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Wahl zwischen technischen Alternativen

 

 

   Die technokratische Variante  

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Am Exempel der Atomenergie wird heute durchexerziert, was Politik ist. Das Argument, man könne schließlich einer technischen Entwicklung nicht im Wege stehen, mag gängig sein, aber es ist ein Argument der Vergangenheit. Es sticht deshalb nicht, weil Politik in Zukunft vor allem darin bestehen wird zu entscheiden, was wir von dem, was wir können, auch dürfen. Das wird so sein bei Massen­kommunikations­mitteln, bei den Verkehrsmitteln, bei der Agrarchemie, bei der Datenverarbeitung, bei der Genetik, nicht zuletzt bei der Rüstung.

Politik, die sich die Entscheidung darüber abnehmen läßt, was an technischen Möglichkeiten realisiert wird, kann nur noch die Sachzwänge exekutieren, die sich aus den Entscheidungen anderer, etwa multinationaler Konzerne, ergeben. Es gibt heute zwei grundsätzlich verschiedene Haltungen gegenüber technischer Innovation. 

Die eine, hergebrachte, die man wohl, ohne jemandem unrecht zu tun, die technokratische nennen kann, wird in einer neueren Publikation des Bundes­ministeriums für Forschung und Technologie in besonders qualifizierter und einprägsamer Weise vorgeführt. Bei diesem Ansatz sind die «technischen Entwicklungen» vorgegeben, sie sind ein eigenständiger, zunehmender Prozeß, der sich vollzieht nach eigenen Gesetzen, gespeist von autonomen Kräften. Aufgabe der Politik ist es, im Sinne der sechs Staatsfunktionen, vor allem im Sinne der Kugellagerfunktion, für einen reibungslosen Ablauf der «Entwicklungen» zu sorgen. Der Vorgang:

«Im Oktober 1978 beauftragte die Regierung der Bundesrepublik Deutschland die Prognos AG in Basel, zusammen mit der Mackintosh Consultants Company Ltd. in Luton, die Auswirkungen des technischen Fortschritts auf Wirtschaft, Arbeitsmarkt und Gesellschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland bis zum Jahre 1990 zu untersuchen. Dabei ging es vor allem um folgende Fragen:

 

Da sind also «absehbare technische Entwicklungen». Und sie schaffen für Arbeitgeber und Arbeitnehmer bestimmte «Anpassungsprobleme», daraus können sich nun Anforderungen an den Arbeitsmarkt ergeben und damit — natürlich — auch an das Bildungssystem, das diesem Arbeitsmarkt zuzuarbeiten hat. Also werden die «drei zentralen Einflüsse» untersucht, die auf neue Technologien einwirken:

24) Technischer Fortschritt, Auswirkungen auf Wirtschaft und Arbeitsmarkt, Schriftenreihe Technologie und Beschäftigung des BuMi für Forschung und Technologie, Band 2, S. 213

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«1. Entwicklungsstand und Anwendungsmöglichkeiten wichtiger technischer Entwicklungen
2. Veränderungen des Innovationsdrucks aufgrund veränderter ökonomischer Rahmenbedingungen
3. Einflüsse sozialer, organisatorischer und bildungsmäßiger Rahmenbedingungen auf das Innovationsverhalten.»25)

Und so werden die einzelnen Wirtschaftsbranchen (in dreihundert Expertengesprächen) untersucht:

«Die Aggregation der Ergebnisse läßt schließlich Aussagen über die gesamtwirtschaftliche Entwicklung zu: Aufgrund verschiedener Kompensations- und Verstärkungs­prozesse werden Engpässe (Gefährdungen) und Entwicklungspotentiale (Chancen) erkennbar, die Anhaltspunkte für politische Handlungsmöglichkeiten und politischen Entscheidungsbedarf geben.»26

Etwas weniger umständlich: Wenn man die Ergebnisse der Einzeluntersuchungen auswertet, kann man erkennen, wie die Gesamtentwicklung laufen wird und wo es dabei Reibungen geben könnte, vor allem also, was die Politiker zu tun haben (Entscheidungsbedarf), damit Reibungen vermieden werden. Die Frage lautet also: Wie kann politisch dafür gesorgt werden, daß der Staat seine Kugellagerfunktion rechtzeitig und optimal wahrnimmt?

Wie nötig dies ist, zeigt folgende skeptische Feststellung: «Entscheidend für die zukünftige Entwicklung unseres gesellschaftlichen Systems ist es, in welchem Ausmaß die sozialen, psychologischen und intellektuellen Lernmöglichkeiten der Menschen ausreichen, um neue Abhängigkeiten und Veränderungen zu bewältigen. Die Untersuchung kann diese Frage nicht vollständig beantworten.»27

Es könnte also durchaus sein, daß die Menschen sich durch «neue Abhängigkeiten und Veränderungen» überfordert fühlen. Es könne zu sozialen «Polarisierungen» kommen. Dagegen hilft Mitbestimmung: «Den Polarisierungstendenzen entgegen wirkt die Mitbestimmung auf Betriebs- und Unternehmensebene. Angesichts der relativ großen strukturellen Umschichtung bis 1990 und auch darüber hinaus kann die Einführung der Mitbestimmung auf Unternehmensebene als gerade im richtigen Zeitpunkt erfolgt bewertet werden.»28

25) ebenda, S. 213    26) ebenda, S. 214    27) ebenda, S. 107     28) ebenda, S. 110

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Wie in einem guten Lehrbuch läßt sich der Umschlag von technokratischem in strukturkonservatives Denken verfolgen, besser als Marcuse29) oder Habermas30) dies hätten schildern können:

«Der materielle und immaterielle Wohlstand der Bevölkerung auf einem qualitativ höheren Niveau dürfte ein langfristig allgemein konsensus­fähiges gesamtwirtschaftliches und gesellschaftliches Oberziel sein. Ihm sind instrumentelle Ziele nachgeordnet. Dabei wird die Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Zustandes gleichberechtigt neben dem Wunsch nach Verbesserung (neue Qualitäten) gesehen werden müssen; denn bei sich verschärfenden Zielkonflikten ist der Status quo — das Fortschreiben der bestehenden Situation bzw. Entwicklungs­tendenzen — eine leichter akzeptierte Konsensbasis als ein mit Umverteilungsrisiken behaftetes Zielbündel.»31

Im Klartext: Bitte keine Störungen! Wenn der Staat als Kugellager der «Entwicklung» ausreichend funktionieren soll, darf er sich nicht auch noch auf Fisimatenten einlassen, die mit «Umverteilungsrisiken behaftet» sind. Also beschränkt euch gefälligst auf «das Fortschreiben der bestehenden Situation beziehungsweise Entwicklungstendenzen»! Hier wird also nicht nur gesagt, was Politik zu tun, sondern auch, was sie zu unterlassen hat. Politik schrumpft auf die sechs begleitenden, unterstützenden Staatsfunktionen und ist damit auch so beschäftigt, daß sie für anderes weder Zeit noch Kraft übrig hat. 

Um die «Konfliktpotentiale» zu entschärfen, wird es zur Staatsaufgabe, «— die Absicherung der gesamtwirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung gegen wirtschaftliche Einbrüche und politische Polarisierungstendenzen».32

Politische Ziele werden so zu Instrumenten. Mitbestimmung ist eine praktische Sache, denn auch sie wirkt als Kugellager. Auch demokratische Freiheit ist eine höchst brauchbare Einrichtung: «Auch der Umgang mit Freiheit muß gelernt werden. Und dieser Lernprozeß läuft sicherlich am besten, wenn er von einem breiten öffentlichen Konsensus getragen und möglicherweise auch öffentlich finanziert wird.»33

Die Prognos-Mackintosh-Untersuchung, auf ihre Art eine der gründlichsten und informativsten, macht sichtbar, was heute meist noch unangefochtene, «realistische» Praxis ist. Wäre dies allerdings die einzig denkbare Praxis, so könnte Politik abdanken.

29)  H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, Neuwied/Berlin 1967      30)  J. Habermas, Technik und Wissenschaft als Ideologie, Frankfurt 1968
31)  Technischer Fortschritt, a.a.O., S. 165      32)  ebenda, S.166   
33) ebenda, S. 178

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    Bewährung an der Nachfrage?  

 

Es ist hier nicht der Ort, das Wechselspiel zwischen Gesellschaft, Technik und Politik durch die Jahrhunderte zu verfolgen. Es ist müßig, darüber zu streiten, ob der Mensch zum Bauern wurde, weil er Hacke und Pflug erfand oder ob er Hacke und Pflug erfand, weil er vom Sammeln und Jagen allein nicht mehr leben konnte. 

Jede Gesellschaft schafft sich die ihr gemäße Technik, aber eben diese Technik und ihre Innovationen verändern wieder die Gesellschaft. Daß und wie Gesellschaftsstrukturen die Entfaltung der Produktivkräfte hemmen oder fördern können, war eines der großen Themen von Marx.

Technische Erfindungen haben Politik gemacht; aber auch Politik, vor allem in Form des Krieges, hat technische Innovationen ausgelöst. So wie ohne Buchdrucker die Reformation schwer vorstellbar gewesen wäre, so wie das neue Medium des Radios die totale Gleichschaltung durch das NS-Regime erleichtert hat, so hat Galilei sein Fernrohr für die Kriegsmarine gebaut, so verdankt die Mikro-Elektronik dem Entschluß zur Raumfahrt beträchtliche Anstöße. Nur eines gab es bisher nicht: die bewußte politische Wahl zwischen technischen Alternativen.

Hartmut Bossel schildert die bisher wirksamen Mechanismen:

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«Eine bewußte Wahl zwischen prinzipiell sehr verschiedenen technischen und wissenschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten (die immer bestehen) hat es in der Vergangenheit praktisch nicht gegeben. Jede wissenschaftliche Untersuchung rechtfertigte sich automatisch durch einen Erkenntniszuwachs, auch wenn dieser mit unverhältnismäßig hohen Kosten erkauft wurde. Jede technische Entwicklung legitimierte sich dann, wenn sie eine (private oder staatliche) Nachfrage fand ... Eine Bewertung der Wissenschaft bestand also nicht und wurde kategorisch abgelehnt (Freiheit der Wissenschaft), während die Bewertung der Technik sich auf die Bewährung an der Nachfrage beschränkte. Da sich in der Nachfrage die Interessen der finanzierenden Nachfrager widerspiegeln, unterliegt die Technik nur deren Wertvorstellungen, die selten mit den Interessen des Individuums oder der Gesellschaft übereinstimmen werden, von den Interessen der Umwelt oder zukünftiger Generationen ganz zu schweigen...»34

Ganz so autonom, ganz so naturgesetzlich, wie Technokraten annehmen, ist technische Entwicklung also doch nicht. Denn die Bewährung an der Nachfrage kann ja auch erreicht werden, indem man Nachfrage schafft. Und dabei können sehr wohl staatliche Funktionen in Anspruch genommen werden, etwa die Anstoß- oder die Abstützungsfunktion. Nicht die Technik selbst sei von Übel, meinen auch die dänischen Utopiker, «sondern die Ehe zwischen uninteressierten Forschung, die sich um die Verwendung ihrer Erkenntnisse nicht kümmert, und wirtschaftlichen und machtpolitischen Interessen».35)

In der Praxis sieht dies dann etwa so aus:

Wir bewegen uns gegenwärtig auf das Kabelfernsehen zu nach folgendem Schema: Da suchen Elektrokonzerne nach neuen Produkten, setzen Entwicklungen aus ihren Forschungslabors in neue Technologien um, um damit für den Tag vorzusorgen, an dem die Wachstumskurve für die laufenden Produkte am Markt sich nach unten zu neigen beginnt (erst Schwarzweißfernsehen, dann Farbfernsehen, dann Kabelfernsehen). Obwohl das breite Publikum sich noch nicht einmal eine Vorstellung davon macht, was Kabelfernsehen überhaupt ist, geschweige denn davon, was es bringen wird, zweifeln heute — vor Beginn der Pilotprojekte — nur wenige daran, daß es kommen wird. 

34) Hartmut Bossel, in: Wissenschaft auf Abwegen?, a.a.O. S. 168 f     35)  Meyer, Petersen, Sörensen, Aufruhr der Mitte, a.a.O., S. 38   Meyer bei detopia  

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Es ist anzunehmen, daß die Bundespost die Verkabelung ohnehin besorgen wird (zum Beispiel für Faksimile-Übertragungen per Telefon, für neue Dienste der Post). Es ist weiter anzunehmen, daß die Industrie — wie sie es ja schon einmal mit Stereo betrieben hat — in einigen Jahren überhaupt nur noch Geräte herstellt, in denen die Empfangsmöglichkeiten für dreißig Kanäle schon eingebaut sind. Der Verbraucher zahlt also einmal über die Postgebühren, das andere Mal über den Gerätekauf, ob er will oder nicht, die technische Installation. 

Wenn eines Tages Kabel und Gerät im Hause sind und über gewisse Kanäle entweder «umsonst», also mit Werbung finanziert, Programme angeboten werden oder über andere Kanäle sogenanntes Pay-TV, das heißt, nach Sendezeit zu bezahlende Programme, dann wird es kaum mehr möglich sein, sich dem Kabelfernsehen zu entziehen.

An solchen Beispielen ist leicht abzulesen, was 'Bewährung an der Nachfrage' bedeutet. In den Worten von Kenneth Galbraith: «Wenn man die im Wirtschaftsleben wirkenden Kräfte sich selbst überläßt, nützen sie bestenfalls den Mächtigen.»

Gibt es eine Chance, Politik aus ihrer Lakaienrolle gegenüber denen herauszuführen, die letztlich entscheiden, was sich an der Nachfrage bewähren soll und kann? Gibt es die politisch herbeigeführte «bewußte Wahl» zwischen technischen Alternativen?

 

   Wahl zwischen Alternativen   

 

Klaus Traube, aufgeschreckt aus der Selbstsicherheit des Technokraten, sieht hier das entscheidende Defizit dessen, was sich heute Politik nennt:

«Wenn Politik, und was sollte sie anderes sein, der Versuch zur Ordnung der menschlichen Gemeinschaft ist und wenn diese Gemeinschaft in fast jeder Beziehung durch die Überschüttung mit Technik im Verlauf nur einer Generation tiefgreifend verändert wurde, muß dann nicht Technik ein eminent politisches Thema sein? ... Doch das war noch nie ein politisches Thema — oder gab es je eine öffentliche Diskussion, Parlamentsdebatten, Parteitagsbeschlüsse, Wahlversprechen über Entwicklung, Einführung, Gebrauch neuer Technik?»36)

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Wie rasch Bewußtseinswandel sich in Politik umsetzt, zeigt sich daran, daß schon 1979 nicht mehr ganz stimmte, was Traube 1978 schrieb. Es gibt inzwischen in der Tat Parlamentsdebatten, Parteitagsbeschlüsse, ein zähes politisches Ringen um Einführung und Gebrauch neuer Technik, exemplarisch am Beispiel der Kernkraft, des Schnellen Brüters, aber auch des Kabelfernsehens und der Datenverarbeitung. Der erste und wichtigste Schritt zu politischen Entscheidungen über technische Innovationen ist getan: Die öffentliche Diskussion darüber ist erzwungen, sie ist nicht mehr abzuwürgen, sie wirkt in die Parteitage und in die Parlamente hinein. Der Punkt «Politische Selektion technischer Möglichkeiten» ist auf der Tagesordnung der achtziger Jahre und wird davon nicht mehr zu streichen sein.

Auch für eine solche Selektion bedarf es der Kriterien, des Mehrheitskonsenses, der Instrumente, der Macht und der Konfliktbereitschaft.

Einigermaßen erstaunlich ist, daß politische Kriterien für technische Neuerungen heute nicht von den politischen Akteuren gesucht und gefunden werden. In einer Zeitschrift, in der Designer ihre Erfahrungen austauschen,37 fragt Lucius Burckhardt, nach welchen Kriterien sich heute Formen richten sollen, nachdem die «alte Gute Form» tot sei.

«Und jetzt fragt Ihr nach Kriterien für ein neues Design! Da könnte ich schon einige nennen. Stellt Euch also vor, eine neue Kommission des Werkbundes ziehe durch die Hallen der Basler Mustermesse, ergreife ein ausgestelltes Produkt und frage:

36)  Klaus Traube, Müssen wir umschalten?, Reinbek 1978, S. 12       37)  Werk archithese, April 1977

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Dies ist ein eminent politischer Katalog. Er zielt auf eine Lebensqualität, die sich orientiert an Freiheit und Gerechtigkeit, und er ist gleichzeitig ein Zeichen der Solidarität mit denen, die zum Entstehen des Produkts beitragen, und mit denen, die das Produkt benutzen.

Sogar wenn der Markt noch nach dem Lehrbuch funktionierte, müßten die traditionellen ökonomischen Kategorien ergänzt werden durch Fragen, wie sie Christian Leipert stellt:

Was sind die Auswirkungen eines neuen Produkts, einer neuen Technik 

Natürlich ließe sich diesem Katalog noch vieles anfügen: Wie wirkt sich eine technische Innovation aus

38) C. Leipert, Alternative Wege künftiger Wirtschaftspolitik, in: Technologie und Politik 12, Reinbek 1978 (roak 4280), S. 43

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   Instrumente   

 

Bleibt die Frage nach den Instrumenten. Sicher kann und wird es nie politische Einzelentscheidungen über jedes der Produkte geben, die immer neu auf den Markt drängen, zumal sie meist keine grundsätzlichen technischen Neuerungen enthalten. Hier dürfte ein — politisch angeregter, mitgestalteter — Diskussionsprozeß, gestützt von einer verstärkten und erweiterten Verbraucheraufklärung, ausreichen.

Anders sieht es aus bei neuen Technologien im Bereich der Energieversorgung (Schneller Brüter), der Massenmedien (Kabelfernsehen), des Verkehrs (Überschallflugzeug), der medizinischen Technik (Organverpflanzung), der Genetik (Manipulation von Erbanlagen), der Pharmazie (neue Arzneimittel), der Kunststoffherstellung (krebserregende Stoffe), der Agrarchemie (Herbizide, Pestizide, Zusätze zum Futter), der Beeinflussung des Wetters (künstlicher Regen), schließlich auch bei manchen neuen Produktionstechniken der Industrie (Mikroprozessor). In diesen Bereichen wäre an unabhängige, pluralistisch zusammengesetzte Kommissionen zu denken, die von ökonomischen und administrativen Interessen so gut wie möglich abzuschirmen wären. Daß so etwas möglich ist, hat die Enquete-Kommission des Bundestages — zur Überraschung vieler — bewiesen. Ob allerdings die Mischung aus Abgeordneten und Wissenschaftlern überall hilfreich wäre, darf man bezweifeln, zumal nicht für jede Kommission ein Vorsitzender mit so viel Geduld, Phantasie und Hartnäckigkeit zu finden ist, wie sie in Reinhard Ueberhorst vereinigt waren.

Entscheidend ist, daß zu solchen Fragen die öffentliche Diskussion durch qualifizierte Berichte unabhängiger Kommissionen angereichert, gesteuert, vor allem wirksamer und verbindlicher gemacht wird. Solche Kommissionen können niemals administrative Rechte haben. Regierungen können — zumindest zeitweise — versuchen, solche Berichte zu ignorieren oder sich aus ihnen herauszupicken, was ihren Absichten entspricht. Aber auf dem Weg über Bürgerinitiativen, Medien, Verbände und Parteien fließen qualifizierte Ergebnisse doch in den Prozeß politischer Willensbildung ein, schließlich — mehr oder minder unvollkommen — auch in die Gesetzgebung (Chemikaliengesetz), in administrative Entscheidungen (Verzögerung des Kabelfernsehens, Moratorium bei Kernkraftwerken).

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Die schwierigste Aufgabe in der Praxis wird die Wahl des Zeitpunktes sein. Hat eine technische Innovation noch nicht den Reifegrad erreicht, der eine kommerzielle Nutzung zuläßt, ist meist auch die Information so spärlich, daß politische Einwirkung, in welcher Form auch immer, kaum erreichbar erscheint. Ist die Innovation jedoch voll vermarktungsfähig, so entstehen häufig schon jene Sachzwänge, die Politik nur noch als Kugellager zulassen. Es wird sich zeigen, ob beim Kabelfernsehen der richtige Zeitpunkt schon versäumt wurde (vielleicht lag er zu Beginn der siebziger Jahre). Daß aber auch eine sehr verspätet — um zwei Jahrzehnte verspätet — einsetzende Diskussion noch Wirkung haben kann, beweist das Beispiel der Kernkraft.

Politik, die sich einem angeblich autonomen technischen Prozeß anvertraut und nur nachträglich seine positiven Folgen konstatieren, seine negativen beklagen kann, wird vollauf damit beschäftigt sein, Flickschusterei zu treiben an einem Schuh, den sie selber weder entworfen noch zerrissen hat. Sie wird hinter Entwicklungen herkeuchen, die sie nie einholt. Es ist ein Politikum ersten Ranges, daß heute viele erkennen: Wir sind an einem Punkt angekommen, wo die Politik der Technik Vorgaben machen muß.

Sicher: Auch bei der Wahl zwischen technischen Alternativen helfen Kriterien und Instrumente wenig, wenn es an der Macht und vor allem an der Konfliktbereitschaft fehlt. Deshalb wird nichts anderes übrigbleiben, als durch öffentliche Willensbildung neue Mehrheiten in Sachfragen zu schaffen und die Regierenden vor die Wahl zu stellen, welchen Konflikt sie vorziehen, den mit mächtigen Interessenblöcken oder den mit einem beträchtlichen, vielleicht entscheidenden Teil ihrer Wählerschaft. Der Trampelpfad «politische Entscheidung zwischen technischen Alternativen» ist schon ziemlich breit geworden.

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Ökonomie contra Ökologie?

 

  Vom ökonomisch und ökologisch Vernünftigen  

 

Wenn wir hier nicht jeden möglichen Trampelpfad politischer Alternativen verfolgen, sondern die Richtung der Pfade erkunden wollen, dann eignet sich dazu nichts so gut wie der scheinbar so unverrückbare Gegensatz von Ökonomie und Ökologie. Wo sich dieser Gegensatz auflöst, werden ganz von selbst neue Pfade erkennbar werden.

Es gehört zum selbstverständlich Hingenommenen in unserer öffentlichen Diskussion, daß ökonomische und ökologische Erfordernisse sich beißen, daß es gelte, beide jeweils gegeneinander abzuwägen. Es soll nicht bestritten werden, daß solche Güterabwägung gelegentlich ebenso nötig wie schmerzhaft ist. Aber ist sie die Regel?

Wenn Ökonomie die Lehre vom Haushalten, vom Wirtschaften, eine Methode zum zweckmäßigen Einsatz knapper Mittel ist, wenn Ökologie von den Beziehungen der Lebewesen untereinander und mit ihrer belebten und unbelebten Umwelt handelt, so ist schon von der Definition her nicht einzusehen, warum beide notwendig in einem Gegensatz zueinander stehen müßten. Schließlich wissen wir von Biologen, daß nirgendwo haushälterischer mit Stoff und Energie umgegangen wird als in der Natur.

Wenn Ökologie fragt, wie Lebewesen — das Lebewesen Mensch eingeschlossen — sich zueinander verhalten müssen, wenn ihr Leben und das ihrer Arten gesichert sein soll, wenn Ökonomie wirklich fragen sollte, wie der Mensch mit dem geringsten Aufwand zu den Gütern und Dienstleistungen kommt, deren er bedarf, dann liegt die Vermutung nahe, daß vernünftige Ökonomie und vernünftige Ökologie mehr miteinander zu tun haben könnten, als uns heute bewußt ist.

Allerdings kann es dann nicht Ziel der Ökonomie sein, möglichst hohe Wachstumsraten eines Bruttosozialprodukts zu erzielen, das mehr über den Aufwand als über die Befriedigung von Bedürfnissen aussagt. Es hat über Jahrhunderte ökonomisches Denken gegeben, dem das Wort Wachstum unbekannt war.

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Andererseits kann dann mit Ökologie nicht gemeint sein, daß wir mit dem Müllwagen des Umweltschutzes versuchen, all den Kehricht wegzuräumen, der an den Straßenrändern eines ökonomischen Wachstums liegenbleibt, für das wir zwar die Zahlen, die Zuwachsraten, aber nicht die Richtung vorgeben. Dann geht es nicht um Umweltschutz als nachträgliches Ausbessern von Schäden, die — angeblich — ökonomisches Handeln hinterlassen hat, dann geht es nicht um kompensatorischen, nachhinkenden Umweltschutz, dann geht es darum, in alles wirtschaftliche und politische Handeln die ökologische Dimension einzuführen. Verkehrspolitik hat ebenso eine ökologische Dimension wie Landwirtschaftspolitik, Raumplanung ebenso wie Verteidigungspolitik, Gesundheitspolitik ebenso wie Entwicklungspolitik .

Dies heißt dann auch: Die These, wir brauchten Wachstum, gleich welches, damit wir die Mittel für den Umweltschutz aufbringen können, ist nicht nur, wie Berechnungen, etwa des NAWU-Reports39 gezeigt haben, ökologisch, sondern auch ökonomisch anfechtbar. Sie führt keineswegs zum zweckmäßigen Einsatz knapper Mittel, sondern zu einem ruinösen Wettlauf zwischen Umweltzerstörung und Umweltreparatur. Es geht also nicht um Ökologie contra Ökonomie, es geht um die ökologische Dimension ökonomischen und politischen Handelns.

Wir haben schon auf dem Trampelpfad der alternativen Energiepolitik die Entdeckung gemacht, daß das ökologisch Hilfreiche, nämlich durch rationellere Energieverwendung die Nachfrage nach Energie zu drosseln, auch das Billigere ist, daß dadurch knappe Mittel wirksamer zu dem Zweck eingesetzt werden können, die Energiedienstleistungen bereitzustellen, die wir brauchen. Wir haben den Kapitalaufwand und den Kapitalumschlag für bessere Wärmedämmung verglichen mit dem für Hunderte von Kernkraftwerken und ihren Zusatz- und Folgekosten.

Aber es gibt auch Maßnahmen zur rationellen Energieverwendung, die volkswirtschaftlich so gut wie keine zusätzlichen Kosten verursachen. Dazu gehört etwa eine regionale Strukturpolitik, die Pendlerströme verringert, Anfahrtwege verkürzt. Dazu gehört ein attraktives Angebot für den öffentlichen Nahverkehr im ländlichen Raum, bei dem die vorhandenen Verkehrseinrichtungen organisatorisch so gebündelt werden, daß

39) Wege aus der Wohlstandsfalle, a.a.O., S. 153 

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praktisch jeder Ort in einem bestimmten Zeittakt angefahren wird (Hohenlohe-Modell40). Dazu gehört die Verlagerung der Kraftfahrzeugsteuer auf die Mineralölsteuer, durch die das Halten eines Autos billiger, die einzelne Fahrt teurer wird. Dazu gehört eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen und die Verlagerung von Gütern auf die Schiene, aber auch energiesparende Automotoren, die, wie der Erfolg der Japaner auf den Automärkten zeigt, auch ökonomisch ihre Vorteile haben.

Auch in der Verkehrspolitik dürfte das ökonomisch Vernünftige gleichzeitig die Umwelt schonen. Wer bezahlt einen beträchtlichen Teil der Kosten für j ene Lawine von Lastwagen, die Tag und Nacht Langholz, Kies, Möbel, Autos (!), Bier oder Mineralwasser quer durch die Republik karren? Doch wohl dieselben Bürger, die von ihrem Lärm belästigt werden und ihre Abgase einatmen müssen. Sie tragen zum Bau und zur Reparatur der rasch zerschundenen Autobahnen bei, sie bezahlen mit ihren Steuern das Defizit der Bundesbahn, das so «eingefahren» wird. Ökonomische und ökologische Unvernunft geht gleichermaßen auf Kosten einer erdrückenden Mehrheit der Bürger.

Sogar da, wo ein klassischer Zusammenprall ökonomischer und ökologischer Notwendigkeiten vorzuliegen scheint, beim Streit um die geplante Startbahn West des Rhein-Main-Flughafens, argumentieren Bürgerinitiativen inzwischen auch ökonomisch: Millionen Bäume müssen sterben um einer Investition willen, deren Rentabilität bei steigenden Benzinpreisen und wachsenden Defiziten bei den Fluggesellschaften zumindest höchst unsicher sei.

 

  Beispiel Landwirtschaft  

 

Wie ökonomische Unvernunft zu ökologischen Schäden führt, liegt — für jeden Verbraucher sichtbar — in der EG-Agrarpolitik zutage. In der Zeitung Das Landvolk, also einer Zeitung des Bauernverbandes, wurde am 1. 2. 1979 berichtet über einen Vortrag von Professor Weinschenck aus Stuttgart-Hohenheim.

40) Krautter, Neidhardt, Neuhöffer, Möglichkeiten der Sanierung des ÖPNV in verkehrsschwachen ländlichen Räumen, Raumforschung und Raumordnung H. 1/2 (1977), S. 33ff

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Weinschenck, ein Mann, dem niemand Sachverstand abstreitet, befaßt sich mit den Sorgen der Landwirte, die durch immer neue Investitionen immer mehr produzieren, gleichzeitig mit immer höherer Schuldenlast fertig werden müssen:

«Wenn die mit den Investitionen verbundenen Preiserwartungen nicht erfüllt werden sollten, könnten gerade die Betriebe zuerst zahlungsunfähig werden, die ihre Kostengesenkt, aber bei der Rückzahlung der Investitionskredite nicht zu Rande kämen.

Für die Fortsetzung der Investitionsförderung lassen sich, so räumte Professor Weinschenck ein, aus der Sicht des Einzelbetriebs und der regionalen Agrarpolitik viele Argumente anführen, die jedoch einer gesamtwirtschaftlichen Betrachtung nicht standhalten.»

Auch hier also die Erfahrung von Fred Hirsch, daß viele — vernünftig erscheinende — Einzelentscheidungen zusammengenommen dann doch keinem etwas nützen, daß, wenn alle auf den Zehenspitzen stehen, keiner besser sieht. Dies wird noch deutlicher, wenn der Bericht fortfährt:

«Weinschenck geht davon aus, daß die landwirtschaftlichen Einkommen sich in Zukunft nicht mehr wie bisher über höhere Preise steigern lassen. Dann bliebe die Produktionsausdehnung als einziger Ausweg. Die hierfür erforderlichen Investitionsbeihilfen würden nicht nur die Produktion von Erzeugnissen beschleunigen, für die es gewisse Preisgarantien gebe, sondern auch die von Produkten, deren Preis Angebot und Nachfrage unterworfen sind.»

Daraus folgert Weinschenck, es entstehe die Gefahr, daß Investitionsbeihilfen die Landwirte allzu teuer zu stehen kämen, einmal «in Form einer Selbstbeteiligung an der Vermarktung von landwirtschaftlichen Überschüssen», zum anderen durch Preissenkungen. Je mehr Investitionen, desto mehr Überschüsse, desto niedriger die Preise, desto schwieriger die Amortisation.

Vergessen ist bis hierher der Steuerzahler. Er bezahlt die Zinsvergünstigungen, er bezahlt die Preissubventionen, und er bezahlt letztlich auch die Lagerhaltung für Überschüsse. Und das ökonomisch Unvernünftige ist, daß dieser Steuerzahler mit immer mehr Aufwand den Bauern immer weniger helfen kann. Noch einmal der Bericht: «An Beispielen wies Weinschenck nach, daß der durch die Investitionsförderung erzielte Einkommenszuwachs der Landwirte bereits heute erheblich geringer sei als der staatliche Förderungsaufwand und die Ausgaben zur Beseitigung der Produkte, die mit Hilfe der Investitionen hergestellt wurden.»

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Das heißt: Die Bauern haben letztlich nichts von der Investitionsförderung, die öffentlichen Mittel kommen beim Bauern nicht an.

Je mehr durch Investitionsförderung die Produktion gesteigert wird, um so größer der Druck auf die Preise. Und je größer der Druck auf die Preise, desto unrentabler die Investitionen. An dieser Stelle beginnt die Auseinandersetzung der Agrarminister in der EG: Vor allem die Briten sind nicht beliebig bereit, Preiserhöhungen zuzustimmen, die noch mehr Überproduktion anregen müssen. Aber die kontinentalen Minister brauchen Preiserhöhungen, weil nur bei ordentlichen Einkommen unsere Bauern die Kredite für den vollautomatisierten Stall oder die neue Spezialmaschine zurückzahlen können, zu denen die Landwirtschaftsverwaltung sie ermutigt oder gar überredet hat.

Die ökonomische Unvernunft, der unsinnige Aufwand, der sich dauernd selbst steigert und sich in den Statistiken als rasches wirtschaftliches Wachstum niederschlägt, wird allenfalls überboten durch die ökologische Unvernunft. Wer im Frühling über die Felder geht, bekommt heute ganz andere Düfte in die Nase als die, von denen Eduard Mörikes Frühlingsgedichte künden: Manchmal, wenn es ein paar Tage nicht geregnet hat, wähnt er eine chemische Fabrik in der Nähe.

Und manche Gemeinden, etwa im Raum Lörrach, empfehlen heute schon, Säuglingsnahrung mit Tafelwasser zuzubereiten, weil Überdüngung der Äcker zu einem gefährlich hohen Nitritgehalt des Leitungswassers geführt hat.41

Kommt man darüber mit Landwirten ins Gespräch, so erkennt man schnell, daß den meisten dabei gar nicht wohl ist. Sie brauchen Jahr für Jahr mehr Geld für alle Arten von Herbiziden, Pestiziden, Fungiziden]

5erw3ssö"llensietun? Nur wenn sie lern Boden einen Höchstertrag abringen, bleibt am Jahresende nach Abzug des Schuldendienstes genug für die Familie übrig.

41)  Schwarzwälder Bote vom 17.1.1981

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Kurz: Der Steuerzahler bezahlt die Unvernunft einer Agrarpolitik, die den Bauern zwingt, das Letzte aus seinen Äckern herauszuholen, er muß aber auch die wachsenden Rückstände an Umweltchemikalien im Wasser und in der denaturierten Nahrung in Kauf nehmen. Derselbe Zwang zur Mehrproduktion, der die Kosten für Lagerhaltung erhöht, mindert die Qualität der Nahrungsmittel und letztlich auch der Böden, auf denen sie erzeugt werden. Das ist ökologisch so unsinnig wie ökonomisch.

Wenn die Frage nach der Alternative gestellt wird, so kann noch einmal der Bericht zu Wort kommen:

«Als Alternative sieht Weinschenck die direkten Einkommensübertragungen an. Diese Einkommensübertragungen seien zwar eine Art Bankrotterklärung der bisherigen landwirtschaftlichen Einkommenspolitik, trotzdem müsse darüber diskutiert werden.»

Natürlich, dieser Vorschlag ist umstritten. Wer erklärt schon gerne seinen Bankrott? Trotzdem werden wir früher oder später dazu kommen müssen, den Bauern etwas für ihre Arbeit als Landschaftspfleger zu vergüten. Es ist auch nicht einzusehen, daß dies als Almosen abgelehnt werden müßte, denn hier geht es um Vergütung von Leistungen, die uns allen zugute kommen. Erst wo diese Leistung honoriert wird, verringert sich der Zwang zur Überproduktion, unter dem heute viele Landwirte leiden, dann ist es möglich, die landwirtschaftlichen Preise wieder dem Markt zu überlassen. Dann werden sie ihre Funktion erfüllen und strukturelle Überschüsse verhindern können.

Daß der Weg über direkte Einkommenshilfen billiger ist als die Finanzierung von Subventionen, von denen nur ein Zehntel die Bauern schließlich erreicht42 und die zu Überschüssen führen, deren Lagerung und oft auch Verschleuderung nach Rußland oder Persien dann noch einmal Milliardenbeträge verschlingt, wird kaum mehr bestritten. Wenn auch dieser Trampelpfad durch Gestrüpp führt und streckenweise sumpfig ist, dann, weil er mächtige Interessen berührt, die des Bauernverbandes und die der chemischen Industrie. Aber es wäre wirklich ein Trampelpfad aus der Gefahr, der Gefahr nämlich, daß die Europäische Gemeinschaft an ihrer ökonomisch wie ökologisch unverantwortlichen Agrarpolitik zugrunde geht.

42) Siehe Klaus Peter Krause, Den Bauern vernünftiger helfen, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11.9.1980

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   Mit Steuern steuern   

 

Vielleicht läßt sich in der Richtung des ökonomisch wie ökologisch Vernünftigen auch ein Pfad zurechttrampeln, der aus der Misere der öffentlichen Haushalte führt. Dies gilt allgemein: Wenn der Staat sich nicht mehr mit seinen sechs Begleitfunktionen für einen anderswo gesteuerten technischökonomischen Prozeß abfindet, wenn er Wachstumsentscheidungen trifft, kann er sich von mancher Last der Reparatur oder Entsorgung befreien. Es gilt aber auch im besonderen in der Steuerpolitik.

Von Ferdinand Lassalle stammt die These, daß direkte, progressive Steuern den indirekten vorzuziehen seien, weil die indirekten vor allem die Armen treffen. Zur Zeit Lassalles war diese Leitlinie unbezweifelbar richtig. Auch die Steuerreformkommission der SPD hat sich 1971 noch insofern daran gehalten, als sie eine Erhöhung der Mehrwertsteuer ablehnte und mit dem Spitzensatz der Einkommenssteuer auf sechzig Prozent gehen wollte. Allerdings sah schon das Konzept dieser Kommission eine erhebliche Erhöhung der Mineralölsteuer vor, die inzwischen teilweise vollzogen wurde. Heute stößt die Lohn- und Einkommenssteuer an psychologische Barrieren. Also sprechen Politiker bei erstaunlich hohen öffentlichen Kreditaufnahmen nur darüber, wann die Lohn- und Einkommenssteuer wieder gesenkt werden soll. Vielleicht bleibt einer Regierung, die im Einklang mit Grundströmungen der öffentlichen Meinung handeln muß, nichts anderes übrig. Aber eben dadurch wird jener Mechanismus von hoher Neuverschuldung und wachsendem Schuldendienst immer rascher in Gang gesetzt, der schließlich die öffentlichen Hände lähmen muß.

Gibt es aus dieser Sackgasse keinen Ausweg? Steuern sollen nicht nur die Ungerechtigkeit der Einkommensverteilung mildern, sie sind auch ein Steuerungsinstrument. Man kann durch Steuern Konsum anregen und Konsum dämpfen. Wir haben auf Wein andere Steuern als auf Schnaps, auf Bier andere als auf Sekt. Die Steuern für Zigarren oder Rauchtabak sind niedriger als die auf Zigaretten. Und schließlich haben wir für Lebensmittel einen besonderen, den halben Mehrwertsteuersatz.

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Wenn die direkte Steuer praktisch ausgereizt ist, wenn die ordnungspolitisch gezielte indirekte Steuer ein erprobtes, unkompliziertes, für die Verwaltung wenig aufwendiges und für den Bürger verständliches Mittel ist, Wachstum, wo es unerwünscht ist, zu dämpfen oder umzulenken, dann ist nicht einzusehen, warum hier nicht auch Finanzierungsquellen für die öffentlichen Hände zu finden sein sollten.

Die Mehrwertsteuer hat bei allen sonstigen Vorzügen den Nachteil, daß sie sich schwer differenzieren läßt. Mehr als drei verschiedene Sätze sind nicht ratsam. Aber warum nicht wenigstens drei? Wenn der Kongreß der USA über das Verbot von Kraftfahrzeugen berät, die allzu viel Benzin fressen, sollte es bei uns unmöglich sein, für solche Fahrzeuge von einem bestimmten Zeitpunkt an einen doppelten Mehrwertsteuersatz einzuführen, möglicherweise ohne das Recht des Vorsteuerabzugs?

Wenn es ratsam erscheint, den Verbrauch von Herbiziden und Pestiziden, von Zusätzen zum Viehfutter nicht ins Uferlose zu steigern, dann könnte auch hier eine Steuererhöhung vernünftigen Aufklärungsmaßnahmen den nötigen Nachdruck verleihen. Wenn wir einsehen, daß kilometerlange Autoschlangen zu Beginn oder am Ende des Urlaubs nur zu vermeiden sind, wenn die Bahn Angebote machen kann, die wenigstens einigen Autofahrern erwägenswert erscheinen, warum soll das Geld dafür nicht durch höhere Mineralölsteuer aufgebracht werden?

Wenn wir der Ausrottung ganzer Wildarten entgegenwirken wollen, warum keine Sondersteuer auf bestimmte Pelze?

Und wenn eines Tages wieder über eine generelle Erhöhung der Mehrwertsteuer gesprochen wird, wäre zu erwägen, ob dem nicht doch eine allgemeine Energiesteuer vorzuziehen wäre.

Man hat solche Vorschläge bisher immer damit abgetan, daß man sich gegen eine Luxussteuer ereiferte. In der Tat ist schwer festzulegen, wo Luxus beginnt. Aber hier geht es nicht um Luxus. Es geht um Selektion von Wachstum und die Defizite in den öffentlichen Haushalten. Wenn schon hohe Steuern nötig sind, damit der Staat seine Aufgaben erfüllen kann, warum erhebt er sie nicht so, daß er damit — gewissermaßen nebenher —einiges erledigt, was ihn sonst viel Geld und Personal kosten müßte?

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   Sinnvolle Arbeitsplätze   

 

Selektives Wachstum, da wo es ökologisch wie ökonomisch sinnvoll ist, schafft auch Arbeitsplätze. Wir haben gesehen, daß bei dem Wettlauf zwischen Wachstum und Produktivität in den letzten zwei Jahrzehnten Arbeitsplätze nicht gewonnen, sondern verloren wurden, daß Massenarbeitslosigkeit seit zwanzig Jahren durch Verkürzung der Arbeitszeit verhindert wurde. Dies wird künftig nicht anders sein. Vor allem könnte ein flexibleres Angebot an Teilzeitarbeit helfen. Aber eben dieses zeigt:

Rasch wachsende Produktivität ist nicht nur Gefahr für Arbeitsplätze, sie ist auch Chance. Diese Chance wird allerdings erst sichtbar, wenn wir die eingefahrenen Gleise der Wachstumsideologie verlassen. Wenn die Produktivität der Produktion davonläuft, dann wird es möglich, bislang vernachlässigte Arbeit zu leisten oder die Arbeitszeit zu verkürzen. Beides erhöht die Lebensqualität.

Eine Produktivität, die rascher wächst als die Produktion, eröffnet Handlungsspielraum für selektives Wachstum, die Chance zu entscheiden, was wachsen soll und was nicht. Dies bedeutet politisch eine Umkehrung der Ansatzpunkte. Wenn wir Arbeitslosigkeit bekämpfen wollen, dürfen wir nicht mit einer bestimmten Wachstumsrate des Sozialprodukts beginnen, aus der sich dann neben anderem auch Arbeitsplätze ergeben, wir müssen politisch entscheiden, welche bislang vernachlässigte — ökonomisch wie ökologisch sinnvolle — Arbeit mit der überschüssigen Arbeitskraft geleistet werden soll. Vollbeschäftigung ist eine originäre politische Aufgabe. Solange wir bei originären politischen Aufgaben immer zuerst fragen, wieviel Wachstum wir dazu brauchen, reduzieren wir unsere Handlungsfähigkeit auf die Exekution von Sachzwängen. Die Hinführung der wirtschaftlichen Aktivität auf politisch gewollte, der Lebensqualität dienende Wachstumsfelder kann Arbeitsplätze schaffen.

Wir sind heute so weit, daß wir sehr detailliert sagen können, an welchen Stellen angepackt werden muß, wenn wir mit der Arbeitslosigkeit fertig werden sollen. An Aufgaben, an Arbeiten, die ökonomisch wie ökologisch erforderlich und wünschenswert wären, fehlt es nicht. Da ist

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1. der weite Bereich von Stadt- und Dorfkernsanierung, die eine weitere Zersiedlung in den Außenbezirken eindämmen kann,

2. die Aufgabe des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs, die der weiteren Betonierung der Landschaft und Verschmutzung der Luft entgegenwirkt,

3. das große Gebiet alternativer Energiepolitik, von der Wärmedämmung bis zum Sonnenkollektor,

4. die Wiederaufarbeitung (recycling) von Müll und Abfallstoffen.

Schließlich ist da das weite Feld von Dienstleistungen, die unmittelbar am Menschen getan werden müssen. Sie erhöhen Lebensqualität bei einer minimalen Umweltbelastung.

Wo immer von Dienstleistungen die Rede ist, trifft man auf das Vorurteil, Dienstleistungen seien letztlich unproduktiv, lebten, gewissermaßen als Kostgänger, von der Produktion. Dieser Theorie hat vor bald einhundertfünfzig Jahren Friedrich List entgegengehalten:

«Nach ihr ist der, der Schweine erzieht, ein produktives Mitglied der Gesellschaft, wer Menschen erzieht, ein unproduktives. Wer Dudelsäcke ... zum Verkauf fertigt, produziert; die größten Virtuosen dagegen sind nicht produktiv.»43

Ebenfalls im letzten Jahrhundert gab Jean Baptiste Say zu bedenken, daß Arbeit letztlich keine Stoffe, keine Gegenstände hervorbringe, sondern «Nützlichkeiten».44 Und es leuchtet ein, daß überflüssige Verpackung weniger nützlich ist als die Arbeit einer Heilgymnastin, die Produktion von Giftgasen weniger nützlich als die Leistung eines Chorleiters, die Produktion von Feuerwerkskörpern zumindest nicht nützlicher als eine gute Fernsehsendung. Aber gerade an diesem Beispiel wird deutlich: Der Feuerwerkskörper ist genausoviel wert, wie er Menschen Freude macht. Daß dies oft leichter durch Dienstleistungen geschieht, liegt auf der Hand.

Gerade in einer Gesellschaft, die Ökonomie und Ökologie in Einklang bringen will, werden zunehmend Produktionen durch Dienstleistungen ersetzt. 

43) Zitiert aus Karl Georg Zinn, Die Kategorien produktiv und unproduktiv in der Ökonomie, Beilage zum Parlament B 17/80, S. 21 ff 
44)  ebenda, S.33

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Langlebige Güter werden wieder mehr repariert, elektronische Information tritt an die Stelle von Papier, autogenes Training ersetzt das Medikament. Man mag einwenden, daß in einer humanen Gesellschaft die bezahlte, professionelle Dienstleistung die Ausnahme, die gegenseitige Dienstleistung des einen am anderen die Regel sein müsse. Zumal wenn die Arbeitszeit weiter sinkt, ist es durchaus möglich und wünschenswert, daß hauptberufliche Dienstleistungen so ergänzt und an einigen Stellen ersetzt werden. Dies ändert aber nichts daran, daß es heute an Musik- und Sportlehrern fehlt, nicht nur an den staatlichen Schulen, daß die Drogenberatung im argen liegt, daß die Bewährungshilfe aus Mangel an Personal wenig gegen eine hohe Rückfallquote tun kann, daß immer mehr Menschen sich um Behinderte kümmern müssen.

Das Argument, dies alles sei nötig, aber leider nicht zu bezahlen, übersieht zweierlei: 

Erstens geht es hier um eine Alternative zur Arbeitslosigkeit, und es gibt nichts, was eine Gesellschaft so teuer zu stehen kommt wie zwangsweise brachliegende Arbeitskraft, ganz abgesehen davon, daß jeder Arbeitslose heute die öffentlichen Hände etwa 20.000 Mark im Jahr kostet, also etwa die Hälfte dessen, was für eine qualifizierte Dienstleistung aufzubringen ist. 

Zum anderen kosten solche Leistungen nicht nur Geld, sie sparen es auch. Hätten wir mehr Bewährungshelfer, so könnten wir ein Mehrfaches sparen beim Strafvollzug, in den heute drei Viertel unserer Straffälligen zurückkehren. Hätten wir besseren Schulsport, so würde dies bei den Krankenkassen positiv zu Buche schlagen. Hätten wir mehr ambulante Krankenpfleger, so könnten wir manchen Tag im Krankenhaus sparen, der teurer ist als eine Übernachtung im Hilton-Hotel in New York. Hätten wir eine bessere Gesundheitsaufklärung, so könnten wir Milliarden für Medikamente und Ärzte sparen. Daß Investitionen in Berufsausbildung sich auszahlen, ist eine Binsenweisheit.

Derselbe Prozeß, der uns Angst einjagt vor Massenarbeitslosigkeit, die rasch wachsende Produktivität, eröffnet auch Spielräume für politisches Handeln, für die Auswahl der Felder, in denen zusätzliche Arbeit zu leisten ist, die wir uns eben durch steigende Produktivität erst leisten können. Dies gilt aber nur dann, wenn wir den ohnehin hoffnungslosen Wettlauf zwischen Produktivität und undifferenziertem Wachstum aufgeben. 

Wir können, wenn wir Arbeit nicht nur als Nebenprodukt von Wachstumsraten erwarten, die Freiheit gewinnen, ökonomisch und ökologisch sinnvolle Arbeit anzupacken, die bisher unerledigt blieb.

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Von Dr. Erhard Eppler

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