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8. Von der Schuld des Nordens

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Der westliche Fundamentalismus fußt auf einer langen grausamen Historie, wenngleich er im Laufe der Zeit weitreichende Wandlungen erfahren hat. Er ist das geistige Extrakt von ungerechten Geschichtsordnungen, die in zivilisiertere Bahnen gelenkt wurden, ohne aber daß die Gründe der Gesell­schaft neu gelegt wurden. In vielen Adern und Schichten unserer heutigen Ordnungen leben in Mutationen die vergangenen Zeiten weiter.

Aggressive und herrschaftliche Initiative sind deren auffälligste Insignien, die heute als formierte Gesellschaftsstruktur sich zu einem nur noch schwer lösbaren Knoten zusammengezogen haben und die meisten anders gerichteten Kräfte auf ihre Umlaufbahn zwingen. 

Mit dem westlichen Fundamentalismus sind wir nicht nur zum führenden materiellen Fortschritt weltweit gelangt, dem nun mehr und mehr seine Schatten­seiten außer Kontrolle geraten, sondern er birgt in sich auch ein Unmaß zerstörerischer Kapazität an den jeweiligen Rändern der eigenen Entwicklungs­marken. Als einst die in Afrika geraubten Menschen unter unmenschlichen Bedingungen dicht gedrängt auf den Schiffen nach Nordamerika in die Sklaverei verbracht wurden, starben viele an den Bedingungen der Überfahrt. Manchmal reichten die Nahrungsvorräte nicht. Menschen wurden aneinander­gekettet über Bord geschafft und durch eine Beschwerung in die Tiefe des Meeres gezogen. 

Im Grunde vollzieht sich diese grausame Prozedur nach wie vor Tag für Tag. Was früher noch "schwere Unrechtsarbeit" war, erledigen die heutige Welt­wirt­schafts­ordnung und ihre nachgeordneten Hilfskräfte, fast ohne sich selbst die Hände schmutzig machen zu müssen. Dieses Massenmorden bewirkt jetzt das ganz gewöhnliche Wirtschaftsrecht inklusive der zugehörigen Vorteilsnahmen. 

An den Dollarscheinen und den Aktienpaketen klebt nicht das Blut, das sie gekostet haben, nicht der Schweiß der Arbeiter und Arbeiterinnen, die für ein Almosen diesen Reichtum hervorbrachten, es klebt daran nicht das vielfältige Leid der in bitterer Armut gehaltenen Menschen.

Europa als Geburtsstätte der kapitalistischen Megamaschine hatte einige Beschleuniger als Aufstiegselexier. Ein sehr entscheidendes war die Kolonisierung vieler Völker rund um den Erdball. Fast überall finden wir die Eingriffe der europäischen Nationalstaaten. Zwei Kontinente wurden dabei für das alte Europa gänzlich in Besitz genommen. Nordamerika und Australien bekamen das Prägemal Europas ohne irgendeine Rücksicht auf die dort lebenden Völker. So schreibt Gerd von Paczensky

"Die Sklavenwirtschaft wurde zum Motor des Dreieckshandels: Alkohol, Tand und Waffen nach Afrika für die Sklavenbeschaffer, Sklaven von Afrika nach Westen, Zucker, Kaffee, Rum, Baumwolle von Westindien und Amerika nach Europa. Ihm verdankte Europa eine ungeheure Zunahme seines Wohlstandes. Ohne die Gewinne wären der Start zur industriellen Revolution und der Ausbau der westlichen Überlegenheit über andere Kontinente nicht so schwungvoll, vielleicht überhaupt nicht möglich gewesen."62

Überall nahmen sich die weißen Herren Land, das ihnen nicht gehörte, oft mit Hilfe von Verträgen, deren Sinn den Einheimischen gar nicht klar war. Der Bodenbesitz wechselte für ganz geringe Gegenleistungen, und häufig genug regelte Waffengewalt den Lauf der Dinge. Z.B. der Stamm, der da nur meinte, Nutzungsrechte eingeräumt zu haben, war sein Land plötzlich los, und dann galt unwiderruflich ein Stück Papier, ergaunert im Stil von Straßenräuberei. 

Aber viele Gebiete ließen sich nicht einfach besetzen, sondern mußten militärisch niedergerungen werden. Eine Spur blanken Völkermords blieb meist zurück. Selten wurden die edelsten Vertreter des europäischen Kontinents mit den kolonialen Aufgaben betraut. Im Mutterland hätte eine ganze Reihe von ihnen das Schicksal gewöhnlicher Krimineller geteilt. So geriet rohe Gewalt allzu oft zur wirklichen Botschaft aus der Fremde.

Riesige Ländereien gingen in den Besitz der Kolonialmächte über, und in der Regel waren das die fruchtbarsten Böden. Damit wurde auch der geschichtliche Grundstein für die späteren Hungersnöte und die Armut in der Dritten Welt gelegt. Die Hüttensteuer, die Kopfsteuer u.a. zwangen die Einheimischen dazu, für die Weißen zu arbeiten, auf ihren Plantagen und in ihren Bergwerken. Andernorts war die Vermessung des eigenen Landes so teuer, daß sie auf diese Weise enteignet wurden. So unterschiedlich die Methoden der Entrechtung, Ausbeutung und Vernichtung gewesen sein mögen, rund um den Erdball entpuppten sie sich als das Markenzeichen der europäischen Kultur. 

Die Opferzahlen der Kolonialjahrhunderte dürften sich im dreistelligen Millionenbereich bewegen. Allein bei der Inbesitznahme des nordamerikanischen Kontinents durch die Europäer wurden 10 bis 14 Millionen der sogenannten Indianer, also der eigentlich ansässigen Bevölkerung, umgebracht, führt der Friedensforscher Johan Galtung aus.63 Als die Engländer Australien in Besitz nehmen, wird die Zahl der Bevölkerung amtlich auf mindestens 250.000 geschätzt, andere Quellen sprechen von mehr als einer Million, in jedem Fall sind vor dem zweiten Weltkrieg nur noch etwas mehr als 50.000 übrig.64

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Gerd von Paczensky schätzt, es sind durch die Dreiecksfahrten dem afrikanischen Kontinent nicht weniger als 100 Millionen Menschen verloren gegangen, insbesondere wenn man die Begleitumstände der Deportationen bedenkt.65 Es muß davon ausgegangen werden, ein beträchtlicher Anteil davon ist vor und während der Überfahrt ums Leben gekommen und auch in den Verhältnissen der Sklaverei gab es keine Überlebensgarantie. Allein durch die Zwangsarbeit in den letzten Jahrzehnten der Kolonialzeit in Afrika dürften etwa 15 bis 20 Millionen Menschen das Leben verloren haben. Dabei wird diese Anzahl eher zu niedrig angesetzt sein.66

Zur Vorbereitung des 500. Jahrestages der Entdeckung der neuen Welt schrieb Claude Jullien, in einem halben Jahrhundert seien 75 Millionen Indianer verschwunden.67 Enrique Dussel veröffentlichte eine Tabelle, die nur für einige Gebiete Mexikos den Rückgang der Bevölkerung von 1532 bis 1608 erfaßt. In dieser Zeit sinkt sie von 16,8 auf weniger als 1,1 Millionen.68 Die Kombination von widrigen Lebensumständen unter dem Kolonialregime und das Einschleppen von europäischen Krankheiten, gegen die die einheimische Bevölkerung keine Abwehrkräfte besaß, dürfte in diesem Zusammenhang neben dem üblichen Völkermord eine große Rolle spielen. Der brasilianische Anthropologe Darcy Ribeiro schätzt, mehr als die Hälfte der ansässigen Bevölkerung Amerikas, Australiens und der ozeanischen Inseln ging aufgrund von Ansteckungen nach dem ersten Kontakt mit den Weißen zugrunde.69

All jene Umstände, welche die von Europa ausgehende Weltherrschaft begleiteten, legten das Fundament für die asoziale globale Ordnung, mit der wir es heute zu tun haben. Hätte Europa je einer so überlegenen Machtkonstellation gegenübergestanden, wie sie der Kontinent selbst darstellte, er wäre kaum in der Lage gewesen, sich davon wieder zu erholen, zumal sich die Ketten, in die große Teile der Welt gefesselt wurden, auf neue Weise fortzeugen. Die Entkolonialisierung bahnte sehr oft nur den Weg für neue Abhängigkeiten, die mit der Geschichte im Prinzip schon programmiert waren. Sicher kann man nicht von einer feststehenden Entwicklung ausgehen, was sich zum Beispiel in der sehr unterschiedlich verlaufenden wirtschaftlichen Entwicklung einstiger Kolonialländer zeigt. Freilich sagen auch im konventionellen Sinne gute oder schlechte Wirtschaftsdaten nicht alles über die Altlasten des Kolonialregimes aus. Dieser Blickwinkel wäre überaus eng.

Ein ausschnitthaftes Beispiel zu den Langzeitwirkungen

Algerien ist durch die französische Kolonialmacht mehr als ein ganzes Jahrhundert lang malträtiert worden und konnte sich erst durch einen langwierigen Unabhängigkeitskrieg befreien. Die französische Fremdherrschaft brachte weder industriellen Aufschwung noch Bildung ins Land, wohl aber Konflikte, die noch heute schwelen und einen friedlichen Fortgang sehr schwierig gestalten. Weniger als 5 Prozent der Einheimischen im französischen Schwarzafrika konnte lesen und schreiben. In Algerien, Vietnam, Burma und weiteren Staaten gab es vor der europäischen Eroberung einen besseren Bildungsstand als danach.70) Höhere Schulen und Universitäten waren in allen Kolonien mehr oder weniger Raritäten.

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Der Weg vieler armer Länder zu billigen Rohstofflieferanten und zu agrarischer Monokulturwirtschaft ist oft das Erbe kolonialer Unterdrückung, und damit kann auch die gegenwärtige Schuldenkrise nicht unabhängig von dieser geschichtlichen Entwicklung betrachtet werden. Ohne Frage, die Logik der modernen Weltwirtschaft stellt jetzt natürlich das unmittelbarere Problem dar, wenngleich das auf dem alten Unrecht aufsitzt. Das Schuldenreglement ist die moderne Form kolonialer Ausplünderung. Hatten die sogenannten "Entwicklungs"länder 1970 70 Milliarden Dollar Schulden, so wuchsen sie innerhalb von 15 Jahren auf mehr als eine Billion an und überschritten 1995 die Zwei-Billionen-Grenze, also 2.000 Milliarden Dollar.71

Wie kommt ein solches Horrorwachstum zustande? 

Ganz offenkundig wurde dieses Szenario durch ein ganzes Knäuel von Ursachen befördert. Dazu gehören ein rapider Verfall der Preise für Agrarprodukte und Rohstoffe. Die Wirtschaftsergebnisse vieler armer Länder hängen häufig von zwei oder drei Exportprodukten ab, aber es gibt auch noch extremere Fälle. So erwirtschaftet Uganda 95% seiner Exporteinkünfte durch Kaffee, Nigeria ebenfalls zu 95% durch Erdöl, Guinea mit 93% durch Erz. In Ecuador sind es 66% durch Erdöl, in El Salvador 54% durch Kaffee und in Sri Lanka 39% durch Tee.72)  

Zwischen 1980 und 1993 sind die Rohstoffpreise im Schnitt um mehr als die Hälfte gefallen. Nach Weltbankschätzungen beläuft sich der jährliche Export­erlösverlust auf fast hundert Milliarden Dollar.73) Zwar nützt dies beim Import auch den "Entwicklungs"ländern, aber aufgrund der vielfach desolaten Wirtschaftslage nur in sehr begrenztem Maße. Gewiß, die Situation in Sambia oder Niger wird eine andere sein als etwa in Südkorea mit seinen ganz anderen wirtschaftlichen Kapazitäten.

Ein weiterer Faktor bei der Verschuldung war die Hochzinspolitik der USA zu Beginn der achtziger Jahre. Der Rüstungswahn riß riesige Löcher in den Staatshaushalt, die Zinsen sollten Anleger aus aller Welt anlocken, bedeuteten aber im Gegenzug auch hohe zinsbedingte Zuwächse bei den Auslands­verbindlich­keiten. Nach Schätzungen verschiedener Institute sind über 40 Prozent des Anstiegs der Auslandsschulden zwischen 1979 und 1982 auf die höheren Zinssätze in den USA und anderen westlichen Industriestaaten zurückzuführen.74

Als ebenfalls schuldentreibend erwiesen sich in der Vergangenheit die Erdölpreise für Länder, die dieses importieren mußten. Hinzu kommt der zunehmende Protektionismus der reichen Staaten, also Handelshemmnisse verschiedenster Art für den Export von Waren in die reichen Staaten, die ihrerseits z.B. subventionierte Agrarprodukte in ärmere Länder verkaufen und dort dann damit die Landwirtschaft ruinieren. Die weiße Raubwirtschaft der vergangenen Jahrhunderte hinterließ natürlich keine blühenden Landschaften und schon gar nicht so etwas wie eine demokratische Kultur. 

Damit ist es kaum verwunderlich, daß sich oft auch Machteliten herausbildeten, denen vor allen Dingen die eigenen Pfründe wichtig erschienen, nicht jedoch das Wohl der eigenen Bevölkerung. Die Korruption wucherte im Gefolge in weiten Teilen der Gesellschaft. Kapitalflucht und verfehlte Wirtschaftspolitik taten ein übriges, um die Lage zu verschlechtern. Von den wenigen vorhandenen Fachkräften wandern viele ab in die reicheren Länder, wenn sie sich dort besser verdingen können.

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Außerdem tragen hohe Rüstungsausgaben in den armen Ländern einen großen Anteil an der Schuldenfalle, wobei auch hier ererbte Konflikte durch willkürliche Grenzziehungen der Kolonialmächte, aber auch die Sicherung der Unabhängigkeit eine wichtige Rolle spielten. Einfluß hatte zudem der Ost-West-Konflikt und die Absicherung der eigenen Machtareale. Im übrigen erwiesen sich in Sachen Abrüstung die reichen Industrienationen als außerordentlich schlechtes Vorbild. Ganz abgesehen davon, verdienten diese bestens an den Waffenverkäufen. Europa und Amerika haben also keinen Grund, mit moralischen Vorwürfen zu kommen, bevor nicht eigene Schritte zu konsequenter Abrüstung und zum Verbot von Rüstungsexporten eingeleitet werden. 

Trotzdem, ein Drittel aller Schulden stammen aus Rüstungsausgaben der <Dritte-Welt>-Länder, und die meisten Kriege nach 1945 fanden in solchen Regionen statt. Den Preis jedenfalls mußte am Ende die Bevölkerung zahlen. All diese Faktoren greifen beim Würgegriff der Schulden ineinander, sicher in jedem betroffenen Land spezifisch gewichtet. An den Folgen von Unterernährung sterben jeden Tag 55.000 Menschen, das sind 20 Millionen im Jahr.75

Rechnet man die Toten durch Krankheiten, Bürgerkriege u.a. mit ein, die am Ende aus sozialer Desintegration und Unterentwicklung herrühren, dürften die Opferzahlen noch höher liegen. Wo es kein Gesundheitswesen gibt, ca. 1,5 Millionen haben keinen Zugang dazu, stirbt man früh, und viele Todesursachen könnten vermieden werden bei besserer medizinischer Versorgung, vorausgesetzt, die Ernährung ist gesichert, sauberes Trinkwasser vorhanden und hygienische Erfordernisse werden beachtet. Paul R. Ehrlich, ein amerikanischer Ernährungsexperte, erklärte 1992, im vergangenen Vierteljahrhundert seien 200 Millionen Menschen verhungert. Nach Angaben der FAO für 1994 leiden in 24 Ländern der Erde schätzungsweise etwa 800 Millionen Menschen an Hunger und 50 Millionen sind akut vom Tod bedroht. Die Weltbank geht für 2000 von einer Milliarde Hungernder aus.76

Paul Ehrlich bei detopia

Ein Schlüsselproblem bei dieser Situation ist die fortwährende Zerstörung der Selbstversorgung in der Landwirtschaft. Um die Schulden zurückzuzahlen, werden Kaffee, Kakao, Erdnüsse, Baumwolle, Bananen, Orangen und andere Pflanzungen für den Export angebaut, währenddessen die eigene Bevölkerung hungert. Die reichen Länder nutzen de facto für ihre Versorgung riesige Flächen in der Dritten Welt. Mexiko verfüttert knapp ein Drittel seines Getreides an das Vieh, etwa für Hamburgerfleisch zum Verzehr in den USA, und mehr als ein Fünftel der eigenen Bevölkerung ist unterernährt. Die Nachfrage der Reichen nach Fleisch verdrängt die Nahrungsmittelproduktion für die Armen in vielen Ländern. Indirekt verzehrt das Viertel der Menschheit, das sich von Fleisch ernährt, fast vierzig Prozent der Welternte an Getreide. Für ein US-amerikanisches Rind gilt: Ein Kilogramm Fleisch erfordert fünf Kilogramm Getreide und die Energie von neun Litern Benzin.77

In Afrika sinkt die Produktion von Nahrungsmitteln, während die Menschenzahl stetig zunimmt. Christian v. Ditfurth fragt: Warum werden immer weniger Nahrungsmittel produziert?, und führt aus: "Weil die Wirtschaft Afrikas nicht mehr dazu dient, die Afrikaner zu ernähren, sondern uns. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich die afrikanische Kaffeeproduktion mehr als vervierfacht, die Tee-Ernte wuchs um das Sechsfache, und es wurden doppelt soviel Kakao und Baumwolle produziert."78 Hinzu kommen die Verluste durch Bodenerosion und die Ausdehnung der Wüsten. 

C.Ditfurth bei detopia        217/218

Während die reichen Staaten Getreide und Milchpulver nach Afrika schafften, um die Dauerhungerepidemie zu bekämpfen, nahmen die Schiffe, die die Hilfsgüter befördert hatten, große Mengen von Exportfrüchten, aber auch Fleisch mit nach Europa und in die USA.79 So pervers ist die Logik. Die Schuld steht auf unseren Eßtischen, sicher geschützt von den Armeen des Nordatlantikpaktes. Obendrein schöpfen die Konzerne hohe Gewinne ab. 

In Indien arbeiten zur Zeit 70% der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft. In der Zange von Kreditgebern bleibt der indischen Regierung nur, für die internationalen Agrarmultis rote Teppiche auszulegen. Unter dem Druck der Importliberalisierung und der Strukturanpassung verdrängt subventioniertes US-Getreide die einheimischen Bäuerinnen und Bauern. Beim Reis dasselbe Trauerspiel. Die USA senkten die Weltmarktkosten für Reis von ca. 18 Dollar auf weniger als 9 Dollar durch eine aberwitzige Subvention der landeseigenen Ausfuhren von 17 Dollar. Demgegenüber wird Indien durch Strukturanpassungsprogramme oktroyiert, die eigenen Agrarsubventionen zu senken.80 Wird dies nicht realisiert, verliert Indien die eigene Kreditwürdigkeit.

Bis Mitte der achtziger Jahre versorgte sich Kenia selbst mit Nahrungsmitteln. Bezuschußtes Getreide aus Europa und den USA änderte dies. 1992 wurde der EU-Weizen in Kenia 39% unter dem Verkaufspreis angeboten, den die EU-Bauern erhielten, und ein Jahr später sackte er auf unter 50% des Verkaufspreises. Damit lag der nach Kenia importierte Weizen ein Drittel unter dem Weltmarktpreis. Mais aus den USA wurde für 77% unter den amerikanischen Produktions­kosten verkauft. Die Auflagen des Internationalen Währungsfonds, seine Strukturanpassungsprogramme machten die Importe möglich. Kenia wurde dazu gezwungen, sie zuzulassen. Da die Preise jetzt durch die Importware bestimmt werden, können die kenianischen Bauern nicht mehr die eigenen Produktionskosten erwirtschaften, das Einkommen sank im Schnitt auf 220 Dollar im Jahr, Schätzungen zufolge.81) Zwar sorgte die Uruguayrunde des GATT für eine leichte Entspannung auf den Agrarmärkten, jedoch ist die verbrecherische Subventionspolitik des Nordens noch lange nicht vom Tisch.

Mit neuen Klauseln sollen den Bauern Lizenzgebühren für Saatgut und Pflanzenmaterial abgepreßt werden. Der amerikanische Cargill-Konzern, der 60% des indischen Saatgutsektors kontrolliert, forcierte diese Entwicklung besonders. Den Bauern wird sogar verboten, ihre Ernte zur Wiederaussaat zu verwenden. Für das Recht, ihr Saatgut selbst zu produzieren, zu modifizieren und zu verkaufen, demonstrierten im März 1993 in New Delhi 500.000 Bauern. Sie forderten die Agrarmultis auf, Indien zu verlassen.82 Im Oktober 1993 gingen im indischen Bangalore nochmals eine halbe Million Menschen auf die Straße, um gegen das neue Welthandelsabkommen, mit dem der Bewegungsspielraum der Agrarmultis verbreitert worden war, zu demonstrieren.83

Wie mir Hermann Scheer bei einem Gespräch erzählte, stimmten im Deutschen Bundestag gegen dieses Welthandelsabkommen seinerzeit gerade mal fünf Abgeordnete. Da kann man nur hoffen, die Bündnisgrünen, die PDS und aufgeklärte Sozialdemokraten u.a. waren sich über die Tragweite der Abstimmung nicht im klaren, die rote Karte gilt es hierbei so oder so zu zeigen.

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Setzen sich die Großkonzerne und ihre Fürsprecher bei der Liberalisierung des Weltagrarmarktes durch, führt das zu dem größten Bauernsterben in der Geschichte der Menschheit. Jose Lutzenberger hält es für sicher, bei Fortsetzung der jetzigen globalen Wirtschaftspolitik wird von den über drei Milliarden Menschen, die derzeit noch in traditionellen Strukturen leben, mindestens eine Milliarde entwurzelt werden. Dies bedeutet eine explosionsartige Zunahme der weltweiten Armut, als ob die vorhandene nicht schon groß genug wäre, dies bedeutet millionenfach zusätzlicher Menschentod durch die Folgen von Unterernährung.

Lutzenberger bei detopia

Überall dort, wo für den Export gearbeitet wird, ist immer ein hochgradig ungleicher Austausch von Werten im Spiel, und am härtesten trifft diese Schieflage den unmittelbaren Produzenten, der mit seiner Arbeitskraft die Ware herstellt, die dann verkauft wird. Gewiß bedarf es auch der Investitionen. Da ist z.B. die Tasse Kaffee, die man in der Gaststätte bestellt und die dort vielleicht zwei Mark kostet, und diejenigen, die die Kaffeesträucher anpflanzten und die Bohnen pflückten, werden davon gerade mal einen Pfennig Anteil haben. Bei einem Streik im Süden Guatemalas 1989 forderten 50.000 Kaffeepflücker einen höheren Tageslohn, doch sie konnten sich nicht durchsetzen. Auch danach verdiente ein Pflücker, der ca. 46 Kilo Kaffeekirschen erntet, am Tag umgerechnet ungefähr drei Mark.84

Im Laufe der Jahre wurden immer mehr Produktionskapazitäten von den reichen Industriestaaten in "Dritte-Welt"-Länder ausgelagert bzw. Erweiter­ungen gleich dort angesiedelt. Dies geschah vor allen Dingen in der Textil- und Kleidungsindustrie sowie in der Elektronik- und Spielwaren­industrie. Die Fabriken gehören in aller Regel den europäischen, amerikanischen und japanischen Konzernen.85 Dort kann bei langen Arbeitszeiten und sehr niedrigen Löhnen hervorragend Profit gemacht werden, die Transportkosten fallen nicht ins Gewicht, weil billige Transport­möglichkeiten zu den Axiomen heutiger Marktwirtschaft gehören. Wir sind inzwischen zu einem Weltsystem gelangt, wo die reichen Stände dieser Welt auf Kosten der Mehrheit der Erdbevölkerung leben. Der Wohlstand der reichen Industriestaaten beruht zu gar nicht so geringen Anteilen auf der Ausbeutung der arbeitenden Bevölkerung in Brasilien, Mexiko, Indien und anderen armen Ländern.

Es ist richtig, die großen Konzerne raffen für sich innerhalb dieser Austauschverhältnisse gigantische Gewinne zusammen, jedoch partizipiert daran auch der allgemeine Bürger. Der niedrige Preis für Südfrüchte, Kakao und Kaffee bedeutet immer auch Ersparnis in der eigenen Haushaltskasse zu Lasten von Familien­einkommen in armen Regionen. Und wir hatten auch schon erörtert, daß dadurch, vermittelt über die ungerechten Landstrukturen, nicht nur Armut gefördert wird, sondern auch ganz direkt die Unterernährung. Mit dem Steak oder dem Schnitzel auf unserem Mittagsteller geht auch immer wieder eine Todesbotschaft einher, wenn das Vieh hierzulande mit Futtermitteln aus Afrika, Südamerika etc. aufgezogen wurde oder es direkt aus diesen Regionen stammt.

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Dafür verhungern Tag für Tag Menschen. Bestialisch - aber wahr. Der Computer aus Südkorea oder China, die Schuhe aus Indonesien und so fort, bei all diesen Einkäufen erhalten wir einen Rabatt, der den Arbeiterinnen und Arbeitern anderswo genommen wird. Auf der anderen Seite fördert diese Entwicklung aber auch die hohe Massenarbeitslosigkeit in Europa und den anderen Zentren des Reichtums.

Zu einer ökologisch-sozialen Weltordnung kommen wir nicht, wenn wir diese Art der internationalen Arbeitsteilung fortsetzen. Das ist unmöglich, und irgendwann wird das auch die Politik begreifen müssen, sofern sie nicht von inhumanen Zukunftsvorstellungen ausgehen will. 

Da sich genau dies über Jahrhunderte gehalten hat, dürfte ein übermäßiger Optimismus kaum angebracht sein. Jedes Stück Wandel hin zu einer sozialen Weltinnenpolitik wird schwer erkämpft werden müssen, nicht zuletzt, weil diese Interessenlagen aus unserem demokratischen Ambiente ausgeschlossen sind, und es wird in Zukunft auch die Aufgabe bestehen, dafür Sitz und Stimme in den politischen Organen des Nordens zu schaffen. 

Der IWF und die Weltbank müssen einer sozialökologischen Weltinstanz weichen, die sich nicht um einen zerstörerischen Freihandel sorgt und dabei viele Menschen ins Unglück stürzt, sondern eine Rückordnung auf regionale Wirtschaftskreisläufe ermöglicht. Es geht darum, die Schäden ausbeuterischer Modernisierung mit Hilfe von in sich stimmigen Lebensmodellen zu überwinden, und dabei ist zu beachten, diese können nicht einfach nur nach vorgegebenen Schemata von einer Überbehörde instruiert werden, sondern es muß sich um Hilfe handeln, die erst mal eigenen Freiraum schafft. 

Das setzt voraus, daß die gesellschaftlichen Strukturen tiefgreifend verändert werden, weil sonst die eigene Versorgung der Menschen immer wieder unterminiert wird. 

In vielen "Dritte-Welt"-Ländern kann eine Bodenreform gar nicht umgangen werden, wenn man zu einer sich selbst tragenden Wirtschaftsweise kommen will, die die Menschen vor Ort ernährt und die darüber hinaus auch ökologisch verantwortbar ist. Es ist sicher sinnvoll, über Hilfsorganisationen z.B. Wasser­pumpen zu installieren, wo kein sauberes Wasser mehr erreichbar ist, und dafür Geld zu spenden. Nur wenn auf der anderen Seite ökonomische Zwänge dazu führen - überall fließen Ressourcen ab -, dann muß man dort zwingend Veränderungen herbeiführen. Daran kann kein Weg vorbeigehen. 

Ohne Frage tut es not, soweit wie möglich die Schulden zu erlassen. Hafez Sabet führt gute Gründe an, warum wir diesen Weg gehen müssen. Er macht anhand der Netto­ressourcenflüsse von Nord nach Süd sowie von Süd nach Nord kenntlich, daß der Süden weit über seine bisherigen Auslandsschulden hinaus eigentlich große Guthaben bzw. finanzielle Ansprüche an den Norden hätte. An der Spekulation, wie hoch diese seien, will ich mich nicht beteiligen, nur ein weitgehender Erlaß der Schulden muß unbedingt in Gang kommen. 

Nimmt man dabei aber nicht Kurs auf eine konsequente weltweite Friedenspolitik und kommt es weiterhin zu umfassenden Rüstungskäufen von "Dritte-Welt"-Staaten, dann häuft eine Entschuldung sogar weiteres kriegerisches Risikopotential an. Es wird auch kaum zu begrüßen sein, wenn diese Entlastung zu weiteren Großstaudämmen oder anderen überdimensionierten Projekten führt.

Insgesamt kann es kein Weg sein, eine nachholende Entwicklung in Richtung Amerika und Europa zu fördern. Wir sehen, die reichen Staaten sind zwar reich, aber mit ihrem Latein am Ende, was eine zukunftsfähige Ordnung betrifft. So kann auch eine bloße Erhöhung der Entwicklungshilfe nicht die Erlösung von allem Übel schaffen. Überall dort, wo damit Exportorientierung und Industrialisierung auf den konventionellen Pfaden verfolgt wird, wirkt sie eher kontraproduktiv als im helfenden Sinne. 

Viel klüger ist es, unmittelbar Subsistenzverhältnisse zu unterstützen. Über medizinische Einrichtungen, Schulen, sanitäre Einrichtungen u.a. erreicht man viel eher eine Verbesserung der Lebensverhältnisse als über großindustrielle Wundertaten, deren Ergebnisse bei der normalen Bevölkerung fast nie ankommen. Sicher ist dabei zu berücksichtigen, Volksstämmen, die noch weitgehend unabhängig von der modernen Zivilisation leben, sollte man vor allen Dingen erst mal ihren Lebensraum belassen. Sie müssen selbst entscheiden können, wie weit sie mit der übrigen Welt Kontakt pflegen oder auch nicht.

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 Marko Ferst - Wege zur ökologischen Zeitenwende - 2002