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17. Der emanzipierte Mensch als Ziel

 

 

 

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Die vom Ich nicht wahrgenommenen inneren Anlagen, Triebanteile und seelischen Inhalte werden im Sammelbegriff "Schatten" genannt. Er repräsentiert das Unbewußte als ein vom Ich geschiedenes psychisches System. Mittels Unterdrückung und Verdrängung spaltet das Ich, das vom Kulturkanon mehr oder weniger stark geformt ist, die nicht mit dem eigenen Wertesystem übereinstimmenden Inhalte, das Negative bzw. Unerwünschte ab. 

All dies läuft zu großen Teilen auf einer dem Individuum kaum oder gar nicht präsenten Ebene ab. Damit wird der Sinn verschiedener Aspekte des eigenen Lebens, Verhaltens und Denkens falsch interpretiert oder ausgegrenzt. Im wechselseitigen Austausch von Inhalten operiert man und frau dann mit Teilwahrheiten, stellt eine Scheinperson aus sich heraus. Durch Bewußtmachen und Annehmen der verdrängten bzw. abgespaltenen Schatteninhalte und Begreifen ihrer Entstehungs­geschichte wird die Scheinperson zugunsten des wirklichen Menschen abgebaut. 

Seelisch-geistige Hochkultur beginnt jenseits der Illusionen über uns selbst und die Welt.

Häufig verbergen Rationalisierungen bei scheinbar vernünftigem Handeln unbewußte Motive, die gar nicht mehr so vernünftig sind.123 In der menschlichen Geschichte verbargen solcherart Täuschungen nur zu oft verbrecher­isches Handeln, im privaten Bereich sind sie oft genug der Nährboden für Konflikte.

Erkenntnisteile, die auf gedanklichen Abstraktionen von realen Vorgängen beruhen, trennt der Mensch häufig von dieser ursprünglichen Voraussetzung. Es entstehen Teilwahrheiten, die miteinander nicht mehr in Einklang zu bringen sind. So gleitet Erkenntnis schnell zur Selbstsicherung ab, man hält sich in seinen eigenen Anschauungen gefangen. Dieser menschliche Zug befördert auch ein Gegensatzdenken, das etwa im einstigen Ost-West-Konflikt eine markante politische Ausprägung fand. Es käme im Alltag wie in der Politik auf eine Synthese möglicher Gegensätze an, allerdings nicht im Sinne verklärenden Vermischens, sondern souveräner Neubetrachtung. Dazu müssen immer wieder auch alte Denkmauern fallen.

Als widerstandsfähiger gegenüber aufarbeitender Einsicht erweisen sich Übertragungen von eigenen Gefühlen, Wünschen, Vorstellungen o.a. auf andere Personen oder Sachverhalte. Dem Anderen wird eine Verkleidung fabriziert, die selbstgestrickt ist und einen objektiven Blick verstellt. Der Betrachter erkennt dabei seine eigene Projektion nicht. Allzu häufig überbewertet der Mensch seine Kenntnisse über Sein und Lauf der Dinge. Dabei ist es doch so, daß er nichts weiß, außer dem, was er in sein Bewußtsein aufnehmen konnte. 

Sigmund Freud erkannte, daß der größte Teil dessen, was in uns real ist, uns nicht bewußt ist, und daß das meiste von dem, was uns bewußt ist, nicht real ist.(124) Wir rechnen grundsätzlich mit einer geordneten, zusammenhängenden Welt, die sich durch Kontinuität auszeichnet, in der hinter jedem Vorgang Sinn und Zweck steht, stellt I. Eibesfeldt sinngemäß fest.

detopia:  Freud     Eibesfeldt 

Zwar brauchen wir immer wieder fixierte Vorstellungsrahmen, um Erfahrungen zu reproduzieren und Gelerntes anzuwenden, jedoch umstellen wir uns allzu oft mit einer unwirklichen Kunstwelt. "Die Notwendigkeit im Leben, Hauptursachen zu erkennen, verführt uns zu linearem, monokausalem Denken."125) Wir projizieren die Logik menschlicher Denk- und Handlungsschemata in unsere Sicht und unser Verhalten gegenüber der übrigen Mitwelt.

Ein zentrales Feld bei der Veränderung des menschlichen Bewußtseins ist die Befreiung aus der Abhängigkeit der Lebensqualität von primär materiellen Werten.

Dabei darf eine existenznotwendige Grundsicherheit allerdings nicht negiert werden. Sie ist vielmehr Bedingung, um ein vernunft­orientiertes Gleich­gewicht zwischen geistigen und materiellen Werten herzustellen. Sozial chaotische Zustände, gepaart mit ökodiktatorischem Schliff, werden kaum dazu beitragen, die kulturell-seelische Evolution des Menschen zu fördern. Die allzu häufig egozentrische Perspektive, mit der wir, eingebunden in die Industrie­gesellschaft, die Naturverhältnisse immer effektiver aus dem Gleichgewicht bringen, muß durch den Weg zum höheren Selbst abgelöst werden. "Das Selbst ist eine dem bewußten Ich übergeordnete Größe. Es umfaßt nicht nur den bewußten, sondern auch den unbewußten Psycheteil und ist daher sozusagen eine Persönlichkeit, die wir auch sind."(126)

Auf dem Weg zum Selbst werden die vom Bewußtsein gesetzten Grenzverläufe zwischen den verschiedenen Inhalt, Positionen relativiert, jedoch nicht beseitigt. Alles soll aufsteigen, um es auch wieder loslassen zu können. Das Ich ordnet sich in eine ganzheitliche Weltrealität vermittelnd ein. Das Zentrum liegt überall.

Entsprechend der jeweiligen Situation sollte der Mensch bewußt über eine ich-lose, wir-hafte bzw. ich-hafte Art zu sein entscheiden können.127 Der abstrakte Verstand des Ich darf unser wahres Selbst nicht im Schlepptau haben.128 Die Welt sollte zum Selbst des Menschen werden, einem Selbst, das sich liebend der Welt gleichsetzt, wie es bei Laudse heißt.129

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Der Mensch gelangt zu einer Tiefenwandlung des Bewußtseins nur, wenn er alle kurzfristigen Interessen bzw. ich-besorgten Verhaftungen mit den Einsichten in die allgemeinmenschlichen Notwendigkeiten abwägt und zumindest als ersten Schritt ihren Vorrang anerkennt. Im praktischen Leben türmen sich vielerorts auch Barrieren dagegen auf, wichtig ist aber, wenigstens auf der Verstandesebene zunächst mal dieses Prinzip richtig zu finden. 

Wenn etwa alle Menschen die Konsequenzen aus ihrem Verhalten ziehen würden, wie sie Nechljudow in Lew Tolstois letztem großen Roman <Auferstehung> aus dem seinen zieht, dann wären wir mit dieser Welt schon in hoffnungsvollerer Lage. Man stelle sich vor: Jeder wäre von seiner eigenen inneren Instanz angerufen, Ungerechtigkeiten, Schicksalsschläge, die er einem anderen Menschen beifügt, auch durch die eigene Existenz auszugleichen oder zu sühnen. Kämen z.B. viele der ganz gewöhnlichen Geschäftsaktivitäten zur Sprache, die aus den reichen Ländern heraus unternommen, in ärmeren Regionen praktiziert werden, da wären verantwortliche Konzernmanager oder auch kleine Aktienbesitzer in schwieriger Position, wenn sie sich selbst Reue und praktisches Wiedergutmachen abverlangen wollten. 

Lew Tolstoi (detopia)

Nur als Beispiel: 

Ich erinnere mich an einen Fernsehbeitrag, in dem ein indigener Stamm in Ecuador gegen die Eingriffe der Ölmultis kämpfte. Der Stamm hatte gesehen, wie in Nachbarregionen das Wasser akut mit Öl verschmutzt wurde und viele andere Zerstörungen ihren Lauf nahmen, wie der soziale Zusammenhalt angrenzender Stämme sich auflöste, nachdem sie sich kaufen ließen. Wie sähe hier Reue und Wiedergutmachen aus?

Dabei reichten die Ölvorkommen in diesem Gebiet gerade dafür aus, um die nordamerikanische Autoflotte für knapp vierzehn Tage in Gang zu halten. Es würde also auch an der Zapfsäule nach Schuld und Sühne gefragt werden müssen. 

Erkannt werden sollte, wie weit wir selber für den heutigen Weltzustand mitverantwortlich sind, insbesondere ich selbst. Welchen Anteil habe ich am Ganzen? Es ist nicht hilfreich, alle Schuld ausschließlich an die bösen Firmeneigner, Politiker und die sonstigen Sündenböcke zu verteilen. Selbstver­ständlich ballt sich dort die Verantwortung in besonderer Weise. Wichtig scheint mir zu sein, alle Ursachenaspekte für die gesellschaftliche Krise am Ende wieder transparent ineinanderzufügen.

Wir brauchen heute überall Menschen mit einer ähnlichen inneren Verfassung, aus der heraus Awdi Kallistratow in Aitmatows Roman <Die Richtstatt> zunächst aussichtslos Rauschgiftsammler und skrupellose Wildjäger von ihrem Treiben abzuhalten suchte. Dabei will ich die naiven Seiten, die man in seinem Tun auch sehen kann, nicht überhöhen. Wohl muß man aber zur Kenntnis nehmen, eine Welt, in der im übertragenen Sinne nur Rauschgiftsammler, Wildjäger und stille Teilhaber am Zuge sind, wo die Kräfte innerer Erneuerung zu schwach bleiben, ist ein Bund zum Sterben. 

detopia:  Tschingis Aitmatow 

Die so bequeme Sicht, sich nur noch um sich selbst, um das unmittelbare eigene Wohlergehen zu kümmern, wird welthistorisch jetzt als Sackgasse erkennbar, selbst wenn wir noch einmal einen "Glanzauftritt" dieser geistigen Kräfte beim ökoglobalen Niedergang erleben sollten. Es gilt, im Sinne des ökologischen Kulturumbruchs die unablässige Bindung an die eigenen unmittelbaren Interessen zu überwinden. 

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Gesellschaftlich muß sich ein Wertesystem herauskristallisieren, das diese innere Einstellung trägt und begünstigt und herkömmliches Vorteils­streben in Mißkredit bringt. Zwar fordern die gegenwärtigen gesellschaftlichen Strukturen permanent den egozentrischen Schub heraus, so daß einem gespaltenen Verhältnis zunächst nicht auszuweichen ist. Doch Änderung ist möglich, und auch die kleinen Schritte sind wichtig. Je mehr der Mensch zu sich selbst findet, desto eher ist er in der Lage, diesem Anspruch näherzukommen. 

Unter diesem Level ist auch Rettungspolitik und Rettungsbewegung nicht zu haben. Von dort her wächst ihr innere Stärke zu. 

 

Bewußter zu leben ist heute ein zwingendes Gebot. Das beschränkt sich nicht darauf zu wissen, wie man und frau in die ökologische Selbstzerstörung mit den täglichen Aktivitäten eingebaut ist. Es kommt darauf an, die Wirklichkeit über die eigene Person allumfassend zu reflektieren, das Leben in seiner Gesamtheit bewußter wahrzunehmen und von dort aus im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten auch bewußter zu gestalten. Das heißt, aus der eigenen Mitte heraus zu leben und sich nicht außengelenkt manipulieren zu lassen. Man wird nicht vom allgemeinen Strom der Dinge getrieben. 

In sehr unterschiedlichem Maße streben das sicherlich nicht wenige Menschen an. Doch es existieren auch viele Hürden, die im Individuum und mit den gesellschaftlichen Konventionen in unserer Kultur aufgerichtet sind. Schnell schleicht sich die Macht der Gewohnheit ein. Lebendiger Geist erstarrt oder kommt erst gar nicht zu seinen Möglichkeiten. Das Bewußtsein schottet sich gegen störende Gedanken ab, die die eigene Existenz verunsichern. Zum Beispiel wird die Ichfestigkeit häufig mit einem distanzierenden oder gar aggressiven Verhalten ausgebaut, als Reaktion auf die Bedingungen, die im Alltag eingegangen werden müssen. Das Ich gerät in unterschiedlichen Variationen zu einer Art Verteidigungssystem, und häufig drängt es über diese Funktion hinaus. Dieser Prozeß führt unter anderem auch dazu, Probleme unaufgearbeitet zu lassen bzw. sie zu verharmlosen, wie das in der Krise zwischen Natur und Mensch besonders offenbar wird.

 

Die riesige Fülle von Teilinformationen, deren Streuung durch die Markt-, Macht- und Stimmungslogik beherrscht wird, fördert eine pathologische Art und Weise bei der Wahrnehmung der Mitwelt. Jeder Versuch einer ganzheitlichen Betrachtungsweise wird dadurch sehr erschwert. Auf der anderen Seite bringen die Zwänge der Arbeits- und Lebenswelt eher ein Weltverständnis hervor, das auf die unmittelbar umgebenden Realitäten gerichtet ist und Wünsche, die sich daraus ergeben. Was innerhalb dieses Musters keinen Platz findet, fällt durch bei der Konkurrenz um Aufmerksamkeit.

Wir könnten auch von der Subalternität des "normal angepaßten Menschen" gegenüber den gesellschaftlich-irdischen Prozessen sprechen. Subalternität bedeutet soviel wie Abhängigkeit, Unselbständigkeit, bezeichnet Verhaltensmomente bis hin zu Unterwürfigkeit und Untertänigkeit, deckt also ein ganzes Spektrum ab. 

Deutlich unterstrichen sei, es geht hier nicht darum, allein das Ungenügen des einzelnen Menschen auszumachen, sondern auch die Subalternität als gesell­schaft­liches Phänomen zu verdeutlichen. Sie wird gefördert durch die immer größere Differenzierung unseres Gemeinwesens und bestehende Machtvorteile und Verblendungs­zusammenhänge.

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Die Normalität der Anpassung scheint zweckmäßig und notwendig, geradezu ein Omen für seelische Gesundheit. Daß unsere Gesellschaft durch und durch fehlgeleitet ist, besitzt dabei eine sehr untergeordnete Rolle für den einzelnen. Solch eine Frage kommt vielen erst gar nicht in den Sinn. Sie taucht nicht auf, sie existiert nicht — und wenn dann doch, wirken gar nicht so selten akrobatische Verdrängungskünste. So bekam ich zu hören, die ökologische Krise würde in meiner Lebenszeit sowieso nicht mehr hereinbrechen, also wäre es doch besser, sich darüber keine Gedanken zu machen. Ich frage mich, woher man das so genau wissen will, auch angesichts der schleichenden Boten, wie steigende Krebsraten, das Waldsterben und die ständige Atomgefahr etc., ganz zu schweigen von der täglich ablaufenden Realapokalypse, wenn ich an die Tausende Menschen denke, die an den Folgen von Unterernährung sterben, oder an die Kriegs- und Minenopfer. 

Wissen, das die eigene unmittelbare Lebensart in Frage stellt, ist zutiefst bedrohlich und abweisenswert. 

Das Ganze könnte man auch als einen Zustand kollektiver Geistesschwäche interpretieren. Er scheint höchst sinnvoll, um auf der Arbeit, aber auch sonst im Leben nicht auf eine schiefe Bahn zu geraten, um einfach zu funktionieren. Die Erkenntnis, damit eine perverse Kulturverfassung künstlich zu erhalten, wäre eher schädlich für das eigene Wohl. Seelische Gesundheit kann in einem solchen Klima nur auf Sparflamme gedeihen.

 

Zwei psychologische Phänomene, die besonderen Einfluß auf die gesellschaftliche Entwicklung zu besitzen scheinen, sind der Marketing-Charakter und die emotionelle Pest

Der von Erich Fromm geprägte Begriff des Marketing-Charakters meint, daß der einzelne Mensch sich selbst als Ware und den eigenen Wert nicht als "Gebrauchswert", sondern als "Tauschwert" erlebt.130) Ob er für die jeweilige Arbeitsstätte geeignet ist oder nicht, hängt vielfach auch davon ab, ob sein Typ gefragt ist. Sicher können besondere berufliche Fähigkeiten von Vorteil sein und geringe Fähigkeiten von Nachteil. Aber wer dem Wunschprofil seines Chefs als Person am besten entspricht, hat bei der nächsten Entlassung die besseren Karten. Der Mensch wird zur Ware auf dem "Persönlichkeitsmarkt". Das Bewertungsprinzip ist dasselbe wie auf dem Warenmarkt, mit dem einzigen Unterschied, daß hier "Persönlichkeit" und dort Waren angeboten werden. Der "Gebrauchswert" ist eine notwendige, aber keine hinreichende Vermarktungs­bedingung.131) 

Der Mensch wird über weite Strecken abhängig vom Wohlwollen seines Vorgesetzten, aber auch vom Klima in seiner Arbeitsstätte oder bei seinen Kontakten, die er zu pflegen hat. All dies läuft zu Teilen auf eine schwere Störung des inneren Menschen hinaus. Er wird zum Zerrbild seiner selbst. Er verpaßt seine eigentlichen Möglichkeiten. Der Markt regelt den Menschen. Der Charakter gerät unter die Räder von Angebot und Nachfrage. Erfolg knüpft sich an falsche Maßstäbe. "Der Wert des Menschen liegt in seiner Verkäuflichkeit begründet und nicht in seinen menschlichen Fähigkeiten zu Vernunft und Liebe und auch nicht in seinen künstlerischen Qualitäten."132) 

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Zudem dürfte sich die Marketing-Orientierung nicht nur auf die Arbeitssphäre beschränken. Schon im Kindergarten ist jener, der sich nicht genügend an die Gruppennorm anpaßt, ein Außenseiter. Das setzt sich in der Schule fort. Auch wenn in der Familie bei Kindern und Eltern unterschiedliche Charaktere oder Wertauffassungen aufeinandertreffen, kann der Schaden für die eigene Identität der Kinder beträchtlich ausfallen. Wer sich im Bekanntenkreis etc. nicht an die gängigen Gepflogenheiten hält, findet sich schnell in abschüssiger Position wieder. Die Unsicherheit und Hilflosigkeit, die dann hochkommen, bewegen in der Regel schnell zum Einlenken. 

Ich meine also, die Marketing-Orientierung des Menschen erstreckt sich weit über die Arbeitswelt hinaus, auch wenn sie dort am extremsten hervortritt und in der Regel die unmittelbar existentiellsten Wirkungen hat.

Die emotionelle Pest so benannt von Wilhelm Reich besagt als einen wesentlichen Grundzug, daß Handeln und die Begründung des Handelns auseinander­fallen. Das wirkliche Motiv ist verdeckt, und ein scheinbares Motiv ist vorgeschoben. Insoweit wächst sie auf dem Boden von Rational­isierungen. Sehr auffällig ist, meint Reich, daß Menschen, die starke Pestreaktionen hervorbringen, gegen andere Lebensweisen ankämpfen, auch dort, wo sie die eigene Person gar nicht berühren. Das Motiv dieses Kampfes ist die Provokation, die andere Lebensweisen durch ihre bloße Existenz darstellen. Zudem sieht Reich in der katholischen Inquisition des Mittelalters oder dem Faschismus epidemische Ausbrüche der emotionellen Pest in der Art einer Seuche.133

Jede menschliche Verhaltensweise, die darauf hinausläuft, eine entspannte Lebenshaltung zu unterminieren, aggressive Impulse einzuspeisen, ist im Grunde genommen der Nährboden emotioneller Pest. Selbst die in der innersten Motivation gute Absicht kann schon den Schatten ungünstigen Karmas in sich tragen, in der Art, wie sie vorgetragen oder gehandhabt wird. Wie ein feingliedriges Wurzelsystem durchziehen die verschiedenen Erscheinungsweisen von Feindseligkeit die Gesellschaft. Sie durchsetzen die sozialen Beziehungen und verselbständigen sich in der gesellschaftlichen Struktur. Aber auch in den schwächeren Ausläufern verschlechtert feindseliges Verhalten das Klima unter den Menschen. 

Die emotionelle Pest umgreift im Grunde viele Schichten sozial schlechter Umgangsformen. Jedes Verhalten, jeder Verhaltenskreislauf, der uns einmal mehr die Tür zuschlägt für den Weg zu unserem eigenen inneren Oben, vermehrt nur den Sud schnellen psychischen Gewinns, nicht aber den wirklichen Gewinn für menschliche Emanzipation. Wir sind dann einmal mehr in der falschen Freiheit gefangen. 

Nun sei dahingestellt, ob der Begriff der <emotionellen Pest> hinreichend geeignet ist, all das Aufgezeigte zu umfassen, zumal auch meine Ausführungen nur eine umreißende Näherung sein können. Einstweilen sehe ich keinen hinreichend schlüssigen Begriff, der dieses ganze psychosoziale Spektrum in sich binden könnte.

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 Wilhelm Reich "emotionale Pest" bei detopia  

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 www.detopia.de     Anmerkung   

 Marko Ferst (2002)