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19. Die ökotopianische Zukunftsgesellschaft

Ferst-2002

 

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Wir müssen uns also zunächst noch einmal in aller Klarheit vor Augen führen: Es gibt nicht viel Hoffnung, daß wir dem Sog der geschichtlich beispiellosen Träg­heits­kräfte entrinnen. Eigentlich spricht zuviel dagegen. 

Die ökologische Weltkrise scheint unser - selbstbereitetes - Schicksal zu sein und der Endpunkt des evolutionären Experiments Mensch. Vielleicht wird es ein jahrhunderte­langes Ringen geben, um die biosphärischen Gleich­gewichte zurück­zugewinnen. 

Der selbst­erlittene Absturz öffnet womöglich Wege, die im Umfeld wohlbehüteter Sattheit nur ein müdes Lächeln oder einfach stures Ignorieren hervor­rufen. Offenbar sind wir als Gattung noch nicht soweit, den geschicht­lichen Weg mit mehr Bewußtsein zu gehen. Ohne diesen Schlüssel bleibt aber alle Aussicht auf Rettung eine Illusion.

Die günstigste Situation wäre, wir würden uns täuschen* über das Ausmaß des tödlichen Netzes. Dann könnte uns der ökomodern­istische Weg im Sinne der Studie vom <Zukunftsfähigen Deutschland> noch einmal vor dem Schlimmsten bewahren. Vielleicht kämen wir mit ein paar heftigen Schrammen davon. Das ist mit der größte Hoffnungs­schimmer, den ich sehe. 

*detopia-2014: Schellnhuber sagte mal, ca. 2009 im dradio, 'schön wäre, wenn das Klimaproblem von selber wieder verschwindet '. 'Wunder' können natürlich immer geschehen, also Unerwartetes und Gutes. Ferst nennt es hier 'Hoffnungsschimmer' und vorher 'Täuschen'. Dennoch nehme ich das als (zukünftige) Realität, was zu 51% wahrscheinlich ist. Hinsichtlich 'unseres Umweltproblems' nehme ich die Wahrscheinlichkeit zu 90% an. Zu 90% stimmen die (alle) schlechten Prognosen und die miesen Szanarien. Ergo müsste man handeln, dann wäre man auf der sicheren Seite; auch dann, wenn die 10% sich melden. Schellnhuber bei detopia 

Sicher, in dem Rahmen, den die Studie vom zukunftsfähigen Deutschland zieht, kann so oder so nicht jeder Schaden abgewendet werden. Aber womöglich verfügen wir über mehr Zeit, als es zunächst scheinen mag. Schon könnten wir uns etwas beruhigter zurücklehnen, die Welt mit anderen Blicken mustern. Aber vergessen wir nicht: Das ist eine Spekulation, nicht mehr und nicht weniger, und wer z.B. den Erkenntnisprozeß etwa im Bereich Klima in den letzten Jahren mitverfolgt hat, der wird sich vor eilfertigen Sicherheits­garantien hüten.  

Niemand weiß, wann wir mit dem Testen zu weit gegangen sein werden. Auf den zweiten Blick gibt es leider sehr viele Warnzeichen, die uns darauf aufmerk­sam machen, wenn erst mal an einer Stelle die Hürde genommen ist, kommen eine Vielzahl destabilisierender Faktoren ins globale Spielfeld. Am Ende könnte das auch sehr schnell "Schach matt" bedeuten, für den Menschen, wie er nun mal ist.

Feststehen dürfte, die neunziger Jahre sind in Bezug auf die globale Vorsorge ein verlorenes Jahrzehnt. Dieser Trend setzt sich möglicher­weise noch sehr lange fort. Hier und dort wird es vielleicht Verbesserungen geben, aber so umwälzend sie uns für die eigene Alltagswelt erscheinen mögen, in der großen Natur hinter­lassen sie kaum rettende Spuren. 

Zugleich verringert sich Jahr um Jahr der Spielraum, der uns als Gattung Mensch zum Abbremsen bleibt. Veränderungen, für die wir einst Jahrzehnte zur Verfügung gehabt hätten, müssen dann in kürzest möglicher Frist erreicht werden. Viel materieller Wohlstand bleibt dabei unweigerlich auf der Strecke. Dies befördert auch einmal mehr die Gelegenheit, die Spaltung der Gesellschaft zwischen arm und reich zu vertiefen. Mauer und Stachel­draht wird vielerorts die Trennlinie sein, dann nicht nur etwa in Brasilien, um sich vor den Slumbewohnern zu schützen, sondern auch wieder in Deutschland, mitten unter uns.

Sollte es so kommen, daß die Gesellschaften und Staaten die ökologische Weltenwende über viele Jahre im Kriechgang vor sich hin blockieren, vielleicht läuft der dann nötige Verzicht sogar darauf hinaus, daß wir uns von der Industrie­gesellschaft in Gänze verabschieden müssen. Es könnte passieren, Rudolf Bahro und Carl Amery behalten auf diese Weise doch recht mit ihrer Forderung nach einem Ausstieg aus der Industrie­gesellschaft.

 

Wenn wir also nach einer Alternative zu unserer heutigen Gesellschaft fragen, dann kommen wir nicht umhin, diese materiellen Aspekte und die damit verbundenen Unwägbarkeiten mit einzubeziehen. In jedem Falle ist dies kein einfaches Feld, weil der Vorwurf, reine Spinnerei zu betreiben, so nahe liegen mag, gerade für diejenigen, die noch mit den Augen der alten Ordnung zu sehen gewohnt sind.

Stück um Stück müssen wir zusammensuchen, welche Konturen die neue Gesellschaft annehmen könnte. Unsere Phantasie wird dabei zu einer radikalen Kritik an den bestehenden Zuständen. Aber wir schleifen in uns selbst immer wieder auch den Pfuhl alter Vorstellungen mit. Mit der Alltags­wirklichkeit, die wir leben, nähren wir ständig aufs neue, auch den rückwärts Blickenden in uns, in einem Falle mehr im anderen weniger. Wir tun also gut daran, auch die neuen Antworten sehr kritisch unter die Lupe zu nehmen. 

Vieles will auch erst einmal aufgeschrieben sein, damit es weitergedacht werden kann.  

Ich verweise auf das Buch <Ökotopia> von Ernest Callenbach* oder die Sozialutopie <Reise in das Land unserer Hoffnung> von Robert Havemann* in seinem Buch <Morgen>, die schon vor längerem versucht haben, über einen Zeitsprung bzw. Kunstgriff zukünftige Gesellschaft zu beschreiben. Manches wird man aus heutiger Sicht verwerfen, anderes ist hochaktuell geblieben. Einige Bewertungen hängen ganz sicher auch vom Standpunkt des Betrachters ab, wie er die Welt und die sich in ihr aufwerfenden Probleme betrachtet. In jedem Falle empfehle ich, sich mit diesen beiden Arbeiten auseinander­zusetzen.

Mag sein, die Chancen für eine ökotopianische Zukunftsgesellschaft mit menschlichem Antlitz sind sehr gering. Doch es ist kontraproduktiv, in den Chor derer einzustimmen, die meinen, es macht keinen Sinn sich dafür zu engagieren, weil man und frau sowieso nichts ändern kann, und schon gar nicht in so großem Stile. Das nutzt nur den Ewiggestrigen aller Coleur und womöglich auch den Ausläufern eigener Depression. — Es könnte sein, wir unterschätzen die eigene Kraft, vor allen Dingen, wenn sie sich mit Gleichgesinnten verbünden würde.** 

Callenbach bei Detopia     Havemann bei Detopia  

**  (d-2013)  Das ist zwar eine immerwährende Wahrheit — "Gemeinsam sind wir stärker" — "Das Ganze ist mehr als die Summe der Teile". ——— Man könnte "einfach so" anfangen, aber es tut keiner (so richtig). —— Ich KÖNNTE jetzt aufstehen und losgehen mit einem Klapptisch in die Zone (für Füsselgänger) meiner 100.000-E-Stadt. Ich könnte mir eine offizielle Erlaubnis holen; einen Stammplatz im 'Zentrum'; die Leute würden sich an mich gewöhnen. Die "Anti-Untergängler" meiner Stadt tolerieren mich (als Angsthase); ich hätte schon 2-3 Mitmacher (um mich nicht einsam und allein zu fühlen). Eine einfachere (als diese) Webseite (mit Forum) würde Druckerzeugnisse ersetzen. Nur Flyers sind als Kosteneinsatz nötig. Ich hätte schon mehr Erfahrung, mit welchen Worten man hantieren kann. ("Wenn du nichts gegen das Ende tust, dann tut es keiner. Bitte beschwere dich niemals über das, wozu du heute keine Zeit hattest.") —— ABER ich tue es nicht, auch morgen nicht. Aber ich KÖNNTE es jederzeit tun. —— Weiß der Kuckuck, woran das liegt, dass wir nicht anfangen können. Theoretisch ist es nicht weiter schlimm. Keine Gefahr. (Wenn man hübsch im Hintergrund bleibt wie die Zeugen Jehovas.) —— Und trotzdem haben Sarazzin und Bohlen eine Auflage von einer Million (Bücher in Deutschland, was sehr viel ist) — und wir haben gar nichts. Das Problem ist nicht zu begreifen; aber ohne Probleme begreife ich, das es "einfach" so ist. 

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Unternehmen wir also eine kurze Reise in die ökotopianische Zukunfts­gesellschaft 
   — in das Deutschland von morgen und die neue ökologische Weltordnung:  
 

 

 

Was einem sofort auffällt, es gibt in der neuen Zeit viel mehr Bäume und Hecken, viel mehr Grün.  Die ganze Natur scheint in einem urwüchsigeren Zustand. Am Wegesrand findet man wieder Pflanzen, die vormals auf roten Listen als gefährdete Arten gestanden hatten. Ein Großteil der Tiere, die nur noch in seltenen Refugien heimisch waren, vermehrten sich wieder und siedelten sich an vielen neuen Orten an. Seit in Norwegen und Japan die Walfangschiffe verschrottet wurden, können auch künftige Generationen die großen friedlichen Meeressäuger bewundern. 

Haifischflossensuppe sucht man vergeblich auf den Speisekarten rings um den Globus.  Früher wurden vieltausendfach Haien oft nur dafür die Flossen bei lebendigen Leibe abgeschnitten. Manövrierunfähig verendeten sie in den Weltmeeren. Es dauerte lange, bis sich die endlose Kette menschen­gemachten Aussterbens im Tier und Pflanzenreich allmählich verlangsamte.  Inzwischen geht aber nur noch selten eine Art für immer verloren. Der Frühling ist nicht mehr ganz so stumm, wie zu den Blütezeiten technokratischen Fortschritts. 

Die Menschen greifen nur noch mit äußerster Zurückhaltung in die Landschaft ein. Vögelgezwitscher, das Rauschen des Windes und all die anderen Laute der Natur weben wieder den Ton der Welt.  Die Wälder konnten sich inzwischen vom sauren Regen, von Ozonbelastungen und anderem Umweltstreß erholen, nur die fortgesetzte Klimaerwärmung bringt sie in Schwierigkeiten. Die "Streichholzwälder", in denen z.B. Kiefer neben Kiefer stand, gibt es heute nicht mehr. Viel mehr Mischwald ist heran­gewachsen, große Flächen wurden neu aufgeforstet.

Auch die Felder von heute sehen anders aus. Wurde früher jedes Unkräutchen totgespritzt und in Unmassen Kunstdünger ausgeworfen, so kann zwar ohne dem weniger geerntet werden, doch die daraus produzierten Nahrungsmittel sind weit gesünder, der Schaden für die Pflanzen- und Tierwelt fällt geringer aus.  Die übergroßen Felder mit Monokulturen sind einem etwas bunteren Flickenteppich gewichen.  Geerntet wird heute z.B. mit solar betriebenen Kleinmähdreschern, die den Boden weit weniger verdichten. Die gleiche Maschine wird zum Pflügen nur umgebaut.  Viele Transporte im dörflichen Bereich wurden auch wieder von Pferdewagen übernommen. Dennoch, eine Rückkehr zu mehr schwerer Arbeitslast in der Landwirtschaft konnte auf weiten Strecken vermieden werden.

Alles was heute angeschafft wird, von Möbeln über Geschirr bis hin zur Kleidung, man produziert sie so, daß es weit länger hält als eure analogen Produkte.  Schränke und Tische begleiten gut und gerne wieder ein Menschenleben lang. Sie sind so gebaut.  Nirgendwo werden heute noch Produkte hergestellt, deren schneller Verschleiß voraussehbar ist oder gar kalkuliert wurde.  Viel Forschungs­kapazität verwendet man darauf, jedes Erzeugnis so langlebig wie möglich zu gestalten.  Garantien gibt es für Produkte heute über viele Jahre. So bemüht sich jeder Betrieb um eine maximale Haltbarkeit.  Außerdem stellt man heute alles so her, daß Schäden leicht reparierbar sind bzw. defekte Teile unkompliziert ausgewechselt werden können.  Niemand schmeißt mehr schnell etwas weg.  Das war auch so eine schlechte Gewohnheit aus eurer Zeit. Müllkippen kennen wir nur noch als gefährliche Altlasten.  Schönen Dank übrigens noch für euren Dreck!  Auch die Müllverbrennungs­anlagen wurden längst abgerissen.

Mülltonnen oder gar gelbe Säcke für den Verpackungsmüll sind bei uns unbekannt. Mit dem Verpackungs­wahn wurde ein für alle mal Schluß gemacht.  Viele Lebensmittel und die Getränke werden in Gläsern, Flaschen und Behältnissen aus pflanzlichen Rohstoffen mit Pfand verkauft.  Jede Verkaufsstelle nimmt sie wieder zurück.  Wer vom Bäcker Brot und Brötchen holt, bringt seinen eigenen Beutel mit. Hat man keinen dabei, kann man sich einen leihen. 

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Wenn es gar nicht anders geht, wird das Eingekaufte in einem papierähnlichen pflanzlichen Material eingewickelt. Auf dem Kompost verwandelt es sich dann in gute Gartenerde. Die wenigen Abfälle, die dennoch anfallen, können auf den Recyclinghof zur weiteren Verwertung gebracht werden.

In vielen Orten und Städten existieren heute sogenannte Tauschbörsen.  Während der eine anbietet, bei Maurerarbeiten behilflich zu sein, kann ein anderer Haare schneiden und der nächste hat einen Überschuß an im eigenen Garten geernteten Kartoffeln anzubieten.  So wird Ware gegen Ware verrechnet, und jeder hat einen Gewinn.

Alles was man sonst für den täglichen Bedarf benötigt, kauft mann und frau wieder im Dorfladen oder um die Ecke im Kietz.  Die großen Einkaufszentren mitten auf der grünen Wiese sind aus dem Landschaftsbild verschwunden. Viele Lebensmittel kommen vom Acker nebenan direkt auf den Ladentisch.  Natürlich gibt es nicht von jedem Artikel unzählige Varianten zu kaufen.  Dafür reicht der Platz nicht.  Da das meiste im unmittelbaren Umkreis hergestellt wird, wäre dies auch nicht verkraftbar.

Jedoch kann auch alles, was gebraucht wird für Haus, Hof und Garten, im Laden bestellt werden, wenn es nicht am Ort selbst verfügbar ist, es z.B. vom Schlosser oder vom Tischler erworben werden kann.

Niemand würde bei uns auf die wahnwitzige Idee kommen Blumen aus Brasilien, Äpfel aus Neuseeland oder Autos aus Japan heranzutransportieren oder Hemden zum Knöpfe annähen in ferne Länder zu transportieren.  Der Austausch von Waren über große Entfernungen findet kaum noch statt.  Selbst die Rohstofftransporte sind auf einen winzigen Bruchteil zurückgegangen.  Jeder besinnt sich so weit wie möglich darauf, die regionalen Ressourcen zu nutzen.  Rohstoffe oder Erzeugnisse aus fernen Ländern kosten ein Vielfaches an Geld.  Statt Orangensaft aus Südamerika trinkt man z.B. Birnensaft der ganz in der Nähe gepreßt wird, aus Obst, das im eigenen Garten geerntet wurde bzw. von Bäumen, die in heimatlichen Gefilden wuchsen.

Insbesondere alle landwirtschaftlichen Erzeugnisse stammen fast ausschließlich aus dem unmittel­baren Umkreis, aber auch vieles andere, was vor Ort hergestellt werden kann, bezieht man nicht mehr von weit her. Zwar gibt es einige große teilauto­matisierte Fabriken, doch der Schwerpunkt liegt auf dezentralisierter Produktion.  Siebzig bis achtzig Prozent aller Waren werden im Bereich des eigenen Bundeslandes hergestellt.  Alles wurde so zueinander geordnet, daß die Transportwege so kurz wie möglich ausfallen, aber auch die anderen ökologischen Rucksäcke im Kleinformat bleiben. Ziel war es, die industrielle Technosphäre auf das unbedingt notwendige Maß zu beschränken.

Zwar ist der unmittelbare Arbeitsaufwand dadurch oft größer, da aber viel Infrastruktur, die früher unausweichlich schien, heute nicht mehr erforderlich ist, wird dies durch Gewinne an anderer Stelle zum Teil wett gemacht. Ohnehin läuft vieles höchst ökoeffizient ab und braucht von daher weniger Arbeits­vermögen und Umweltraum.  Hochproduktive Werkzeugsysteme vor Ort und teilautomatisierte zentralere Fabriken greifen organisch ineinander über.  Es würde auch ökologisch völlig unsinnig sein, ökonomisch ohnehin, jedem größeren Wohnort seinen eigenen Hochofen zu verpassen oder daß jede größere Stadt ein eigenes Lokomotivwerk etabliert. 

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Es mußte also dezentrale und zentrale Struktur sinnvoll miteinander verwoben werden. Manche Technologie aus dem Mittelalter wurde weiterentwickelt und kombiniert mit Erfindungen aus dem Industriezeitalter und leitete so eine alternative Entwicklung ein. Die Wassermühlen, die Strom erzeugen, sind nur ein frühes markantes Beispiel dafür.

Wurde einst Bekleidung oft aus Baumwolle und chemischen Fasern hergestellt, so nutzt man heute in der Regel nur noch die heimischen Faserpflanzen für die Herstellung von Textilien. Sie werden regional angebaut und verarbeitet. In den traditionellen Anbauländern der Baumwolle wird diese selbstverständlich weiter angepflanzt, wo es die Wasserverhältnisse zulassen. In Kasachstan und Usbekistan mußte der Anbau z.B. stark eingeschränkt werden, da die Bewässerung der riesigen Baumwollfelder und verschwenderischer Umgang mit dem Wasser zum großräumigen Eintrocknen des Aralsees geführt hatten, mit katastrophalen Folgen für die Menschen, die im Umfeld dieses riesigen Sees wohnten. 

 

Als Monokultur war die Baumwolle besonders anfällig für Parasiten und Krankheiten. Jährlich wurden rund 50 Prozent der Welternte dadurch vernichtet. Zum Schutz besprühte man die Baumwolle 19- bis 25mal mit Pestiziden. Das machte sieben Prozent des Weltverbrauchs aus. Und zur Ernte wurde sie auch noch chemisch entlaubt, damit automatische Erntemaschinen zum Einsatz kommen konnten. 

All dies änderte sich. In den deutschen Breitengraden wurde auf zahlreichen Flächen u.a. die Faserpflanze Hanf wieder angebaut. Jahrzehntelang war der Anbau verboten, bis man erkannte, daß diese Entscheidung verfehlt war. Nicht nur als robustes und langlebiges Textilmaterial kommt sie zum Einsatz. Auch für Seile, Teppiche, Farben, Lacke, als Waschmittel und als Dämmaterial wurde Hanf verwendet. Von besonderem Interesse war die Faserpflanze auch für die Papierherstellung. 

Weil Lignine, Harze und Gerbstoffe nicht wie beim Holz entfernt werden mußten, konnte viel Chemie bei der Herstellung eingespart werden. Darüber hinaus waren die Papiere auch haltbarer, reißfester und weniger feuchtigkeitsempfindlich. Neben Hanf wurden auch wieder Flachs und die Nessel umfangreich angepflanzt. Insbesondere aus Flachs, auch Lein genannt, werden hochwertige textile Stoffe hergestellt. Zum Teil fand man neue ökoeffiziente Verarbeitungsmöglichkeiten. Viele Farbstoffe basieren inzwischen auf pflanzlichen Möglichkeiten. Synthetische Farbstoffe, die aus Erdöl hergestellt wurden, verschwanden allmählich aus den Produktionspaletten. 

Der fossile Rohstoff Erdöl ging immer mehr zur Neige, neue Lagerstätten konnten nur noch mit extrem hohem Aufwand erschlossen werden. So wurden z.B. die Färbepflanzen Krapp, Färberwau u.v.a. für Textilien wieder angebaut.138 In aller Welt butterten Unternehmen Milliardenbeträge in die Werbung. 1994 wurden allein in Deutschland für Reklame mehr als 50 Milliarden Mark ausgegeben.139 Schon von einem Bruchteil dieser Gelder hätte man die gröbsten Mißstände in den ärmsten Gegenden der Welt lindern können. 

Die Werbung für Autos, Parfüms, Urlaubsreisen und das neueste und beste Waschmittel heizte in besonderer Weise im Konkurrenzgebaren gegenüber anderen Unternehmen das wirtschaftliche Wachstum an. Die Absicht der Werbung war, den Kaufwillen für das eigene Produkt immer mehr anzukurbeln.

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Permanent ließ sich damit der erforderliche Grundkonsens einer Begrenzungsordnung in der Gesellschaft untergraben. Die Werbung förderte das Geltungs- und Besitzstreben der Menschen, gaukelte eine Zerrwelt von Statussymbolen vor und wirkte in dieser Eigenschaft der kulturellen Erneuerung fatal entgegen. 

Der ökotopianische Bundestag beschloß deshalb vor vielen Jahren, die Werbeflut Stück um Stück abzubauen. In einer ersten Stufe wurde eine Extrasteuer auf Werbemittel eingeführt, die sich in mehreren jährlichen Schritten erhöhte, so daß es für die Unternehmen immer weniger rentabel war, in diesen Sektor zu investieren. Zugleich gab es eine Neuerung folgender Art: Kataloge zu je speziellen Sparten an Produkten wurden unabhängig von den jeweiligen Firmen zusammengestellt. Verbraucher - zusammen mit Umweltverbänden und "Dritte-Welt"-Gruppen - erarbeiteten staatlich maßgerecht gestützt diese Materialien. Darin wurden neben dem Aussehen und den technischen Daten auch die Umweltschädigungen bei den einzelnen Produktionsverfahren für den Verbraucher mit aufgezeigt. Außerdem bestand die Pflicht, in Billigarbeit in den armen Ländern der Welt hergestellte Waren oder Produktteile detailliert aufzuführen. So die Firmen in diesen in Zukunft einzig zugelassenen Katalogen aufgeführt werden wollen, wurden sie verpflichtet, diese Angaben wahrheitsgemäß zu übermitteln, und waren gezwungen, Kontrollen zuzulassen. Es dauerte nur wenige Jahre, bis die schlimmsten Auswüchse der alten "Marktwirtschaft" überwunden waren.

Die Kataloge wurden allerdings nicht, wie einstmals insbesondere von namhaften Versandhäusern üblich, breit unter die Massen gestreut, sondern sie konnten nur in den Fachgeschäften und Kaufhäusern eingesehen werden. Einige Jahre später wurde sämtliche übrige ökonomische Werbung verboten. Natürlich gab es einige abweichende Regelungen. So konnte jede Firma ihr Betriebsgelände nach wie vor entsprechend kenntlich machen, und der Wegweiser für die Gaststätte verschwand nicht. Auch interne Informationsmaterialien der Firmen wurden natürlich nicht ausschließlich werbetechnisch ausgelegt. Zudem halfen die immer wirksameren Ökosteuern auch, den übrigen Papierverbrauch, der nicht eindeutig als Werbung erkennbar war, einzudämmen. Mit der bunten Neonleuchtenwelt in den Städten war es jedoch vorbei. Keine kruden Großplakate verschandeln mehr die Gegend. Das galt auch für die Papierschlacht in Wahlkampfzeiten. Segensreich war für den Zuschauer auch das Löschen der Reklame aus den Fernsehprogrammen. Doch hatte dies auch für viele weniger überzeugende Seiten. Sämtliche private Programme gingen vom Sender, da sie sich in erster Linie aus den Werbeeinnahmen finanzierten. Zwar wurden einige Sendungen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen fortgeführt, doch auch diese Sendeanstalten bekamen erhebliche Schwierigkeiten mit den schmaleren Budgets. Überhaupt wurde das Fernsehen als Mittel der Freizeitgestaltung in seiner dabei überragenden Rolle zurückgedrängt. Der Kampf um Quoten verlor völlig an Bedeutung.

Bei dem heutigen Bevölkerungsstand in der Welt kann nicht jeder zweite oder dritte Mensch einen eigenen Fernseher besitzen. Auch dieses Privilegium der reichen Länder wurde nicht aufrecht erhalten. Heute gibt es in jedem Dorf oder Stadtteil ein eigenes Kinofernsehen.

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Daneben existieren weiterhin auch die gewöhnlichen Kinos. Dort werden vielfach Wunsch filme und nicht wie früher nur die Streifen großer Filmverleihe gezeigt. Auch Dokumentarfilme kann man heute im Kino sehen. Die rein kommerzielle Einbindung des Kinos wurde überwunden.

Knapp ein Drittel aller Werbung erschien 1993 in Tageszeitungen.140 Allein für deutsche Zeitschriften holzte man alle zehn Minuten ein fußballgroßes Stück Wald ab.1"" Der Wegfall von Werbeeinnahmen sorgte dafür, daß viele Boulevardblätter verschwanden, deren einziger Zweck es war, Geld zu erbringen. Jedoch wurde darauf geachtet, daß höhere Papierpreise, bewirkt durch ökologische Steuern und fehlende Werbeeinnahmen, nicht riesige Lücken in die Presselandschaft rissen. Allerdings mußte von der guten alten Tageszeitung Abschied genommen werden. Durch die Bank erschienen diese nur noch wöchentlich. Zu speziellen Themen kommen heute einmalige Zeitschriften unabhängig von den Zeitungshäusern heraus.

Dennoch, die Generationen nach euch mußten lernen, ohne den verführerischen Glanz der Warenwelt von einst auszukommen. Zwar gibt es nach wie vor alles Lebensnotwendige, aber den Überschwang an Warenfülle würdet ihr bei uns nicht finden. Überhaupt war für die ökotopianische Zukunftsgesellschaft die Verlagerung des Lebensschwerpunktes sehr entscheidend. Immer weniger ging es darum, materielle Werte anzusammeln. Selbstverständlich kümmerte man sich nach wie vor darum, daß die eigenen vier Wände in Ordnung gehalten wurden, das Dach repariert, wenn es nötig war usw. Aber man verwendete weniger Energie auf das materielle Schaffen. Im Mittelpunkt standen viel mehr die Balancen der Seele, gelungene menschliche Kommunikation und der liebende Kontakt mit der Welt.

Natürlich nutzen wir die Gaben der Mitwelt auch heute. Doch unsere Generation müht sich darum, Maß zu halten und nicht jede natürliche Ressource als Knecht für unseren eigenen Wohlstand einzuspannen. Dem maximalen Gewinn werden bei uns nicht mehr alle anderen Werte geopfert. Der schöpferische Ineinanderklang alles Lebendigen findet in unserer Kultur viel mehr Aufmerksamkeit. Wir sind bestrebt, jedem Sproß der Schöpfung einen eigenen Raum zu belassen und unseren Gattungsegoismus so weit wie möglich zurückzunehmen.

Der neuen Zeit fehlte der Lärm der bisherigen menschlichen Zivilisation. Selbst in den Städten fasziniert die angenehme Stille. Am lautesten gebärden sich dort nicht Motorengeräusche, sondern das Menschengewimmel auf den großen Märkten. Auch die Ära der alten Städte war vorbei. Die steinernen Ungetüme verloren in den letzten Jahrzehnten viel von ihrer Unwirtlichkeit. Wo sich einst gestaute Autokolonnen durch Häuserschluchten quälten, befinden sich heute Parks, Märkte und Straßencafes.

Jedoch die neuen Städte sind nicht mehr die alten. Solche Riesengebilde wie z.B. Mexico-City mit mehr als 20 Millionen Einwohnern waren nicht zu halten. Wegen ihres gigantischen Wasserverbrauchs sackte die Megastadt um bis zu neun Meter ab und provozierte gewaltsame Auseinandersetzungen mit den Bauern bis weit ins Umland. Gaben die Bauern ihren angestammten Boden wegen des fehlenden Wassers auf, vermehrten sie die Slums am Rande der Stadt.

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Ein teuflischer Kreislauf. Unsere heutigen Städte sind zumeist weitaus kleiner als früher. Dies liegt auch daran, die Bevölkerungszahl ist deutlich zurückgegangen. In Deutschland halbierte sie sich im Laufe der Jahrzehnte und würde ohne die Zuwanderung von außen noch tiefer liegen.

Oft riß man ganze Häuserzeilen ab, und es entstanden weiträumige Parkanlagen. Dort, wo der Boden nicht kontaminiert war, reihen sich Gärten aneinander. Zuweilen wurden aber auch ganze Stadtviertel als Steinbruch zum Verwerten von Altbaumaterialien ausgewiesen und später dann dem Erdboden gleichgemacht. Inzwischen wachsen dort städtische Wälder. Mancherorts blieben aber auch Geisterstädte zurück, die allmählich vom Grün überwuchert wurden.

Das Auto schien aus eurem Alltag kaum noch wegdenkbar zu sein. Ohne fahrbaren Untersatz lief nichts mehr. Wer keinen Führerschein hatte, bekam schwer eine Arbeit, wenn überhaupt. Öffentliche Verkehrsmittel waren teuer, wenn man den eigenen Wagen dennoch in der Garage zu stehen haben mußte. Aber nur auf den ersten Blick war das Auto eine bequeme Angelegenheit, denn der Tod fuhr immer mit. In den neunziger Jahren starben auf Deutschlands Straßen jährlich um die 8.000 Menschen, in Westeuropa 60.000 und weltweit 300.000. Allein durch den Autoverkehr in Deutschland wurden jedes Jahr 30.000 Menschen dauerhaft verstümmelt.142 Vielfach hieß die Endstation Rollstuhl. Weltweit war der Verkehr mit 15 Prozent am anthropogenen CO2-Ausstoß beteiligt, in der Bundesrepublik betrug der Verkehrsanteil 20 Prozent.143 Jedes Auto hinterließ in seinem Leben im Schnitt 26,5 Tonnen ökologische Nebenlasten, 30 Bäume erkrankten durch die Abgase, und drei starben daran.144

Einst wurde eine Autobahn nach der anderen durch die Landschaft gefurcht, erneuert und verbreitert. Längst sind diese überbreiten Beton- oder Bitumenbänder zurückgebaut worden. Man benötigte sie nicht mehr. Die Dörfer verbinden oft nur noch schmale Pfadstraßen. Heute reist man mit solar betriebenen Zügen oder Schiffen. Auf kurzen und mittleren Strecken fahren auch Busse. Da Wohnen, Arbeit und Freizeit vielfach wieder nah zueinander gerückt wurden, fallen viele Wege, die früher bewältigt werden mußten, weg. Die erforderlichen Verkehrsströme sind dadurch um ein Vielfaches zurückgegangen. Statt Autolandkarten kann man heute nur noch Karten für das Fahrradwegenetz und für Wanderwege erwerben. Dort, wo keine Buslinien vorbeiführen, insbesondere in dünn besiedelten ländlichen Bereichen, gibt es auch kleine Bustaxis, die auf Bestellung fahren. Etabliert hat sich auch eine Güterpost, um größere Gegenstände ohne das private Auto von A nach B transportieren zu können. Gibt es viel einzukaufen, fährt man und frau heute mit schnellen Lastenfahrrädern. In einem verschließbaren Gepäckaufbau kann der Einkauf verstaut werden. Trotzdem ist es möglich, die Fahrräder auch in der Bahn mitzunehmen.

Flugzeugverkehr gibt es heute nicht mehr. Der schnelle Trip nach Ibiza oder anderswohin ist out. Weite Reisen sind heute sehr viel zeitaufwendiger. Auf den Kontinenten bewegt man sich in der Regel mit der Bahn fort, und etwa den Atlantik überquert man per Schiff. Wer es unbedingt eiliger hat, fliegt mit den neuen Luftschiffen.

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Sie benötigen nur einen Bruchteil des Energiebedarfs eines Flugzeugs und schädigen dabei die obere Atmosphäre sehr viel weniger. Will man an einen weit entfernten Ort der Welt, muß man schon mal zwei, drei Flugtage einplanen.

Die Schule im alten Sinne, wie sie bei euch gang und gäbe war, existiert nicht mehr. Sicher war sie vormals ein wichtiger Schritt, um den Volksmassen überhaupt den Zugang zu Bildung zu ermöglichen. Doch sie hatte ihre Grenzen. Als Pflichtveranstaltung erwies sie sich zugleich als eine Zwangsjacke. Vielfach lief der Unterricht auf ein entfremdetes Lernen hinaus, das schöpferisches Lernen geradezu ausschloß. Entfremdung meint hier, man ist nicht mehr Akteur des Lernens, sondern nur noch Befehlsempfänger, es entspringt nicht wirklichem Interesse, daß ich lerne, sondern man hat einfach Interesse zu haben für das, was der Lehrplan vorschreibt. Die Zensuren und deren Ausschlag für die späteren beruflichen Perspektiven schneiden jedes Ausscheren jedenfalls soweit ab, daß sich doch die Mehrheit der Schüler und Schülerinnen dem Lauf der Dinge fügt.

Die Schule enteignete zugleich die Heranwachsenden von der Motivation, unabhängig ihren Weg zu gehen. Ivan Illich hatte völlig recht, wenn er äußerte, daß Menschen, die auf das richtige Maß heruntergeschult worden sind, unkalkulierbaren Erlebnissen aus dem Weg gehen. Jeder nimmt seinen Platz ein oder wird auf ihn verwiesen, wie er es gelernt bekommen hat, bis alles und jedermann "paßt". Ist erst einmal die Vorstellung eingeimpft, man könne Werte produzieren und messen, so neigt der Mensch dazu, alle möglichen Rangordnungen zu akzeptieren.145 Der Einzelne verkümmert zum Zahnrad in der selbstmörderischen Megamaschine. Er bzw. sie funktioniert einfach.

Heute gibt es keine Zensuren und Prüfungen mehr beim Lernen. Ebensowenig kennen wir Schulklassen, wie es sie bei euch gab, noch haben wir Lehrpläne, an die sich jeder Lehrer halten muß. Lesen, Schreiben und Rechnen kann man durchaus auf verschiedene Weise lernen, jedoch sind Grundkenntnisse darin häufig Voraussetzung, um an den vielfältigen Kursen teilzunehmen, unter denen man auswählen kann. Niemand wird heute mehr gezwungen, sich etwa mit komplizierterer Mathematik zu befassen oder sportliche Übungen zu absolvieren, wenn er dies nicht selbst will. Ebenso wenig ist er einem Lehrer auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, wenn die kommunikative Chemie nicht stimmt. Möglicherweise ist es viel sinnvoller für jemanden, ein Musikinstrument zu erlernen, auch für sein späteres Leben, als z.B. irgendein langes Gedicht auswendig zu lernen für den Vortrag, oder ein vorgeschriebenes Buch zu lesen. Dem Nächsten käme es gar nicht in den Sinn, eine Gitarre auch nur anzufassen.

Allerdings verlangen die verschiedenen Berufslehren eine Reihe Spezialabschlüsse, die abgelegt werden müssen. Dennoch bleibt ein weiter Freiraum. Die Berufsausbildung selbst ist in einigen Fällen mit zumeist geregelten Lernstrukturen verbunden, in anderen erfolgt der Zugang ins Berufsleben lockerer. Dasselbe Phänomen treffen wir auch auf den Universitäten an. 

Während der zukünftige Arzt ein recht strenges Lernpensum absolvieren muß, sind die Freiräume etwa in der Politikwissenschaft oder Soziologie sehr weitreichend. Allzu enge Vorschriften wären hierbei wohl eher hemmend, wohingegen bei einer Operation am Menschen jeder Fehler schwerwiegende Folgen haben kann. Aber ganz klar: Auch dabei kann nicht per Scheuklappensystem gelehrt werden.

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Bei allem Lernen geht es nicht mehr darum, einen Wust lexikalischen Wissens mit sich herumzutragen, sondern allgemeines theoretisches Verständnisniveau herauszubilden, wie Robert Havemann ganz richtig feststellte.146

Überdies war die neue Schule und die neue Universität nicht ausschließlich auf den Lebensabschnitt fixiert, in dem man und frau heranwächst. Es stellte sich als keine besonders kluge Idee heraus, die Mehrzahl der Schülerinnen und Schüler nach zehn Jahren Verschulung und anschließender Lehre (wenn man Glück hatte) in die ewige Lernleere zu schicken. Gewiß, das ist zugespitzt, weil man sich in der Regel noch diese oder jene Fertigkeit selbst beibringt. Beim Hausbau z.B. kann man verschiedene handwerkliche Arbeiten ausführen, oder im Beruf muß man erneut dazulernen. Doch das klassische Schulwissen versandet über weite Areale sehr schnell. Wenn man einmal testen würde, wieviel von dem mühsam gelehrten Lernstoff zehn Jahre nach Schulabschluß noch übrig ist, alle Bildungsbefaßten müßte das blanke Grauen überkommen. Sicher mag bei denjenigen, die eine universitäre Laufbahn einschlagen, das Resultat etwas besser ausfallen, dennoch bleibt festzuhalten: Aufwand und Nutzen eurer Schulpraxis standen in krassem Mißverhältnis.

Heute ist es völlig normal, auch mit 35 oder 50 Jahren noch gelegentlich die Schule oder Universität zu besuchen. Sicher gab es auch früher schon die Volkshochschule. Dort holt man nun nicht mehr das Abitur oder andere Klassenstufen nach. Jetzt besteht das Angebot nur noch aus freien Kursen. Eine weit vielfältigere Auswahl hat man heute zur Verfügung, und zudem sind nur sehr wenige Kurse mit einer geringen Gebühr belegt. Die ökotopianische Gesellschaft leistet sich im Vergleich zu anderen Ausgabenposten einen sehr hohen Bildungsetat. An den Universitäten gibt es heute ein ausgeprägtes Informations­suchsystem. Übersichtlich kann man erfahren, wer zu welchen Themen Bildung vermitteln kann bzw. auch, welche Bücher zu einem bestimmten Stoffgebiet Hinweise enthalten. Dabei kann Zugriff genommen werden auf weltweite Bildungsnetze. 

Nach dem Ende der Blockkonfrontation zwischen Ost und West waren zwar die Ausgaben für die weltweite Aufrüstungsspirale um etwa ein Drittel zurückgegangen, doch nach wie vor wurde auf einem hohen Level weitergerüstet. In Deutschland und anderen europäischen Ländern flössen Milliardensummen in den Bau eines neuen Kampfflugzeuges. In den Zeiten des kalten Krieges hatte man 1,6 Millionen Dollar pro Minute in den militärischen Wahnsinn gesteckt, rund ein Viertel aller Ausgaben für Forschung und Entwicklung dienten militärischen Zwecken.147

Einst schlug der sowjetische Initiator der Perestroika, Michail Gorbatschow, in einem umfassenden Friedensplan vor, alle Atomwaffen sollten bis zum Jahr 2000 vom Erdball verschwunden sein. Auch sämtliche anderen Waffenarsenale wollte er in eine radikale Abrüstung einbezogen wissen. Zwar kam es zum INF-Vertrag, doch nach der Implosion der östlichen Systeme stellte sich heraus, die Atommächte waren wenig geneigt, das Faustpfand Atombombe aus der Hand zu geben. Immer neue Atommächte kamen hinzu, wie Indien und Pakistan, aber bald gelangten noch unsicherere Kantonisten in den Besitz der atomaren Bombenkräfte.

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Erst im Zuge der ökologischen Weltenwende rollten die Staaten das Thema einer vollständigen Abrüstung wieder auf. Die reformierte UNO verabschiedete einen globalen Abrüstungsplan, der in Stufen die völlige Befreiung der Erdenvölker von militärischem Gerät vorsah. Mehr als zwei Drittel aller Länder stimmten diesem ehrgeizigen Plan zu, nur wenige Staaten sprachen sich gänzlich dagegen aus.

In einem ersten Schritt wurden alle Massenvernichtungsmittel aus dem Verkehr gezogen und in gemeinsamen Anlagen vernichtet. Mit der Annahme des Friedensplanes trat auch ein generelles Verbot von Waffenexporten in Kraft. Nach und nach wurde begonnen, auch die konventionellen Waffenbestände zu verringern. Wirtschaftsembargos wurden gegen Länder verhängt, die sich dem Abrüstungswillen der planetaren Mehrheit nicht beugen wollten. Gleichzeitig bot man den ärmeren Staaten unter den Verweigerern an, sie bei der Umnutzung ihrer militärischen Potentiale für friedliche Zwecke zu unterstützen. Die letzte Wegstrecke auf dem Abrüstungspfad gestaltete sich am schwierigsten.

Viele Jahre dauerte es, bis auch die restlichen bewaffneten Konflikte beigelegt werden konnten. Heute stehen noch ein paar Sicherheitskräfte unter UNO-Kommando. Das ist alles. Militärisches Requisit kann man nur noch im Museum in Augenschein nehmen. Jahrtausendelang hatte in der Gesellschaft und im wirtschaftlichen Gefüge das Prinzip geherrscht, daß ein Pol auf Kosten des anderen entwickelt wird. Burgen, Schlösser, prunkvolle Kirchen und Kriegszüge fußten auf der Mühsal, dem Blutzoll und dem Elend großer Bevölkerungsmassen. Später waren es dann mehr die Fortschrittsmarken der bürgerlichen Gesellschaft, in die die Leistungen der kleinen Leute hineingezogen und aufgespeichert wurden.

Die Logik ausbeutender Gesellschaftsverhältnisse konnte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den reichen Industriestaaten durch die wissenschaftlich-technische Revolution zwar mit einem hohen, aber parasitären Wohlstand weitgehend überdeckt werden. Die eigentliche Fehlkonstruktion blieb jedoch in neuer Gestalt erhalten. Die bürgerliche Gesellschaft vermochte nicht die geschichtliche Aufgabe zu lösen, wie die allgemeine Gerechtigkeit als Kultursystem gedeihen könnte. Der moderne Sozialstaat manifestierte zwar ein höheres Niveau im Gerechtigkeitssinn, die notwendige ökologische Begrenzung und die soziale Insellösung für die reichen Industriestaaten ließen jedoch durchscheinen, er war bei aller berechtigter Intention eine nicht hinreichende Lösung. Der Sozialstaat mußte von Grund auf neu konstituiert werden, geradezu neu erfunden, wie so vieles andere auch.

Zu jener Zeit, in der wir den Waffengang des Menschengeschlechts gegen die Biosphäre in seinem ganzen Ausmaß zur Kenntnis nahmen, wurde großen Teilen der Bevölkerung klar: Gesellschaftliche Zustände, die permanent Gewinnsucht fördern und Reichtum dorthin umverteilen, wo davon schon mehr als genug angehäuft ist, sind nicht mehr zukunftsfähig. Bei einer begrenzten Erde, auf der nicht länger "auf Teufel komm raus" ein Warenüberfluß produziert werden durfte, sind politisch-ökonomische Systeme, die gerade diese Bestimmung in sich tragen, eine Garantie für das Scheitern des Menschen.

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Sicher hätte der turbokapitalistische Weg beibehalten werden können, wenn die ökologischen Korrekturen nicht so gravierend ins Gewicht gefallen wären. Das wäre dann sicher gegangen. Allerdings würde dies auch nicht das intelligenteste Vorgehen gewesen sein, sondern nur der Weg des geringsten Widerstandes. Zudem war der immer mehr um sich greifende Marktradikalismus kaum geeignet, den erreichten demokratischen und ethisch-sozialen Bestand zu wahren. In den armen Ländern erwies sich dies ohnehin als eine komplette Illusion.

Da sich die ökozivilisatorische Lage als weitaus prekärer erwies, wurde die Suche nach Neuland zwingender, als sie je zuvor in der Geschichte der Menschheit war. Die westliche Freiheit stellte sich als eine nicht zu Ende gedachte Idee heraus. Es war die Freiheit des Habens, des Besitzens, der Raffgier - bei aller demokratischer Umrahmung, der innere Kern war faul.

Diese Freiheit war gegründet auf ein egozentrisches Persönlichkeitsprofil, förderte entlang der Sachzwänge diese Verhaltensmuster. Der bewußtseinsmäßige Aufstieg der Gattung Mensch geriet nicht ins Sichtfeld. Das interessierte gar nicht. Gemeint war nicht die Freiheit, die in Gestalten wie Buddha oder Jesus schon einmal als eine - wenngleich wohl noch verlarvte - Möglichkeit aufleuchtete. Von vornherein waren die Tore zugeriegelt, wenn es um eine neue Gesellschaftsordnung gehen sollte, die sich aus einer seelisch-geistigen Hochkultur heraus entwickeln könnte und die ihrerseits durch neue gesellschaftliche Strukturen gefördert würde. Im Klima des westlichen Fundamentalismus erschien alles, was von den eigenen Glaubenssätzen abwich, als völlig unakzeptabel. Diese Denkblockade stellte sich zu Beginn der Zeitenwende als ein noch immer sehr gefährlicher Gegenpol heraus. Nur langsam ließ er sich abbauen.

Die untergegangenen Politbürokratien der östlichen Systeme waren keinen Deut besser als die westliche Hemisphäre. Die geistige Bevormundung drehte den Freiheitsgrad im politischen Bereich noch viel stärker zurück. Die pyramidale Hierarchie im Gesellschaftsaufbau, die Ein-Partei-Regentschaft in engster Verflechtung mit der Staatssicherheit war die langfristige Versicherung für die eigene Bruchlandung. Dazu kam die geringere ökonomische Effizienz, die darüber hinaus die Sogwirkung gen Westen in der Orientierung vieler Menschen beförderte. Ein trügerisches Bild, wie wir heute sehen können, der "siegreiche" Wohlstand gehört zum Instrumentarium der Selbstzerstörung. Wie wir von der sozialen Fügung her zu ähnlichen Lebenschancen kommen könnten, war ansatzweise versucht, aber zu selten durchgehalten und mit mancher Tücke verbunden, wenn man etwa an die Spezialläden denkt, die nur für einschlägige Personenkreise zugänglich waren, oder die Lohnstruktur betrachtet, wie sie auseinanderklaffte.

Ob Prager Frühling oder Perestroika, das waren Hinweise auf einen alternativen Weg, jedoch konnte die erste Schwelle zu einer Gesellschaft mit mensch­lichem Antlitz in beiden Fällen kaum überschritten werden. Es blieben abgebrochene Möglichkeiten. Dabei trug gerade der Prager Frühling immerhin die Chance einer Alternative in sich, jenseits eingefahrener Wege in Ost und West. Man mag vermuten, hätte es den Piratenakt des militärischen Einmarschs in die Tschechoslowakei nicht gegeben, dann würde sich am ehesten eine Anpassung an westliche Verhältnisse durchgesetzt haben.

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Sicher lag dies im Bereich nächstliegender Wahrscheinlichkeit, wenngleich wohl manche weitreichende gesellschaftspolitische Innovation mit eingehen hätte können. Dennoch kann man nicht ausschließen, kluge Vordenker würden auch andere Perspektiven aufgezeigt haben. So festgelegt war der geschichtliche Prozeß nicht, trotz des gewaltigen Sogs, den der westliche Wohlstand erzeugte und der nahelegte, dieses Erfolgsmodell kompensatorischer Bedürfnisse im eigenen Land nachzubauen. Auch das Abrutschen der sowjetischen Politik von Perestroika und Glasnost in politisches und ökonomisches Delirium wäre vermeidbar gewesen. Zumindest hätte es unterm Strich gelingen können, bessere Verhältnisse zu schaffen, als sie dann zustande gekommen sind.

Der Slogan der Politbürokraten, nach dem jeder mitarbeiten, mitplanen und mitregieren solle, war nichts weiter als ein propagandistischer Schwindel. Das vielgepriesene Volkseigentum an den Produktionsmitteln gab es in der Realität nicht. Es wäre sonst auch kaum möglich gewesen, das "volkseigene" Inventar so zu verhökern, wie es die Treuhand getan hat.148

Im Prozeß der ökologischen Zeitenwende mußte auf neue Weise die Frage gestellt werden, welche Art von Kultursystem wir anstreben wollen. Da wurde Abstand genommen von den alten Gewißheiten, jedoch die Erfahrungswelten in kapitalistischem Überfluß, scheinsozialistischer Unbeweglichkeit und den armen Ländern kritisch ausgewertet, jenseits ideologischer Gefechte. Damit hatten sich einstmals die Vertreter der verschiedenen Anschauungen selbst ein Brett vor den Kopf genagelt. Deren politisch engstirniger Blick lenkte ab von den wirklich großen Herausforderungen. Von dort her konnte der Geist einer neuen Zeit nicht wachsen.

In der ökotopianischen Gesellschaft wurde an vieles auf grundsätzlich neue Weise herangegangen. Es kam immer wieder auch zu Fehlern im Prozeß der ökologischen Umgestaltung, jedoch konnte meist schnell reagiert werden, und Alternativen gelangten in den weiteren politisch-kulturellen Werdeprozeß. Die ökotopianische Wirtschaft kennt viele neuartige Strukturen, sie steht unter einem anderen Leitstern. In ihr gelten auch wieder die Maße und Umgrenzungen des menschlichen Lebens, die Geldvermehrung ins schlicht Unendliche verlor unter den neuen Bedingungen das absolute Diktat. Der Marketingcharakter, der sich u.a. aus den Arbeitsumständen heraus ständig erneuerte, verlor allmählich seine überragende Rolle. Der Mensch wurde an seiner Arbeitsstätte mehr und mehr ein ganzer Mensch, er agierte nicht wie früher als latenter Untertan, als Ware Arbeitskraft.

Aber schauen wir uns die neue ökonomische Ordnung etwas näher an. Einst hatte der abhängig Beschäftigte in seinem Betrieb nichts zu sagen. Er war gehalten, seine Arbeitsaufgaben gewissenhaft wahrzunehmen, als Person sollte er den Wünschen seines Vorgesetzten entsprechen, sonst konnte er sich seine Papiere abholen und beim Arbeitsamt anmelden. Was und wie gearbeitet wurde, entschied man über die Werktätigen hinweg. Dies ist heute gänzlich anders. Jeder ist Mitunternehmer in dem Betrieb, wo er arbeitet. Demokratische Mitbestimmung gehört zur Tagesordnung. Durch die wirtschaftliche Demokratie gelangte die politische Demokratie erst auf ein Niveau, wo von demokratischen Verkehrsformen überhaupt gesprochen werden konnte. Im allgemeinen bezeichnen unsere Wissenschaftler eure gesellschaftlichen Zustände als ein vordemokratisches Stadium. Sie waren einfach zu unvollkommen.

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Je zur Hälfte ist heute die Belegschaft und auf der anderen Seite die Gesellschaft Eigentümer der Betriebe. Jeder einzelne Beschäftigte ist so an der Gewinnausschüttung beteiligt. Die Ergebnisse der Produktion schlagen sich in seinem Einkommen nieder. Auf der anderen Seite wählt jede Betriebseinheit ihren Vertreter oder ihre Vertreterin für den regionalen Wirtschaftsrat, der sehr weitgehend über die ökonomischen Perspektiven bestimmt. Er managt den gesellschaftlichen Bereich des Eigentums. Den Gemeinden und Städten sind dabei Mitspracherechte eingeräumt. Aus den regionalen Wirtschaftsräten konsumiert sich der nationale Wirtschaftsrat. Das Ökologische Oberhaus und das Bundesparlament bestimmen gegenüber den Wirtschaftsräten die Rahmenbedingungen für die ökonomischen Entwicklungen. Sie können dabei sehr weitgehende Rechte wahrnehmen. Die Begrenzungsordnung gewinnt von dort her ihr prägendes Gesicht. Aber auch die regionalen Ökoräte und Landesparlamente sind mit einbezogen, wenn es um die Belange der Region geht. Über Arbeitgeberverbände wird nur noch in den Geschichtsbüchern berichtet. Die Gewerkschaften nehmen, soweit sie noch existieren, andere Aufgaben als früher wahr.

Finanzmärkte, wie es sie um die Jahrtausendwende gab, existieren inzwischen nicht mehr. Nur ein bis zwei Prozent der dort abgewickelten Umsätze entsprachen dem realen internationalen Handel.149 Der überwältigende Anteil, also 98 bis 99 Prozent bestand aus scheinwirtschaftlichen Aktivitäten. Das Schwungrad Finanzmarkt wurde angetrieben durch Spekulation, Absicherungsgeschäfte und Geldhandel. In unserer ökologischen Ordnung war ein solcher Magnet für legal geraubtes Geld nicht mehr länger hinnehmbar. Am Ende speiste diesen Elfenbeinturm Finanzmarkt immer aufs neue die Arbeitskraft der kleinen Leute, und dieses ganze Karussell geldvermehrender Superpotenz blutete die Basiskräfte der Natur aus.

Das extreme weltweite soziale Gefälle, wie es zu eurer Zeit zugelassen wurde, hätte die ökologische Neugestaltung der Gesellschaft schnell zum Absturz bringen können. 358 Milliardäre verfügten über soviel Geld wie 2,5 Milliarden übriger Erdenmenschen, also knapp die Hälfte der Weltbevölkerung.150 Wenn Reichtum solche Höhen erklimmen kann und dabei fatale soziale Ungerechtigkeiten produziert, dann mußte nach einer neuen Verteilung unweigerlich gefragt werden. Das gleiche Bild ergab sich beim Landbesitz. Weltweit gehörten 75 Prozent des Landes, das unter Privatbesitz fällt, nur 2,5 Prozent der Landbesitzer.151 Um zu gerechteren Verhältnissen zu kommen, mußte so manche Wertauffassung der Wirtschaftswelt in Frage gestellt werden. Jedenfalls war klar, wenn in der Bundesrepublik die eine Bürgerhälfte 4 Prozent aller Geldvermögen besitzt und die zweite Bürgerhälfte 96 Prozent, dann bedarf es einschneidender Korrekturen, um diesen asozialen Zustand zu bereinigen.152 Von 1983 bis 1989 stieg die Zahl der Einkommensmillionäre in der Bundesrepublik von 33.000 auf 56.000, um im größeren Deutschland bis 1996 nahe an 100.000 heranzukommen. Über 1.000 davon verdienen jährlich mehr als zehn Millionen Mark.153

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Praktisch ging man Veränderungen so an: Schritt für Schritt wurden überdurchschnittliche Einkommen immer stärker besteuert, ebenso lohnte sich innerhalb von zehn, zwanzig Jahren Geldbesitz über den gesellschaftlichen Durchschnitt nicht mehr. Gleiches passierte im Bereich des Landbesitzes. Weiterhin konnte jeder sein Haus auf eigenem Grund und Boden bauen, doch wer mehr besitzen wollte als die Masse der Leute, mußte darauf hohe Steuern bezahlen. Andererseits vermochte sich jetzt mancher eigenes Land leisten, für den das vormals unbezahlbar war. Landwirtschaftliche Flächen und Wälder gehörten wieder der angrenzenden Gemeinde. Die Äcker und Wiesen wurden verpachtet.

Diese soziale Umwälzung konnte natürlich nicht im nationalen Alleingang bewerkstelligt werden. Mehrere Länder hatten sich zu einer Allianz verbündet, um diesen Weg einigermaßen gefahrlos gehen zu können. Sie schotteten sich gegenüber den Blockierern so weit wie nötig ab, damit wirtschaftliche Instabilitäten von vornherein vermieden werden konnten, die durch Abwanderung von Produktionskapazitäten ins Ausland entstehen konnten. Längst hatte aber auch der ökologische Steuerumbau dafür gesorgt, daß die Ökonomie der weiten Wege immer unrentabler wurde, vieles also im eigenen Land hergestellt werden mußte, damit es sich rechnete. Auch von dieser Seite wurde die soziale Umgestaltung mit geschützt.

Für die ökologische Umgestaltung der Industriegesellschaft war über einen Zeitraum von etwa zwanzig Jahren eine Reihe von Sonderverfügungen erforderlich, die der Rettungsregierung eingeschirrt vom Oberhaus weitgehende Vollmachten zur ökologischen Sanierung der Volkwirtschaft verlieh. In einigen Bereichen genügte die maßsetzende Zäsur von Ökosteuern und neuer Gesetzgebung. Viele Industriezweige mußten aber vollständig abgewickelt, andere in ihrem Grundaufbau völlig neu konzipiert werden. Hier war staatliche Einflußnahme geboten. Dies konnte man nicht dem Selbstlauf überlassen. Dafür war solide Planung unausweichlich.

An diesem grundlegenden Umbau der Volkwirtschaft entschied sich am Ende die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Alternative. Hätten wir damals nicht mit äußerster Konsequenz neue Strukturen gesetzt, die ökologische Rettung wäre gescheitert. Mit dem Abstand der Jahre wird das immer sichtbarer. Ein wichtiger Grundsatz war: Erst mußte die neue Regionalwirtschaft intakt sein, bevor anderswo die Werktore geschlossen werden konnten. Im verbleibenden überregionalen Industriesektor dagegen konnte der Wandel sich über einige Etappen hinziehen. Während der Transformation wurde die volle Beteiligung der Beschäftigten als Mitunternehmer in Gesetzesform gegossen und überall, wo es sich bereits realisieren ließ, umgesetzt. Natürlich konnte die Mitunternehmer­schaft nicht in allen Arbeitsverhältnissen in Betracht kommen. Der Lehrer, die Bürgermeisterin oder der Polizist etc. kann selbstverständlich nicht nach kommerziellen Gewinnen eingestuft werden. Demokratische Verkehrsformen zogen allerdings an allen Arbeitsorten ein.

Wir halten aber noch einmal fest:

Die erste Phase der Umgestaltung wurde in einer ökologischen Marktwirtschaft vorgenommen, in der sich die ökonomischen Rahmenbedingungen stark veränderten.

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Im weiteren Verlauf wurden die Werktätigen schrittweise reale Miteigentümer der Produktionsstätten, bis gesetzmäßig vorgeschrieben wurde, daß jede Belegschaft zu je 50 Prozent Eigentümer zu sein habe. Bei Konkursfällen traten Versicherungen ein, um die gröbsten finanziellen Einbußen abzufedern. Zug um Zug führte man auch die schon erwähnten Wirtschaftsräte ein. Per Wandel im Rechtssystem kam die im einsägen Grundgesetz festgehaltene Sozial­pflichtigkeit des Eigentums immer mehr zu Geltung. Die alten Eigentümer, Aktiengesellschaften etc. mußten stufenweise weitreichende Verfügungs­rechte an die Gesellschaft zurückgeben, bis sie faktisch keinen Einfluß mehr nehmen konnten.

Lange vor diesen Reformschritten wurde der Finanzmarkt auf die notwendigen Geldflüsse zurückgefahren, damit die Anarchie dieser Einrichtung nicht das ökonomische Geschirr zerschlägt. Enge Verfahrensregeln dämmten den zerstörerischen Charakter des Finanzmarktes immer weiter ein. Aber nach wie vor können Aktien und Investmentfonds als Wertanlage erworben werden auf den Bereich, der nicht in der Verfügung der Beschäftigten liegt. Damit ist jedoch keinerlei Einflußnahme auf das Betriebsgeschehen mehr möglich.

Die zweite Achse des neuen politökonomischen Systems betrifft die Reichtumsbegrenzung auf allen Ebenen.

Viel "haben" lohnt sich nicht mehr. Von daher wird auch der noch erhaltene kapitalistische Expansionsschub kulturell domestiziert. Die Zwei-Drittel-Gesellschaft existiert faktisch durch vielfachen sozialen Ausgleich nicht mehr. Jedoch ist das Gewinnmotiv in der Wirtschaft auf vielen Ebenen erhalten. Das führt z.B. nicht zu der weitgehenden Interesselosigkeit am hergestellten Produkt und Eigentum, wie im Scheinsozialismus des Ostens. Auf der anderen Seite versklavt das Profitmotiv nicht den gesamten Gesellschaftskörper, wie das in der westlichen Hemisphäre der Fall war und wie das nach der Öffnung der Berliner Mauer weltweit unangefochtenen Einzug hielt.

Hatten einst Arbeitgeberverbände wüste Beschimpfungen auf diejenigen niedergehen lassen, die die 35-Stunden-Woche einführen wollten, so ist diese heute längst überwundene Vergangenheit. Niemand würde heute noch fünf Tage in der Woche, je acht Stunden pro Tag arbeiten wollen, dazu vielleicht noch ein paar unbezahlte Überstunden für die bessere Bilanz des Betriebes. Zu eurer Zeit geriet die Arbeit geradezu in die Stellung eines anzubetenden Heiligtums. Alles drehte sich um dieses Thema, und vernünftiges Nachdenken um den Sinn und Wert dieses "Lebenselixiers" gab es kaum. Parteien verstiegen sich auf die Idee zu plakatieren: "Arbeit, Arbeit, Arbeit!", oder "Arbeit muß her!" 

Dabei war es gerade auch das Zuviel an Arbeit innerhalb der tödlichen Gesamtstruktur, die euch aus der Bahn zu drücken drohte. Ihr fragtet gar nicht: Wieviel und welche Arbeit verträgt die Erde? Geradezu Kopfschütteln löst es bei uns aus, wenn wir uns anschauen, wie unintelligent ihr die Arbeit verteilt hattet. Die in Lohn und Brot standen, mußten oft viele Überstunden leisten. An der Jahrtausendwende wurden jährlich 1,9 Milliarden Überstunden geleistet. Auf der anderen Seite waren in Deutschland offiziell mehr als vier Millionen Arbeitslose registriert (1998), nimmt man alle verdeckte Arbeitslosigkeit dazu, Umschüler oder diejenigen, die keinen Anspruch auf Gelder des Arbeitsamtes hatten, käme man auf sieben bis acht Millionen. 

* (d-2015:)  H.Rieseberg: Arbeit bis zum Untergang:1992 

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Heute arbeiten viele Menschen nur noch drei Tage in der Woche und legen außerdem drei Monate Pause ein. Natürlich gibt es auch andere Arbeitszeit­regelungen. Mancher arbeitet auch unentwegt, um sich sehr frühzeitig auf sein Dasein im Ruhestand zu freuen. Alle Zeiten im offiziellen Sektor werden in ein Arbeitsbuch eingetragen. Wer zuviel arbeitet, wird hoch besteuert, erhält jedoch diese Gelder zurück, wenn er dann später längere Auszeiten einlegt. Wer mehr arbeitet, erlangt auch keine gesteigerten Rentenansprüche. Dennoch kann z.B. der Wissenschaftler auch seiner Berufung nachgehen, aber er wird es nicht um des finanziellen Vorteils wegen mehr tun, wenn er zeitlebens forscht. Selbstverständlich ist z.B. das Haareschneiden oder die Klempnerarbeit im Tauschring in der genannten Arbeitsbilanz nicht berücksichtigt, wie auch alle andere Tätigkeit, die außerhalb des offiziellen Sektors liegt.

Jedem steht auch, wenn er nicht arbeitet, ein Existenzgeld zu, ohne dafür auf nahestehende Personen angewiesen zu sein, mit dem er zumindest ein bescheidenes eigenes Zimmer und alles unbedingt Lebensnotwendige bestreiten kann. Sowohl armutsbedingte Obdachlosigkeit als auch Mietwucher sind unbekannt. Die meisten Menschen leben in der eigenen Wohnung und können sie sich ohne Schwierigkeit leisten. Heute gibt es nicht nur ein Recht auf Arbeit, das jedem gewährt wird, sondern auch ein <Recht auf Faulheit>, wie es schon Paul Lafargue* einforderte. Innerer Frieden, Ruhe und Genügsamkeit sind die Insignien der heutigen Lebenswelt. Hektik und Streß in ihrem Übermaß blieben die Übel der untergegangenen kapitalist­ischen Industrieepoche. Es entstand der innere Raum, nach dem Atem des Ewigdauernden zu spüren. Lebensfreude und Spiritualität gehen Hand in Hand. Nach wie vor gibt es aber auch das ganz profane Leben.

Mehr als die Hälfte aller verrichteten Arbeit stellte zu eurer Zeit keine bezahlte Arbeit dar. Bezogen auf die weltweite Situation, wird der Anteil unbezahlter Arbeit noch viel höher zu veranschlagen sein. Solche Arbeit ist sehr häufig Frauenarbeit, vom Kinderbetreuen bis zum Wäschewaschen. So brachte die ökologische Abspeckkur gerade auch hier zusätzliche Lasten. Die technische Hochrüstung mit Haushaltsgeräten mußte ihr Ende finden. Konnte man dies bei der elektrischen Brotschneidemaschine oder der Mikrowelle noch einsehen, fiel die Einsicht, Wäsche nicht zu Hause, sondern in einem Waschsalon in der Nähe zu reinigen, schon schwerer, wenngleich das auch nur eine Sache der Gewöhnung ist. Brauchte man früher das saubere Geschirr nur aus dem Spüler nehmen und in den Schrank räumen, muß man es nun wieder selbst abwaschen. 

Gegessen wird immer seltener zu Hause. Meist kann man preiswerter als daheim in einer nahegelegenen Essenküche — insbesondere Mittag — zu sich nehmen. Man kann es sich aber auch nach Hause holen oder bringen lassen. Das entlastet oft von der eigenen Herdarbeit, die früher doch meist von den Frauen erledigt wurde. Vom Äußeren her unterscheiden die Küchen sich kaum von gewöhnlichen Gaststätten. Dort findet außerhalb der üblichen Essenzeiten auch viel an Kommunikation statt — vom Kartenspiel über das Hauskonzert bis zum politischen Gespräch. Hier pulst das Leben, hier beginnt der Faden für eine große Liebe, hier spricht man ab, wer gerade Hilfe braucht bei Hausbauarbeiten. 

*  (d-2014:)  P.Lafargue bei Detopia  

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Am Infobrett kann man entnehmen, welche Arbeiten im Tauschring gerade benötigt oder angeboten werden.

Heute ist es gang und gäbe, daß auch mal der Mann mit dem Wäschewaschen an der Reihe ist und die Toilette putzt. Auf der anderen Seite kann man viel häufiger auch Frauen beobachten, die sich auf Aufgaben eingespielt haben, die als reine Männerdomäne galten. Ebenso zählt im Betrieb: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Zwar gibt es nach wie vor Unterschiede beim Lohn, je nachdem, ob jemand z.B. als Arzt oder als Reinigungskraft arbeitet, doch die Differenz ist deutlich geringer geworden. Auch Hilfsarbeiten werden nicht "mit einem Appel und einem Ei" entlohnt.

Insgesamt sind wir zu feminineren Arbeitsstrukturen gekommen, die Arbeit, die durch Haushalt und Kinder anfällt, wird gerechter zwischen Mann und Frau aufgeteilt, und es ist gar nicht mehr ungewöhnlich, daß die Frau Chefpositionen bekleidet und der Mann für die Kinder zuständig ist. Mitunter wurde manche Hausarbeit auch weggespart, mancher Garten so angelegt, daß wenig Pflegearbeiten anfallen.

Bekamen früher die Kinder im Alltagsgeschiebe oft zu wenig Zuwendung oder wurden gar lästig, weil Eltern auch mal ihre Ruhe haben wollten, so ist heute der Umgang und die Beschäftigung mit den Kindern viel flexibler eingerichtet. Fast in jedem Ort gibt es Kinderhäuser. Oft sind sie schon an ihrem bunten Äußeren zu erkennen. Dort entfaltet sich das Reich der Kinder. Sie entscheiden über die Gestaltung der Räume und des Umfeldes. Dies trifft nicht immer auf Gegenliebe bei den Erwachsenen, aber hier regeln die Kinder viele Belange selbst. Auch übernachten können sie im Kinderhaus. 

Für Konfliktfälle im Haus stehen Erwachsene beratend zur Seite. Werden schwächere Kinder drangsaliert bzw. kommt blanke Zerstörungswut zum Ausbruch, wird jedoch rigoros eingegriffen. Heute suchen sich die Kinder viel stärker ihre Bezugspersonen mit aus. Manchmal gibt es Situationen, in denen Kinder und Eltern in ihrem Wesen nicht zusammenpassen, oder auch nur Zeiten, in denen sich gegensätzliche Interessenlagen aneinander reiben. Dies wirkt sich auf die Lebensentwicklung beider Seiten ungünstig aus. Da ist es wichtig, daß unabhängige Bezugspersonen die Konfliktlage mit entlasten können. Recht üblich geworden ist auch, daß sich Familien in der Kinderbetreuung aushelfen, dort, wo sie noch notwendig ist. Nicht immer wohnen die Großeltern um die Ecke oder im gleichen Haus. Durch dieses Zusammenspiel wurde auch der Freiraum für die Eltern größer. 

Schon mit 14 oder 15 Jahren können die Jugendlichen ein eigenes Quartier beziehen und Verantwortung für sich selbst übernehmen. Häufig wohnen sie in Wohngemeinschaften, geben sich selbst die Regeln ihres Zusammenlebens. Das milderte den Generationenkonflikt ungemein, förderte die Partnerschaft zwischen junger und älterer Generation. Natürlich schlägt auch in unserer Gesellschaft mal der eine oder andere arg über die Stränge. Aber den überhand­nehmenden Vandalismus — man denke nur an die Vielzahl farbbesprühter Wände und Verkehrsmittel —, die Gewalt gegen Schwächere, Kriminalität, überhaupt all das kommt bei uns viel seltener vor. Wir denken, es dürfte auch damit zu tun haben, daß die Kinder und Jugendlichen viel mehr Freiraum haben, ihren eigenen Weg zu gehen, daß die ganze Atmosphäre, in der sie heranwachsen, durch einen liebevollen Umgang geprägt ist. 

Sicher spielt auch eine Rolle, daß das unbändige Machen, Machen und nochmals Machen in einem von Gier durchzogenen Gesellschaftssystem, Gier nach Karriere, Reichtum und anderen begehrenswerten Dingen, daß diese Matrix in unseren ökotopianischen Verhältnissen an den Rand gedrängt wurde. 

Heute wird immer häufiger in offenen Familien zusammengelebt. Freundeskreise knüpfen ein dichtes Netz kommunikativen Austauschs. Viele leben aber weiterhin in traditioneller Weise in der Kleinfamilie, andere ziehen kommunitäres Gemeinschaftsleben vor. Der Trend zum Singledasein ist deutlich rückläufig. 

Unsere ganze Gesellschaft nahm im Laufe der Zeit erotischere Farbtöne an. So manche Zwiespältigkeit im Umgang mit der menschlichen Liebe und Sexualität verlor den Boden, auf dem sie gewachsen war. Die innere Wahrheit zählt inzwischen viel mehr als althergebrachte Konventionen. Längst gab es die Ehe als staatlich sanktionierte Institution nicht mehr, wohl aber Menschen, die ein Leben lang einander Frau und Mann sind, sich vertrauen und lieben.

Die Herausforderung blieb, nicht eine dicke Schicht von Alltäglichkeit über die Beziehung wachsen zu lassen, die unter sich die eigentlichen Dinge begräbt und innere Erneuerung nicht mehr zuläßt.154

Allerdings ist die monogame Zweierbeziehung nicht die einzige Form des Zusammenlebens. Auch bleibt niemand mehr mit seinem Partner aus wirtschaft­lichen Erwägungen, verklemmten Pflichtgefühl oder Angst vor Einsamkeit zusammen, wenn die Liebe erloschen ist. Nach wie vor spielen die eigenen Kinder eine große Rolle beim Zusammenhalt. Jedoch wird die Romanze nebenher meist tolerant akzeptiert. Ohnehin erfreuen sich Mehrfach­beziehungen großen Zuspruchs, oft ohne daß die eine große Liebe dabei in Frage gestellt würde.

Zu eurer Zeit war dies gesellschaftlich tabuisiert, jetzt steht im Vordergrund, in solchen Lebensformen offener und harmonischer miteinander umzugehen, auch die tiefen Dinge des Umgangs miteinander auszuloten. Das ist sehr viel schwieriger und sicher auch einer der Gründe, warum die lebenslange Zweierbeziehung immer noch hoch im Kurs steht.

Viele Treffpunkte und Netzwerke bieten ein erotisches Flair, in dem man sich frei begegnen kann, wo die Reife für eine spirituelle Liebeskunst zu wachsen vermag Daß bei uns der Eros stärker in den Mittelpunkt rückte, mag vielleicht auch seinen Anteil daran haben, warum die menschliche Kultur friedvoller geworden ist. 

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 Marko Ferst - Wege zur ökologischen Zeitenwende - Reformalternativen und Visionen für ein zukunftsfähiges Kultursystem -  2002