-Bundeskanzler am 10.11.1998, so zeigt sich, er hat von der ökologischen Zivilisations­problematik rein gar nichts begriffen. Es geht ihm um eine Modernisierung der Gesellschaft, die in der Konsequenz den Niedergang des menschlichen Geschlechts bedeutet. Umweltpolitik kommt bestenfalls als Schmieröl für einen pathologisch ökonomischen Wachstumskurs vor. Künftige Generationen werden eine solche Herangehensweise nur als Anschlag auf ihre Lebensgrundlagen begreifen können. 

All dies heißt natürlich nicht, daß man die eine oder andere Detailfrage der Rede nicht einer Lösung zuführen müßte. Aber wenn der politische Rahmen nicht stimmt, ist das alles auf Sand gebaut. 

Rudolf Bahro meint sinngemäß, wir brauchten eine elterlich-liebevolle Regierung, die sich aktiv die Zustimmung für die notwendigen Maßnahmen zur Rationierung organisiert. Darüber hinaus müsse der Kampf der Interessenhaufen soweit zurückgedrängt werden, daß der Raum und die Zeit freibleiben, um eine andere Kultur aufzubauen. Im Gespräch mit Günter Gaus äußerte er darüber hinaus den Gedanken, die Selbstbegrenzung werde sich in der Art durchsetzen können, wie heute Verkehrs­sünder durch die Polizei zur Ordnung gerufen werden. Darüber ist der Autofahrer auch nicht so begeistert, aber er weiß, daß er eine Übertretung begangen hat, und akzeptiert die Strafe in der Regel.162

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Jedenfalls werden terroristische Ökodiktaturen keine Lösungen für unsere Problematik erbringen. An anderer Stelle führt Rudolf Bahro folgenden Gedanken aus, den ich für sehr wichtig halte:

"Macht überhaupt darf für eine ökologische Rettungspolitik nur <negativ>, nur zur Begrenzung und Verhinderung des überhand nehmenden Unheils eingesetzt werden. Positive Zwecke kann sie nicht setzen, höchstens subsidiär stützen. Keine noch so wohlmeinende Tyrannis würde eine gute, heile Gesellschaft schaffen."163

Schon als ich Rudolf Bahros Buch <Logik der Rettung> 1990 zum erstenmal las, fiel mir die Stelle, wo der angenommene Ökokanzler eine Fernseh­ansprache hält, als besonders interessant auf. Diesen Gedanken möchte ich hier aufgreifen. Mir scheint es angebracht, das Thema erneut aufzurollen und noch dichter an den Ernstfall heranzurücken. Die Rede ist exakt so formuliert, wie sie tatsächlich gehalten werden könnte, geradezu als Vorlage für einen tatsächlich existierenden Ökokanzler geschrieben. Daß es sich dabei auch um eine Kanzlerin handeln kann, versteht sich hier von selbst.

Einzelne Überlegungen, die mir in Rudolf Bahros Fassung gut gefallen haben, sind in die neue Rede eingearbeitet. Gerade im materiell-technischen Bereich setze ich aber die Schwerpunkte etwas anders als Bahro, wie auch in einigen anderen Aspekten. Im übrigen kann man an den einzelnen Formulierungen sicher noch dies und jenes verbessern, klar hervortreten muß das Grundanliegen. Und es ist natürlich erst mal nichts weiter als nur eine Rede und noch kein praktisches Handeln. Aber sie signalisiert einen Anfang, der untersetzt werden muß durch eine handhabbare Reformstrategie. 

 

detopia-2012:  Marko Ferst macht hierzu 3 Anmerkungen, welche ich hierher vorziehe:  
164)  Wolfgang Engelhardt; Das Ende der Artenvielfalt. Aussterben und Ausrottung von Tieren, S.66   => zu Pflanzenarten(-tod) S.316 
165)  Franz Alt; Der ökologische Jesus. Vertrauen in die Schöpfung; S.25     => Zu Erosion, S.316 
166)  siehe: H.P. Dürr; Die Zukunft ist ein unbetretener Pfad. Bedeutung und Gestaltung eines ökologischen Lebensstils, S.156    => zu Wohlstandsbedarf, S.319 

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Der neue Ökokanzler könnte also, nachdem die Tagesschau bereits darauf vorbereitet hat, 
um 20.15 Uhr im ersten Programm auf Sendung gehen und etwa folgendes erklären: 

 

"Wir sind zu laut geworden. Unsere Kultur ist zu laut geworden, zu mächtig, zu übermächtig, zu kriegerisch. Die Menschheit steht vor der größten Bewähr­ungs­probe ihrer gesamten Geschichte. Wir laufen auf eine ökoglobale Weltkrise zu, die ganze Zivilisation steht auf dem Spiel, und die weitere Existenz der Menschheit ist in Frage gestellt.

Nach allen Informationen, die wir besitzen, müssen wir früher oder später damit rechnen, daß die Ökosysteme dem menschlichen Ausbeutungs­drang nicht mehr standhalten werden. 

Niemand vermag zu sagen, wo die Sicherungen zuerst durchbrennen. Die beginnende Klimakatastrophe unterwirft viele Lebensräume zunächst erheblichen Veränderungen, bis die Belastungen so stark werden, daß unkalkulierbare Zerstörungen Raum greifen können. Täglich gelangen weltweit Millionen Tonnen Kohlendioxid, Methan und anderer Treibhausgase durch unser Industriesystem in die Atmosphäre und schließen die Wärmefalle immer weiter, drei- bis vierhundert Tier- und Pflanzenarten sterben täglich aus.

Der artenreiche Regenwald wird Opfer ungebremster Brandrodung und Vernutzung, durch die Erwärmung der Weltmeere sterben die ebenfalls artenreichen Korallenriffe ab. In immer kürzeren Abständen verdoppelt sich die Bevölkerungszahl auf der Erde. Die Wüstenregionen wachsen alle 24 Stunden um 20.000 Hektar, 86 Millionen Tonnen fruchtbarer Boden gehen weltweit durch Erosion verloren.

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Die schützende Ozonschicht der Erde wird dünner, und weit über die Antarktis hinaus reißt sie regelmäßig gänzlich auf. Hautkrebs, Immunschwäche und geringerer Pflanzenwuchs sind die Folge. Wie weit wird sich das Ozonloch über die Antarktis hinaus noch ausdehnen und die Ausdünnung der schützenden Hülle sich auch andernorts fortsetzen? 

Innerhalb weniger Generationen werden die nicht erneuerbaren Rohstoffe aufgebraucht, die in Jahrmillionen Erdgeschichte entstanden. Etwa das immer knapper werdende Erdöl potenziert die Gefahr eines neuen Weltkrieges, nicht zuletzt auch, weil die solaren Alternativen in der Vergangenheit zu langsam gefördert wurden. Dies sind nur die dramatischsten Warnzeichen, wie wir die irdischen Belastungsgrenzen verletzen. Zwischen Ursache und Wirkung sozialökologischer Destabilisierung liegen häufig lange Zeiträume. Ziehen sich die verschiedenen Konfliktpotentiale zu einem unlösbaren Knoten zusammen, läßt sich das zerstörerische Potential nicht mehr abwenden, auch wenn die auslösenden Gründe längst beseitigt sind. 

In den nächsten Jahrzehnten drohen regionale und globale Zusammenbrüche der Ökosysteme. Deshalb muß alles getan werden, damit die Zeit zur radikalen Umgestaltung der Produktions- und Lebensweise nicht unwiederbringlich verlorengeht.

Wir stehen in der Pflicht, nachfolgenden Generationen einen intakten Planeten zu hinterlassen.

Möglicherweise ragen wir bereits zu Teilen über der Kliffkante dank der Übermütigkeit, mit der wir in den vergangenen Jahrzehnten den Marken eines angeblichen Fortschritts nachgejagt sind. Die bisherige Politik fortzuführen, auch wenn es in den letzten Jahren bereits einige Verbesserung gegeben hat, würde eine totalitäre Entwicklung unvermeidlich nach sich ziehen. 

Wir riskierten damit ein jahrhunderte langes Schreckensszenario. Eine solche Entwicklung könnte mehr Todesopfer fordern als der Erste und der Zweite Weltkrieg zusammen. Wenn wir das nicht wollen, müssen wir der Gefahr jetzt begegnen, wo wir eine vielleicht gerade noch hinreichende Bremsstrecke haben. Allerdings vermag niemand zu sagen, ob wir noch ohne zumindest kleinere Crashs durchkommen. Es kann auch sein, daß unsere Wende in der Politik schon zu spät einsetzt, und es wird wohl auch keine ausgestorbene Art je wieder auferstehen.

Der Vorschlag meiner Regierung an Sie, liebe Bürgerinnen und Bürger, wäre, daß wir uns auf einen Plan einigen, wie wir zu einer ökologischen Zukunfts­ordnung gelangen. Ein Weg aus der jetzigen Sackgasse könnte noch gelingen, wenn wir unsere Vernunft zusammennehmen und unseren Egoismus zügeln.

Denkt jeder zuerst jedoch an seine Besitzstände, die er verteidigen will, bleibt eine Rettung unmöglich.

Und ich sage es ganz deutlich: Es kommt auf jeden einzelnen an, der sich für ein zukunftsfähiges Deutschland engagiert, der mithilft, daß die kleine Chance, die wir noch haben, genutzt wird. Auch der kritische Blick auf unsere Politik wird gebraucht. 

Nicht alles kann auf Anhieb gelingen, und wir bemühen uns nach Kräften, auftretende Schwächen zu beheben. Wir werden Schritt für Schritt vorgehen und nicht alles auf einmal bewältigen können, aber wir werden zügig voranschreiten. Nicht gebrauchen können wir aber Stammtischreden, Zeitungsartikel, provinzpolitische Predigten usw., die uns darüber aufklären, wir hätten alles beim Alten lassen sollen, maximal bei geringfügigen Korrekturen. Von diesen Leuten dürfen wir uns nicht irre machen und uns vom Ziel einer fundamentalen ökologischen Neugestaltung der Gesellschaft abbringen lassen.

Sonst haben wir endgültig verloren.

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Deutschland beginnt als erster Staat mit einer Politik der ökologischen Zeitenwende in der Hoffnung, daß andere Länder, auf welchem Kontinent auch immer, mitziehen oder wenigstens doch sympathisieren mit unseren Anstrengungen. Wir machen uns aber nicht von der Nachfolge anderer Länder abhängig, richten unseren Reformprozeß jedoch auf die äußeren Umstände ein.

Wir werden uns von den Strukturen der Europäischen Union zunächst ein Stück weit lösen, damit wir mehr Spielraum für unsere eigenen Maßnahmen gewinnen. Zugleich wollen wir aber darauf hinwirken, die Europäische Union für unseren ökologischen Kurs zu gewinnen und die nichtdemokratischen Elemente in ihr abbauen helfen, dabei jedoch die nationalen und regionalen Befugnisse stärken. Die EU-Strukturen dürfen nicht zum Hemmnis für die ökologische Umgestaltung werden.

Unsere ökologische Reformpolitik orientiert sich auf eine radikale Abrüstung. Jedes Jahr wollen wir etwa zehn Prozent des bisherigen Potentials abrüsten. Nur ein kleiner Restbestand an verteidigungswirksamem militärischem Gut soll zunächst noch bestehen bleiben, damit unsere neue Friedenspolitik nicht als Einladung zu Aggressionen gegen uns mißverstanden wird. Mit unseren bisherigen Partnern werden wir verhandeln, daß alle Atomwaffen von deutschem Boden abgezogen werden. Deutschland proklamiert sich dann als eine atomwaffenfreie Friedenszone. Wir wollen der Weltöffentlichkeit zeigen, wir sind bereit, aus den von Deutschland angezettelten Weltkriegen und dem Mittragen der verbrecherischen Hochrüstungsspirale Lehren zu ziehen.

 

Bemühen werden wir uns darum, daß möglichst viele Staaten unserer Abrüstungspolitik folgen. In die UNO bringen wir einen Weltfriedensplan ein, der vorsieht, in den nächsten zehn Jahren alle Atomwaffen, die auf der Erde stationiert sind, abzurüsten, darüber hinaus aber auch alle anderen Massen­vernichtungs­mittel. Ebenso enthält die Initiative Vorschläge zum Abbau der konventionellen Militärpotentiale. Um unsere neue Friedenspolitik noch ein Stück mehr zu untermauern, bieten wir allen armen Ländern an, die an Deutschland Schuldenbeträge zu zahlen haben, diese teilweise oder sogar vollständig zu erlassen, wenn sie ihre Militärpotentiale gegen Null abrüsten. In Verhandlungen können auch landesspezifische Vereinbarungen getroffen werden. Ais einen weiteren Schritt regen wir an, ein weltweites Friedensbündnis zu schaffen, damit die Abrüstungspolitik im äußersten Notfall auch gegen Aggressoren verteidigt werden kann.

Dazu laden wir alle interessierten Nationen zu einer internationalen Konferenz nach Berlin ein. Als Mitgliedsland der NATO liegt uns viel daran zu erreichen, das Bündnis in unsere neue Friedenlogik hineinzuziehen. Das bedeutet einen grundlegenden Wandel in der Funktion der NATO. Wir benötigen keine militante Weltpolizei, sondern ein Organ, das den Abrüstungskurs absichert. Gelingt dieser Kurswechsel in der NATO nicht, ziehen wir daraus Konsequenzen und verlassen den Pakt. Überdies wird sich Deutschland an keinerlei kriegerischen Auseinandersetzungen mehr beteiligen und sich zukünftig als neutraler Staat verhalten. Auch Menschenrechte sind nicht wirklich mit Bomben zu schützen.

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Friedenspolitische Deeskalation ist für uns ein Unterpfand für eine Politik der ökologischen Zeitenwende. Eine wirksame Vorsorge steht für uns an aller erster Stelle, und dies ist auch die wirksamste Methode, um die Menschenrechte zu wahren. In vielen Ländern auf unserer Erde herrscht Krieg oder Bürgerkrieg. Gelingt es uns nicht mehr, das Ruder für eine lebenswerte Zukunft herumzureißen, werden alle diese Brandherde zu potentiellen Zündstellen für den zu befürchtenden Weltbürgerkrieg oder gar einem Weltkrieg um Existenzmittel zwischen einer Vielzahl von Nationalstaaten. Millionenfach würden Menschen getötet werden.

Unsere ökologische Reformpolitik setzt sich für eine vollständige solare Energiewende ein. In den nächsten Monaten werden wir alle noch am Netz befindlichen Atomkraftwerke abschalten. Die Energiekonzerne erhalten dafür keine Entschädigung. Industrielle Anlagen, die den Bestand der Republik als Lebensort gefährden, sind verfassungs­rechtlich nicht hinnehmbar. Zudem werden wir ein Gesetz erlassen, das die Produktion und den Export atomarer Kraftwerks­technologie untersagt. Die Bundesregierung wird sich dafür einsetzen, daß insbesondere auch die unsicheren Atomkraftwerke in Osteuropa abgeschaltet werden, aber auch die Meiler in anderen Teilen der Welt. Wir bieten den Regierungen eine enge Zusammenarbeit auf dem Gebiet der solaren Energiewende an. In den nächsten zwanzig Jahren werden wir alle Energie, die wir zukünftig nicht wegsparen können, aus Solarzellen, Wasser- und Windkraft sowie aus abfallender Biomasse gewinnen. Das ist ein sehr ehrgeiziges Programm, und es kann nur durch die aktive Mithilfe aller Beteiligten umgesetzt werden.

Darüber hinaus streben wir einen ökologischen Umbau des gesamten Steuersystems an. Im Laufe der nächsten Jahre werden die Mehrwertsteuer und die Lohnsteuer u.a. weitgehend abgeschafft. Dafür wird der Energie- und Rohstoffverbrauch dementsprechend höher besteuert werden. Der Faktor Arbeit wird in ganz erheblichen Maße preiswerter werden und damit Arbeitslosigkeit abgebaut. Langfristig wollen wir etwa achtzig Prozent aller Staatseinnahmen aus Steuern auf den Naturverbrauch gewinnen. Drastisch beschnitten werden in Zukunft die Subventionen für konventionelle Wirtschaftstätigkeit. Nur Unternehmen, die rundum ökologisch produzieren wollen, deren Produkte zukunftsfähig ausgerichtet werden, können noch Förderungen erwarten. 

Unser Grundproblem ist: Wir müssen in den nächsten Jahrzehnten die stofflich-energetische Last, auf der unser Industriesystem aufgebaut ist, auf mindestens ein Zehntel heruntersenken. Wir verwendeten über Jahrzehnte Rohstoffe, die eigentlich nachfolgenden Generationen zugestanden hätten. Jeder Deutsche spannt im Schnitt 60 Energiesklaven für seinen Wohlstandsbedarf ein.

Im Weltvergleich nutzten wir in einem Übermaß Energie und Rohstoffe, die uns ein höheres Quantum an Einsparungen auferlegen, als Länder, die auf einem weit geringeren Pro-Kopf-Level liegen. Die solare Energiewende und die sozialökologische Effizienzrevolution, die wir vor allen Dingen mit dem ökologischen Steuerumbau und dem Abbau sowie der Umschichtung der Wirtschafts- und Forschungssubventionen in Gang bringen wollen, werden viel unnützen Ballast einsparen.

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Das wird aber nicht ausreichen, um zu einer dauerhaften Lösung zu gelangen. Sicher verschafft uns das einen Zeitgewinn, aber die Gefahren potenzieren sich hinter unserem Rücken weiter. Ungenügende Veränderungen in der technisch-materiellen Infrastruktur unserer Gesellschaft würden getroffen, angebliche ökologische Vorzeigeprojekte kämen in Verruf, weil sie dem gesellschaftlichen Korrekturbedarf nicht weit genug entsprochen haben. Wir müssen auch viele Abstriche machen von uns lieb gewordenen Gewohnheiten, müssen uns einwohnen in ein neues Lebensmodell. Ob aber am Ende eher ein Gewinn an Lebensglück entsteht, hängt von unserer Kreativität und Intelligenz ab. Sozialökologische Lebensqualitäten müssen im Mittelpunkt politischer Anstrengungen liegen.

Die Werte des Mensch-Werdens sollten über denen der Habgier angesiedelt sein. Wir brauchen den Übergang von der Wohlstands- zur Wohlseins-Gesellschaft. Die eigentliche Chance für eine Rettung aus der selbstverschuldeten Epoche des Untergangs erwächst aus dem geistigen Lebensniveau der Gesellschaft. Materieller Reichtum und Wohlstandssucht können nicht den Gipfel menschlichen Daseins begründen. Die Aufrichtigkeit sozialer Beziehungen, der Weg des Herzens ist die unmittelbarste Quelle für die Heilung unserer kranken Gesellschaft.

An immer mehr Orten in Deutschland testen Menschen Formen alternativen Lebens. Die neue Regierung will ökoalternative Lebensorte fördern und insbesondere darauf hinwirken, die Startbedingungen dafür zu verbessern. Menschen, die sich auf den Weg machen wollen zu einem ökologischen Lebensstil, schneller als dies die übrige Gesellschaft vermag, erhalten dafür den erforderlichen Freiraum. Sozialökologisches Wohnen betrachten wir als ein hohes soziales Gut, nicht zuletzt auch, um Armut zu vermeiden. Die Sozialpolitik wird darauf hinwirken, die unbedingt erforderlichen Güter des täglichen Lebens im Preisniveau niedriger zu halten, durch Regulierungen verschiedener Art. Güter, die eher dem Luxus dienen dagegen, müssen mit zusätzlichen Lasten im Preis rechnen.

Über einen öffentlichen Beschäftigungssektor wollen wir alternativ-ökologische Methoden regionalen Wirtschaftens unterstützen, zumindest für einen begrenzten Zeitraum als Anschubfinanzierung. Darüber hinaus stellen wir langfristige Kredite für den Start in ganzheitliche neue Lebens­zusammenhänge zur Verfügung. Solche Initiativen vermögen aus sich selbst heraus viele Hinweise auf alternative Lebensstile und neue Formen des Zusammenlebens geben, die teilweise auch für die gesamte Gesellschaft bedenkenswert sind, in jedem Fall aber eine Bereicherung unseres Erfahrungsschatzes darstellen. Wir möchten erreichen, daß immer mehr Menschen ökologische Lebensplätze wählen, und werden versuchen, die Rahmenbedingungen dafür so optimal wie möglich zu gestalten. International arbeiten wir bereits daran, ein Großexperiment vorzubereiten. Alle gesellschaftlichen und infrastrukturellen Bedingungen für eine zukunftsfähige Gesellschaft sollen dort in ihrem integralen Zusammenspiel erprobt werden. 

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Dies wird verbunden werden mit dem umfassendsten Forschungsprogramm, das jemals auf der Erde initiiert worden ist. Wir gehen davon aus, daß es sich über mehrere Jahrzehnte erstrecken wird. Es laufen bereits Verhandlungen mit verschiedenen Regierungen über die Möglichkeit, ein großräumiges Territorium für dieses internationale Experiment zur Verfügung zu erhalten, ohne allzusehr in angestammte Verhältnisse eingreifen zu müssen, andererseits aber auch keine großräumige Naturzersiedlung zu praktizieren und Naturschutzansprüche zu verletzen. Die vorhandene Siedlungsstruktur soll integriert werden, was voraussetzt, die ansässige Bevölkerung stimmt dem Vorhaben ausdrücklich zu. 

Im Laufe der nächsten Monate und Jahre werden alle staatlichen Forschungsgelder, die noch zum Ziel haben, unser bisheriges Höher, Weiter und Schneller fortzusetzen, eingestellt und in ökologische Zukunftsforschung umgelenkt. Aufgerufen sei dazu, Forschungsbeiträge, die helfen könnten, die neue Zukunfts­gesellschaft besser zu justieren, mit in das neuzuschaffende Staatsforum einzubringen. Alle Möglichkeiten, um die Rahmenbedingungen für eine zukunftsfähige Forschung zu schaffen und zu verbessern, sollen möglichst zügig umgesetzt werden.

Wir haben auch über unsere demokratischen Fundamente nachzudenken. Bisher ist der Mensch im Grunde nicht über oligarchische Strukturen hinausgekommen. Künftig wird es regelmäßig zu vielen wichtigen Fragen gesell­schaftlicher Entwicklung Volksabstimmungen geben, die in erster Linie durch die Bevölkerung selbst eingeleitet werden können bzw. exponierte Bürgerinitiativen.

Einrichten wollen wir ein Ökologisches Oberhaus, demokratisch gewählt, das die langfristigen politischen Entwicklungen festlegt und dem Bundestag und dem Bundesrat gegenüber weisungsbefugt ist. Es repräsentiert das Mensch-Natur-Verhältnis und wird gegenüber den anarchischen Partialinteressen der Gesellschaft die Maße ökologischer Begrenzung durchzusetzen haben. Es ist der institutionelle Ausdruck, daß die Ökonomie ein Untersystem des Naturhaushalts ist und Marktgesetze sich nicht gegen Naturgesetze zum Schaden der zukünftigen Generationen durchsetzen dürfen. Jedoch werden ins Ökologische Oberhaus keine Parteien gewählt, sondern es konstituiert sich über eine Personenwahl. Eine neue ökologische Verfassung wird das in weiten Teilen antiquierte Grundgesetz ablösen. All dies soll bereits in der begonnenen Legislaturperiode ins Werk gesetzt werden.

Wir werden auch zu prüfen haben, ob die bisherige expansiv ausgerichtete ökonomische Ordnung nicht überwunden werden muß. Es wird zu fragen sein, ob wir nicht eine Wirtschaftsverfassung brauchten jenseits pseudo-sozialistischem Staatsmonopolismus und gesellschaftlich institutionalisierter Habgier. Kann es sein, wir müßten eine Entwicklung anstreben, die auf Beteiligung der Werktätigen am Unternehmensgewinn fußt, aber auch ihre demokratische Teilhabe am Werden des Ganzen sichert? 

Markt um jeden Preis gefährdet die ökologische und soziale Stabilität. Alles deutet darauf hin, wir brauchen ökologische Planung in der Ökonomie. Es wird eine gesellschaftliche Planung sein müssen, d.h. sie sollte früher oder später auch so verankert werden. Und es wird die Frage der Selbstbegrenzung durchgängig einzubeziehen sein, gekoppelt mit dem Prinzip der Gleichheit, und zwar im Sinne der Gleichartigkeit der sozialen Ansprüche, Bedürfnisse und Lebenschancen aller Menschen. Erworbene Sonderrechte wird eine neue Steuergesetzgebung schrittweise aufzuheben haben. 

Wir werden also eine neue Sozial- und Eigentumsordnung ansteuern müssen, weil anders soziale Gerechtigkeit unter den Verhältnissen ökologischer Genügsamkeit nicht hergestellt werden kann. Die ökonomische Globalisierung erwies sich als eine Sackgasse, in die uns die hemmungslose Profitgier der Konzernwelt hineinstürzte, flankiert und zum Teil unterstützt von einer bedenkenlosen Politik. Ökologische Ökonomie ruht auf den Fundamenten der Regionen. Der bevorstehende sozialökologische Strukturwandel wird umfassender und schwieriger sein als alle vorhergehenden Umwälzungen und Reformen in der Menschheitsgeschichte. Sie dürfen damit rechnen, daß meine Regierung alle Register zu ziehen bereit ist, um die erforderliche Umgestaltung zu beginnen.

Eine lebenswerte Zukunft wird es aber nur geben, wenn genügend Menschen nicht nur zuschauen und sich darüber auslassen, wie verquer sich die politische Klasse wieder anstellt, sondern wir brauchen aktive Bürgerinnen und Bürger, die mitdenken und mitanpacken, das ihrige tun, damit die ökologische Neugestaltung der Gesellschaft eine gelungene Kontur gewinnt. Bitte denken Sie darüber nach, welchen eigenen Beitrag Sie dazu leisten könnten. Prüfen Sie, welche Möglichkeiten Ihnen gegeben sind, und lassen Sie diese nicht ungenutzt! Setzten sie sich auch gegen Widerstände durch. Nur gemeinsam können wir es schaffen. 

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit." 

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 Marko Ferst - Wege zur ökologischen Zeitenwende - Reformalternativen und Visionen für ein zukunftsfähiges Kultursystem -  2002