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3. Opfer für den Zukunftsstaat

      Die SPD und der große Krieg

 

 

 

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»The proof of the pudding is in the eating«, pflegte Friedrich Engels seinen deutschen Genossen hin und wieder nahe zu bringen. Oder auf Deutsch: »Die Praxis ist das Kriterium der Wahrheit.« Im Sommer 1914 hatte die sozialdemokratische Partei die Möglichkeit, Solidarität und Internationalismus zu verwirklichen. Noch bis wenige Tage vor Ausbruch des Krieges deklamierten die Sozialdemokraten ihre Forderungen nach Frieden. Aber eine Woche nach dem letzten großen Aufruf bewilligte die SPD-Reichstagsfraktion der kaiserlichen Regierung Kredite, die diese dringend brauchte, um Krieg gegen Frankreich, Russland und England zu führen.

Was war geschehen? Was bewirkte den überraschenden Sinneswandel? Oder war es gar keine Überraschung?

 

  Aufruf! 

Noch dampfen die Äcker auf dem Balkan von dem Blute der nach Tausenden Hingemordeten, noch rauchen die Trümmer verheerter Städte, verwüsteter Dörfer, noch irren hungernd arbeitslose Männer, verwitwete Frauen und verwaiste Kinder durchs Land, und schon wieder schickt sich die vom österreichischen Imperialismus entfesselte Kriegsfurie an, Tod und Verderben über ganz Europa zu bringen. 

Verurteilen wir auch das Treiben der großserbischen Nationalisten, so fordert doch die frivole Kriegsprovokation der österreichisch-ungarischen Regierung den schärfsten Protest heraus. Sind doch die Forderungen dieser Regierung so brutal, wie sie in der Weltgeschichte noch nie an einen selbständigen Staat gestellt sind, und können sie doch nur darauf berechnet sein, den Krieg geradezu zu provozieren. 

Das klassenbewusste Proletariat Deutschlands erhebt im Namen der Menschlichkeit und der Kultur flammenden Protest gegen dies verbrecherische Treiben der Kriegshetzer. Es fordert gebieterisch von der deutschen Regierung, dass sie ihren Einfluss auf die österreichische Regierung zur Aufrechterhaltung des Friedens ausübe und, falls der schändliche Krieg nicht zu verhindern sein sollte, sich jeder kriegerischen Einmischung enthalte. Kein Tropfen Blut eines deutschen Soldaten darf dem Machtkitzel der österreichischen Gewalthaber, den imperialistischen Profitinteressen geopfert werden. 

Parteigenossen, wir fordern euch auf, sofort in Massenversammlungen den unerschütterlichen Friedenswillen des klassenbewussten Proletariats zum Ausdruck zu bringen. Eine ernste Stunde ist gekommen, ernster als irgendeine der letzten Jahrzehnte. Gefahr ist im Verzuge! Der Weltkrieg droht! 

Die herrschenden Klassen, die euch im Frieden knebeln, verachten, ausnutzen, wollen euch als Kanonenfutter missbrauchen, überall muss den Gewalthabern in die Ohren klingen: Wir wollen keinen Krieg! Nieder mit dem Kriege! Hoch die internationale Völkerverbrüderung! 

  Berlin, den 25. Juli 1914  
  Der Parteivorstand  

 

Die Rivalität der großen Mächte hatte die Welt schon mehrfach an den Rand des Kriegs getrieben. Bis 1914 war es den Diplomaten jedoch immer wieder gelungen, die Gefahr zu bannen. Aber der politischen Öffentlichkeit war bewusst, dass nur ein kleiner Funke genügte, um den Flächenbrand zu entzünden. Den kleinen Funken schlug ein serbischer Terrorist namens Gavrilo Princip, der am 28. Juni 1914 den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau in Sarajewo erschoss. 

Princip und seine Gesinnungsgenossen sahen in dem Anschlag ein Zeichen für die Befreiung von der Unterdrückung der Slawen im habsburgischen Großreich. Dieses Ziel hatte auch das Königreich Serbien, das sich zu einem großserbischen Reich erweitern wollte. Russlands Regierung unterstützte den Panslawismus, auch weil es sich davon größeren Einfluss auf dem Balkan erhoffte.

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Das aber widersprach den Interessen Österreich-Ungarns, das die Freiheitsbewegungen auf dem Balkan unterdrückte. Die Konfrontation zwischen Österreich-Ungarn und dem Zarenimperium war eine der großen Kollisionen, die schließlich in den Krieg mündeten.

Andere Konflikte waren noch wichtiger. Dazu zählte der Kampf der Großmächte um Kolonien und Einflusssphären. Deutschlands Regierung glaubte, beim großen weltweiten Raubzug zu kurz gekommen zu sein. Es rüstete auf, zerstörte die Kräftebalance zwischen den Großmächten und hochfahrend auch die einst guten Beziehungen zu Russland und England. Den »Platz an der Sonne« wollte Kaiser Wilhelm II. im Zweifelsfall militärisch erringen, wenn es denn anders nicht ging. Deutschland fühlte sich stark genug und glaubte ohnehin, früher oder später von Russland oder Frankreich, das seine Niederlage von 1871 noch nicht verwunden hatte, angegriffen zu werden.

Nach der Ermordung Franz Ferdinands wich beim Kaiser in Wien das Gefühl der Trauer bald geopolitischem Kalkül. Seine Regierung glaubte, dass sich ihr nun endlich die Gelegenheit bot, abzurechnen mit Serbien, das die Habsburger als Bedrohung ihres Vielvölkerstaats fürchteten. Wien baute auf die Unterstützung der europäischen Öffentlichkeit, als es sich daran machte, Serbien zu bestrafen. Der Kaiser in Wien schrieb an seinen treuesten Bündnispartner, den Kaiser in Berlin, dass er gedenke, den »russischen Brückenkopf« Serbien »als politischen Machtfaktor auszuschalten«. Und Wilhelm bestärkte Franz Joseph nach Kräften.

Die hohen Herren hofften auf einen kleinen Krieg gegen ein kleines Land, an dessen Ende Serbiens Kapitulation stehen musste und damit seine Ausschaltung als unabhängiger Staat. Wohl wussten Berlin und Wien, dass hinter Serbien der Zar stand, und mit Russland waren England und Frankreich verbündet. Aber an die Einheit dieser Allianz glaubte so recht niemand. Deutschland gab Österreich-Ungarn freie Hand und nahm den großen Krieg in Kauf.

Welche Enttäuschung gab es in Wien, als Serbien dem österreichischen Ultimatum in praktisch allen Punkten zustimmte, auch der Forderung, die Slawen der Doppelmonarchie künftig nicht mehr in ihrem Freiheitsstreben zu unterstützen. Selbst Kaiser Wilhelm war nun überzeugt, dass es keinen Krieg mehr geben müsse. Aber Österreich-Ungarn wollte den Krieg. 

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Als es gegen Serbien losschlug, kam St. Petersburg ins Spiel. Zwei Tage nach der Kriegserklärung Wiens an Belgrad befahl der Zar die Generalmobilmachung. Daraufhin stellte Deutschland Russland ein Ultimatum: Nikolaus II. möge binnen zwölf Stunden die Mobilmachung widerrufen. Dies geschah natürlich nicht, und am 1. August erklärte Deutschland Russland den Krieg, am 3. August auch Frankreich.

Es scheint fast so, als hätte der Generalstab für Hitlers Blitzkriege die Vorarbeit geleistet, wollten die Militärs doch Frankreich binnen sechs Wochen besiegen, um danach Russland zu bezwingen. Um die französischen Grenzbefestigungen auszuhebeln, war geplant, dass deutsche Truppen durch das neutrale Belgien in Nordwestfrankreich einfallen sollten. Der berühmte »Schlieffenplan« aber war ein eklatanter Bruch des Völkerrechts. England war der Garant für Belgiens Neutralität, und als die Deutschen Belgien überfielen, eröffneten sie auch den Krieg gegen Großbritannien.

Gavrilo Princip hatte einen Funken geschlagen, wie es zuvor viele Funken gegeben hatte. Aber dieser ließ das Pulverfass explodieren. Kaiser Franz Joseph hätte den Krieg nie gewagt ohne die Gewissheit, dass die deutsche Regierung alles unterstützen würde, was er befahl.

Am 4. August stimmte die Reichstagsfraktion der SPD einstimmig den Kriegskrediten der kaiserlichen Regierung zu. Manchmal verändert sich an einem einzigen Tag mehr als in Jahrzehnten. Zeitgenossen, vor allem aber Nachgeborene, erkannten im 4. August 1914 einen solchen Schicksalstag, gewissermaßen die Ursünde der Sozialdemokratie. An diesem 4. August habe die SPD die eigenen Grundsätze verraten und sei seitdem ein »stinkender Leichnam«, wie Rosa Luxemburg bitter schrieb.

 

  Nebel, in den die Internationale gehüllt war  

 

Aber war der 4. August 1914 wirklich eine Überraschung? Schon ein Jahr zuvor hatte die sozialdemokratische Reichstagsfraktion einem Wehretat zugestimmt, und Bebel war dafür gewesen. Damals hatten die Sozialdemokraten dafür eine taktische Begründung parat. Sie forderten die Einführung direkter Steuern, mit dem Ziel, dass die Reichen stärker herangezogen würden zur Finanzierung der Staatsausgaben. 

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Dies geschah mit der Einführung einer Vermögenszuwachssteuer, die dazu dienen sollte, den Rüstungsetat zu bezahlen. Um das Prinzip der direkten Steuern durchzusetzen, unterstützen die Sozialdemokraten den Wehretat, der auch ohne ihre Stimmen verabschiedet worden wäre. Welche taktischen Klügeleien diesem faulen Kompromiss zugrunde gelegen haben mögen, es war ein Dammbruch, das Vorspiel des 4. August, in dessen Folge sich die Sozialdemokratie in eine Kriegspartei verwandelte. 

Dass die Zustimmung zum Rüstungshaushalt 1913 etwas Neues war und keineswegs die Fortschreibung eherner sozialdemokratischer Grundsätze, zeigt schon die Mühe, die sich die Partei gab, diesen Schritt zu erklären. Sie trennte die Art und Weise, wie Steuern erhoben wurden, vom Zweck der Steuern - ein groteskes Manöver.

 

9. Dezember 1999. 

Gerade ist der SPD-Parteitag in Berlin zu Ende gegangen. Nach harten innerparteilichen Auseinandersetzungen, nicht zuletzt um die Wiedereinführung der Vermögenssteuer, habe sich die SPD berappelt, sagen die Kommentatoren. Gerhard Schröder hat mit 86 Prozent ein viel besseres Ergebnis als Vorsitzender erhalten als auf dem letzten Parteitag bei den Wahlen zum Vorstand. Er hat in seiner Rede öfter von sozialer Gerechtigkeit gesprochen, und das scheint den Genossinnen und Genossen zu genügen. Er hat die Seele der Partei gestreichelt, aber an seiner Politik ändert sich nichts. 

Es ging zuletzt ohnehin nur noch um Symbole: für eine Vermögenssteuer, gegen eine Vermögenssteuer oder -abgabe. Als würde eine solche Steuer etwas an der gigantischen Vermögensumverteilung von unten nach oben ändern. Es sind weiter die Rentner, Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger, die die Kapitalisten subventionieren. Eine Unternehmenssteuerreform ist angekündigt, sie wird die Steuerlast für die Reichen weiter senken. Hatten selbst die rechtesten Sozialdemokraten für ihre Zustimmung zu den Kriegskrediten Anerkennung oder gar politische Gleichberechtigung, also eine Gegenleistung, erhofft, so spekuliert Schröder nur, dass die bereicherten Reichen Arbeitsplätze schaffen. Als wäre das ihr Ziel.

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Wie dem auch sei, der Proteststurm gegen die marktfixierten Zumutungen Schröders ist kläglich in sich zusammengebrochen. Rechte wie linke Sozialdemokraten wollen vor allem an der Macht bleiben. Das Umfragetief (30 Prozent!) hatte alle Flügel geschockt, noch mehr die unvergleichliche Serie von Niederlagen bei Landtagswahlen, die die SPD im Osten zur dritten politischen Kraft degradiert hatte. In unserem Ortsverein allerdings hat sich nichts verändert. Keiner fällt auf die kosmetischen Übungen der Parteiführung herein. Am Dienstag, auf der Jahresabschlussfeier des Ortsvereins, wurde Bürgermeister Michael Boutellier für 25 Jahre Parteimitgliedschaft geehrt. Unser Ortvereinsvorsitzender hat eine gute, politische Ansprache gehalten, einige Genossinnen und Genossen haben ergänzend von ihren interessanten Erfahrungen mit Boutellier berichtet. Der hat sich bedankt und es sich bei aller Feierei nicht nehmen lassen, ein Wort über den SPD-Parteitag und den Zustand der Partei zu verlieren. Quintessenz: Solange die Schröders in der Partei bestimmen, wird es nichts mit sozialdemokratischer Politik.

Allein eine kleine Minderheit um Luxemburg und Mehring kritisierte das Prinzipiengeschacher. Mit an Hellseherei grenzender Weisheit kritisierte Rosa Luxemburg die SPD-Parlamentarier ein Jahr vor dem Sündenfall: »Wenn Sie sich nun auf den Boden des Mehrheitsbeschlusses unserer Fraktion stellen, dann kommen Sie in die Lage, wenn der Krieg ausbricht und wir an dieser Tatsache nichts mehr ändern können und wenn dann die Frage kommt, ob die Kosten durch indirekte oder direkte Steuern zu decken sind, dass Sie dann folgerichtig für die Bewilligung der Kriegskosten eintreten.«

Mehr noch als für ihr forsches Auftreten gegen Revisionismus und Reformismus erntete Rosa Luxemburg den Hass vieler Genossen, weil sie sie daran erinnert hat, dass sie ihre Prinzipien im Namen dieser Prinzipien mit Füßen traten. Der 4. August enthüllte, was die großen Reden und pathetischen Resolutionen der SPD und der internationalen Sozialdemokratie wert waren. Als die Flagge wehte, war der Verstand in der Trompete. Allerdings kann man den deutschen Sozialdemokraten nicht vorwerfen, dass sie ihren Genossen im Ausland nicht schon lange vorher wenigstens angedeutet hätten, dass sie im Fall des Kriegs nichts tun würden. 

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Schon 1907, auf dem Stuttgarter Kongress der II. Internationale, hatte die deutsche Delegation klar gemacht, dass sie unter bestimmten Bedingungen bereit war, das deutsche Streben nach Kolonien zu unterstützen. Julius Braunthal, der Chronist der Internationale, schreibt:

»Der Krieg hatte gleichsam mit einem Schlag den revolutionären Nebel zerstreut, in den die Internationale gehüllt war. Sie hatte bis dahin im Geiste des Marxismus in unversöhnlichem Gegensatz zum bürgerlich-kapitalistischen Staat die Teilnahme an bürgerlichen Regierungen verworfen und in der Revolution eine unentrinnbare geschichtliche Phase im Klassenkampf des Proletariats erblickt. Sie war von der Vorstellung beherrscht, dass dieser historische Augenblick an der Weltwende eines Weltkrieges eintreten und der politische Kampf der Arbeiterklasse gegen den Krieg in eine revolutionäre Erhebung gegen die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsordnung umschlagen würde.

Aber am 4. August bekannten sich nahezu alle sozialistischen Parteien in den Krieg führenden Ländern zur Verteidigung des bürgerlich-kapitalistischen Staates, dessen Sturz sie bis dahin erstrebt hatten. Sie verpflichteten sich zum >Burgfrieden< im Klassenkampf. Sie verbündeten sich mit den herrschenden Klassen und unterstützten den Krieg moralisch und politisch mit dem vollen Einsatz ihrer Kräfte.«

Dabei waren etwa die französischen Sozialisten in einer anderen Lage als ihre deutschen Genossen. Frankreich hatte trotz des latenten Revanchismus als Reaktion auf die Niederlage von 1871 den Weltkrieg nicht angezettelt. Aber nicht wenige Franzosen sahen nun eine willkommene Gelegenheit, die Schmach zu tilgen, die Bismarck der Grande Nation zugefügt hatte.

Die deutschen Sozialdemokraten dagegen mussten sich mit der Regierung auseinander setzen, die den Krieg gemeinsam mit der Regierung in Wien herbeigeführt hatte. Es war kein Verteidigungskrieg, wie Frankreichs Sozialisten es mit einigem Recht für ihr Land erklärten. Die deutsche Militärführung hatte immer wieder vorgetragen, dass das Kräfteverhältnis für Deutschland umso ungünstiger werde, je länger man den Kriegsbeginn hinauszögere. Sie hatte darauf gedrängt, bald loszuschlagen.

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Teile der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion waren frühzeitig in die Planungen des Generalstabs einbezogen. Die Reichsleitung legte Wert darauf, die Sozialdemokratie in ihre Kriegsplanungen zu verstricken, um sie als Widerstandskraft auszuschalten. Generalstabschef Helmuth von Moltke, der den Krieg für eine in der »Weltentwicklung« liegende »Notwendigkeit« hielt, entfaltete eine regelrechte Kriegspropaganda. Mit großer Offenheit präsentierten die Generale Vertretern der SPD-Rechten ihre Aufmarschpläne, einschließlich ihrer Absicht, im Kriegsfall die belgische Neutralität zu verletzen. 

Für diese Sozialdemokraten um die Reichstagsabgeordneten Albert Südekum (Nürnberg), Ludwig Frank (Mannheim) und Gustav Noske (Chemnitz) war es nie eine Frage, dass sie Deutschlands Krieg unterstützen würden. Ein Viertel der sozialdemokratischen Abgeordneten hätte sogar die heilige Fraktionsdisziplin verletzt, um die Kredite zu bewilligen, die der Kaiser für seine Militärs brauchte. 

Franks Kriegsbegeisterung ging so weit, dass er sich freiwillig an die Front meldete und fiel. August Bebel hatte ihn vor seinem Tod 1913 als künftigen Parteiführer ausersehen.

Auch Eduard David, Bernsteins Adjutant im Revisionismusstreit, war von Anfang an für den Krieg. Er betrachtete die durch ihn auf die Tagesordnung gesetzte Entscheidung der Sozialdemokraten als einen Sieg des von der Weltgeschichte begünstigten Revisionismus. Aus seinem Tagebuch geht hervor, dass er die wahren Gründe der Katastrophe im Wesentlichen kannte. Er stimmte für die Kriegskredite, um »Deutschlands nationalen Bestand, seine wirtschaftliche und geistige Kultur zu erhalten«. Am 5. August schrieb er in sein Tagebuch: »Das Gefühl der nationalen Geschlossenheit beherrscht alles und hebt das Vertrauen, so dass man den Beitritt Englands zur Koalition der Gegner getrosten Mutes hinnimmt.« Der Berliner SPD-Abgeordnete Wolfgang Heine schrieb wenige Tage nach Kriegsausbruch in einem Brief an einen Genossen: »Allein und überall gilt Deutschland als der Friedensbrecher, der den Krieg durch Beeinflussung Österreichs hätte hindern können und dies nicht gewollt hat. Und die Leute haben ganz recht.« Es hinderte ihn nicht daran, sich auf die Seite der deutschen Regierung zu stellen.

Eduard Bernstein erkannte in der ihm eigenen Nüchternheit, dass es sich um einen »deutschen Expansionskrieg« handelte, den Berlin und Wien bewusst herbeigeführt hätten. Bernstein zog daraus - wenn auch mit Verspätung - eine andere Konsequenz als die

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meisten seiner Mitstreiter auf dem rechten Parteiflügel. Er ging ins wachsende Lager der Kriegsgegner über, wurde Mitglied der USPD und schwankte auch nach dem Krieg nicht in seiner Überzeugung, als seine Partei die deutsche Kriegsschuld wider besseres Wissen abstritt. Dem rechten Flügel genügte die bloße Tatsache des Kriegs, um sich auf die Seite von Kaiser und Regierung zu stellen, übrigens sehr zur Überraschung der Reichsleitung, die mit einer Zustimmung zu den Kriegskrediten nicht gerechnet hatte.

 

 Marodierende Kosakenhorden  

 

Aber nicht nur der rechte Flügel, sondern auch die Mehrheit der Parteiführung war für die Bewilligung der Kriegskredite. Sie war der Auffassung, dass Deutschland sich gegen den Hort der Reaktion, den Zarismus, verteidigen müsse. Schon August Bebel habe angekündigt, selbst er werde die Flinte schultern, wenn es darum gehe, die Heimat gegen den russischen Bären zu verteidigen. Diese Behauptung entsprach Moltkes Propagandakalkül im gleichen Maß, wie sie der offen zu Tage liegenden Wahrheit widersprach. In der oben angeführten Erklärung des SPD-Vorstands vom 25. Juli 1914 wurde bereits deutlich gemacht, dass nicht Russland der Angreifer war, sondern Österreich-Ungarn; über die deutsche Rolle in diesem bösen Spiel schwiegen sich die Genossen bereits aus, als ahnten sie, was sie keine zwei Wochen später tun würden.

Der sozialdemokratische Journalist Friedrich Stampfer beschreibt plastisch die gespenstige Stimmung im Juli 1914:

»Die dunklen Filzhüte und Kappen der Arbeiter kontrastierten scharf gegen die hellen Strohhüte der Studenten. Kriegs- und Friedenspartei schienen gleichsam uniformiert, und wo ein Konflikt drohte, stellte die Polizei - mit einiger Parteilichkeit für die Strohhüte - die Ruhe rasch wieder her. Vom nördlichen Bürgersteig ertönten das Deutschlandlied und die Wacht am Rhein, vom südlichen kam die Antwort: Wohlan, wer Recht und Freiheit achtet, Zu unsrer Fahne steht zu Hauf ... Aufgeregt wandte sich ein Herr an mich: <Diese Leute singen die französische Nationalhymne, die Marseillaise, das ist doch offener Landesverrat!> Ich versicherte ihm, das wäre ein altes deutsches Arbeiterlied, und die Leute dächten gar nicht mehr daran, dass die Melodie französisch sei.

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Als der Krieg ausbrach, schien es, als ob das Volk in seiner großen Masse vom Wahnsinn ergriffen sei. Die unsinnigsten Gerüchte liefen um und wurden geglaubt. Arme jüdische Emigrantinnen wurden aus der Straßenbahn geworfen, weil sie Russinnen wären! Die Spionenjagd war allbeliebter Sport. >Merkwürdig<, hörte ich einen Herrn auf der Straße sagen, >wo ein Russe ist, da ist auch eine Bombe.< Der Mann war überzeugt, dass die russischen Revolutionäre, die nach Deutschland geflohen waren, allesamt bereit wären, für den Zaren zu sterben. Am Potsdamer Platz wurde ein <russischer Spion> gehetzt, der sich auf der Polizei als bayerischer Major legitimierte.

Es gab aber inmitten dieses tollen Treibens auch noch andere Bilder. Eines davon ist sehr fest in meiner Erinnerung haften geblieben. Als der Trubel auf dem Gipfel war, sah ich an der Ecke der Belle-Alliance- und Yorckstraße einen Postbeamten damit beschäftigt, den Briefkasten zu reinigen. Er tat dies in aller Ruhe genau nach den geltenden Vorschriften; er benutzte für den blau lackierten Teil den dafür bestimmten Putzlappen und für die Metallteile den für diese bestimmten Lappen. Morgen musste der Mann vielleicht schon einrücken, aber heute tat er als pensions­berechtigter Beamter der Gehaltsklasse X gewissenhaft und ordentlich, was seine Pflicht war.«

 

Erstaunlicherweise hat sich Moltkes Propagandabild von den marodierenden Kosakenhorden in Berlin bis zum heutigen Tag erhalten. Der sozialdemokratische Historiker Horst Heimann etwa erklärte auf einer Geschichtskonferenz, für die Mehrheit der Parteiführung wie der Mitglieder sei die Überzeugung entscheidend gewesen, dass Deutschland gegen das reaktionäre zaristische Russland einen Verteidigungskrieg führe und damit die europäische Zivilisation und die sozialistische Bewegung vor der russischen Barbarei zu schützen habe. Das gilt aber für die Parteiführung genauso wenig wie für die Reichstagsfraktion, denn sie wussten, was sie taten. 

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Und um das zu rechtfertigen, was sie taten, griffen sie auf die traditionelle Russenangst der Sozialdemokraten zurück. In den internen Diskussionen der Parteiführer spielte die Russenphobie keineswegs eine so große Rolle wie bei weiten Teilen der Mitglieder. Und wo doch die Rede war von Verteidigung, da war offensichtlich, dass es sich um Rechtfertigung handelte. Vergleichsweise ehrlich, aber nicht weniger demagogisch war die Vorstandsparole: »Schuld oder Unschuld, der Krieg ist da, der das deutsche Volk mit Knechtschaft und Vernichtung bedroht«. 

Auf die Idee, dass die deutsche Reichsleitung andere Völker mit Knechtschaft und Vernichtung bedrohte, kamen die einstigen Internationalisten nicht. Stattdessen schwadronierten sie über die »Horden des Blutzaren« oder das »kapitalistische England«, als hätte der Kaiser den Sozialismus ausgerufen. Der Historiker Dieter Groh spricht von »Hassorgien gegenüber Russland«, die nicht mehr zu unterscheiden gewesen seien vom Chauvinismus bürgerlicher Blätter.

Die meisten SPD-Führer stellten sich gewissermaßen dumm und taten so, als ob die Wirklichkeit so aussähe, wie sie es ihren Mitgliedern erklärten. Unter größtem Rechtfertigungsdruck gebiert der menschliche Unverstand abenteuerliche Argumente. So, wie Rudolf Scharping Konzentrationslager im Kosovo suchte, um den Krieg gegen Jugoslawien zu legitimieren, griffen Bebels Nachfolger Friedrich Ebert und die anderen Spitzengenossen zu jedem beliebigen Argument, wenn es denn nur dramatisch genug schien, um die eigene Zustimmung zum Krieg als unausweichlich erscheinen zu lassen. 

Eduard Bernstein beschrieb dieses Lavieren als eine »Politik des opportunistischen Als-Ob«, sie beruhe auf »Fiktionen einer gewollten Begrenzung des Erkennens, zu denen man seine Zuflucht nimmt, weil man nicht sehen will, was ist, weil man es für zweckmäßiger hält, den Dingen nicht auf den Grund zu gehen oder sie sogar bewusst in einem anderen Lichte darzustellen, als der Wirklichkeit entspricht«.

Bernstein widerspricht auch einer anderen These, die oft herangezogen wird, um die Entscheidung vom 4. August zu erklären oder gar zu rechtfertigen. Auch Heimann - und in ähnlicher Weise Dieter Groh - führt in seiner zitierten Darstellung dieses Argument an. Es lautet, die Stimmung der Bevölkerung wie der Parteimitglieder habe der SPD-Fraktion keine andere Wahl gelassen, als den Krediten zuzustimmen. Hätten sie es nicht getan, dann wäre die Partei isoliert gewesen. Bernstein schreibt dazu wenige Monate später in einem Rückblick:

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»In den nichtsozialistischen Kreisen Deutschlands war der Krieg von Anfang an oder vielmehr schon an seinem Vorabend populär gewesen. Aber in der sozialistischen Arbeiterschaft und den mit ihr verbundenen Bevölkerungskreisen hat erst das Votum der sozialistischen Reichstagsfraktion ihm Popularität verschafft, und weiterwirkend ist die Stimmung in Deutschland für den Krieg ganz allgemein gehoben worden.«

In weiten Kreisen der Bevölkerung brachen Jubelstürme aus, als der Krieg begann. Kein Zweifel war an der Überlegenheit der deutschen Soldaten und Waffen. Nun wollte man es dem »Erbfeind«, der ständig finstere Ränke gegen Deutschland schmiedete, noch einmal zeigen wie 1870 bei Sedan. Dieser chauvinistische Überschwang erreichte natürlich auch die Arbeiter, aber diese waren in ihrer Meinungsbildung abhängig von den Aussagen der Parteiführung und der SPD-Presse. Die sozialdemokratische Gegengesellschaft, das Milieu, lebte zwar nicht in einer anderen Welt, aber sie unterlag in ihren Stimmungen eigenen Gesetzen. Hätte die SPD-Führung gegen den Krieg votiert, sie hätte den Kern ihrer Anhängerschaft für diese Position gewonnen.

Vernachlässigt man diese Tatsachen einmal, so eignet sich die Entscheidung vom 4. August 1914 gut dafür, das Dilemma der sozialdemokratischen Strategie darzustellen, ihr Heil in Augenblicksmehrheiten zu suchen. Das Kalkül der SPD-Führung wäre unter zwei Bedingungen möglicherweise aufgegangen: Erstens hätte der Schlieffenplan klappen und Deutschland schon 1914 Frankreich und Russland besiegen müssen. Zweitens hätte Deutschland auf einen »Siegfrieden« verzichten müssen. Der kürzlich verstorbene Hamburger Historiker Fritz Fischer hat aber überzeugend nachgewiesen, welche ungeheuren Forderungen das siegreiche Deutsche Reich an seine Kriegsgegner stellen wollte. Der viel geschmähte Versailler Vertrag war im Vergleich dazu gemäßigt. 

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Dass es sich dabei nicht um Beuteträume von Extremisten handelte, zeigt der Frieden von Brest-Litowsk im März 1918, in dem Deutschland der Sowjet­regierung ein riesiges Territorium mit enormen wirtschaftlichen Ressourcen abpresste: Russland musste auf Finnland, Polen, Kurland, Litauen, die Ukraine und Bessarabien verzichten, die nun von Deutschland kontrolliert und ausgebeutet werden sollten. Außerdem musste Russland Ardahan, Kars und Batumi an die Türkei abtreten. Einige Monate später wurde Sowjetrussland auch noch gezwungen, auf Georgien, Estland und Livland zu verzichten, und als wäre dies nicht genug, schickte Berlin noch eine Rechnung über sechs Milliarden Goldmark an Reparationen. Erst die deutsche Niederlage im Herbst 1918 befreite Sowjetrussland vom Diktat von Brest-Litowsk.

Als sich in der Marneschlacht im September 1914 die Hoffnung auf einen schnellen Sieg als Illusion entpuppte, war die erste Voraussetzung der sozial­demokratischen Überlegung obsolet. Prompt begann es in der Mitgliedschaft zu rumoren, die Parteispaltung kündigte sich an. Die Mehrheit für den Unterstützungskurs der Reichsleitung bröckelte ab.

 

 Keime einer neuen sozialdemokratischen Identität 

 

Als weiterer Grund für die sozialdemokratische Zustimmung zum Krieg wird oft die Angst vor einem neuen Sozialistengesetz genannt. Diese Angst war nicht unbegründet. Aber war sie ein guter Ratgeber? Folgt man diesem Argument, dann betrachtete die SPD-Mehrheit den Krieg zwar als Fehler, aber aus Angst vor Unterdrückung verweigerte sie die Zustimmung zu den Kriegskrediten nicht. Diese Schlussfolgerung widerspricht der These, die Kriegskredite wären gewährt worden, weil sich auch die Sozialdemokratie im Glauben wähnte, Deutschland werde angegriffen. Außerdem würde diese Vorstellung, dass die Partei aus Furcht vor Verbot und Verfolgung einen falschen Beschluss fasste, einen krassen Unterschied verdeutlichen zu der Lage, in der sich die Partei 1878 befand, als Bismarck das Sozialistengesetz durch den Reichstag brachte. Damals hatte die Partei die Verfolgung in Kauf genommen, um ihren Prinzipien treu zu bleiben. Darauf gründete sich nach dem Fall des Ausnahmegesetzes der Heldenmythos, der die SPD und ihre Führer, vor allem Bebel und Liebknecht, umgab. 

Dass sie Bismarck und dem Kaiser getrotzt hatten, stärkte ihre Ausstrahlung auf die Arbeiter, aber wirkte genauso auf Kleinbürger

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und viele Intellektuelle. Schon während der zwölf Jahre des Sozialistengesetzes wuchs die Sozialdemokratie zu einer bedeutenden politischen Kraft heran. Als sich 1890 im Reichstag keine Mehrheit mehr fand, die das Sozialistengesetz verlängern wollte, wurde als Grund dafür auch angeführt, dass das Gesetz der Partei mehr nutze als schade.

Allerdings hatte sich im Unterschied zu 1878 die Partei längst in das politische und soziale Leben des Kaiserreichs integriert. Die Sozialdemokratie brachte mit wachsender Stärke immer mehr Funktionäre und Abgeordnete hervor, eine Schicht, die das politische Leben der Partei längst beherrschte. Daneben waren mächtige Gewerkschaften entstanden mit einem nicht minder zahlreichen Funktionärskörper. Diese einflussreiche Gruppe von Partei- und Gewerkschaftsfunktionären hatte einen mühsam errungenen sozialen und politischen Status zu verlieren und war naturgemäß mehrheitlich konservativ ausgerichtet. Sie fürchteten den »großen Kladderadatsch«, den Bebel noch als Verheißung empfunden hatte. Sie waren natürliche Anhänger Bernsteins, weil dieser den gleichförmigen Verlauf der politischen Entwicklung pries.

Die Gewerkschaften akzeptierten den »Burgfrieden« mit der Regierung. Sie hatten schon im November 1913 erklärt, dass sie auch im Krieg die materiellen Interessen ihrer Mitglieder zu vertreten hätten. Schon deshalb wollten sie sich nicht der Gefahr aussetzen, verboten zu werden.

Einige revisionistische Reichstagstagsabgeordnete, unter ihnen Eduard David und die Gewerkschaftsführer Gustav Bauer und Theodor Leipart, betrachteten den Krieg nicht als Gefahr, sondern als Chance: Im Gegenzug für eine sozialdemokratische Unterstützung der Reichsleitung erhofften sie, die Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts in Preußen und eine Stärkung des deutschen Parlaments einhandeln zu können. Sie setzen außerdem darauf, die SPD aus einer Arbeiterpartei in eine Volkspartei verwandeln zu können, und hielten eine Spaltung der Partei nicht für hinderlich. Der rechte Abgeordnete Südekum hatte bereits im Juli 1914 mit der Reichsleitung vereinbart, dass die Arbeiterorganisationen nicht verboten würden, wenn sie auf Massenproteste verzichteten. Die Regierung forderte aber nicht, dass die sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten für die Kriegskredite stimmten.

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Dass sozialdemokratische Gewerkschaftsführer wie Gustav Bauer im August 1914 den Krieg geradezu begrüßten, ist keine Überraschung. Bauer vertrat schon seit längerem in der Kriegsfrage eine zynische Position. Auf einer Sitzung der SPD-Reichstagsfraktion im Dezember 1913, sieben Monate vor Kriegsausbruch, erklärte er zum Beispiel:

»Die Kriegsfrage ist kein prinzipielles, sondern ein taktisches Problem. Es gilt für das Proletariat der einzelnen Länder abzuwägen, ob der Krieg Vorteile bringen könne oder nicht, und danach ist ihr Verhalten einzurichten. (...) Es würde sich vielleicht die Frage aufwerfen lassen, ob es nicht möglich werde, eine bestimmte Sorte von Kriegen zu bezeichnen, die vom Proletarier unter allen Umständen zu bekämpfen wären, und diejenigen anzugeben, die im Interesse des Proletariats liegen. (...) Man könnte auch sagen, dass Staaten mit freiheitlicherer Institution im Kampf gegen rückschrittliche unterstützt werden sollen. In einem Kriege gegen das heutige Russland wird das Proletariat dem betreffenden Staate schwerlich fahnenflüchtig werden (...).«

 

Diese Äußerungen eines führenden Gewerkschafters waren zugleich ein Signal an die Reichsleitung, dass ein Krieg gegen Russland nicht auf den Widerstand der Gewerkschaften stoßen würde. Da die Partei der Generalkommission der sozialdemokratisch orientierten Gewerkschaften quasi das Monopol auf den Massenstreik übertragen hatte — ein verhängnisvoller Fehler —, wussten die Kriegsherren in Berlin nun, dass sie von der Arbeiterbewegung in ihren Plänen nicht gestört würden. (Die Rede Bauers befand sich übrigens in den Akten der politischen Polizei, und es gibt Vermutungen, dass Revisionisten wie Südekum oder David sie mitstenografiert und dann staatlichen Stellen zugespielt haben.)

Andere Vertreter des rechten Flügels wie Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann sahen im Krieg eine schicksalhafte Fügung, mit der man sich abzufinden habe. Für sie war die bedingungslose Unterstützung der kaiserlichen Regierung eine Selbstverständlichkeit. Einige zentristische Abgeordnete verwiesen auf den Belagerungszustand, den die Regierung mit Kriegsausbruch verhängt hatte, und erklärten, sie würden den Kontakt zu ihren Wählern verlieren, wenn sie gegen den Krieg agitieren und deswegen von der Justiz verfolgt würden.

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»Für den Frieden vertrauen wir zunächst auf die deutschen Waffen! (Beifall.) Vertrauen wir auf die deutschen Feldherren, auf das deutsche Volk, das da draußen Heldenhaftes leistet, das seinen Mut nicht wanken lässt, trotz der furchtbarsten Mühen und Entbehrungen, das treu und fest unsere Grenzen schirmt und den Feind zurückwirft. Heute ist das Heer das Volk und das Volk ist das Heer! (Stürmischer Beifall.) 

Vertrauen wir auch auf die Friedensliebe und den Friedenswillen des Kaisers. (Sehr richtig!) Wir wissen es: Zweimal hat er in den letzten Jahren persönlich durch sein Eingreifen den Frieden gerettet. Das erste Mal bei der Marokkokrise und später, als sich die Verhältnisse zu einem Krieg zwischen Österreich, Serbien und Russland zuspitzten. (...) Wir Sozialdemokraten haben auch schon in den letzten Jahren Gelegenheit genommen, ganz unbeschadet unserer sonstigen Gegnerschaft zu seiner Politik und Person, ihm unseren Dank für diesen ernsten und tätigen Friedenswillen auszusprechen. (Beifall.) Deshalb haben wir auch in diesem Augenblick das Recht, ihm zu vertrauen. (...)  

Wie stellen wir uns künftig zu den Einrichtungen dieses gegenwärtigen Staates? Wir denken nicht daran, diese Einrichtungen zu verewigen, aber müssen die gegebene Form dieses Staates benutzen, um ihn auszugestalten. Ich für meine Person erkläre und kann dies wohl für die ganze Partei erklären, dass wir nicht daran denken, unseren Kampf aufzugeben gegen jede Ungerechtigkeit und Willkür, wo wir sie auch finden. Wir sehen darin die wahre Liebe zum Vaterland. Aber wie gesagt, wir wollen diesen Staat durch unsere politische Arbeit erobern, wir dürfen und müssen ihn deshalb kritisieren, aber wir können nicht so tun, als ob er und seine Einrichtungen nicht da wären.  

Für diese Aufgabe braucht die deutsche Sozialdemokratie Einigkeit und geschlossenen Willen zur Arbeit an Stelle der unaufhörlichen Zänkereien, mit denen gewisse Leute jeden neuen Schritt vorwärts zu begleiten, als Verleugnung der Grundsätze zu brandmarken und leider nur allzu vielen Genossen die politische Arbeit zu verekeln pflegen. (...) 

Kein Sozialdemokrat denkt daran, sich anzubiedern bei hohen Herren. Stolz und frei stehen wir auch den deutschen Fürsten gegenüber wie Mann dem Manne, aber auch nicht mit dem kleinlichen Groll und der heimlichen Angst, die eine Knechtseele dem Herrn gegenüber empfindet. (Beifall.) Auch die Fürsten tun mit Aufopferung und Hingabe ihre Schuldigkeit in der Verteidigung des Vaterlandes, auch ihre Kinder und Brüder fallen vor dem Feind, auch sie sind Glieder dieses deutschen Volkes, dessen Kraft und Treue sich jetzt so herrlich bewähren.«  

  Der SPD-Abgeordnete Wolfgang Heine im Reichstag, 1915  

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Viele Vertreter der sozialdemokratischen Führung und der Reichstagsfraktion begründeten ihre Haltung mit Argumenten, die sie sich selbst einredeten. Jedem war klar, dass nicht Russland den Krieg begonnen hatte, sondern die Habsburger und die Hohenzollern, die zu stürzen ein strategisches Ziel der Sozialdemokratie gewesen war. 

Die SPD hatte kein Konzept gegen den Krieg und die Gewerkschaften erst recht nicht. Das war sträflich, denn dem Kriegsausbruch waren mehrere weltpolitische Krisen vorausgegangen, die nicht weniger bedrohlich schienen als der österreichisch-serbische Konflikt. Niemand hatte lauter die Kriegsgefahr beschworen als die SPD. Aber sie hatte sich nicht auf diese Situation vorbereitet, sondern sich eingeredet, dass es so weit dann doch nicht käme. Im August 1914 rächte es sich, dass die Partei wohl ein revolutionäres Programm und reformpolitische Forderungen hatte, der Weg zu deren Durchsetzung aber im Nebel geblieben war. Das Pathos von den ehernen Gesetzen der Geschichte zerplatzte, als die Sozialdemokratie zum ersten Mal vor eine jähe Wendung der Ereignisse gestellt wurde. Die Internationale hatte noch verlangt, den Ausbruch eines Kriegs zu nutzen, um die eigene Regierung zu stürzen, aber die SPD hatte der Friedensliebe von Kaiser Wilhelm II. vertraut, statt die demokratische Republik zu erkämpfen.

Bernstein hatte Recht: Der Sozialismus kam nicht von allein. Und nun, da die Gleichförmigkeit der Entwicklung, die automatische Einführung des Sozialismus im Schongang und bei Aufrechterhaltung aller mühsam errungenen Privilegien des Funktionärskörpers dem Krieg zum Opfer fiel, erklärten die Sozialdemokraten, dass es im Interesse der Arbeiterklasse liege, wenn Deutschland den Krieg gewänne. Da die Partei trotz all ihrer Friedensagitation in den Jahren zuvor nicht auf einen Krieg vorbereitet war, entschied sie sich für das Vaterland und damit für die Kriegstreiber.

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Parteisekretär Ignaz Auer hatte die stillschweigende Verwandlung der SPD in eine Reformpartei angekündigt. Große Teile des reformistischen Lagers hatten die Revisionismusdebatte gemieden wie der Vampir den Knoblauch. Dafür zahlten sie nun den Preis: Sie standen ohne Strategie und Taktik da. Genauso wie die zentristischen Wahrer der reinen Lehre.

Schlaglichtartig wurde deutlich, was die als hysterisch verschriene Parteilinke immer wieder angeprangert hatte: Die SPD hatte längst die Fundamentalopposition gegen das kaiserliche Deutschland aufgegeben. Vor allem die großen und kleinen Führer waren fest verwachsen mit dem gesellschaftlichen und politischen Leben. Ihre Loyalität galt, trotz aller Bekundungen am 1. Mai und bei anderen wohlfeilen Gelegenheiten, längst dem Vaterland und nicht mehr den Klassenbrüdern überall auf der Welt. Am 4. August 1914 entpuppte sich die SPD als eine nationale Partei, deren Mitglieder darangingen, die französischen, belgischen und russischen Genossen zu erschießen.

Über das, was an diesem Schicksalstag der deutschen Arbeiterbewegung offenkundig wurde, hatten die Parteiführer all die Jahre beredsam den Mantel des Schweigens gedeckt. Und weil die meisten Genossen den Verheißungen ihrer Führer glauben wollten, waren sie so ratlos und überrascht, als die Wahrheit ans Tageslicht trat. Die SPD wurde am 4. August nicht an einem Tag eine andere Partei, sie hatte sich längst verändert.

 

 Gewollte Selbsttäuschung  

 

Früher und klarer als die Genossen selbst erkannte die Reichsleitung die sich in der Partei abzeichnende Wandlung. Die Regierung konnte für sich das Verdienst beanspruchen, die Entwicklung der SPD zur staatsstützenden Partei — den Staat zu tragen wurde ihr bis 1918 verwehrt — nach Kräften gefördert zu haben. Statt auf Unterdrückung setzte sie darauf, die SPD einzubeziehen. Clemens v. Delbrück, Vizekanzler und Staatssekretär des Innern, war zwar dagegen, dass die Regierung sich von der SPD abhängig machte, setzte aber sonst ganz darauf, die sozialdemokratische Opposition aufzuweichen. 

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Er resümierte später, dass es ein großer Fehler seiner Regierung gewesen wäre, wenn sie die »freiwillige Mitarbeit der Sozialdemokratie« abgelehnt oder hintertrieben hätte: »Es handelte sich jetzt darum, die Partei zu zersetzen; nicht aber ihre auseinander strebenden Elemente durch eine Gewaltpolitik wieder zusammenzuschweißen. Nach diesen Richtlinien hat die Regierung innerhalb der Jahre 1909 bis 1913 gearbeitet.« 

Mit Erfolg, wie sich im August 1914 zeigen sollte.

Nur 14 Abgeordnete von insgesamt 110 Mitgliedern der Reichstagsfraktion waren schließlich gegen die Kriegskredite. 

Unter ihnen war einer der beiden Parteivorsitzenden, Hugo Haase, wogegen der andere, Friedrich Ebert, für die Kriegskredite eintrat. Karl Liebknecht und Georg Ledebour machten sich später einen Namen als Führer der Linkssozialisten. Die Gegner einer Kreditbewilligung konnten es aber mit ihrem Demokratie- und Disziplinverständnis nicht vereinbaren, im Reichstag gegen die Fraktionsmehrheit zu stimmen, so, wie es sich Abgeordnete des rechten Flügels für den Fall vorgenommen hatten, dass sie für ihre Position keine Fraktionsmehrheit gewinnen würden. 

Am 4. August, an dem Tag, an dem Deutschland das neutrale Belgien überfiel, verlas ausgerechnet Haase die Erklärung der Reichstagsfraktion: »Nicht für oder gegen den Krieg haben wir heute zu entscheiden, sondern über die Frage der für die Verteidigung des Landes erforderlichen Mittel. (...) Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich.« Am 2. Dezember 1914, nachdem die Illusionen eines schnellen Sieges über Frankreich längst zerstoben waren, stimmte Liebknecht als einziger Abgeordneter gegen weitere Kriegskredite.

Da war längst klar geworden, dass die Entscheidung vom 4. August auch Folge einer gewollten Selbsttäuschung war. Niemand konnte sich mehr darauf berufen, dass Deutschland angegriffen worden sei. Die Hoffnung auf einen kurzen Krieg entpuppte sich schon im September 1914 als wirklichkeitsfremd; in der Schlacht an der Marne zerschlugen Franzosen und Engländer mit dem rechten Flügel der deutschen Invasionsarmee den Schlieffenplan gleich mit. Das veranlasste die Reichsleitung aber nicht dazu, ihre abenteuerlichen Kriegsziele zu mäßigen.

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Den Lohn für ihre Zustimmung zu den Kriegskrediten hat die SPD nie erhalten. Sie wurde nicht zu einer gleichberechtigten politischen Kraft. An den undemokratischen Verhältnissen im Reich änderte sich nichts, im Gegenteil, wurden doch im Krieg selbst die wenigen Rechte, die der Kaiser seinen Untertanen zugestanden hatte, suspendiert. Die Versuche der SPD, die Kriegspolitik zu beeinflussen, scheiterten. Noch im Sommer 1917 weigerte sich die Regierung, der Forderung nachzukommen, defensive Kriegsziele festzulegen. Sogar Eduard David erklärte daraufhin die Lage für »hoffnungslos«. Statt mehr Einfluss zu erlangen, saß die Partei in der Falle. 

Und trotzdem hofften die die eigene Regierung stützenden Sozialdemokraten auf einen Sieg der deutschen Waffen. Eine Niederlage könne die Startchancen für den Sozialismus nur verschlechtern, erklärte etwa der spätere Ministerpräsident Scheidemann. Deswegen schickte der Reichstagsabgeordnete seinen Genossen und Wählern in den Schützengräben der Westfront Durchhalteparolen. Das ganze Volk müsse zusammenhalten, um die Feinde zu einem angemessenen Frieden zu zwingen. Einige rechte Sozialdemokraten gingen in ihrer Kaisertreue nun sogar so weit, dass sie oppositionelle Genossen an die Behörden verpetzten, damit diese die Widerspenstigen möglichst bald durch die Einberufung an die Front aus dem politischen Verkehr zogen.

 

  Eine Art geistige Gefangenschaft  

Immerhin war die SPD dem drohenden Verbot ausgewichen. Das ist aber die einzige Position auf der Habenseite der Bilanz des 4. August. Wenn man bedenkt, welchen Preis sie dafür bezahlt hat, dann kommt man leicht zum Ergebnis, dass ein Verbot vorteilhafter gewesen wäre. Jedenfalls im Blick auf die Zukunft. Denn mit dem 4. August 1914 spaltete sich die Sozialdemokratie. Die SPD verlor einen großen Teil ihrer Anhänger und einen nicht geringen Teil ihrer Glaubwürdigkeit, vor allem in der deutschen Linken. Dort war nun immer wieder vom »Verrat am 4. August« die Rede; kein Vorwurf traf die Sozialdemokratie härter. Nicht allein Kommunisten begründeten ihre zeitweise hysterische Bekämpfung der SPD mit dieser Verdammung. Wir werden noch sehen, welche zerstörerischen Folgen die Zustimmung zu den Kriegskrediten noch Jahrzehnte später für die sozialdemokratische Identität haben sollte. Auf Bernstein konnten die Befürworter der Kriegskredite sich bald nicht mehr stützen. 

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Seine »Schüler« warfen ihm vor, die Politik abzulehnen, die er selbst gefordert hatte. Aber das war ein himmelschreiendes Missverständnis. Bernstein war kein Chauvinist, auch kein »nationaler« Politiker, sondern ein Theoretiker und Politiker, der eine aktive Reformpolitik forderte und seine Partei in ihrer Erstarrung angriff. Sozialdemokratische Politik war für ihn Friedenspolitik, und die Aufwertung der SPD sollte sich nicht in der Folge eines zynischen Geschachers mit Kriegstreibern, sondern durch Demokratisierung herstellen. Bernstein ließ sich auch im Krieg nicht davon abbringen, sich als Feind der Hohenzollernherrschaft zu betrachten. Seine Partei sah er schon 1916 in »eine Art geistige Gefangenschaft geraten«. Daraus konnte sie sich nicht selbst befreien, das vermochte erst die deutsche Niederlage im Oktober 1918.

Zuvor aber musste sie einen hohen Preis für den August 1914 bezahlen. Nicht geringe Teile der Sozialdemokratie verließen die Partei in einem schmerzhaften Ablösungsprozess, darunter Bernstein, Kautsky und Eberts Mitvorsitzender Haase. Sie gründeten im April 1917 die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD), ihr Programm war der Kampf für einen sofortigen Frieden. Sonst erhoben die Unabhängigen in ihrem von Kautsky verfassten Manifest Forderungen nach demokratischen Grundrechten: allgemeines, gleiches und geheimes Wahlrecht, Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit sowie eine Amnestie für politische Gefangene.

Zur USPD stieß auch eine seit Anfang 1916 bestehende kleine Gruppe um Rosa Luxemburg, Franz Mehring, Clara Zetkin und Karl Liebknecht, die unter dem Pseudonym »Spartacus« illegale Schriften veröffentlichte und bald nach ihrem Decknamen bezeichnet wurde. Die Spartakusgruppe setzte fort, was Rosa Luxemburg in ihrer Auseinandersetzung mit Revisionisten und Parteiführern begonnen hatte. Die Spartakisten wollten die eigene Regierung revolutionär stürzen. Sie hatten am äußersten linken Flügel der SPD gestanden und bildeten nun den linken Flügel der USPD. In dem Maß, wie der Krieg sich verlängerte und in der Heimat für Hunger und Elend sorgte, rechneten sich die Spartakisten Chancen aus für ihr revolutionäres Programm. In der Gruppe aber sammelten sich zunehmend auch abenteuerliche Elemente, die mit wachsender Verzweiflung alles zerschlagen wollten, was ihnen im Weg zu stehen schien. Kriege erzeugen nicht nur Tote und Verwundete, sondern auch zerstörte Seelen, von denen Zerstörung ausgeht. Die Tragödie des Januaraufstands 1919 zeichnete sich früh ab.

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Viele Historiker sprechen von einer dreifachen Spaltung der deutschen Sozialdemokratie und verweisen mit einigem Recht darauf, dass der Spartakusbund im Rahmen der USPD eine selbstständige Erscheinung gewesen sei. Dafür spricht auch, dass sich die Spartakisten am Jahreswechsel 1918/19 als Kommunistische Partei Deutschlands (Spartakusbund) unter der Losung »Wir sind wieder bei Marx« verselbstständigten. Seitdem gab es drei Parteien: SPD, USPD und KPD. In Wahrheit aber teilte sich die politische Arbeiterbewegung in einem komplexen Prozess in zwei Teile, und dazu gehört die Verwirrung über die scheinbare Vielzahl der Strömungen in der Übergangsphase. 

Auf der einen Seite standen die Mehrheitssozialdemokraten und der rechte Flügel der USPD, die sich in einem einzigen Punkt unterschieden: weitere Unterstützung der Kriegsregierung oder Verweigerung. Für die Vertreter des rechten USPD-Flügels war dies eine drängende Frage, die die Gründung einer eigenen Partei rechtfertigte. Als aber der Krieg beendet war, zeigte sich, dass dies der einzige Grund gewesen war. Mit einiger Verzögerung, die der Eigendynamik der Parteigründung zuzuschreiben ist, stieß schließlich der zentristische Flügel wieder zur von Rechts dominierten Mehrheitssozialdemokratie, und der Teilungsprozess der Arbeiterbewegung war vollendet. Eine linke USPD-Mehrheit hatte zuvor die Aufnahmebedingungen der Kommunistischen Internationale akzeptiert und sich mit der KPD verschmolzen. Nun standen sich die beiden Flügel der Arbeiterbewegung in klarer organisatorischer Ausprägung gegenüber. In dem Maß aber, wie die KPD unter das Diktat der Komintern, also Moskaus, geriet und schließlich mit ihrer so genannten Bolschewisie-rung unter dem einstigen USPD-Mitglied Ernst Thälmann im stalinistischen Sumpf versank, verabschiedete sich dieser Flügel der deutschen Arbeiterbewegung aus dem Kampf um mehr Demokratie. In der zweiten Hälfte der Weimarer Phase vertrat nur noch die Sozialdemokratie die demokratisch-sozialistische Arbeiterbewegung, aber dies wohl auch aus Mangel an demokratischer Konkurrenz zu oft in kläglicher Weise.

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Mit der Bolschewisierung der KPD wurde Rosa Luxemburgs Erbe zerstört. Nicht umsonst begannen Stalin und seine Genossen bald, den »Luxemburgismus« genauso zu verfolgen wie den »Sozialdemokratismus«. In der Vernichtungsorgie der Stalinisten wuchs wieder zusammen, was zusammengehörte. Wenn überhaupt, dann stößt man auf dem linken Flügel der Weimarer SPD und in den Absplitterungen von SPD und KPD auf die Ideen Rosa Luxemburgs.

»Das andere Opfer des sich neu erhebenden Militarismus, Rosa Luxemburg, ist lediglich als die selbstlose Kämpferin für eine Idee gefallen, der sie ihr ganzes Ich gewidmet hatte. Auch sie hat in der Einschätzung der Tragkraft der Revolution geirrt, und ihre im Krieg erschienene, glänzend abgefasste Schrift über die Krise in der Sozialdemokratie zeigt auch, warum sie irren musste. Vor ihrem geistigen Auge stand und in ihrer Seele lebte ein aus der Abstraktion abgeleitetes Proletariat, dem das wirkliche Proletariat nicht entsprach. War sie doch, wie ihre hinterlassenen Briefe zeigen, im letzten Grunde eine durchaus dichterische Natur. In ihr hat der Sozialismus eine hoch begabte Mitstreiterin verloren, die der Republik unschätzbare Dienste hätte leisten können, wenn nicht falsche Einschätzung der Möglichkeiten sie ins Lager der Illusionisten der Gewaltpolitik geführt hätte. Aber auch wer um dessentwillen im Parteikampf ihr Gegner war, wird das Andenken dieser rastlosen Kämpferin in Ehren halten.«

Eduard Bernstein, 1919

 

Ihre und Karl Liebknechts Ermordung im Januar 1919 raubte dem Linkssozialismus die überragenden, charismatischen Köpfe. Es ist müßig zu spekulieren, wie der Weg der KPD weitergegangen wäre, wenn die beiden Führer am Leben geblieben wären, denn es gibt keinen vernünftigen Grund anzunehmen, dass die KPD sich anders entwickelt hätte als die anderen kommunistischen Parteien fast überall auf der Erde. Dass aber Rosa Luxemburg Stalins und Thälmanns Demokratiefeindlichkeit auf das Äußerste bekämpft hätte, darf als sicher unterstellt werden - man lese nur ihre Schrift über die russische Revolution.

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Mit der Abspaltung des linken Flügels im Weltkrieg verlor die SPD nicht nur brillante Köpfe zeitweise — Bernstein, Kautsky, Haase — und für immer — Luxemburg, Liebknecht, Mehring, Zetkin —, sondern auch einen wesentlichen Teil ihrer Identität. In der der Niederlage im Krieg folgenden Revolution sollte sich bestätigen, was sich während des Kriegs bereits gezeigt hatte: dass nämlich die SPD sich von Revolution und Sozialismus längst verabschiedet hatte, auch wenn beides noch eine Zeit lang im Programm zu finden sein würde. Das Erfurter Programm von 1891 war nicht nur zeitlich überholt, es entsprach auch schon lange nicht mehr der Identität der Sozialdemokratie. Die USPD berief sich 1919, als sie ihr Aktionsprogramm beschloss, auf das Erfurter Programm vor allem, um im Wettbewerb der sozialdemokratischen Parteien das gemeinsame Erbe für sich zu beanspruchen. In ihrem Programm von 1919 geht sie weit über das hinaus, was im Erfurter Programm festgelegt war. Explizit ist nun von der Diktatur des Proletariats die Rede, von der Eroberung der politischen Macht und der Einführung eines Rätesystems sowie von der Vergesellschaftung der Produktionsmittel: »Nur durch die proletarische Revolution kann der Kapitalismus überwunden, der Sozialismus verwirklicht und damit die Befreiung der Arbeiterklasse durchgeführt werden.«

Als handelte es sich um ein Nullsummenspiel: Was sich an revolutionärem Potential in der Unabhängigen Sozialdemokratie versammelte, fehlte der Mehrheitssozialdemokratie. Sie erschien nun als eine bürgerlich-demokratische Partei mit Verwurzelung in der Arbeiterschaft und einer unbestimmten Forderung nach Sozialisierung. Als die von den Sozialisten so lange herbeigesehnte Revolution herannahte, fürchtete sie kaum einer mehr als der Führer der mehrheitssozialdemokratischen Partei, Friedrich Ebert.

15. Dezember 1999:

Gestern Abend habe ich mich an einer Telefonaktion der Lübecker SPD beteiligt. Damit wollten wir die Aussichten unseres Bürgermeisterkandidaten Bernd Saxe bei der Stichwahl kommenden Sonntag verbessern. Ich habe Listen mit einigen Dutzend Namen abgearbeitet, also mehr oder minder überraschte Bürger freundlich gebeten, sich an der Wahl zu beteiligen und für Saxe zu stimmen. Das Argument: Saxe sei sozial kompetenter als der CDU-Kandidat. Das trifft zwar im Vergleich zu, aber dass gerade Saxe ein Sozialpolitiker sein soll, ist nicht wahr. Er zählt eher zum wirtschaftsfreundlichen Flügel der Partei. Im Wahlkampf hat er jedoch immer wieder die soziale Gerechtigkeit beschworen. Das war nicht nur in seinen Augen das entscheidende Argument. Es ist schon seltsam, dass Wirtschaftsfreunde im Wahlkampf Sozialpolitiker werden. Es bedarf keiner besonderen Prognosefähigkeit, um vorauszusagen, dass sich dieser biografische Abstecher unseres Bürgermeisterkandidaten nicht fortsetzen wird.

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