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4. Einer muss der Bluthund sein     Der demokratische Sozialismus an der Macht

 

 

 

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Im Juni 1919, nur wenige Monate nach dem Ende der deutschen Revolution, nachdem Luxemburg und Liebknecht ermordet und die letzten Unruhen nieder­geschlagen waren, erklärte der Sozialdemokrat Otto Wels auf dem SPD-Parteitag in Weimar im Rechenschaftsbericht des Parteivorstands:

»Wir können nicht sagen, wir haben die Revolution <gemacht>, aber wir sind nicht ihre Gegner gewesen. Wir sahen sie kommen und beginnen. Wir glauben nicht, dass die geschichtliche Forschung einst von der <Revolution vom 9. November> sprechen wird. Man wird sie die Revolution des Kapitalismus nennen und ihre Anfänge zumindest in die Zeit von 1914 verlegen. Der Weltkrieg wird als Revolution betrachtet werden, als Revolution des Kapitalismus, dem sein Kleid zu eng geworden ist und der es mit Gewalt gesprengt hat. (...) Die Revolution ist überhaupt nicht gemacht und am wenigsten in Berlin gemacht worden, von Berlin, das nach Kiel, Hamburg und anderen Orten in die Revolution eingetreten ist.«

In der Tat, die SPD hatte die Revolution nicht gemacht. Dies nicht, weil sie, wie weiland Kautsky im Vertrauen auf die Gesetze der Geschichte erklärt hatte, keine Revolution machende Partei sei. Sondern vielmehr, weil die SPD die Revolution, als sie ausbrach, nicht wollte. Rechte Sozialdemokraten legten stattdessen Wert darauf, die Monarchie fortzusetzen.

 

»Nachdem alle Herren versammelt waren, besprach zunächst Ebert die Lage in kurzen Ausführungen. Es sei jetzt nicht die Zeit, nach dem Schuldigen für den allgemeinen Zusammenbruch zu suchen. Die allgemeine Stimmung im Volke sähe aber im Kaiser den Schuldigen, ob mit Recht oder Unrecht, sei jetzt gleichgültig. Die Hauptsache sei, dass das Volk den vermeintlichen Schuldigen an dem Unglück von seinem Platz entfernt sehen wolle. Daher sei die Abdankung des Kaisers, wenn man den Übergang der Massen in das Lager der Revolutionäre und damit die Revolution verhindern wolle, unumgänglich notwendig. Er schlage vor, dass der Kaiser noch heute, spätestens morgen, freiwillig seine Abdankung erkläre und einen seiner Söhne, vielleicht den Prinzen Eitel Friedrich oder Prinz Oskar, mit der Regentschaft betraue. Der Kronprinz sei im jetzigen Augenblick <unmöglich>, da er bei den Massen zu verhasst wäre. General Groener erwiderte kurz und scharf, dass von einer Abdankung des Kaisers nicht die Rede sein könne. Im jetzigen Augenblick, wo die Armee noch im letzten schweren Ringen mit dem Feinde stünde, sei es unmöglich, ihr den Obersten Kriegsherrn und damit den autoritativen Halt zu nehmen. Solange wir noch im Kampfe mit dem äußeren Feinde stünden, müssten die Interessen der Armee allem anderen vorangestellt werden. Er lehne es daher auf das allerentschiedenste ab, in der Abdankungsfrage irgendeinen Schritt zu unternehmen oder wohl gar dem Kaiser Derartiges vorzutragen.

Die Abgeordneten David und Südekum versuchten daraufhin, General Groener nochmals in eindringlichen Worten die Notwendigkeit der Abdankung klarzumachen. Beide erklärten, sie seien keineswegs Gegner der Monarchie an sich, und dieser Schritt würde in keiner Weise die Abschaffung der Monarchie bedeuten. Große Teile der deutschen Sozialdemokratie würden sich mit der monarchischen Staatsform bei einem parlamentarischen System durchaus abfinden. Während der fast akademisch gehaltenen Ausführungen des Abgeordneten David war der Staatssekretär Scheidemann ans Telefon gerufen worden. Nach wenigen Minuten kam er kreidebleich, vor Aufregung am ganzen Körper zitternd, wieder herein und unterbrach den Abgeordneten David mit den Worten:

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<Die Abdankungsfrage steht jetzt gar nicht mehr zur Diskussion. Die Revolution marschiert. Eben habe ich die Nachricht erhalten, dass zahlreiche Kieler Matrosen in Hamburg und Hannover die staatlichen Machthaber festgenommen und die öffentliche Gewalt an sich gerissen haben. Das bedeutet: Die Revolution!> Er schloss mit den Worten: <Meine Herren, jetzt gilt es nicht mehr zu diskutieren, jetzt gilt es zu handeln. Wir alle wissen nicht, ob wir morgen noch auf diesen Stühlen sitzen werden.> 

Dem aufgeregten Scheidemann gegenüber blieb Ebert jedoch von unerschütterlicher Ruhe. Er erklärte, noch sei nichts entschieden. Was die Frage der Monarchie anbeträfe, so seien er und Scheidemann im Gegensatz zu den übrigen Herren zwar überzeugte Republikaner, aber die Frage: Monarchie oder Republik habe vorläufig für sie nur eine theoretische Bedeutung. In der Praxis würden auch sie sich mit der Monarchie mit parlamentarischem System abfinden. Er rate daher dem General Groener dringend, die letzte Gelegenheit zur Rettung der Monarchie zu ergreifen und die schleunige Beauftragung eines der kaiserlichen Prinzen mit der Regentschaft zu veranlassen. Der Abgeordnete Südekum unterstützte die Ausführungen Eberts mit bewegten Worten, und mit Tränen in den Augen und mit leidenschaftlicher Stimme beschwor er den General Groener, auf den Ebert'schen Vorschlag einzugehen, sonst stünde eine furchtbare Katastrophe bevor, >deren Folgen keiner von uns heute absehen könne<.«

Aus einem Gespräch des Generals Wilhelm Groener (Oberste Heeresleitung) mit Vertretern der SPD-Reichstagsfraktion und der Generalkommission der Gewerkschaften. Auszug aus den Erinnerungen des Oberst Hans von Haeften, 1918

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Als Philipp Scheidemann im November 1918 die Republik ausrief, zog er sich einigen Ärger zu, vor allem von seinem Parteivorsitzenden. Scheidemann berichtete später: 

»Ebert war vor Zorn dunkelrot im Gesicht geworden, als er von meinem Verhalten hörte. Er schlug mit der Faust auf den Tisch und schrie mich an: <Ist das wahr?> Als ich ihm antwortete, dass es nicht nur wahr, sondern selbstverständlich gewesen sei, machte er mir eine Szene, bei der ich wie vor einem Rätsel stand. <Du hast kein Recht, die Republik auszurufen! Was aus Deutschland wird, ob Republik oder was sonst, das entscheidet eine Konstituante [also eine verfassunggebende Nationalversammlung; C. D.]!>«

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Ebert hasste nichts mehr als die Revolution, die ihn doch in höchste Ämter bringen sollte. Zuvor hatte er alles getan, um zu verhindern, dass das Kaiserreich zusammenbrach. Überliefert ist seine berühmte Äußerung gegenüber dem letzten kaiserlichen Reichskanzler, Prinz Max von Baden: »Wenn der Kaiser nicht abdankt, dann ist die soziale Revolution unvermeidlich. Ich aber will sie nicht, ja, ich hasse sie wie die Sünde.« Der Kaiser sollte abdanken, um die Monarchie zu retten. Ein bemerkenswertes Verständnis sozialdemokratischer Politik, das sich nicht erst in den Tagen des »Kriegssozialismus« herausgebildet hatte.

Der Krieg, den Ebert und die anderen rechten Sozialdemokraten unterstützt hatten, war im Oktober 1918 längst militärisch verloren. Es waren nicht die Sozialdemokraten, die den Frieden erzwangen, sondern Franzosen, Briten und US-Amerikaner. Als deren Truppen vor einem entscheidenden Durchbruch durch die deutsche Westfront standen, drängten Hindenburg und Ludendorff, des Kaisers oberste Kriegsherrn, auf einen sofortigen Waffenstillstand. Es war nicht die Revolution, die den Krieg beendete, sondern die Überlegenheit der Feinde des Deutschen Reichs. Die Sozialdemokraten wurden von dieser Wendung genauso überrascht wie die Reichsleitung. 

Bis zuletzt hatte nicht nur der Vorsitzende der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, Scheidemann, seine Genossen in den Schützengräben der Westfront zum Siegen aufgemuntert. Ebert hatte sich zusammen mit Scheidemann und anderen im Januar 1918 von für den Frieden streikenden Arbeitern in den Berliner Arbeiterrat wählen lassen, um »den Streik zum schnellsten Abschluss zu bringen«, wie er später erklären sollte. Und Philipp Scheidemann erinnerte sich: »Wenn wir nicht in das Streikkomitee hineingegangen wären, dann wäre der Krieg und alles andere nach meiner festen Überzeugung schon im Januar erledigt gewesen. (...) Durch unser Wirken wurde der Streik bald beendet und alles in geregelte Bahnen gelenkt. Man sollte uns eigentlich dankbar sein.«

Aber nun, Ende September 1918, war alles umsonst. Die Übermacht der Feinde war so groß, dass sich kein General mehr fand, der an einen deutschen Sieg oder ein Remis glauben wollte. 

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Das hinderte die Herren des Militärs und die politischen Nachfolger der Kaisertreuen nicht daran, die Dolchstoßlegende in die Welt zu setzen. Demnach seien die deutschen Soldaten »im Felde unbesiegt« und nur durch den Verrat an der Heimatfront um den Erfolg gebracht worden. Ebert und Scheidemann trugen ihren Teil dazu bei, dass die Dolchstoßlüge in die Welt gesetzt werden konnte. Als die heimkehrenden Fronttruppen am 10. Dezember 1918 in Berlin, am Brandenburger Tor, von den Volksbeauftragten empfangen wurden, erklärten die beiden mehrheitssozialdemokratischen Oberhäupter den Soldaten: »Kein Feind hat Euch überwunden!« Da stellte sich die Frage, warum Deutschland den Krieg verloren hatte.

 

  Eine komische Revolution  

Tatsächlich hatten der Hunger und die offenkundige Aussichtslosigkeit, den Krieg zu gewinnen, viele Deutsche von ihrer Kriegsbegeisterung geheilt. Es wuchs die Einsicht, dass Millionen deutsche Soldaten einen sinnlosen Tod starben. Das Massenschlachten des ersten Maschinenkriegs fraß sich tief in die Gemüter ein, so tief, dass nach 1918 viele Deutsche ernsthaft glaubten, es werde nie wieder Krieg geben. Das auch militärisch sinnlose Ausbluten der französischen und deutschen Armeen bei Verdun symbolisierte den Wahn dieses Weltkriegs. Der Krieg von 1870/71, in dem das Deutsche Reich begründet wurde, war ein heroischer Spaziergang im Vergleich zum Irrsinn des millionenfachen Sterbens in den Schützengräben der Westfront.

Kein Wunder also, dass in der Heimat die Unzufriedenheit wuchs. Die Konzentration aller Anstrengungen auf die Rüstungsindustrie und die Blockade Deutschlands durch seine Feinde verschärften die Versorgungsmängel. Die Hungerwinter des Weltkriegs beschäftigten die Deutschen noch jahrzehntelang. Katastrophale Arbeitsbedingungen mündeten in Streiks, auch in der Munitionsindustrie. Und immer mehr Soldaten sahen nicht mehr ein, warum sie in erfolglosen Offensiven verheizt werden mussten.

Aber die Missstimmung reichte nicht für eine Revolution, schon gar nicht in Deutschland. Es brauchte noch einen kräftigen Zündfunken. Der wurde in Kiel geschlagen. Dort hatte die kaiserliche Admiralität die gewaltige deutsche Flotte zusammengezogen. 

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Sie hatte sich, sieht man von den U-Booten ab, im Krieg als nutzlos erwiesen, zu groß war die Übermacht der britischen Seestreitkräfte gewesen. Zu dem Zeitpunkt aber, als der Krieg verloren war und das deutsche Waffenstillstandsgesuch bei den Alliierten lag, wollten die Admirale zur letzten Schlacht in die Nordsee auslaufen. Davon waren zumindest die Matrosen überzeugt, als Manöver in der Nordsee befohlen wurden. Die Seeleute aber hatten nicht die Absicht, der britischen Flotte das letzte Gefecht zu liefern und sich für die zweifelhafte Ehre der deutschen Kriegsmarine zu opfern. Sie löschten die Feuer unter den Kesseln. Daraufhin verhafteten die Offiziere so genannte Rädelsführer. Aber die Matrosen ließen sich nicht mehr einschüchtern, sondern erhoben sich und gründeten in Kiel einen Arbeiter- und Soldatenrat. Dessen erste Forderung war: Befreiung der gefangenen Matrosen. Diese Forderung setzten sie durch. Sie entwaffneten die Offiziere und rissen ihnen die Schulterstücke ab.

Wie ein Flächenbrand raste die Revolution von Kiel aus erst an der Küste entlang, dann durch ganz Norddeutschland, bis sie am 9. November Berlin erreichte. Die Arbeiter streikten und demonstrierten gegen den Kaiser und seine Generäle, und die Soldaten, die die Arbeiter zurückschlagen sollten, verweigerten den Befehl. Daraufhin übergab der letzte durch den Kaiser ernannte, aber von der SPD gestützte Reichskanzler, Prinz Max von Baden, sein Amt an Friedrich Ebert weiter. Der Kaiser wurde zur Abdankung veranlasst. Deutschlands erster sozialdemokratischer Reichskanzler warnte die Deutschen als Erstes vor Unruhe und Bürgerkrieg. Noch am Abend des 9. November wurde in Berlin beschlossen, die Arbeiter- und Soldatenräte der Hauptstadt für den nächsten Tag zusammenzurufen. Ebert forderte die USPD auf, in eine gemeinsame Regierung einzutreten, diese nannte sich »Rat der Volksbeauftragten«, was nicht zufällig an den »Rat der Volkskommissare« erinnerte, der in Sowjetrussland von Lenin geleitet wurde.

Die Stimmung in Berlin und in weiteren Großstädten stand auf Sturm, und Ebert wusste, dass eine Regierung ohne Unabhängige Sozialdemokraten keine ausreichende Massenbasis gehabt hätte. Ebert hätte sogar Karl Liebknecht vom Spartakusbund in die Regierung aufgenommen. Aber der forderte von seiner Partei, der USPD, dass alle Macht an die Arbeiter- und Soldatenräte übertragen werden solle. Dazu waren die USPD-Führer am 10. November nicht bereit. 

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Sie wollten sich noch nicht festlegen. Die Partei war zerrissen zwischen den gemäßigten Zentristen um Haase und den Linken um Liebknecht und Emil Barth, der der kleinen, aber aktiven Gruppe »Revolutionäre Obleute« angehörte. Barth wurde in den Rat der Volksbeauftragten geschickt. Im Rat saßen nun die Mehrheitssozialdemokraten Ebert, Scheidemann und Landsberg sowie die Unabhängigen Haase, Dittmann und Barth.

Sieht man von Barth ab, so bestand der Rat, der die Revolution zu Ende bringen sollte, aus altbekannten Vertretern der klassischen Sozialdemokratie. Zwischen zentristischen Unabhängigen wie dem ehemaligen SPD-Vorsitzenden Haase und rechten Mehrheitssozialdemokraten gab es keine Gräben mehr. Allerdings mussten Haase und Dittmann Rücksicht nehmen auf eine starke linke Mehrheit in ihrer Partei. So klangen USPD-Verlautbarungen immer etwas revolutionärer als die Erklärungen der SPD.

Es war eine komische Revolution. Als der Kaiser abgedankt hatte und die Republik ausgerufen war, war alles Wesentliche geschehen. Von vornherein drängten SPD und Teile der USPD auf die Selbstentmachtung der Arbeiter- und Soldatenräte. Etwas anderes als den gewohnten Parlamentsbetrieb konnten Ebert, Scheidemann und Haase sich nicht vorstellen. Sie fürchteten nichts mehr als »russische Verhältnisse«, als den Umsturz der bürgerlichen Gesellschaft. So erinnerte die deutsche Revolution in ihrer Begrifflichkeit an ihre russische Vorläuferin, aber in Wahrheit hatte sie nicht viel mit ihr zu tun. Zumindest nicht mit Lenins Putsch im Oktober, eher schon mit dem Zarensturz im Februar 1917, als sich in Erinnerung an die erste Erhebung 1905 wieder Räte als Organe der revolutionären Massen herausgebildet hatten. Im Oktober 1917 gab es keine Massenerhebung, so wenig wie im Januar 1919 in Deutschland, als die Spartakisten gegen den Rat Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts den Aufstand probten, um von den kaiserlichen Generälen unter dem Oberbefehl des Mehrheitssozialdemokraten Gustav Noske zusammen­geschossen zu werden.

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  Novemberverräter  

Es ist müßig, zu spekulieren. Und doch soll angedeutet werden, dass der Einfluss der sozialdemokrat­ischen Führer auf die eigene Anhängerschaft gereicht hätte, um die Massen zur Fortsetzung der Revolution zu veranlassen. Die enormen Anstrengungen Eberts und seiner Genossen, die Revolution zu bremsen und schließlich zu stoppen, zeugen von der gesellschaftlichen Kraft, die losgetreten worden war. Hätten die Sozialdemokraten — SPD und USPD — die soziale Revolution, von der sie jahrzehntelang fabuliert hatten, wirklich gewollt, sie hätten sie vollenden können. So kam es erst siebzig Jahre später zur ersten siegreichen Revolution in Deutschland, als nämlich die Menschen in Ostdeutschland die SED-Diktatur stürzten.

Die Historiker werden nie aufhören zu streiten, ob die Novemberrevolution abgeschlossen, unvollendet oder stecken geblieben sei. Ein Fazit hängt ab von der Perspektive. Haben Revolutionen eigene innere Gesetze, die sich durchsetzen müssen, sodass man bemessen kann, ob sie abgeschlossen sind oder nicht? Haben Revolutionen objektive Aufgaben? Hatte die deutsche Revolution von 1918/19 eine Aufgabe? Und wenn ja, welche? Vollendete der Oktoberaufstand in Russland die russische Revolution? Welches Maß man auch anlegt, es bleibt das Maß des Bewertenden.

Bei aller Skepsis, die deutsche Revolution erreichte einiges, gerade wenn man bedenkt, dass ihre Führer sie nicht wollten. Aber gemessen an den Anforderungen leistete sie zu wenig. Sie beließ den staatlichen Machtapparat fast unverändert. Sie behandelte die Militärs von gleich zu gleich, statt sie sich zu unterwerfen oder sie in die Wüste zu schicken. Die Sozialdemokratie nahm nachhaltig Schaden, als sie im Verbund mit des Kaisers Generälen die Unruhen in Berlin niederschlug. Ebert und Genossen hätten wenigstens eine radikale Demokratisierung durchsetzen müssen.

Aber nun ließ sich die Republik vom kaiserlichen Militär dazu benutzen, einen Waffenstillstand zu vereinbaren, den ihr diese Militärs und die ihnen nahe stehenden Kräften aufgezwungen hatten. Statt eines katastrophalen Siegfriedens bescherten diese Herren Deutschland eine katastrophale Niederlage. Es ist ein Hohn, dass die wenigen Republikaner von Weimar als »Novemberverräter« beschimpft wurden, wohingegen die feigen Generäle göttergleiche Verehrung genossen. 

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Es war der Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg, des Kaisers oberster Krieger, der gleich nach dem Krieg das Gift vom Dolchstoß in die Welt setzte. Nur wenige Jahre nach dem voreiligen Abschluss der Revolution wird dieser Hindenburg zum Aushängeschild der Sozialdemokratie gegen Hitler werden, um diesen schließlich doch an die Macht zu bringen.

Mitverantwortlich dafür sind die Sozialdemokraten, die die Möglichkeiten der Revolution nicht genutzt haben. Kurt Tucholsky schrieb über Ebert: »Dass er die Revolution des Vierten Standes nicht machen konnte, mag sein geschichtliches Verhängnis gewesen sein. Dass er nicht einmal die des Dritten gemacht hat, ist seine Schuld.«

 

20. Dezember 1999. Gestern Abend war ich in Lübeck. Im Rathaus gab es eine Prognose und Hochrechnungen zur Bürgermeisterstichwahl. Auf der Fahrt zum Rathaus sah ich Plakate der SPD mit der Aufforderung, Bernd Saxe zu wählen, weil er in Lübeck zu Hause sei. Dämliche Begründung. Saxe hat die Wahl gewonnen, weil Helmut Kohl als CDU-Vorsitzender eine schwarze Kasse geführt hat. Das nennt die Landes-SPD nun eine »Trendwende«. Heide Simonis war auch im Rathaus und erklärte, die SPD-Politik sei gut, es seien am Anfang aber zu viele »handwerkliche Fehler« gemacht worden. Es ist erstaunlich: Wo viele Genossinnen und Genossen zu Recht eine soziale Schieflage entdeckten, gibt es jetzt nur noch »handwerkliche Fehler«. Gut, Heide Simonis kämpft um ihren Ministerpräsidentinnenjob. Aber der Richtungsstreit in der SPD lässt sich so nicht beerdigen. Das aber wird kräftig versucht. Auf dem gerade vergangenen Parteitag in Berlin machte die Linke folgsam den Kotau. Ex-Bundesgeschäftsführer Ottmar Schreiner, von Schröder aus dem Amt gemobbt, hatte noch vor kurzem auf einem Regionalparteitag im Saarland den Mangel an sozialer Gerechtigkeit beklagt. Aber auf dem Bundesparteitag bescheinigte er der Regierung, dass ihre Politik sozial ausgewogen sei. Der Jusovorsitzende Benjamin Mikfeld hatte mehr mit seiner frisch ondulierten Elvistolle zu kämpfen als mit Schröder, was aber seine Pflicht gewesen wäre. Nur die Ex-Jusovorsitzende Andrea Nahles gab sich kritisch, wenn auch defensiv. 

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Der SPD-Oberlinke im Bundestag, Detlev von Larcher, frisst schon seit Wochen Kreide. Ob links, ob rechts — alle wollen an der Macht bleiben. Und deswegen reduzieren sich die politischen Unterschiede auf Symbole. Die einen sind für eine Vermögenssteuer (oder -abgabe), die anderen dagegen. Als Beruhigungspille sollen vielleicht Erbschaften stärker besteuert werden. Als würde dies auch nur ein Jota ändern an der Umverteilung zugunsten der Reichen. Die wird demnächst noch einmal richtig beschleunigt, wenn die Unternehmenssteuerreform kommt.

Revolutionen haben keine objektiven Aufgaben, aber Möglichkeiten — so, wie die Geschichte fast immer Alternativen bietet. Die deutsche Revolution sah mit der Mehrheitssozialdemokratie eine Partei in der Führung, die sich schon so stark an die Kastration in der Kaiserzeit gewöhnt hatte, dass sie nicht mehr in der Lage war zu gestalten. Arthur Rosenberg, der Chronist der Weimar Republik, schreibt treffend:

»Aber die deutsche Revolution, die Erhebung der friedensbedürftigen Sozialpolitiker, hat keinen Cromwell, keinen Carnot und keinen Trotzki hervorgebracht. In den großen Revolutionen der Weltgeschichte haben die neuen Führer sich zugetraut, auf dem Schlachtfeld zu siegen. Die Männer der deutschen Revolution von 1918 glaubten nicht einmal, dass sie ohne Hilfe der kaiserlichen Generäle die Truppen nach Hause bringen könnten.«

Im Juni 1920 sagte Reichswirtschaftsminister Rudolf Wissell in einem Rückblick auf die Revolution:

»Trotz der Revolution sieht sich das Volk in seinen Erwartungen enttäuscht. Es ist nicht das geschehen, was das Volk von der Regierung erwartet hat. Wir haben die formale politische Demokratie weiter ausgebaut, gewiss, aber wir haben doch nichts anderes getan, als das Programm fortgeführt, das von der kaiserlich-deutschen Regierung des Prinzen Max von Baden schon begonnen worden war. Wir haben die Verfassung fertig gestellt ohne tiefere Anteilnahme der Bevölkerung. Wir konnten den dumpfen Groll, der in den Massen steckt, nicht befriedigen, weil wir kein richtiges Programm hatten. (...)

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Wir haben im wesentlichen in den alten Formen unseres staatlichen Lebens regiert. Neuen Geist haben wir diesen Formen nur wenig einhauchen können. Wir haben die Revolution nicht so beeinflussen können, als dass Deutschland von einem neuen Geist erfüllt erschiene. Das innere Wesen der deutschen Kultur, das gesellschaftliche Leben, erscheint wenig verändert. Vielfach nicht zum Besseren. Und das Volk glaubt, dass die Errungenschaften der Revolution lediglich negativen Charakter haben, dass an die Stelle einer militärischen und bürokratischen Herrschaft einzelner nur eine andere getreten ist und dass sich die Regierungsmaximen im Wesen nicht von denen des alten Regimes unterscheiden. (...) Ich glaube, die Geschichte wird, wie über die Nationalversammlung, auch über uns in der Regierung hart und bitter urteilen.«

Die Geschichte urteilt nicht, aber die Historiker werten. Im Fall der Weimarer Republik ist es sinnvoll, ihre Tauglichkeit als Demokratie angesichts ihrer Gefährdungen zu beurteilen. Eine Demokratie ist so stark wie ihre Verwurzelung im Volk. 1920, als die Rechte im Bunde mit Teilen der Reichswehr im so genannten Kapp-Putsch zum ersten Mal nach der Macht griff, schlug die Arbeiterbewegung ihre schlecht organisierten Feinde zurück, die Regierung des Sozialdemokraten Gustav Bauer aber hatte sich fast schon in ihr Schicksal ergeben und war über den Umweg Dresden nach Stuttgart geflohen. Die Reichswehr weigerte sich, der Demokratie zu Hilfe zu eilen. Berühmt geworden ist die von General Hans von Seeckt, Leiter des Truppenamts, ausgegebene Parole: »Reichswehr schießt nicht auf Reichswehr.« Zum Dank machte ihn die sozialdemokratisch geführte Regierung anschließend zum Chef der Heeresleitung und damit zum obersten Soldaten der Republik. Erst der Generalstreik, zu dem Sozialdemokraten und mit einiger Verzögerung dann auch die Kommunisten und Unabhängigen Sozialdemokraten aufgerufen hatten, machte den Putschisten den Garaus.

Schon in der ersten großen Krise der neuen Demokratie rächte sich, dass die Sozialdemokratie darauf verzichtet hatte, auch das Militär demokratischer Kontrolle zu unterwerfen (um nicht von der nach wie vor mehrheitlich monarchistisch gesinnten Ministerialbürokratie und Justiz zu sprechen). All die Jahre gab es in Weimar eine Art Doppelherrschaft: eine zivile Regierung mit demokratischer Legitimation und eine selbst ernannte nationale oder völki-

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sche Elite, die es als ihre erste Aufgabe ansah, die Niederlage von 1918 so bald wie möglich zu tilgen. In der Sozialdemokratie hat sie dabei keinen Gegner gefunden. Ganz im Gegenteil, wir werden noch sehen, wie es den Militärs gelingen wird, auch mit Hilfe von Sozialdemokraten durchzusetzen, was sie durchsetzen wollten.

Ein Anachronismus bedeutete schon die Tatsache, dass die Reichswehr nicht nur sich selbst überwachte, sondern gewissermaßen auch Koalitionen mit der Reichsregierung einging, indem sie maßgeblich bestimmte, wer Reichswehrminister werden durfte. Sie hatte in der politischen Klasse eine starke Lobby. Hindenburgs Nachfolger Groener etwa demissionierte zwar schon 1919, besorgte dann aber die Geschäfte seines ehemaligen Arbeitgebers in hohen politischen Ämtern (Verkehrsminister, Innenminister, Reichswehrminister). Nicht einmal Seeckt, der sich den Befehlen der Regierung offen verweigert hatte, wurde zur Rechenschaft gezogen. Die Verteidigung der Republik lag von Anfang an allein in den Händen der nicht eben zahlreichen Demokraten. Die Weimarer Institutionen — Reichswehr, Justiz, Ministerialbürokratie — aber waren keine Pfeiler der Republik. Diese gefährlichen Voraussetzungen waren in einer Revolution geschaffen worden, die ihre Möglichkeiten nicht genutzt hatte. Die Verantwortung dafür tragen die Führer der Mehrheitssozialdemokraten.

 

Eberts Bündnispartner

Die Revolution von 1918 war keine sozialistische, auch wenn Karl Liebknecht wenige Stunden nach Philipp Scheidemanns Proklamation der Republik die »sozialistische Republik« ausrief und obgleich sowohl die die Revolution anführenden wie auch die sie bremsenden Kräfte sich allesamt als Sozialisten bezeichneten. Es war nicht einmal eine konsequente bürgerlich-demokratische Revolution, weil sie ihren Gegnern zentrale Bastionen überließ, ohne dazu genötigt worden zu sein. Die Monarchisten waren durch die Kriegsniederlage und den Zusammenbruch ihrer Ordnung in Ver-zweiflungs- oder Angststarre verfallen, sodass die Republikaner alles hätten durchsetzen können, wofür damals Massen mobilisierbar waren.

Alle diese und andere Unzulänglichkeiten der Politik haben

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Zeitgenossen wie auch Historiker mit einigem Recht in Friedrich Ebert personifiziert. Der Führer der SPD und erste deutsche Reichspräsident gilt gemeinhin als eher fade, biedere Gestalt, die aus dem Dunstkreis fantasieloser Zentristen stammt. Mir geht es nicht darum, Eberts Biografie zu ergänzen, sondern darum, den Versuch der Ehrenrettung, wie ihn manche sozialdemokratisch orientierte Historiker unternehmen, kritisch zu beleuchten. So hat etwa Helga Grebing darauf verwiesen, Ebert habe »als Voraussetzung und Grundlage für die Stabilität der angestrebten demokratischen Verhältnisse die gesellschaftlich-politische Kooperation von demokratischer Arbeiterschaft und freiheitlich gesonnenem Bürgertum« erkannt. Richtig ist, dass Ebert der Architekt der »Weimarer Koalition« aus Sozialdemokratie und bürgerlichen Demokraten war. Aber genauso richtig ist, dass Ebert an dem Tag, an dem er vom Berliner Arbeiter- und Soldatenrat als Mitglied der provisorischen Revolutionsregierung bestätigt wurde (10. November), eine geheime Telefonleitung zur Obersten Heeresleitung aufbauen ließ. Dort waren seine wichtigsten Verbündeten. Laut General Groener war das Ziel dieses Bündnisses »die restlose Bekämpfung der Revolution, Wiedereinsetzung einer geordneten Regierungsgewalt, Stützung dieser Regierungsgewalt durch die Macht einer Truppe und baldigste Einberufung einer Nationalversammlung«. Die Koalition zwischen dem SPD-Führer und den kaiserlichen Generälen prägte die Geschichte der Weimarer Republik erheblich kräftiger als die so genannte Weimarer Koalition.

Traditionspflege folgt eher aktuellen Bedürfnissen als dem Wunsch, Geschichte und ihre Akteure zu bewerten. Eberts Verhalten in der ungeliebten Revolution war keine Überraschung. Er zählte von Anfang an zu jenen nationalen Kräften in der Sozialdemokratie, die ihr Bündnis mit den eigenen Kriegsherren trotz aller Enttäuschungen bis zum katastrophalen Ende nie in Frage stellten. Die Feinde der sozialdemokratischen Führer waren nicht mehr die Hohenzollern und die Kapitalisten, sondern die französischen, englischen, russischen und amerikanischen Soldaten.

Am Ende aber trauten die Sozialdemokraten und die Generäle nicht einmal mehr den eigenen Soldaten. Diese galten als unzuverlässig, soweit es darum ging, die Revolutionäre niederzuwerfen. Deshalb ließ die Oberste Heeresleitung so genannte Freikorps aufstellen, Einheiten mit besonders demokratiefeindlichen Offizieren

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und Soldaten, die dann auch mit der gewünschten Rücksichtslosigkeit den Rat der Volksbeauftragten, der bald nur noch aus Mehrheitssozialdemokraten bestand, von seinen linken Feinden befreiten. Auch hier schwächte die Republik ihr Fundament, denn aus den zunächst rund 400.000 Freikorpssoldaten rekrutierte sich das Umfeld der völkischen, später nationalsozialistischen Umtriebe gegen die Weimarer Demokratie. Eines dieser unzähligen Freikorps, die so genannte Marinebrigade Ehrhardt, gehörte zu den Hauptakteuren des Kapp-Putsches 1920. Auf Bildern, die diese Söldner zeigen, erkennt man schon das Hakenkreuz.

 

Die Republik von Weimar war von Anfang an einäugig. Auf dem rechten Auge sahen ihre Verantwortlichen nichts, gab es skandalöse Urteile zugunsten der Mörder von rechts und zuungunsten der Mörder von links, wobei es die Richter auf dieser Seite mit der Beweisführung nicht so ernst nahmen. Für manche war schon die Tatsache, dass ein Angeklagter einer linken Partei angehörte, fast ein Kapitalverbrechen. Selbst wenn die Volksbeauftragten Maßnahmen im sozialistischen Sinn für übereilt hielten (in Wahrheit hatten sie damit nichts mehr im Sinn), so hätten sie wenigstens die Bastionen der Justiz und Verwaltung schleifen müssen. Selbst wenn es danach in manchen Behörden drunter und drüber gegangen wäre. Das wäre reparierbar gewesen und für die Demokratie besser, als ihre Feinde zu ihrer Zerstörung einzuladen.

Die Ebert-freundliche Helga Grebing erklärt, dass Ebert gewissermaßen hereingefallen sei auf die raffinierte Taktik der kaiserlichen Militärs. Diese hätten ihn und seine Partei gegen deren Willen benutzt, um das Lager der Revolutionäre zu spalten. Ihr Ziel war es, einen Zipfel der Macht zu behalten. Und das gelang ihnen denn auch. Es ist keine Äußerung von Ebert überliefert, in der dieser im Rückblick diese verheerende Selbstverstrickung in die Ranküne der Generäle bedauert hat. Aber ist Ebert überhaupt hereingefallen? Ich glaube es nicht, und es lässt sich auch nicht belegen. Ebert war gewiss bieder, aber er war nicht dumm. Er war politisch gewitzt und hatte sich in den Auseinandersetzungen in der Partei durchgesetzt.

Nein, Ebert verkörpert den grundlegenden Identitätswandel der SPD, wie er sich am 4. August 1914 schlaglichtartig zeigte. Es ist die Annäherung an die herrschende Klasse in Deutschland, inklusive deren Militärs. 

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Zwischen der von Ebert vertretenen Sozialdemokratie und der Reaktion lag aus Sicht der SPD kein Graben mehr — längst vorbei die Zeiten, als man diesem System keinen Pfennig bewilligen wollte. Aus der internationalistischen Sozialdemokratie war eine nationale Partei geworden. Ihr Ziel bestand, erstens, in Ruhe und Ordnung und, zweitens, in der Einführung einer parlamentarischen Demokratie, ohne aber den Antidemokraten weh zu tun. Das große Bündnis aus dem Krieg, auch mit den Generälen, fand so seine unausgesprochene Fortsetzung.

 

Sozialisierung und Arbeiterräte

Natürlich wirkten Traditionen nach. Der Rat der Volksbeauftragten mit Ebert an der Spitze verstand sich als eine »rein sozialistische« Regierung mit einem »sozialistischen Programm«. Diese Begriffe zeigen, dass in den ersten Wochen nach dem 9. November, als der revolutionäre Flächenbrand aus Kiel Berlin erreichte, nichts populärer war als der Sozialismus. Von ihm hatten viele Menschen verschiedene Auffassungen, weil ja auch die Vorkriegssozialdemokratie sich zurückgehalten hatte beim Ausmalen des Zukunftsstaats. Der Common Sense in dieser Angelegenheit, jedenfalls in der sozialdemokratischen Mitgliedschaft, hieß »parlamentarische Demokratie plus Vergesellschaftung der Produktionsmittel«.

Sozialisierung versprachen nun auch die Führer der Mehrheitssozialdemokratie. Sie taten es, um wenigstens in Worten eine Forderung der Arbeiter zu erfüllen. Ebert erklärte aber im Januar 1919 vor der Nationalversammlung: »Sozialismus ist nach unserer Auffassung nur möglich, wenn die Produktion eine genügend hohe Stufe der Arbeitsleistung innehält. Sozialismus ist uns Organisation, Ordnung und Solidarität, nicht Eigenmächtigkeit, Egoismus, Zerstörung.« Der bedeutende USPD-Theoretiker Rudolf Hilferding — dessen Hauptwerk Das Finanzkapital Lenin zu seinen Imperialismusstudien angeregt hatte —, hatte schon zuvor auf dem Reichsräte-kongress gesprochen: »Denn wir können nur sozialisieren, wenn etwas zum Sozialisieren da ist, wenn gearbeitet wird, und wenn diese Arbeit Früchte trägt. Deswegen möchte ich Sie bitten, stets daran zu denken, dass wir die neue Gesellschaft nicht in einem Tage und nicht in einem Monat erringen können, sondern dass sie allmählich, aber in energischer fortschreitender Arbeit aufgebaut werden muss.«

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Das waren Floskeln, Mahnungen, bloß nicht vom Weg des Bündnisses aller Klassen abzugehen. Man konnte den deutschen Sozialdemokraten nach dem ersten großen Krieg viel unterstellen, aber nicht, dass sie an einem Überschuss an Fantasie litten.

Es wäre möglich gewesen, die spontan entstandenen Räte in Organe der Sozialisierung zu verwandeln. Dies hätte der Demokratie neue Kraft und neuen Schwung geben können. Nicht Verstaatlichung wäre das Gebot der Stunde gewesen, sondern die Überführung großer Industrien in gesellschaftliches Eigentum. Wären die Produzenten direkt an der Leitung der Unternehmen beteiligt worden, dann wäre auch keine neue Bürokratie entstandenen, wie sie etwa die staatssozialistischen Projekte der Bolschewiki erzeugten, sondern neue Formen einer in der Arbeiterschaft verwurzelten Demokratie. Die Sozialisierung der Grundstoffindustrien und deren Kontrolle durch gewählte und verantwortliche Räte, das wäre ein Projekt mit Perspektive gewesen.

Genauso wichtig war eine andere Aufgabe, und auch sie wurde nicht gelöst: die Enteignung der ostelbischen Großgrundbesitzer, einer wichtigen Stütze der demokratiefeindlichen Rechten. Bei den Junkern fanden nicht zuletzt die antirevolutionären Bürgerkriegstruppen Unterschlupf. Dort wurden die Fememörder alimentiert, die Erzberger und Rathenau ermordeten, weil diese für Versöhnung mit den Kriegsfeinden und eine parlamentarische Demokratie eintraten. Diese Desperados hassten mehr noch als Kommunisten »Verräter« aus dem eigenen Lager, das immer noch auf den Kaiser fixiert war.

Die Mehrheitssozialdemokraten aber verzichteten auf eine Landreform genauso wie auf die Sozialisierung der Grundstoffindustrie. In beiden Fällen lauteten die Einwände, dass dies die Versorgung der Wirtschaft und der Bevölkerung gefährden würde. Vergesellschaften könne man nur nach gründlicher Vorbereitung. Und so wurde eine Kommission gegründet, die umfassende Sozialisierungen vorbereiten sollte. Diese Kommission leistete viel Arbeit, aber sie diente vor allem dem Zweck, das dieser Arbeit zugrunde liegende Ziel auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu verschieben. Langer Rede kurzer Sinn: Die Sozialdemokraten trauten sich nicht, etwas anzupacken, was sie nie zuvor versucht hatten. Manche von ihnen hatten ja schon Furcht davor gehabt, den Kaiser als Fixstern ihres Denkens zu verlieren. 

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Es ist eine der verrücktesten Kapriolen der Geschichte: Als die Sozialdemokratie die Macht hatte, ihre zentralen, immer wieder beschworenen Ziele zu verwirklichen, bekam sie Angst vor dem eigenen Programm.

Am meisten Angst aber hatten die führenden Sozialdemokraten vor dem Chaos. Aus einer Partei, die sich auf die anonymen Gesetze der Geschichte verlassen hatte, wurde eine Partei, die jeden tief gehenden Eingriff in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft ablehnte. Die Räte waren der SPD aufgezwungen worden, den Untergang der Monarchie hatte Ebert nicht verhindern können, also hofften die Mehrheitssozialdemokraten auf eine Nationalversammlung, die mit dem Rätespuk bald Schluss machen würde.

Bemerkenswerterweise waren es Teile der alten Revisionisten um die Sozialistischen Monatshefte, die dafür plädierten, die Arbeiterräte zu erhalten, indem man sie in »Kammern der Arbeit« überführte. Sie sollten neben den Parlamenten arbeiten und die »wirtschaftliche Demokratie«, ein Schlüsselbegriff in Bernsteins Konzept, darstellen. Diese Idee hätte sich möglicherweise zusammenbringen lassen mit Ideen in der USPD, die zwar in Sachen Sozialisierung ebenfalls eher verbal aktiv war, aber die Räte neben der Nationalversammlung als Produkt der Revolution erhalten wollte. Da gab es doch einige über den mehrheitssozialdemokratischen Trott hinausweisende Vorstellungen. Aber sie scheiterten allesamt an der »Sperrminorität« politischer Fantasielosigkeit á la Ebert und Scheidemann.

 

Historisch überlegen

Philipp Scheidemann, mit genug Eitelkeit, aber unterentwickelter Stetigkeit ausgestattet für höchste Ämter, gab nach seinem Rücktritt als Ministerpräsident frustriert den Oberbürgermeister von Kassel (bis 1925), um sich danach mit dem Reichstagsmandat zu begnügen. Schuld an seinem und der Sozialdemokratie Niedergang war in Scheidemanns Augen vor allem einer: Ebert. Im Rückblick, nach dem Debakel von 1933, lamentierte er: »Für den ernsthaften Forscher liegt ganz klar zutage, wie eine große und starke Partei durch ellenbogenstarke Männer mit ungeheuerlichem Einfluss — trotz aller Demokratie — mit großem Ehrgeiz, kleinem politischen Horizont und keinem historischen Sinn zugrunde gerichtet werden kann.«

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Bei dieser Äußerung führte natürlich auch die Bitterkeit über den eigenen Karriereknick die Feder. Aber ganz Unrecht hatte er nicht. Das gilt nicht zuletzt für die Wirtschaftspolitik der Ebert-SPD. Aber die Ebert-SPD war keine grundsätzlich andere Partei als die Bebel-SPD. In seiner Geschichte der Weimarer Republik schreibt Arthur Rosenberg:

»An dem Programm der Volksbeauftragten fällt sofort seine merkwürdige Einseitigkeit auf. Die Volksbeauftragten waren gerade auf den Gebieten wirksam, auf denen auch die Interessen der alten deutschen Sozialdemokratie lagen, und sie haben dort überall versagt, wo auch die SPD vor 1914 keine ernsthafte Initiative zeigte. Sozialpolitik und Wahlrecht waren und blieben die eigentlichen Objekte sozialdemokratischer Politik, und was daneben lag, wurde entweder ignoriert oder nur zaghaft und unzulänglich angefasst. Wenn man sich den Zusammenhang zwischen der Tätigkeit der Sozialdemokratie vor 1914 und ihrer Wirksamkeit während der Revolution klarmacht, ist man vor ungerechten Urteilen über einzelne Personen gesichert. Was sich in der deutschen Revolution rächte, war die unzulängliche politische Schulung der deutschen Sozialdemokratie vor 1914. Wenn man überhaupt einen einzelnen Schuldigen suchen will, dann hätte es viel mehr historische Berechtigung, August Bebel zu nennen, als Ebert oder Scheidemann.

Die Volksbeauftragten haben bei ihren Maßregeln viel zu wenig beachtet, dass die Sozialpolitik niemals als Ding an sich im luftleeren Raum schweben kann, sondern dass ihr Erfolg von der Gesamtsituation der Wirtschaft abhängt. Die schönsten sozialpolitischen Bestimmungen nützen nichts, wenn zum Beispiel die Unternehmer nicht reich genug sind, um die Kosten der Sozialpolitik zu tragen, oder wenn der Staat zu arm ist, um seine sozialpolitischen Verpflichtungen zu erfüllen, oder wenn durch die schnellen Sprünge einer Inflation dem Arbeiter sein Lohn in der Hand entwertet wird, oder wenn gar die politische Staatsmacht von arbeiterfeindlichen Kräften erobert wird und diese die sozialpolitischen Paragraphen nach Belieben durchlöchern. Im November 1918 und in den darauf folgenden Monaten hing das Schicksal der deutschen Sozialpolitik von dem Schicksal der deutschen Wirtschaft ab, und auf dem Gebiete der Wirtschaftspolitik war die Leistung der Volksbeauftragten gleich null.«

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Die mehrheitssozialdemokratischen Volksbeauftragten hatten kein wirtschaftspolitisches Konzept. Stattdessen hofften sie, dass die Wirtschaft sich vom Krieg erholen und störungsfrei produzieren könne. Nun hatte die Sozialdemokratie schon vor 1914 kein wirtschaftspolitisches Programm, wohl aber einige wirtschaftspolitische Forderungen, wie etwa die Einführung des Achtstundentags, die der Rat dann auch gleich anordnete. Sonst aber hatte man auf die historisch unvermeidliche große Sozialisierung gebaut und sich nicht mit der Frage geplagt, was zu tun sei, wenn die Revolution sich nicht, wie sonst immer, verspätete, sondern zu früh kam — jedenfalls gemessen an der Erwartung der Sozialdemokraten. Als sie wirklich zu früh, also ungeplant und unangekündigt vom Donnergroll der Geschichte, ausbrach, befand man die kapitalistischen Betriebe, selbst die hoch konzentrierten Banken, die Kohle-, Eisen- und Stahlindustrie, nicht für reif zur Vergesellschaftung. Man müsse, so sagten Ebert, Scheidemann und Hilferding, Geduld haben. Erst wenn die Kriegsfolgen beseitigt seien und die Wirtschaft wieder in Gang gekommen sei, könne man allmählich daran gehen, das Gemeineigentum zu stärken. Sie übersahen dabei, dass der Kapitalismus seine Massenbasis nur in Krisen einbüsste, nicht in Zeiten der Hochkonjunktur, wenn die Arbeitslosigkeit gering war und die Löhne mangels einer industriellen Reservearmee stiegen. So war eine demokratische Legitimation für Sozialisierungen in Zeiten der Hochkonjunktur prekär, und in der Krise wollte die Sozialdemokratie nicht enteignen, weil dies die Versorgung gefährde. Nicht zuletzt war es zumindest naiv, zu glauben, dass in Krisenzeiten ausgesprochene Aussichten auf Enteignungen für die Hoch-Zeit des Wirtschaftskreislaufes das Kapital zu kräftigen Investitionen anregen könnten.

Betrachtet man also die wirtschaftliche Realität und die wirtschaftliche Doktrin der Sozialdemokratie seit dem Erfurter Programm, so könnte man die Schlussfolgerung ziehen, dass die Sozialdemokraten warteten, bis sich der Kapitalismus entsprechend der Voraussetzung entwickelte, die im Programm für die Vergesellschaftung genannt ist. Hätten die Führer der Partei das Programm an die Wirklichkeit angepasst, so hätten sich ihnen dazu wenigstens zwei Varianten angeboten: 

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Rosa Luxemburgs Konzept, das aktive Reformpolitik mit einem revolutionären Ziel verband. Oder Eduard Bernsteins zum Teil schon detailliert ausgearbeitete Überlegungen, den Sozialismus an die moderne Wirtschaft und Gesellschaft anzupassen. Die Parteiführung jedoch ahnte, dass die Einheit der Partei bedroht war, wenn sie die eingefahrenen Geleise verließ. Daher entschieden sich Bebel und sein Nachfolger Ebert, die heißen Kartoffeln nicht anzufassen. Die Formel lautete: Ja, wir wollen den Sozialismus mitsamt Sozialisierung, aber erst dann, wenn die Geschichte ihn auf die Tagesordnung stellt. Dies blieb den ominösen historischen Gesetzen vorbehalten, als deren Vollstrecker sich die Sozialdemokratie verstand. Aber bis die Geschichte dem Kapitalismus das letzte Stündlein schlug, waren die Sozialdemokraten gut beraten, ihre Kräfte zu sammeln, Verwerfungen zu vermeiden und sich bis zum entscheidenden Augenblick mit der Gewissheit zu trösten, die bessere, historisch wie moralisch überlegene Partei zu sein.

Aber warum nur wurden nicht wenigstens der Steinkohlebergbau und die ostelbischen Güter sozialisiert? An ihrer Wirtschaftstätigkeit hätte sich nichts geändert. Im Winter lag die Landwirtschaft ohnehin weitgehend brach. Warum konnte der Staat nicht ebenso Verwalter für die Großgüter bestimmen, wie dies ja auch etliche Junker taten, um der Öde des Landlebens nach Berlin zu entfliehen? Wie hätte es die Kohleversorgung behindern können, wenn man die privaten Leitungen des Steinkohlebergbaus durch staatliche ersetzt hätte? Auf dem Land wie unter Tage hätten die Sozialdemokraten Sozialisierung und Mitbestimmung durch Räte zustande bringen können. Ihre angeschlagene Glaubwürdigkeit wäre wenigstens teilweise wieder hergestellt worden, und der Bergbau wäre zur Bastion der Demokratie geworden.

In beiden Fällen, Steinkohlebergbau und ostelbische Güter, hätte keiner einwenden können, diese Wirtschaftszweige seien noch nicht reif für die Sozialisierung. Sie hatten den höchsten Zustand der Vergesellschaftung unter kapitalistischen Bedingungen längst erreicht, waren also gemäß der Marx'schen Theorie fällig zur Expropriation. Anhand dieser beiden Beispiele erweist sich vielmehr, dass die Sozialdemokratie in der Sozialisierungsfrage durch zwei Tendenzen geprägt war: das Programm bzw. Marx' Lehre, wie sie von den Mitgliedern begriffen wurden, und die Unfähigkeit, grund-

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legende wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen zu betreiben. Und tatsächlich zielte das sozialpolitische Programm der SPD nicht darauf, den Kapitalismus zurückzudrängen, um ihn schließlich zu überwinden, sondern darauf, den Arbeitern das Leben im Kapitalismus erträglicher zu machen.

August Bebel, Karl Kautsky, Wilhelm Liebknecht und all die anderen Köpfe der deutschen Sozialdemokratie hatten immer wieder darauf hingewiesen, dass die Sozialdemokratie keine Revolution mache. Man könne Revolutionen nicht machen, weil sie das Produkt geschichtlich gewachsener gesellschaftlicher Widersprüche seien. Nachdem die Geschichte eine Revolution auf die Tagesordnung gesetzt hatte, befassten sich die meisten Sozialdemokraten damit, ihr den Garaus zu machen. Diese Revolution entsprach nicht dem offiziellen Bild, in dem sich der Kapitalismus quasi selbst abschaffte, die Macht des Kapitals kraftlos im großen Kladderadatsch versank. Weil dem nicht so war, war die Industrie noch nicht reif zur Sozialisierung. Es mag manchem geschwant haben, dass es solche Revolutionen mit einer Selbstauflösung des Gegners nicht nur noch nie gegeben hatte, sondern auch nie geben würde. Nein, als die Sozialdemokratie ihren Sozialismus hätte durchsetzen können, rettete sie den Kapitalismus und noch einiges mehr.

Das hat aber nichts zu tun mit Verrat. Nicht weil die bisherigen staatssozialistischen Experimente alle schief gegangen sind — das hat damals niemand wissen können. Sondern weil die Sozialdemokratie längst zu einer Partei geworden war, deren zentrale Ziele Sozialpolitik und Demokratisierung waren, nicht der Sozialismus (wie immer man ihn sich vorstellte). Die Partei verfolgte in der Revolution und der sich anschließenden Republik keine anderen Ziele, als sie in all den Jahren seit 1890, dem Jahr der Aufhebung des Sozialistengesetzes, verfochten hatte. Der Sozialismus war ihr bis zum Programm von Bad Godesberg eine Ersatzreligion, in deren Licht sie die Zustände im Kapitalismus geißelte. Einzig die Sozialdemokratie hatte eine Lehre, welche die Arbeiter dereinst für alle Zeit von den Gebrechen des Kapitalismus — Armut, Arbeitslosigkeit, Ausbeutung, Krieg — erlösen würde. Wann dies geschehen würde, war unklar. Aber die Existenz dieser Religion genügte, um die SPD zu einer besseren Partei zu machen. Diese Heilslehre war so freundlich wie manch andere auch. Und sie war genauso realitätsfremd. Aber das stört die Anhänger von Glaubensgemeinschaften ohnehin nicht, sondern macht oft sogar die Anziehungskraft von Heilslehren aus.

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Bolschewisten und Sozialdemokraten

Und dann war da noch die Konkurrenz von links. Viel einflussreicher als die auffälligeren Spartakisten-Kommunisten war der linke USPD-Flügel. Allerdings konnte er keine Ikonen wie Luxemburg und Liebknecht vorzeigen. Und: Die Partei paralysierte sich selbst. Ihren linken Flügel zog es zu Lenins Bolschewisten, ihren rechten Flügel zur Ebert'schen Sozialdemokratie. Die USPD war ein Zu-fallskonstrukt des Kriegs. Aber sie war eine Zeit lang in den Augen der Zeitgenossen und auch in Wahlergebnissen nur wenig schwächer als die Mehrheitssozialdemokratie. Bei den ersten Reichstagswahlen am 6. Juni 1920 erhielt sie 18 Prozent der Stimmen (SPD: 21,6; KPD: 2) und damit 84 Mandate (SPD: 102; KPD: 4). In diesem Ergebnis, das den Sieg über die Rätebewegung markierte, standen sich zwei praktisch gleich starke Fraktionen auf der Linken gegenüber. Als aber die Republik ihre Krisen — Versailler Vertrag, Kapp-Putsch, Inflation, französisch-belgische Ruhrbesetzung — überwunden hatte, gewann die wieder vereinigte Sozialdemokratie klar die Oberhand und konnte dauerhaft einen Vorsprung von mindestens sechs Prozent verteidigen (ausgenommen die Wahlen vom November 1932, als die Nazis ihr bestes Ergebnis in freien Wahlen erzielten, genauso wie die KPD mit 16,9 Prozent gegenüber 20,4 Prozent der SPD).

Zur Konkurrenz von links gesellten sich in den Augen der SPD-Führer die Bolschewisten. Denn diese unterstützten den Spartakusbund und die Revolutionären Obleute. Nicht nur kommunistischen Arbeitern erschien die Oktoberrevolution zunächst als Fanal.

Mitte November 1918 hatte Ebert auf einer Versammlung in Wuppertal-Elberfeld den Sieg Lenins und Trotzkis begrüßt: Die deutschen Arbeiter betrachteten es als ihre »Ehrensache«, das russische Proletariat zu unterstützen. Erst nachdem Ebert Reichskanzler geworden und die Sozialdemokratie in die Regierungsverantwortung eingetreten war, verschlechterten sich die Beziehungen der Sozialdemokraten zu Sowjetrussland drastisch. 

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Im November 1918 aber schien Ebert weniger die russische Revolution als solche begrüßt zu haben als vielmehr die Tatsache, dass Lenin und Genossen für einen sofortigen Frieden ohne Vorbedingungen eintraten. Damit verließ Russland die Kriegsallianz mit England und Frankreich. Darauf hatte die Oberste Heeresleitung spekuliert, als sie Lenin und einigen Getreuen, wie dem polnisch-russischen Revolutionär Karl Radek, erlaubte, Deutschland in plombierten Eisenbahnwaggons in Richtung Russland zu durchqueren. Nicht zuletzt hatte Lenin auch deutsches Geld bekommen, um seine Revolution zu machen.

Als Lenin und Trotzki im Oktober 1917 erfolgreich in Petrograd putschten, waren sie gewissermaßen die »fünfte Kolonne« Hindenburgs. Aber im Gegensatz zur »fünften Kolonne« Francos im spanischen Bürgerkrieg bewies Lenin, dass die Heeresleitung in Berlin zu kurz gedacht hatte. Kaum war die Revolution in Deutschland ausgebrochen, tauchte Radek als Entwicklungshelfer in Berlin auf, und die sowjetrussische Botschaft half mit Geld, was sich spektakulär enthüllte, als ein Geldkoffer der Diplomaten mitten auf der Straße platzte. (Ein solcher Fauxpas sollte den sowjetischen Genossen bei ihren gigantischen Investitionen in die Weltrevolution nicht mehr passieren.)

Die Begeisterung der Mehrheitssozialdemokraten über die Revolution in Russland schwand also auch in dem Maß, wie das taktische Kalkül ausgereizt war. Als der Krieg für Deutschland verloren war, stand am Himmel das selbst geschaffene Menetekel der bolschewistischen Gefahr. Und im Land agierte als Zweig der Kommunistischen Internationale die Kommunistische Partei, ein Sprössling der Sozialdemokratie, der mit dieser in heftigste Konkurrenz geriet.

Nun verwiesen die Mehrheitssozialdemokraten auf die »russischen Verhältnisse«, um sich vom verhassten linken Bruder abzusetzen. In der Tat zerschlugen Lenin und Genossen bald alle demokratischen Institutionen, welche die Februarrevolution hervorgebracht hatte. Als die Bolschewiki gut einen Monat nach der Erhebung in Petrograd bei allgemeinen Wahlen zur Konstituante (Nationalversammlung) haushoch verloren gegen die Partei der von ihnen gestürzten Regierung und den gemäßigten Flügel der Sozialdemokratie (Menschewiki), jagten die Bolschewisten die Nationalversammlung auf ihrer Gründungssitzung auseinander. Schritt für Schritt unterdrückten und verfolgten sie gegnerische Parteien, schließlich auch ihre Bündnispartner, die Linken Sozialrevolutionäre. Nun war der Weg zur Parteidiktatur offen, vor der Rosa Luxemburg so eindringlich gewarnt hatte.

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Aber bedrohte Sowjetrussland Deutschland? Wäre es dazu überhaupt in der Lage gewesen? Richtig ist, dass Moskau sich finanziell und personell in Deutschland engagierte, um die Revolution voranzutreiben. Aber schaut man genau hin, so entdeckt man, wie kläglich die Mittel waren, die in Berlin den Petrograder Putsch neu auflegen sollten. Trotzdem ist es seit damals auch in sozialdemokratischen Kreisen Mode gewesen, vor der »sowjetischen Gefahr« zu warnen und die Kommunisten als »Filiale Moskaus« abzutun.

Wahr aber ist eher das Gegenteil. Bis ins Jahr 1919 hinein bekämpften Freikorps der Regierungen Ebert und Scheidemann die Rote Armee auf russischem Territorium. Wo sich Arbeiterräte bildeten, wurden sie mit Waffengewalt auseinander gejagt. Diese Freikorps agierten mit dem Wohlwollen der Entente, denn auch diese hatte mit dem Bolschewismus nichts im Sinn.

Noch wichtiger aber ist etwas anderes: Als das sowjetische Weltreich unterging, hatte dies weniger mit der überlegenen Militärmacht des Westens zu tun als vielmehr mit der sozialdemokratischen Durchsetzung des sozialistischen Lagers. Die »Konterrevolution auf Filzlatschen«, wie der ehemalige DDR-Außenminister Otto Winzer Willy Brandts Entspannungspolitik genannt hatte, war für die stalinistischen Machthaber viel bedrohlicher als die so teuren wie ineffizienten Versuche von Moskaus Satelliten im Westen, dort Macht zu gewinnen.

Die Bolschewistenangst der Sozialdemokratie war die alte Russenphobie in neuem Gewand. Zu Bebeis Zeiten hatte Russland als der Hort der finstersten Reaktion gegolten und angesichts der riesigen Ausmaße des Zarenreichs und der großen Zahl seiner Bewohner als stets gegenwärtige Gefahr. Da Polen zum russischen Reich gehörte, grenzte Deutschland direkt an den Furcht erregenden Koloss. Nicht zuletzt deshalb unterstützten die deutschen Sozialdemokraten ihre russischen und polnischen Genossen auch finanziell. Wie die Geldkoffer ausgesehen haben, weiß ich nicht. Aber sie hatten den gleichen Inhalt wie der geplatzte Sowjetkoffer in Berlin. Es war selbstverständlich, dass die große deutsche Sozialdemokratie, gerade nach ihrer Erfahrung mit Bismarcks Sozialistengesetz, die polni-

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schen und russischen Sozialdemokraten ideell und materiell unterstützte, mussten diese doch unter gefährlichen illegalen Bedingungen arbeiten. Aber die deutsche Sozialdemokratie hatte damals schon das gleiche Ziel wie die Reichsleitung, nämlich den Zarismus zu schwächen. Solange Revolutionen in Russland aus deutscher Sicht nützlich schienen, wurden sie von den Sozialdemokraten lauthals, von des Kaisers Getreuen klammheimlich begrüßt.

Dabei hätte der Krieg zwischen Russland und Japan (1904/05) auch den Deutschen klarmachen müssen, dass Russland ein Papiertiger war: kaum industrialisiert, mit einer vorsintflutlichen Infrastruktur und von Korruption zerfressen. Das Einzige, was in Russland funktionierte, war die Geheimpolizei, die Ochrana. Sie diente 1917 dem polnischen Sozialdemokraten Feliks Dserschinski als Vorbild, als dieser die »Außerordentliche Kommission für den Kampf gegen Konterrevolution und Sabotage«, kurz »Tscheka«, gründete, den ersten der furchtbaren Unterdrückungsapparate, deren Blutspur die folgenden Jahrzehnte durchziehen sollte. Aber die Ochrana war nicht geeignet, Krieg zu führen.

1904 und 1905 hatte das bis dahin eher belächelte Japan der Welt vorgeführt, wie eine Industriemacht einen Krieg gewann. Die Japaner hatten den Zaren und seine goldbetressten Operettengeneräle bis aufs Hemd blamiert. Die riesige russische Ostseeflotte lag auf dem Meeresgrund, bei Tsushima zusammengeschossen von den Japanern, die gerade mal drei Torpedoboote eingebüßt hatten (die Russen dagegen verloren allein acht Schlachtschiffe und neun Kreuzer!). 

Der Niederlage folgte die Revolution von 1905, Vorspiel von 1917. Auch in dieser Revolution erwies sich das Zarenreich als tönerner Koloss. Es verdankte sein Überleben allein dem Umstand, dass seine Widersacher sich nicht auf eine gemeinsame Taktik einigen konnten, die Bauernpolitiker nicht mit den Sozialdemokraten und die Sozialdemokraten nicht mit den Demokraten. Als Lehre dieser Tage entwickelten Lenin und Trotzki ihre Theorien über die Fortsetzung demokratischer Revolutionen in unterentwickelten Ländern.

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Eine schlechte Verfassung  

In der deutschen Sozialdemokratie dagegen wurde schon lange nicht mehr gelernt. In der Folge der russischen Ereignisse diskutierten Deutschlands Sozialdemokraten über die Legitimation von Massenstreiks. Aber die ganze Diskussion war ohnehin nur ein Gedankenspiel, denn als die SPD beschloss, die Frage des Massenstreiks in die Hände der Gewerkschaftsführer zu legen, hätte sie den Massen- oder Generalstreik auch gleich beerdigen können. Denn niemand glaubte, dass deutsche Gewerkschaften jemals zum Generalstreik aufrufen würden. Es hätte die Gefahr ihres Verbots heraufbeschworen und damit des Verlusts von Vermögen und Jobs, vor allem von Führungspositionen. Die Gewerkschaften waren stark geworden nach dem Jahrhundertwechsel. Sie hatten viel zu verlieren. Und deshalb wurden die Gewerkschaften politisch ohnmächtig in dem Maß, wie ihr Apparat und die Zahl ihrer Mitglieder wuchsen.

Keine Sekunde dachten die führenden deutschen Sozialdemokraten vor dem Weltkrieg über Räte nach, jenes spontane Resultat der russischen Erhebung. Räte gaben dem aktiven Teil der sich erhebenden Klassen und Schichten ein hervorragendes, unbürokratisches und, so weit dies in Revolutionen möglich ist, demokratisches Instrument an die Hand. Arbeiter- und Bauernräte, später wegen der großen Zahl Uniformierter auch Soldatenräte, gaben jenen die Möglichkeit, sich zu artikulieren und mitzubestimmen, die zuvor zum Schweigen verurteilt waren. Obwohl auf den Versammlungen der Räte Leute dominierten, die das politische Handwerk gelernt hatten, blieb allen anderen immer die Möglichkeit, ihren Willen kundzutun und durchzusetzen. Dadurch stehen Räte im Widerspruch zur jakobinischen Tradition der straff organisierten Geheimzirkel, die, trotz geringer Zahl der zur Teilnahme Befugten, durch Geschlossenheit und Organisation einen enormen Einfluss ausüben konnten. Es sollte sich nach 1917 zeigen, dass die Räte in Russland in dem Maß an Bedeutung verloren, wie die kommunistische Partei die Macht an sich riss.

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»Ja, unsere Revolution ist eine bürgerliche, solange wir mit der Bauernschaft in ihrer Gesamtheit zusammengehen. Darüber waren wir uns völlig im Klaren, das haben wir seit 1905 Hunderte und Tausende Male gesagt, und niemals haben wir versucht, diese notwendige Stufe des historischen Prozesses zu überspringen und durch Dekrete zu beseitigen. Die krampfhaften Bemühungen Kautskys, uns in diesem Punkt >bloßzustellen<, legen nur die Verworrenheit seiner Ansichten bloß und zeigen, dass er Angst hat, sich an das zu erinnern, was er 1905 geschrieben hat, als er noch kein Renegat war. Aber im Jahre 1917, seit April, lange vor der Oktoberrevolution, bevor wir die Macht ergriffen, sagten wir dem Volk offen und klärten es darüber auf, dass die Revolution nunmehr dabei nicht stehen bleiben kann, denn das Land ist vorwärts gegangen, der Kapitalismus hat Fortschritte gemacht, die Zerrüttung hat unerhörte Ausmaße angenommen, und das erfordert (ob man es will oder nicht) weitere Schritte vorwärts, zum Sozialismus hin. Denn anders vorwärts zu kommen, anders das durch den Krieg erschöpfte Land zu retten, anders die Qualen der Werktätigen und Ausgebeuteten zu mildern ist unmöglich.

Es kam denn auch so, wie wir gesagt hatten. Der Verlauf der Revolution hat die Richtigkeit unserer Argumentation bestätigt. Zuerst zusammen mit der >gesamten< Bauernschaft gegen die Monarchie, gegen die Gutsbesitzer, gegen das Mittelalter (und insoweit bleibt die Revolution eine bürgerliche, bürgerlich-demokratische Revolution). Dann zusammen mit der armen Bauernschaft, zusammen mit dem Halbproletariat, zusammen mit allen Ausgebeuteten gegen den Kapitalismus, einschließlich der Dorfreichen, der Kulaken, der Spekulanten, und insofern wird die Revolution zu einer sozialistischen Revolution.

Der Versuch, künstlich eine chinesische Mauer zwischen dieser und jener aufzurichten, sie voneinander durch etwas anderes zu trennen als durch den Grad der Vorbereitung des Proletariats und den Grad seines Zusammenschlusses mit der Dorfarmut, ist die größte Entstellung und Vulgarisierung des Marxismus, seine Ersetzung durch den Liberalismus. Das würde bedeuten, durch quasigeiehrte Hinweise auf die Fortschrittlichkeit der Bourgeoisie im Verhältnis zum Mittelalter eine reaktionäre Verteidigung der Bourgeoisie gegenüber dem sozialistischen Proletariat einzuschmuggeln.«

Lenin über Kautskys Bolschewismus-kritische Schrift »Die Diktatur des Proletariats«, 1918

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Als im November 1918 auch in Deutschland überall spontan Räte entstanden, wurden die Sozialdemokraten überrascht. Ihre Führer gingen in die Räte und propagierten den Sozialismus, den man nicht ultralinken Wirrköpfen überlassen dürfe. Am Ende stand eine reduzierte bürgerliche Demokratie.

Gewiss war einer der Taufpaten des Bündnisses zwischen den kaiserlichen Generälen und der Führung der Mehrheitssozialdemokratie der Oktoberaufstand in Russland und die ihm folgende Flut von Unterdrückung und Terror. Weil die Bolschewiki im Gegensatz zu Lenins Verbalartistik kein Echo in der Bevölkerung, nicht einmal in der Arbeiterklasse fanden, mussten sie den Mangel an sozialer und politischer Unterstützung mit der in solchen Fällen immer hilfreichen Gewalt ausgleichen. Auch wenn in Berlin das ganze Maß des Schreckens von rotem und weißem Terror nicht bekannt war, so reichten doch die unvollständigen Informationen, um eine hysterische Angst vor russischen Verhältnissen zu erzeugen. In dem Maß, wie sich die Kommunisten und große Teile der USPD mit Lenins und Trotzkis Bolschewisten solidarisierten, wuchs die Furcht vor Bürgerkrieg und einer Diktatur des Proletariats, die in Wahrheit die Diktatur einer Partei war. Das ist verständlich, entschuldigt aber nichts. Schon gar nicht die Mobilisierung pränazistischer Freikorps. Denn diese verteidigten nicht die wankende Demokratie, sondern nutzten die Gelegenheit, mit ihren Feinden blutig abzurechnen.

Aber auch die Russlandphobie erklärt nicht, warum die Sozialdemokraten darauf verzichteten, die Räte in das politische Gefüge Deutschlands einzubauen — nicht als Gegenspieler der höher legitimierten National­versammlung und des Reichstags, sondern als Organ, in dem Arbeiter und Bauern ihre Interessen artikulieren konnten. Die Räte waren ja Ausdruck der Revolution, die Deutschland die erste Demokratie gebracht hatte. Warum also nicht den Versuch wagen, sie in die Ausgestaltung der Demokratie einzubinden?

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Die politische Fantasie der deutschen Sozialdemokraten aber überschritt nicht die Welt der eigenen Erfahrung. Vollständig mit sich selbst beschäftigt, schuf man sich einen Reichstag und einen Ersatzkaiser, einen von der Verfassung mit starken Machtmitteln ausgestatteten Reichspräsidenten, der Friedrich Ebert hieß. Sein Nachfolger, der bei den Präsidentschaftswahlen 1932 auch von den Sozialdemokraten unterstützte ehemalige Chef der Obersten Heeresleitung, Hindenburg, wird am Ende der Republik die Machtmittel dieser Verfassung dazu nutzen, um die Demokratie ad absurdum zu führen und schließlich Adolf Hitler zum Reichskanzler zu berufen. Aber schon Ebert wusste seine Kompetenzen meist nur gegen links zu nutzen, im Zweifelsfall sogar gegen eigene Genossen.

Kurz vor dem Ende der ersten deutschen Demokratie erklärte der Reichstagsabgeordnete Rudolf Breitscheid, er halte die Weimarer Verfassung für schlecht, »weil sie einen Dualismus zwischen der Macht des Reichstages und der Macht des Reichspräsidenten darstellt«. Erst als die Notverordnungspraxis die Demokratie gänzlich auszuhebein drohte, wurden manchem Sozialdemokraten die von ihnen selbst zu verantwortenden, auf Ersatzkaiser Ebert zugeschnittenen Ungereimtheiten der Verfassung deutlich. Die hätten sie schon früher entdecken können, zum Beispiel, als Ebert 1923 die sozialdemokratisch-kommunistischen Landesregierungen in Sachsen und Thüringen mit militärischer Gewalt davonjagen ließ.

 

 Die sozialdemokratische Kriegsschuldlüge  

Als Hindenburg an maßgeblicher Stelle dazu beitrug, die Weimarer Demokratie zu zerstören, schloss sich ein historischer Kreis. Er öffnete sich mit dem Bündnis Eberts mit der Obersten Heeresleitung. Weil sich die Republik immer mehr von links bedroht sah, wurde der Weg für die Rechte frei.

Zum ideologischen Untergrund der Entwicklung von Ebert über Hindenburg zu Hitler gehört die Kriegsschuld­lüge. Sie wird in der sozialdemokratisch orientierten Geschichtsschreibung weitgehend ausgeblendet. Umso verdienstvoller sind die Ausführungen des Historikers Heinrich August Winkler, der sich mit Bernsteins Kampf für die Wahrheit in dieser Frage befasste.

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Schon im September 1914 erkannte Bernstein, dass die deutsche Reichsleitung am Kriegsausbruch wesentlich beteiligt war. Daher hielt er die Zustimmung zu den Kriegskrediten für einen Fehler. Auf dem ersten Parteitag nach dem Krieg, im Juni 1919 in Weimar, forderte er von den Delegierten, sich nicht länger zu Gefangenen des 4. August 1914 zu machen: »Machen wir uns doch frei von den Ehrbegriffen der Bourgeoisie, nur die Wahrheit, die volle Wahrheit kann uns nützen.« Weil Deutschland Schuld am Krieg sei, seien neun Zehntel der alliierten Friedensbedingungen »unabweisbare Notwendigkeiten«.

Aber bei der Wahrheitsfindung machten die Genossen nicht mit. Otto Braun, später preußischer Ministerpräsident, hielt den Vertrag gar für eine nachträgliche Bestätigung der Haltung, welche die Partei in der Kriegszeit eingenommen hatte. Ein anderer Genosse verglich Bernstein mit dem ermordeten bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner (USPD), auf dessen Grab geschrieben werden müsse: »Er litt arg am Wahrheitsfimmel.« 

Scheidemann beschimpfte Bernstein als »Advokaten des Teufels«, der übergerecht die feindlichen Imperialisten verteidige. Nur der Abgeordnete Gustav Hoch, Vertreter des linken Flügels, verteidigte Bernstein vehement. Und er tat dies mit einer verblüffenden prophetischen Klarsichtigkeit. Man lese seine Worte und frage sich, ob das nicht auch die anderen Genossen hätten wissen müssen:

»Wir haben mit der großen Gefahr zu rechnen, dass eine nationalistische Strömung über uns kommt, was unsagbares Unglück gerade für die Arbeiter­schaft, für die sozialistische Republik bedeuten würde. Aber in unsere Hand ist es gegeben: Wenn wir hier tatkräftig eingreifen, mit allem Nachdruck, rücksichtslos und schonungslos, ohne Scheu nach irgendwelcher Seite, der Wahrheit die Ehre geben, wenn der Wahrheitsfimmel (...) bei uns vollkommen zum Durchbruch kommt, überall bis in die kleinste Hütte, dann brauchen wir eine nationalistische Strömung nicht zu fürchten, dann wird diese schwere Zeit zwar eine Zeit unsagbaren Elends sein, aber zugleich auch der Vorbote eines neuen Glücks für unser Volk.«

Aus diesen Gründen trat Bernstein für die Wahrheit ein, so, wie er stets seine Positionen an dem gemessen hatte, was er als wahr empfand, um sie dann ohne Winkelzüge zu verfechten. »Wenn ich die Schuld des alten Systems feststelle, dann sage ich nicht, wir, das deutsche Volk, sind schuld, sondern dann sage ich, diejenigen sind schuld, die das deutsche Volk damals belogen und betrogen haben. Damit wälze ich die Schuld ab vom deutschen Volk.«

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Trotz Bernsteins Widerspruch kam zu dem verheerenden Fehler von 4. August 1914 die Lüge über diesen Fehler hinzu. Es war der vermeintlich bequemere Weg. In der Tat, was hatte der 4. August alles bewirkt! Vor allem die Spaltung der Partei in zweieinhalb Fraktionen. Und nun sollte der Streit umsonst gewesen sein und der »Verrat« eingestanden werden? Für die Führung der Mehrheitssozialdemokratie war diese Vorstellung undenkbar. Also kam es, wie Gustav Hoch vorhergesagt hatte: Die auch von der SPD vertretene Kriegsschuldlüge öffnete die Köpfe der Menschen für das völkisch-nationalistische Gift.

Ob »Dolchstoßlegende« oder Kriegsschuldlüge: Die wahren Schuldigen an Krieg und Niederlage waren nicht Frankreich und England und nicht der »Verrat der Heimatfront«, sondern der Kaiser, seine Regierung, die Oberste Heeresleitung und die politischen Kreise, die all die Jahre vor dem 1. August 1914 zum Krieg gehetzt hatten. Und eine moralische Mitschuld tragen auch die Sozialdemokraten, die lange vor dem 4. August wussten, wohin die Reise ging, und nichts taten, um den Krieg zu vermeiden.

Es ist müßig, darüber zu spekulieren, ob die Sozialdemokratie den Kriegsausbruch hätte verhindern können. Dass aber die Reichsleitung wusste, dass mit sozialdemokratischen Potestaktionen nicht zu rechnen war, machte ihr das kriegerische Geschäft leichter. Unzweifelhaft ist das Gewicht der Hinterlassenschaft des 4. August 1914, das durch die Kriegsschuldlüge noch schwerer wird. Statt Hindenburg, Ludendorff und Groener als Kriegsanstifter wenigstens politisch anzuklagen, betrieben die Sozialdemokraten deren Rechtfertigungsgeschäfte. Denn wenn »die anderen« Deutschland angegriffen hatten, dann waren Hindenburg und Kameraden Vaterlandsverteidiger. Und hätten die Sozialdemokraten einen Präsidentschaftskandidaten Hindenburg unterstützen können, wenn dieser als Kriegsanstifter am Pranger gestanden hätte?

So gehört in die Revolutionsbilanz der Sozialdemokratie auch die Kriegsschuldlüge, neben der Bewahrung der Macht des Militärs, der kaiserlichen Bürokratie und der ostelbischen Junker. Nur wiegt die Kriegsschuldlüge vielleicht am schwersten, weil es ganz allein in der Macht der Sozialdemokratie lag, sie gar nicht erst aufkommen zu lassen. 

Man mag die anderen Mängel als Versäumnisse, als Mangel an Entschluss- und Handlungsfreude verbuchen, für die Kriegsschuldlüge waren die Sozial­demokraten selbst verantwortlich. Wie schrieb Bernstein 1924: 

»Wir gehen dem Staatsstreich der Nationalisten entgegen, das scheint mir, wenn wir so weiter wursteln, unabwendbar. Wie er ausgeht, ist natürlich zweifelhaft, ein zeitweiliger Sieg jener indes nicht ausgeschlossen, und bekommen sie auch nur zeitweilig das Heft in die Hand, dann gibt es, das ist sicher, einen Terrorismus, wie ihn sich die meisten nicht träumen lassen. Kapp war ein Doktrinär, die aber diesmal obenauf kommen, sind skrupellose, brutale Schurken.« 

 

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