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Die Idee des Homo integralis — 

oder: Ob wir eine neue Politeia stiften können?

Rudolf Bahro, 1997  

Erschienen in: <Aletheia - Journal der Philosophie, Theologie, Geschichte und Politik> (Berlin, 11/1997)

Gekürzt in Neues Deutschland (Tageszeitung) am 13.12.1997 

 

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Wir erinnern uns: Platons <Staat> hieß <Politeia>. Die Polis steckt darin, d.h. es ist jedenfalls kein büro­krat­ischer, sondern ein gesellschaftlicher, genauer gesagt ein gemeinwesenhafter Begriff, und auch die Gesetze, die Nomoi, sind für ihn notwendiger Rahmen guter Gesellschaft. Mich interessiert hier nicht, wie Platon das im einzelnen dachte — patriarchaler Aristokrat der er war —, sondern ich finde seine Art, den Staat zu denken als die innere Ordnung, die der gesellschaftliche Mensch, die das zoon politikon braucht, anregend wie je.

Er denkt ihn von einer mehr als naturwüchsigen, d.h. zumindest nicht nur naturwüchsigen Bestimmung des Menschen her. Und da ist eine Voraussetzung: daß das Gemeinwesen noch nicht völlig der Herz-Insuffizienz anheimgefallen ist. Die Gesellschaft mit dem kalten Herzen ist erst im Kommen. Im mittel­alterlichen Europa ist sie noch einmal aufgehalten, trotz aller Kruditäten. Ja, vor bloß 250 Jahren in den Kantaten Bachs ist noch alle Innigkeit und alles Pochen des liebesfähigen Herzens.

Ich frage mich seit gut dreißig Jahren, seit ich zu erkennen begann, daß wir in der sowjetisierten DDR auf dem Holzwege waren, nach der "neuen Politeia", die der Mensch nötig hätte, um sich unter den selbst-geschaff­enen Verhältnissen sozial-universeller Abhängigkeit ein warmes Haus zu bewahren — ohne das wird die Erde nicht bewohnbar bleiben, ohne das werden wir unsere Lebensgrundlage nicht schützen können vor uns selbst.

Wieviel ersatzweise Panzerung, in die hinein wir Welt verschwenden! Wenn wir die Erde in der Gestalt erhalten wollen, in der sie uns hervorgebracht hat, braucht es um den ganzen Planeten herum inneren und äußeren Frieden, und wenigstens "beinahe die Gerechtigkeit" (Brecht im "Kaukasischen Kreidekreis"), in jedem "Stamme" und weltweit.

Der Gedanke mag verrückt klingen, wo gerade alle möglichen alten und neuen Tiger zum Sprung ansetzen. Aber das wird das Ende, wenn wir die Regeln, die in diesem Zirkus gelten, nicht aussetzen können. Wir laden unsere geistverstärkte artinterne Aggression, unsere unfriedliche Grundeinstellung gegeneinander, die heute bis in die menschliche Kleingruppe hinein regiert, auf die Erde ab. Jetzt zeigt sich, "das Häuschen ist zu klein". So konfliktorientiert wie bisher werden wir nicht überleben. Und noch dazu steuern wir unsere agonistische1) Praxis durch ein System unbegrenzter Geld- und Machtvermehrung. Damit müssen wir scheitern — weil es gegen die universelle Harmonie verstößt.

Die Kämpfe zwischen den Völkern, und nicht zuletzt die inneren Klassenkämpfe bis "alle genug haben", sind eine Schraube ohne Ende, d.h. der Konflikt­austrag in seiner vorherrschenden Form muß storniert werden. 

1)  wettkämpferische   #  + 11 Anmerkungen unten


Wir sind jetzt bald 6 Milliarden, um 2050 werden wir anscheinend doppelt so viele sein. Oder ein kleiner Rest findet schon vor der Mitte des nächsten Jahr­hunderts "unter einer Eiche" Platz, wie es biblisch prophezeit ist. Wenn aber alles so weitergeht, werden diese den ahumanen Mächten des Weltmarkts ausgelieferten Menschen, und zwar auch hier bei uns, in keinem vollgültigen sozialen Zusammenhang gehalten, von den Standards der westlichen Zivilisation angesteckt und herausgefordert, ein übriges Mal düpiert sein. Johan Galtung hat gezeigt, jetzt schon verbraucht das erste Zehntel von uns hundert mal soviel wie das letzte Zehntel.

Aggressive Eliten werden tausendfach versuchen, die Menschen zu organisieren und aufzurüsten, um in den Kampf um die Verteilung der letzten Ressourcen einzugreifen, von dem Migrationsdruck zu schweigen. Ist es unmöglich, rechtzeitig aus dieser Logik auszubrechen? Die drohenden Engpässe des 21. Jahr­hunderts sind nur zu bewältigen, wenn wir uns nicht um jeden Durchgang schlagen. Es gilt den Konflikt so weit wie irgend möglich auf die Ebene der notwendigen Ausein­andersetzung um die neue Bewußtseins­verfassung zu transportieren.

Jetzt erschrecken wir in den reichsten Ländern Europas, die das Karussell in diese unaufhaltsame Beschleunigung versetzt haben, unter dem Stichwort der "Globalisierung" darüber, daß uns schließlich ein Rückschlag ins Haus steht. Wenn wir ihn doch anzunehmen wüßten! Schon vor zweihundert Jahren hatte Friedrich Hölderlin eine Vision, die jetzt, so naiv sie klingt, das Programm des Lebens und Überlebens ist: 

"Versöhnung ist mitten im Streit, und alles Getrennte findet sich wieder ... 
Von Kinderharmonie sind einst die Völker ausgegangen. 
Die Harmonie der Geister wird der Anfang eines neuen Zeitalters sein." 

Die Zurücknahme der eigenen Aggression, das Wagnis in dieser Richtung wird die charakteristische innere Konflikt­achse der unmittelbaren Zukunft bestimmen.

Nun leben wir in Massengesellschaften, an der Schwelle zu einer freilich völlig entfremdeten Weltgesell­schaft. Die Polis war klein, und praktisch ist Platon selbst in dieser fast noch elementaren Dimension exemplarisch am Politischen und im Politischen gescheitert. Wir haben es mit hunderten Nationen bzw. Staaten, tausenden Ethnien zu tun, in die wir uns als Teilhaber am Menschsein untergliedert finden bei einer Chancen­ungleichheit, die angesichts der Möglichkeiten ein täglich von uns tolerierter Skandal ohnegleichen ist. Ob es eine Lösung gibt, das dürfte davon abhängen, ob sich die Gattung Mensch eine in ihrer Vielfalt einige kulturelle Gestalt geben kann, ob sie auf dieser Grundlage politisch handelndes Subjekt werden kann, vom Lokalen bis zum Planetarischen und zurück, und ob wir Privilegierten dabei nicht am meisten im Wege sein werden.

Wir wissen bis heute nicht wirklich, wo den einen und wo den anderen Individuen natürliche Entfaltungs­grenzen gesetzt sind, wo es die sozialen Umstände sind, die sie auf ein Leben der Subalternität und des Ressentiments festlegen. Wie oft es Verelendung ist, das wissen wir. Es kommt so sehr darauf an, daß sich die Mehrheiten überall zu selbstlosem Urteil und Willen erheben. Zugleich kulminiert die Tragödie der Gegenwart darin, daß so viele Menschen wie nie zuvor durch den Selbstlauf der gefühllosen und asozialen Konkurrenz um Profit und Technologie physisch an den Rand gedrängt, von der Kultur ausgeschlossen und in ihrer Menschenwürde verkürzt werden.

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Macht und Gesetz decken genau diejenigen Mechanismen, an die die Menschenmehrheit ausgeliefert ist, nicht nur in den Peripherien, auch in den Metropolen. Was wir bisher an Weltorganisation haben, reicht ja höchstens aus, die verschiedenen Ausbrüche des Weltbürgerkriegs ein wenig zu moderieren. Die Menschheit würde sich im Idealfall durch eine Art allgemeines Kalifat — jeder und jede in der Würde der Stellvertretung für das Ganze — regieren. Um so furchtbarer dieser Ausschlußprozeß, den unsere herrschenden Strukturen gegen die Menschenmehrheit exekutieren. Darin tradiert sich die älteste Schicht sozialen Unheils. Sie muß weggeräumt werden, wenn so etwas wie Homo integralis — erst einmal das Prinzip des Einschlusses! — tatsächlich sich ereignen soll. Sonst ist Diktatur, sonst regiert der Totalitarismus der faktischen Mächte. Deshalb eben muß, gerade angesichts der ökonomischen Globalisierung, auch das Problem einer sanktions­fähigen internationalen Rechtsordnung gelöst werden. Das heißt: verlangt ist eine ungeheure Kulturleistung. 

Ich übersehe keineswegs, sondern das gibt mir gerade den Anstoß, daß wir mit unserer von der Geldvermehrung gesteuerten Bewußtseinsindustrie systematisch und umfassend den Abbau, die Zerstörung der subjektiven Kultur, die Reduktion des Geistes auf die niedrigsten Frequenzen betreiben. Nur noch ausnahmsweise — wie als Alibi — bietet sie Gehalte [bzw. Inhalte -OD] .  

Massenhaft haben wir die Multiplikation von Infantilismus, Dummheit und Gewalt, und dies alles unter dem Namen von Liberalität und Demokratie. Es ist verbrecherisch, und wir sind, sozial gesehen und griechisch gedacht, buchstäblich Idioten, das hinzunehmen. Das Gemeinwesen, in seiner gegebenen Verfaßtheit, erweist sich schon darin als verloren, daß es diese selbst­zerstörerische Alltäglichkeit nicht zu unterbrechen vermag.

Und dennoch, vielleicht ist dies ein historischer, ich meine damit ein reversibler Unfall. Wir müssen es erst einmal hoffen. Und ich möchte eben von der genannten Idee her die Ursache ins Auge fassen — falls noch erlaubt ist, doch auch an Kausalität zu denken. Warum zerstört der Mensch Erde und Leben, zuvor und zuletzt sich selbst? Wieso reussiert2) anstelle des Bewußtseins diese Ersatzindustrie, die in einem durchaus nicht bloß symbolischen Sinne des Teufels ist? 

Und geben wir erst einmal zu, in welchem Grade wir, wie abhängig auch immer (und um so schlimmer für uns, die wir der Freiheit verlustig gingen), mitspielen, korrumpiert und Komplizen sind. Auch der Zynismus wie die Resignation sind unerlaubt. Wollen wir diesen erneut und verschärft "spät­römischen" Zuständen wirklich nichts entgegensetzen? Ihnen Uns nicht entgegensetzen, anstatt sie mit zu zelebrieren, damit unser Ich den Tag überlebt?

Wie gesagt, die Frage nach den Reserven, den Beständen dafür ist prekär. Aber daraufhin will ich mich nun auf die von Jean Gebser in seinem Werk "Ursprung und Gegenwart" entworfene Idee des Homo integralis beziehen. Ich übertrage erst einmal: Es ist in neuem Gewand die alte Idee des vollständigen, alle in ihm angelegten Vermögen realisierenden Menschen. Und ich projeziere diese Idee nicht primär aufs Individuelle, sondern auf unseren Gattungscharakter — und auf institutionelle (soziale, politische) Konsequenzen, die wir ziehen müßten, wenn die Idee nicht eine schöne Chimäre bleiben soll. Das macht die Sache nicht leichter...

2)  ein Ziel erreichen, Erfolg haben

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Doch zunächst will ich die Idee ein wenig referieren.

Angesichts der zivilisatorischen Krise hat Jean Gebser schon in der Zwischenkriegszeit nach den tiefsten Gründen gefragt. Er sah, daß die Gattung Mensch bis hierher verschiedene Bewußtseins­verfassungen durch­laufen hat, die offenbar nicht zufällig aufeinander folgen, man könnte auch sagen Weltzustände, denn die korrespondieren natürlich damit. Er unterschied die archaische, die magische, die mythische und die mentale Daseinsweise des Menschengeistes. Vor allem aber unterschied er in jeder dieser Daseinsweisen eine effiziente und eine defiziente Phase, die letztere gekennzeichnet durch die Inflation der Quantität — in dem Wirrwarr und Mischmasch der Mythen beispielsweise in dem hellenistischen Ausgang der Antike.

Was ihn an der ganzen Sache spezifisch interessierte, weil untergründig entsetzte, das war natürlich die defiziente Phase der in Europa seit den Griechen zur Vorherrschaft aufgestiegenen mentalen Bewußtseins­verfassung, also das Problem der Gegenwart. Ich meine die in Form der kapitalistischen Moderne gesetzte Gewalt der gewinnmultiplizierenden Wirtschaft über das Ganze, die schrankenlose Massenproduktion für die Müllhalde, die Gigantomanie der Technik, die massenhafte Fixierung des Geistes auf seine computerisierbaren technischen Möglichkeiten, kurz den Triumph der Verdinglichung draußen in der Welt und drinnen in der Person. Es ist ein Triumph der Quantität, die auf den lebendigen Geist zurückschlägt, ihn durch Wiederholung, durch Fixierung im persönlichen Zeitplan weitestgehend auf instrumentellen Verstand reduziert.

Gebser spricht zunächst von der brutalen Vergewaltigung der Seele durch unsere technizistische und praktizistische Rationalität. Für noch gefährlicher und gründlich im Gange aber hält er den Rückschlag, nämlich die Rache der Seele an der Ratio. Es fragt sich ja, was eigentlich der letzte, der innerste Antrieb dieses expansionistischen Exzesses von Wissenschaft-Technik-Kapital-und-Staat ist. Wer würde zu behaupten wagen, daß hinter dem primitiven, ebenso "realistischen" wie atavistischen3) Wettkampfgehabe der Bosse überall in der Welt das Licht der Vernunft angezündet sei?!

Gebser sieht eine Möglichkeit, diese verheerende Struktur zu übersteigen, nämlich das Aufkommen einer weiteren, neuen, der von ihm so bezeichneten integralen Bewußtseinsverfassung, und zwar aus dem unerschöpflichen Ursprung unseres Geistes, unseres Herzens, unserer Seele gespeist. Allerdings, insofern wir uns auf unserem Parforce-Ritt* für die Welteroberung feindlich von den je älteren Bewußtseins­verfassungen abgestoßen haben, ohne das in ihnen Errungene mitzunehmen, und insofern wir gekreuzigt und verbrannt haben, was uns je in die Quere kam — insofern meint nun integral nicht zuletzt, daß wir jetzt in allen unseren bewußtseinsmäßigen Daseinsweisen gleichermaßen Wohnung nehmen müssen.

Er sagt, aus der alten, erschöpften Struktur — hier der sich mit Menge statt Güte alles Hervorgebrachten selbstverstopfenden defizienten Mentalität, abstrakten Ratio — geht keine neue hervor, sondern wenn, dann aus dem, was ursprungsgegenwärtig ist.

 

* Olf 2009: par force: mit Gewalt, heftig; unbedingt <franz> # Parforce-Jagd: 1. (verbotene) Hetzjagd zu Pferd mit Hundemeute auf lebendes Wild - 2. Jagd auf einen markierten Verfolgten

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An zahllosen Beispielen aus Europas Kultur der letzten zwei Jahrhunderte, von Hölderlin bis Picasso, aber auch aus den Wissenschaften, zeigt er, daß sich die neue, "a-perspektivische", integrale Weltsicht ankündigt. Das heißt erst einmal, sie ist nun menschenmöglich — so überwältigend massenhaft ihr alle alten strukturellen Mächte entgegenstehen. Diese vertikale, d.h. auf den Evolutionsweg bezogene Integration der menschlichen Bewußtseinskräfte müßte zudem ihr Gegenstück finden in der sozusagen horizontalen Integration der verschiedenen Bewußtseinsfakultäten, die in ihrem Miteinander die menschliche Existenz ausmachen. Das sage ich, indem ich die conditio humana mit einer Universität vergleiche. 

In einem Buch, das "Ökologik" heißt, hat der deutsche Philosoph Johannes Heinrichs ein Gleichgewicht von sieben solcher Fakultäten angemahnt, die er anthropologisch festgestellt hat.

Den kalten instrumentellen Verstand zum Beispiel ordnet er dem Ort zu, in dem sich Geist und Körper überschneiden bzw. begegnen, ohne daß die Seele, oder, wenn wir an Pascal denken, das Herz mit im Spiel ist. Es handelt sich dann um sozial kontaktlosen oder zumindest neutralisierten Geist, wie er in einer archaischen und selbst noch in einer traditionalen Gesellschaft gar nicht zum Zuge kommt, während er bei uns mit ins Machtzentrum gerückt ist...

Das Übergewicht von Wirtschaft und Technologie hängt damit zusammen, die Unterordnung des Politischen, damit des Sozialen, das Abwerten und Abdrängen der kulturellen Vermittlung, die Annihilation4) des Wertehimmels...

 

Soweit das Modell, die Idee. Wo liegt das Problem? Denn es ist ebenso offensichtlich, daß wir die Anlage zu dieser integralen Verfassung anthropologisch besitzen — bewiesen auch durch beispielhafte Exemplare unserer Art —, wie daß wir unendlich weit davon entfernt sind, sie als soziale Skulptur (der Ausdruck von Joseph Beuys) zu verwirklichen. Und das scheint gerade damit zusammenzuhängen, daß wir technisch, technosphärisch versus biosphärisch, so erfolgreich, so verdammt effizient sind mit unserer insgesamt defizienten Mentalität. Der verdinglichte Verstand beschäftigt fast alle energetisch verfügbare Bewußtseins­kapazität. Die Wahrnehmung von Daten, charakteristisch für die Wissenschaft, ist eben nicht Weltwahrnehmung, ist eben noch lange nicht Kommunikation mit dem irdischen und kosmischen Zusammenhang, von Kommunion zu schweigen.

Wir laufen gerade im Eigentlichen leer. Und die erste tieferliegende Schwierigkeit, die darin erscheint, ist eine unserer geschichtlichen Psychologie: Wir benutzen unser Gehirn für eine technische Praxis, bei der wir den Rand der Erde berühren, wie es heute schon geschieht, indem wir auch nur ein Auto in Bewegung setzen. Es müßte also im Dienste eines ökologischen Selbst stehen, wie der Norweger Arne Naess das nennt. Aber motivational bleiben wir an vitale Antriebe gebunden, die es uns fast nur als Organ unserer natürlichen Selbstsucht benutzen lassen.

4) An-Nihilation:  Vernichtung; Ungültigkeitserklärung

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Und es gibt eine zweite, an sich nicht grundlegende, auch jüngere, aber um so massivere Schwierigkeit. Sie hat mit der Frage zu tun, wie es überhaupt möglich ist, bei der anthropologisch gegebenen Gesamtanlage des menschlichen Bewußtseins, daß die Verstandesherrschaft derart überhandnehmen konnte, als hätten wir es da mit einer andern Spezies Mensch zu tun, und zwar auch praktisch, nämlich erscheinend in dem technischen und informationellen Gehäuse unserer Hörigkeit.

Geht vielleicht die Evolution mit denen weiter, über den an Geister, Götter, Göttin, Gott gebundenen Typus Mensch hinaus, wo doch einstens jedes Stammesmitglied mehr vom großen Ganzen wußte, anderen Kontakt hatte als der heutige Spezialist, der häufig so wenig von der Wirklichkeit seines Gegenstandes weiß? Was müssen wir für Aufwände treiben, um dann doch nicht zu wissen, wann und wo das Erdbeben kommt?! Manche Tiere wissen es Tage voraus. Also dürften auch wir einmal durchlässig für die Nachricht gewesen sein...

Sachlicher lautet die Frage natürlich, ob in dem praktischen Gebrauch, den wir von unserer Naturanlage machen, etwas liegt, eine überwuchernde Einseitigkeit, die unsere angelegte Wahrnehmungsfähigkeit für den ganzen uns tragenden Zusammenhang so bis in die Wurzeln schwächt oder schädigt, daß sie buchstäblich atrophiert5), vielfach sogar biographisch ganz verlorengeht.

Es muß ja Folgen haben, wenn wir den ganzen Tag und die halbe Nacht in unserem "Biocomputer", unserem klugen Fronthirn, dem Sitz des instrumentellen Verstandes wohnen. Der lebt zwar immer noch von ein paar Wahrnehmungen. Aber der wird sich von Jugend auf mehr und mehr, am Ende zu 99 Prozent, mit Gegenständen befassen, die auch Verstand sind, nämlich Produkte vergangener Verstandesarbeit, toter, nicht lebendiger Arbeit, toten, nicht lebendigen Geistes.

Mit dem Weltganzen steht dieser durch seinen technischen Erfolg selbst von den eigenen vitalen emotionalen Antrieben abgeschnittene Verstand in keinem realen Kontakt mehr, nur noch mit abstrahierten Nützlichkeiten. Diese eine unserer Bewußtseins­fakultäten macht uns zum weithin unbewußten Top-Parasiten an allen Schichten des Lebens, weil wir unsere anthropologische Gesamtwirklichkeit nicht mehr zur Verfügung haben. Deren Botschaft ist nicht ersetzbar durch irgendwelches noch so kluge "neue Denken".

Evolutionär gesehen hat uns die Natur doch zunächst übers Rückenmark, dann auch übers Stammhirn und übers Kleinhirn an die Errungenschaften des Neocortex heran, in die Menschwerdung hineingeführt. Und die kosmische Information, die die Evolution steuert, spricht mindestens ebenso sehr vom Grunde her wie von oben, vom Geist her in uns hinein, so daß unsere intelligiblen Fähigkeiten in beiden Richtungen weit mehr als den instrumentellen Verstand umfassen. Wir gebrauchen sie nur kaum mehr. Das Licht ist ausgeschaltet.

Und deshalb setzt sich dieser zirkuläre Verstand als die spezielle Naturkraft durch, die dem entfremdeten Ökonomischen, Technischen und Bürokratisch-Politischen zugrundeliegt. Seine kapitalangetriebene Verdinglichungs­macht, nach wie vor hauptsächlich an die unerleuchtete natürliche Subjektivität gebunden, ist genau die Kapazität, die wir kulturell, also institutionell gesichert wieder einordnen müssen, damit sie sich nicht unausgesetzt selbst verstärkt.

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Angesichts der ständig beschleunigten Trägheitskräfte, die sonst mit uns durchgehen, hilft nur ein Zugang, der sich dieser tiefsten Ursache stellt. Die Ratio kann sie erkennen, aber sie ist in sich selbst energetisch zu schwach, als daß sie auch der Weg wäre. Vielmehr brauchen wir systematisch eine solche Kultur­veränderung, Praxisveränderung, samt Umwälzung der entsprechenden institutionellen Rahmen­bedingungen, z.B. im Bildungswesen, bei der sich das nach wie vor naturgegebene menschliche Potential in der tatsächlichen Erfahrung regenerieren kann, daß die Wirklichkeit wieder zu uns spricht. Weniger reicht nicht hin, als wieder von Grund auf in Kontakt mit der Ordnung der Welt zu kommen.

Dann erst werden auch manche natürlich überaus notwendigen technischen Maßnahmen, Sanierungen usw. stimmig, weil integrierbar sein. Wir sind uns wohl alle darüber klar, daß die Mangelware nicht das technische Ingenium ist, von dem der Mensch im Überfluß besitzt und vornehmlich amoralischen Gebrauch macht. Diese in ihrer bloßen Naturwüchsigkeit verhängnisvolle Kraft von einer höheren Ebene aus zu lenken, d.h. sozial zu lenken, dafür mangelt es an Qualifikation, das ist der Engpaß.

Gesellschaftspraktisch also trägt unser Naturproblem bewußtseinspolitischen Charakter. Noch etwas genauer gefaßt: Es führt uns zu einer institutionellen Herausforderung Wie schon angedeutet, stoßen wir auf eine für die Moderne typische institutionelle Lücke fast unglaublicher Dimension, die uns die notwendigen materiellen Korrekturen systematisch und grundsätzlich unzugänglich macht. Bestimmte anthropologisch notwendige Institutionen sind de facto amputiert, und zwar die wichtigsten von oben nach unten.

Insbesondere sind die Instanzen für die Einordnung in die umgreifende Große Natur völlig ausgefallen. Es gibt keine Vorabregelung für unser Verhältnis zur Natur als ganzer, und eine fürs soziale Ganze fehlt in immer größerem Umfang auch. Die Menschen sind atomisiert, und kulturell anomisiert6) (Durkheims A-Nomie, der Nomos7) ist ausgefallen). Und da das Politische dem Ökonomischen weithin abhängig unterworfen ist, hält uns Ökonomisten, denn damit sind wir auch keine ordentlichen Ökonomen mehr, somit nichts zurück. Im Zweifel "können wir nicht dafür", die Gesetze der Geldanlage und Kapitalverwertung, die sind halt so.

Es ist nicht neu in der Weltgeschichte, daß uns diese Wackersteine der Verdinglichung mitreißen. Aber in der Moderne erst versagt jedes Mahnen, weil die Botschaft infolge Entwöhnung der Bahnen nicht mehr durchkommt. Ich glaube, wir haben nicht wirklich erkannt, was "Industriegesellschaft" heißt, obgleich oder weil wir uns mit unseren immer weiter ausgreifenden Materialisationen um so tiefer hineinbohren. Wir haben verfassungsbildende Entscheidungen getroffen, mit denen wir es uns strukturell unmöglich machen, Industrie zu besitzen statt von ihr und all den anderen inneren Großmächten besessen zu sein.

Es gibt seit Jahrhunderten keine Ordnung mehr in Europa, aus der wir dem Ökonomischen und Technischen einen übergreifenden Rahmen setzen könnten. Religion und Philosophie, Kunst und Sitte sind zu beliebigen Privatangelegenheiten geworden, erklärter-, ja: gepriesenermaßen.

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Statt um den Euro, müßten wir uns um dieses Loch versammeln. Die Gleichgewichtsstörung von Kultur und Natur, die wir vorantreiben, ist nur behebbar, wenn wir diese ubiquitäre8) Dominanz von Wirtschaft und Technologie aussetzen. Denn was uns zugrunderichtet, ist der kulturelle, ursprünglich spirituelle Zusammenbruch, der in diesem Faktum steckt. Die Rücksichtslosigkeit der Naturvernutzung ist Folge dieses verhängnisvollen Kulturverlusts, der also zuerst behoben werden muß. Die Herausforderung läßt sich auf den Nenner bringen, daß der Mensch sich institutionell wieder über die Unsichtbare Hand stellen muß, an die er am Eingang der Moderne alle Verantwortung für die gemäße Einrichtung seiner Welt abgegeben hat.

Bei aller hochgetriebenen Differenzierung und subjektiven Kreativität haben wir, was die Kulturgestalt und ihren politischen Ausdruck betrifft, ein überaus reduziertes, degeneriertes, verkürztes Modell des Menschen. Es ist eine Große Unordnung. Solange wir dieses Modell der durch keinerlei übergeordnete Autorität aus dem Bereich unserer höheren Bewußtseinskräfte überwölbten, gehaltenen, eingegrenzten technokratischen Ökonomismus stehenlassen, das konstitutiv amoralisch funktioniert und die Grundlagen aller zwischenmenschlichen Solidarität erodiert, ist nicht auf Rettung zu hoffen.

Wir werden nur überdauern, wenn wir ein wieder vollständiges, in den Gewichtigkeiten stimmiges institutionelles System zustandebringen, eines also, das überhaupt den Zusammenhalt der Gesellschaft und den Bezug zwischen Gesellschaft und Natur artikulieren kann. Die Einsetzung eines kollektiven Fürsten gewissermaßen, wie es Gramsci einmal andeutete, wäre erneut zu bedenken. Da kann uns die Idee des Homo integralis als Maßstab leiten. Und geschehen muß das längst nicht mehr nur auf nationaler Ebene, sondern ebensowohl dort als auch "darüber" und "darunter", praktisch auf jeder Ebene gesellschaftlichen Zusammenhangs.

Aussicht besteht erst dann, wenn legitim die weltweit übergreifende Instanz da ist, an jedem Ort in den anwesenden Menschen repräsentiert, vor der die bislang sanktionierte Gier all der partikularen Besitzstände zurückweichen muß, mehr, wenn diese Instanz einen Rahmen zu setzen vermag, der Selbstbegrenzung in das freie Spiel der Bedürfnisse und Interessen hineinträgt. Alles sich verselbständigende "autonome" Dasein, Wissen, Besitzen, Herrschen ist relativ, und wenn es sich hervordrängt, "erbärmliches Großtun von Räubern" (so nennt es das altchinesische Tao Te King). Es ist kosmisch gesehen lächerlich und menschlich gesehen satanisch. Wir haben da überzogen.

Wir haben die Parlamente, die Unterhäuser zum Austrag der je besonderen sozialen Interessen. Aber was wir nur dort miteinander verhandeln, kann dem Umgreifenden nie gerecht werden. Dazu braucht es überall — von dem Pol der einen Menschheit bis zu dem anderen Pol des lokalen Gemeinwesens — eine vorgeordnete institutionelle Ebene ganz anderen Charakters, die im Blick auf das Ganze unserer Existenz und auf unser eben nicht beliebiges Naturverhältnis dem Primat der Versöhnung, der Solidarität und des Friedens Ausdruck und verbindliche Form verleiht.

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Das nenne ich die Oberhausfunktion. Im Unterschied zu dem Residuum, das England da noch pflegt, würde ich es natürlich nicht als ein "House of Lords" (Mehrzahl) verstehen, sondern, gewissermaßen, als ein "House of This Lord". In Händels Oratorium "Der Messias" heißt es von dem Christus: "Und ER regiert auf immer und ewig." Ich meine aber das Prinzip so eines Bezuges, nicht die spezifisch christliche Ausdrucksform, auch nicht zwingend das männliche "Er" in der Anrede der Gottheit — und keine Definition, am ehesten einen Namen für das Primat des umfassendsten Zusammenhangs, in dem wir leben.

Schon eine ernsthafte Diskussion über so eine Einrichtung würde zeigen, daß wir uns der Idee der kulturellen Einheit, und damit auch der Möglichkeit der Weltbewahrung nähern. Einem unter solchem Auftrag zusammengerufenen Zug höchster Instanzen könnte die Autorität zuwachsen, uns den Zugriff zu begrenzen und die Richtung des Weges in die Zukunft vorzuzeichnen. Ob der oder die Einzelne nun durch Wahl (ähnlich wie für das Präsidialamt) oder durch Berufung dazugehören soll, müßte erst gefunden werden, sicher in jeder überlieferten Kultur anders.

Entscheidend wäre, daß man die Person öffentlich als weniger ichverhaftet kennt und daß sie durch den Fluß der Kommunikation mit den Menschen darin bestärkt wird. Dann könnte die Rangordnung unserer Wichtigkeiten mit der Zeit der tatsächlichen Rangordnung nahekommen, die in dem ganzen Weltzusammen­hang wartet. Gibt es dagegen keine Struktur, in der unsere höchsten Bewußtseinskräfte Ausdruck finden und das Maß der Erde und des Menschenwesens halbwegs integriert zur Geltung bringen können, kann es nicht zu der kontraktiven9) Ordnung kommen, die wir brauchen, um der Endlichkeit der Erde von grundauf gerecht zu werden.

Die zivilisatorische Krise bedeutet nichts als: Wir müssen den Staat neu denken, um ihn auch neu zu schaffen, und zwar jenseits der bisherigen repressiven Muster, jenseits der jahrtausendelangen Tradition der Kämpfe um Machtmonopolisierung. Das Modell Golfkrieg wird nie zu einer Weltordnung führen, die diesen Namen verdient. Die menschliche Gemeinschaft muß zu einer politischen Verfassung finden, souverän genug, um vor allem die größten partikularen Machtinteressen zu unterwerfen und einzubinden.

Der Zugang dazu ist unsere kulturelle Selbstbesinnung, ihrerseits am ehesten vorstellbar, wenn die Kontraktfähigkeit zu dem uns zugänglichen Welt- und Naturganzen wieder erwacht. Das muß gepflegt werden jenseits der "großen Gesellschaft", ihrer seelenlosen Organisation. Wir können die Welt nur bewahren von einer Aufwärtstransformation unserer geistigen Anlage her. Aber die ist kaum anders denkbar als auf dem Grund einer geistig-kulturellen Sezession10) vom Status quo. Unbesetzten Raum, unbesetzte Zeit dafür läßt uns der Leerlauf der Megamaschine — wenn wir uns nicht beschäftigen lassen, wo sie schon gar nicht mehr nach uns fragt.

Jeder Mensch kandidiert für diese Sezession, nur nicht in seiner Rolle in dem alten Machtsystem. Es ist die alte Frage, die Henryk Sienkiewicz für die spätrömischen Zustände als an den Einzelnen, die Einzelne gerichtet darstellte: "Quo vadis?"11) Die am meisten an dem Weltzustand leiden, werden Orte des sich Versammelns und sich Vernetzens bezeichnen: Orte, wo sich die Bewußtseinsenergie in den Mustern des Homo integralis konzentriert.

Dort mögen sich die Institutionen vorformen, in denen sich die Menschheit verbünden kann. Daß nun die Erde "zu klein" für unser nimmersattes materialistisches Riesenspektakel ist — und fast jede Fernsehsendung ist zu laut für die Welt! —, bedeutet ein völlig neue Erfahrung. Vielleicht bringt uns ja der Aufprall von der machtmotorischen Expansion zur Innenwendung, zu einer kontraktiven Daseinsweise, zum Wiedererwachen der eigentlichen menschlichen Wesenkräfte.

Angesichts der Gefahr macht die Idee des Homo integralis erst Sinn, wenn sie politisch wird, im Hinblick auf die Gestalt einer menschenwürdigen, auf Geist und Herz, nicht auf Geld und Blech, auf Beton und Chips gebauten Ordnung unserer Angelegenheiten auf der einen Erde. Und im Hinblick auf die Männer und Frauen, die das bewußte Doppelleben, die Sezession für nochmals einen neuen Bund riskieren.

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Anmerkungen  

 1)  wettkämpferische 

 2)  ein Ziel erreichen, Erfolg haben 

 3)  in Gefühlen, Gedanken usw. einem früheren, primitiveren Menschheitsstadium entsprechend 
      bzw. ein entwicklungs­geschicht­lich als überholt geltendes und wieder auftretendes geistig-seelisches oder körperliches Merkmal

 4)  Vernichtung 

 5)  schwindet, schrumpft 

 6)  gesetzlos 

 7)  Gesetz, Ordnung u.a. 

 8)  überall verbreitete 

 9)  betrifft die Verminderung der materiellen und wirtschaftlichen Aktivitäten

10)  Abtrennung 

11)  Wohin gehst du? 

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