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Ditfurth-1987

Todesursache: Mangel an Phantasie

Warum es schwer ist, Menschen zum Überleben zu überreden

Ansprache auf der Schlußveranstaltung der "Internationalen Tage des ökologischen Films", Freiburg, 1987

 

328-332

Die größten Risiken gehen stets von den Gefahren aus, die niemand wahrhaben will. Dies scheint mir der sehr einfache Grund für die besondere Qualität der Bedrohung zu sein, der wir uns bei allen Formen der ökologischen Krise gegenübersehen. Denn auf keinem anderen gesellschaft­lichen Feld funktioniert die dem Menschen angeborene Verdrängungs­begabung mit solch verderb­licher Perfektion wie im Bereich der galoppierenden Umweltzerstörung. Auch die Katastrophe von Tschernobyl ist, wie uns soeben noch einmal in Erinnerung gerufen wurde, nicht zuletzt deshalb möglich geworden, weil alle Welt sie für unmöglich gehalten hatte.

Die Folgen dieser Verdrängung kommen auf seltsam verquere Weise selbst noch in den gutgemeinten — und höchst angebrachten! — Appellen der vielen Naturschützer und Tierfreunde zum Ausdruck, die uns mahnen, doch bitte Rücksicht zu nehmen auf die Natur und auf die Lebens­rechte anderer Kreaturen. Selbstverständlich ist diese Forderung ebenso notwendig wie legitim. Allein schon aus moralischen Gründen duldet sie nicht die geringsten Abstriche. 

Aber auch hinter diesen Appellen an unser Mitleid verbirgt sich noch immer eine erstaunliche Verkennung unserer Situation. Denn in Wahrheit ist es ja gar nicht die Natur, die auf unser Mitleid angewiesen wäre.

So furchtbar die Wunden auch sind, die wir ihr bei unserem eigensüchtigen Wüten zufügen unter bedenkenloser Ausnutzung aller uns zugewachsenen wirtschaftlich und technisch perfektionierten Methoden zu ihrer Ausbeutung (im prinzipiell als unbegrenzt vorgestellten Eigeninteresse), umbringen werden wir sie dennoch niemals. Dazu ist unsere Rolle — als der von Produkten dieser uns unendlich überlegenen Natur — gottlob denn doch zu klein.

Aber wir würden die Biosphäre, wenn wir so weitermachten wie bisher, früher oder später unweigerlich in einen Extremzustand treiben, in dem uns die Lebensgrundlagen entzogen wären. 

Eine von uns über jedes verantwortbare Maß hinaus gequälte Natur würde uns auf diese Weise in einer Art Selbstheilungsprozeß ausspeien, nüchterner gesagt: aussterben lassen, um sich anschließend, nachdem der Störenfried beseitigt wurde und daher endlich wirklich Friede herrscht auf der Erde, im Laufe der Jahrhunderte erneut wieder zur vollen Blüte der ihr eigenen Möglichkeiten zu entfalten. Deshalb erscheint mir der Gedanke an die Möglichkeit, daß wir die Weiterexistenz der Natur ernstlich in Frage stellen könnten, als besonders kühne Variante anthropo­zentrischer Hybris. 

Nein: Wir selbst sind es, deren Existenz auf dem Spiel steht, wenn wir nicht sehr bald zur Besinnung kommen.

Von dieser überlebensnotwendigen Einsicht ist unsere Gesellschaft in ihrer Majorität heute aber immer noch meilenweit entfernt. Noch immer überwiegt in beängstigendem Ausmaß die Zahl derer, die jeden Versuch, die Augen der Menschen für das wahre Ausmaß der uns drohenden, selbstverschuldeten Gefahr zu öffnen, als übertrieben beurteilen und als "Panikmache" ablehnen. 

Vorerst geben in den Regierungen und bei den zuständigen Behörden, und nicht weniger bei den industriellen Produzenten, ungeachtet billiger Lippenbekenntnisse nach wie vor die überzeugten "Abwiegler" und ökologischen Bremser den Ton an.

Ein nicht ganz unbekannter Journalist fragte mich kürzlich in einer öffentlichen Diskussion ironisch, was sich denn in den zurück­liegenden Jahren in unserer Gesellschaft eigentlich so grundlegend geändert habe, daß ich daraus allen Ernstes den Schluß zöge, wir schwebten nunmehr plötzlich in Gefahr. Hören wollte er von mir natürlich das Eingeständnis: Nichts, nichts Grundlegendes habe sich verändert, womit er mich in Verlegenheit zu bringen gedachte. 

Trotz seiner überdurchschnittlichen journalistischen Erfahrung hatte auch dieser Mann also noch nicht verstanden, daß es gerade dieses Nichts ist, eben das Ausbleiben einer grundlegenden Veränderung (des gesellschaftlichen Kurses zum Beispiel), das die Gefahr ständig größer werden läßt. Denn ungeachtet der allen Prognosen unvermeidlich anhaftenden Unsicherheit läßt eine Voraussage sich mit absoluter, mit buchstäblich tödlicher Sicherheit machen: 

Wir alle, unsere ganze Gesellschaft, wären zum Untergang verurteilt, wenn wir uns weiterhin blind stellen sollten angesichts der von Jahr zu Jahr an Zahl zunehmenden Alarmsignale und unbelehrbar so weitermachten wie bisher. Auch der Zusammenbruch der menschlichen Zivilisation könnte gerade deshalb möglich werden, weil es noch immer viel zu viele Menschen gibt, die ihn für unmöglich halten. 

*

Wenn mir vor dreißig Jahren, 1957, in einer Zeit also, an die sich die Älteren von uns sehr gut erinnern, wenn mir damals jemand gesagt hätte, daß eine Zukunft vor mir liege, in der unsere Flüsse und Seen so sehr mit toxischen Substanzen und Abwässern verschmutzt sein würden, daß man in ihnen nicht mehr würde baden können, in der das Trinkwasser in mehr als der Hälfte der deutschen Haushalte als "für Babys ungenießbar" betrachtet werden müsse, in der die Schadstoffbelastung der Luft für Menschen und Bäume schon das bloße Atemholen zum Gesundheitsrisiko machen werde — wenn jemand mir das damals gesagt hätte, ich hätte es ihm nicht geglaubt. 

Und wenn ich es ihm geglaubt hätte, dann hätte ich ihm ganz gewiß voller Entsetzen versichert, daß ich in einer solchen Zukunft und auf einer solchen Erde nicht würde leben wollen. Aber schon heute, nur dreißig Jahre später, leben wir alle in einer solchen Zeit und auf einer derart zugerichteten Erde. Und soweit ist es nicht zuletzt deshalb gekommen, weil niemand von uns, als noch Zeit zur Umkehr gewesen wäre, daran glauben wollte, daß es jemals soweit würde kommen können. 

Aber trotzdem finden nun auch heute noch die allermeisten Menschen die Situation eigentlich recht gemütlich. Sie sehen nach wie vor nicht den geringsten Grund, am bisherigen Kurs unserer Gesellschaft — der ja in der Vergangenheit unbestreitbar höchst erfolgreich gewesen ist — irgendwelche, geschweige denn radikale Korrekturen vorzunehmen. 

Fürwahr, wenn die menschliche Gesellschaft eines nicht allzu fernen Tages dem ökologischen Kollaps zum Opfer fiele, wäre als Todesursache ein lebens­bedrohlicher Mangel an Phantasie, an Vorstellungs­kraft, anzuführen.

Was läßt sich tun, um diesem Ausgang der Geschichte noch beizeiten einen Riegel vorzuschieben? 

Die Antwort liegt auf der Hand (und sie klingt zunächst auch höchst banal): Aufklärung tut not. Was nichts anderes heißt, als daß der Versuch dringlich ist, der besorgniserregend unterentwickelten menschlichen Vorstellungs­kraft auf die Sprünge zu helfen. Es gilt, ihre Besitzer ausreichend zu motivieren, die drohende Gefahr mit Hilfe der Phantasie vorwegzunehmen. Dies hat so anschaulich zu geschehen, daß die dabei gewonnene Erfahrung den Entschluß auslöst, wirksame Gegenmaßnahmen zu ergreifen, bevor die Katastrophe unwiderruflich eingetreten ist.

Das Rezept ist weiß Gott nicht neu. Das Schlimme ist nur, daß es, seines einleuchtenden Charakters ungeachtet, im Bewußtsein der Menschen bisher noch immer viel zuwenig in Bewegung gesetzt hat. 

Wer sich ökologisch engagiert, macht im Laufe der Zeit unweigerlich eine frustrierende Erfahrung, über die sich schon Bertrand Russell resigniert beklagte: Er gewinnt den Eindruck, daß es unerwartet schwierig zu sein scheint, die Menschen dazu zu überreden, dem eigenen Überleben zuzustimmen. 

Woran liegt das?

Spätestens an diesem Punkt kommt in aller Regel die Rede auf den von bestimmten Interessengruppen ausgehenden massiven, mit allen Mitteln moderner PR-Strategien geleisteten Widerstand. 

Ohne jeden Zweifel gibt es in der Industriegesellschaft die bekannten, mächtigen Gruppierungen, die in unbeirrtem Egoismus den eigenen Vorteil mehr oder weniger ungeniert dem Allgemeinwohl überordnen. Aber genügt diese Feststellung allein wirklich, um die generelle ökologische Lernunfähigkeit unserer Gesellschaft zu erklären? 

Bliebe dann etwa nicht immer noch unerklärt, um nur ein einziges Beispiel zu nennen, warum die Repräsentanten dieser Gruppen eigentlich so erfolgreich jeden Gedanken daran zu verdrängen vermögen, daß die Welt, die sie ihres kurzfristigen Vorteils wegen zu ruinieren im Begriff sind, schließlich die gleiche Welt ist, in der auch sie selbst und ihre Kinder werden überleben müssen?

Ich glaube daher, daß der beklagenswerten Wirkungslosigkeit der meisten Bemühungen um ökologische Aufklärung auch eine Besonderheit der menschlichen Psyche zugrunde liegt: Die Wahrnehmungswelt des Menschen ist ganz offensichtlich so strukturiert, daß abstrakte Argumente und verbale Informationen jene Tiefenregion unserer Psyche gar nicht erreichen, in der das Fundament unserer grundsätzlichen Einstellungen und Wertmaßstäbe gelegen ist. 

Auch diese Vermutung ist keineswegs neu. In dem überindividuellen Wissensbestand unserer sprachlichen Tradition hat sie längst ihren Niederschlag gefunden. Im Volksmund etwa in Gestalt der bekannten Redewendung, die besagt, daß das, was zu dem einen Ohr hereinkommt, den Kopf im allgemeinen auf dem kürzesten Wege, nämlich dem durch das andere Ohr, umgehend wieder zu verlassen pflegt.

Hinsichtlich dieser Eigentümlichkeit des menschlichen Rezipienten fällt nun aller nicht sprachlich, sondern optisch dargebotenen, aller bildlichen Information also, unbestreitbar eine Sonderrolle zu. Was mit Hilfe der Augen erst einmal Eingang in den menschlichen Kopf gefunden hat, verläßt diesen so bald nicht wieder. Es ist dies, wie ich hier nicht mehr im einzelnen begründen kann, auf jene Besonderheit der menschlichen Konstitution zurückzuführen, die ein naturwissenschaftlicher Anthropologe meint, wenn er davon spricht, daß der Mensch ein "Augentier" sei.

Dies gilt insbesondere für jedwede Simulation der Wirklichkeit mit bewegten Bildern, mit den Mitteln des Films also. Er läßt auf der Fläche einer Leinwand oder eines Bildschirms eine Wirklichkeit entstehen, deren virtuellen Charakter unsere Ratio zwar zu durchschauen vermag, die von unserer Vorstellung jedoch bereitwillig quasi als die bare Münze eigenständiger Realität akzeptiert wird. 

Aus diesem Grunde stellt in der beschriebenen Situation der Film die Ultima ratio der ökologischen Aufklärung dar, das letzte Mittel, an das sich die Hoffnung knüpfen läßt, die Köpfe der Zeitgenossen vielleicht doch noch rechtzeitig, in letzter Stunde, zum Nachdenken anstiften zu können. 

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 (1987)

     

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Die Sterne leuchten,  auch wenn wir sie nicht sehen (1994) Über Wissenschaft, Politik und Religion - Schriften 1947-1988  - Hoimar von Ditfurth