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9  BRD etwas dunkler und kalt

Der Weg und das Ziel 

 

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In Pasewalk im mecklenburg-vorpommerschen Kreis Uecker-Randow treffe ich Barbara Glaß. Die zierliche Frau mit kurzgeschnittenen braunen Haaren über einem schmalen Gesicht ist Doktorin der Agrarwissenschaften. Barbara Glaß ist freundlich, zurückhaltend, aber offen. Die Vierzigjährige arbeitet als ABM-Kraft in einem Projekt "Dorferneuerung" in Ferdinandshof, zwischen Pasewalk und Anklam gelegen. Von 1975 bis 1979 studierte sie an der Wilhelm-Pieck-Universität in Rostock, Sektion Tierproduktion. Anschließend arbeitete sie in einem Forschungsstützpunkt der Universität in Ferdinandshof. In ihrer Promotion beschäftigte sie sich mit der Aufgabe, "hochleistungsfähige Masthybriden herauszuzüchten", also Fleischberge auf vier Beinen.

In vielen Regionen der einstigen DDR sieht man noch heute die riesigen, flachen Bauten, die Ställe zu nennen ich zögere. Es sind Aufzuchtanlagen, Zementkästen, mitten in Dörfer und Wiesen gesetzt. Ihre Gülle hat manche Böden mit Nitrat verseucht. Die meisten Rindermastanlagen werden heute nicht mehr benutzt und verwandeln sich in Betonzeugen des Fortschrittswahns. 

Barbara Glaß ist mit achtzehn Jahren, früher ging es nicht, in die SED eingetreten. 1976 gab es wieder einmal ein "FDJ-Aufgebot", und die besten Schülerinnen und Schüler der Abiturklassen, sofern sie auch "gesellschaftlich aktiv" waren, wurden für würdig befunden, Kandidaten der "Partei der Arbeiterklasse" zu werden. Barbara Glaß war nicht nur eine gute Schülern, sondern auch rührig in der FDJ. "Ich habe überhaupt nicht lange überlegt, das zu machen", sagt sie mir. "Es war eine logische Folge meiner Erziehung." Der Vater war auch in der SED. Aber: "Von heute aus gesehen, könnte ich den Grund nicht mehr nachvollziehen."

Der Frust, den die SED wohl allen beweglichen Geistern mehr oder minder bereitet hat, hat auch Barbara Glaß bald ereilt. Es fing an, als sie nach der Promotion in der Pasewalker Kreisverwaltung für die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) zuständig war. "Es durfte keine Minusbilanz geben, jeder Pups mußte begründet werden", klagt sie über die strenge Hierarchie im Staatsapparat. Den Rat des Kreises kontrollierte - demokratisch-zentralistisch - der Rat des Bezirks, und über dem stand der Ministerrat. Soviel Rat ist wirklich teuer. Wenn es im Kreis Pasewalk mit der Planerfüllung mal wieder nicht geklappt hat, wurde sie "künstlich korrigiert", wie in anderen Kreisen auch. "Es wurde alles manipuliert", sagt Barbara Glaß. Sie hat versucht, ihre Meinung in der Partei zu Gehör zu bringen. Aber es hat nichts genutzt. Spätestens in der SED-Bezirksleitung kamen alle Beschwerden zurück wie ein Bumerang. Schließlich hat Barbara Glaß resigniert: "Mir hat man dann auch den Zahn gezogen."

Die Wende hat sie als "erlösend und spannend" empfunden. Es war ihr egal, daß die Revolution für ihre Partei eine Niederlage war. Wenn Honeckers Sturz in der Partei ausgelöst worden wäre, dann wäre die Revolution anders verlaufen. "Die Genossen hätten auf die Straße gehen müssen." Barbara Glaß ist froh über den Sturz des SED-Regimes. 

 

Keine Strategie

Ich mache mit ihr ein kleines Spiel und gebe ihr dreißig Sekunden Zeit, der DDR und der BRD Eigenschaften zuzuordnen. Das ist ein bißchen unfair, aber sie macht mit: "DDR: hell und warm; BRD: etwas dunkler und kalt. DDR: Demokratiemängel; BRD: mehr Demokratie, wenn auch mit Abstrichen. DDR: soziale Sicherheit, ich kenne keine Arbeitslosen; BRD: soziale Unsicherheit, Obdachlose, Massenarbeitslosigkeit, Armut - so etwas kenne ich nicht aus der DDR." 

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Wenn sie sich aussuchen könnte, wo sie leben dürfte, dann lieber in der DDR. 

Barbara Glaß ist nicht die einzige Genossin, die ich traf, die die Diktatur der eigenen Partei verdammt, aber doch lieber in der DDR leben würde. Viele Ostdeutsche empfinden das neue Deutschland kalt, bürokratisch, hartherzig und rücksichtslos. Und in vielerlei Hinsicht ist es das auch. Heute wissen es nicht nur Wirtschaftsexperten, daß Honeckers soziale Segnungen seit dem VIII. SED-Parteitag - der vielbeschworenen "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" als "Hauptaufgabe" - die DDR wirtschaftlich überfordert haben. Es ist insofern demagogisch, wenn Unbelehrbare in der PDS bei ihren Systemvergleichen die Wohltaten der SED, besonders für Frauen, in die Waagschale legen. Unter anderem deswegen ist die DDR pleite gegangen. 

Das ist kein Gerücht, sondern Auskunft des obersten Wirtschaftsplaners Gerhard Schürer, und sie ist vielfach publiziert. Was die sehenden Blinden nicht daran hindert, den Unsinn von der sozialen Sicherheit in der DDR weiterzuverbreiten. Hätte es keine Bürgerbewegung gegeben, hätte nicht Gorbatschow darauf verzichtet, die Panzer rollen zu lassen, als die Menschen auf die Straßen gingen, die DDR hätte ihre Zahlungsunfähigkeit bekennen müssen. Um das zu verhindern, hatte sie bereits 1983 einen von Franz Josef Strauß vermittelten Milliardenkredit erbettelt. Wirtschaftslenker Günter Mittag und Konsorten fuhren die DDR-Wirtschaft auf Verschleiß, und ihrer Ökonomie erging es so wie der Reichsbahn, deren Langsamfahrstrecken kein Ende nehmen wollten.

 

Diktatur lehnen wir ab

Fast alle in der PDS, ob an der Basis oder in der Führung, beschwören die soziale Kälte in der Bundesrepublik und erinnern sich gern der Zeit der Kollektive, der Solidarität, der gegenseitigen 

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Hilfe - und vergessen hin und wieder, daß zu all dem untrennbar auch die Unterdrückung gehörte. Daß das solidarische Miteinander auch zu tun hatte mit der allumfassenden Organisierung der Bevölkerung bis hin zu Hausgemeinschaften. Daß Vollbeschäftigung ermöglicht wurde durch den Mangel an wirtschaftlicher Effizienz. 

Und doch: Wenn irgend etwas die große Mehrheit der PDS-Genossen mit der DDR verbindet, dann deren sozialen Wohltaten und der fehlende Druck durch berufliche Risiken. Deswegen empfinden selbst erneuerungswillige Genossen die BRD oft als fremdes Land. Und deswegen betrachtet sich die PDS als Partei mit besonderer sozialer Kompetenz, die die jahrzehntelange Erfahrung der Solidarität in die neue Bundesrepublik einbringen könne. Das ist ein zentraler Ausgangspunkt aller strategischen Überlegungen der Partei. Seit es eine Strategie gibt. Der Weg dazu war allerdings beschwerlich.

 

Noch 1991 beklagte André Brie, daß es eine Strategie der Partei nicht gebe.245 Die Genossen wußten damals vor allem, was sie nicht wollten: "Der Weg kann nicht eine Revolution alten Verständnisses sein. Gewalt, Machtkämpfe, Diktatur lehnen wir ab", so der Parteivorstand in seinem Rechenschaftsbericht auf dem 2. Parteitag im Januar 1991. Statt dessen wollten die Genossen eintreten "für eine Humanisierung und Demokratisierung aller gesellschaftlichen Beziehungen". Dies sei ein "langwieriger Prozeß von Umwälzungen, die durchaus revolutionären Charakter tragen, da sie über die derzeitigen gesellschaftlichen Strukturen hinausweisen".243 Das war noch eher abstrakt, genauso wie die Überlegungen der Grundsatzkommission des PDS-Bundesvorstands, die den "Kampf gegen die Dominanz von Kapitalinteressen" in der Vordergrund stellen, sich aussprechen für "gesellschaftlichen Fortschritt, für eine friedliche, naturverträgliche, demokratische, sozial gerechte, antipatriarchalische und kulturell reiche Gesellschaft". Dazu wollten die Genossen die Potenzen der heutigen bürgerlichen Gesellschaft nutzen.247

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Auch welche Bevölkerungsgruppen die PDS vertreten wolle, ließ sie offen. Sie wollte "nicht Vertreter der besonderen Interessen bestimmter sozialer Gruppen, Schichten oder Klassen sein, die es gegen die Interessen anderer durchzusetzen gelte. Das klingt ein bißchen nach Karl Marx, laut dessen Überzeugung die Befreiung der Arbeiterklasse von Ausbeutung gleichbedeutend war mit der Befreiung aller Menschen. Nur fehlt bei der PDS der Bezug auf eine bestimmte Klasse.

 

Meist abstrakte Formeln

Im Juni 1991, auf der 2. Tagung - der Fortsetzung - des 2. Parteitags, distanzierte sich Parteichef Gysi zum wiederholten Male von der marxistisch-leninistischen Revolutionstheorie, wie sie vor allem Lenin in Vorbereitung und Auswertung der Oktober­revolution entwickelt hatte: "Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft bedeutet für mich nicht die Wiederholung eines Versuchs, der die zivilisatorischen Errungenschaften der bürgerlichen Gesellschaft ignoriert." Er meinte damit vor allem individuelle und politische Menschenrechte, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, aber auch "die positiven Gestaltungskräfte marktwirtschaftlicher Mechanismen".245

Er formulierte Grundsätze für eine Strategie der PDS:

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Mir fällt auf, daß die meisten Punkte sich auch lesen lassen als Kritik an der DDR. Inwieweit die Einsicht in die Ursachen und Folgen der SED-Politik Gysi konkret die Hand führten, weiß ich nicht. Aber in dieser Zeit war die Parteiführung noch stark damit befaßt, Lehren aus der Vergangenheit in die Politik der PDS einfließen zu lassen. Vor allem wird immer wieder betont, wieviel Wert man auf Demokratie, ja auf ihre Verbesserung lege. So als wolle man es diesmal besonders gut machen. Besonders Gregor Gysi beschwört Demokratie bei allen Gelegenheiten. Es ist kein Zufall, daß Jahre später, als er das "Ingolstädter Manifest" vorlegte, die Demokratie ganz vorne auf der Prioritätenlisten stand.

Das ist bei anderen bald anders. Je weiter die Erinnerung an die DDR verblaßt, desto konkreter konzentrieren sich viele Genossen in der Führung auf Wirtschafts- und Sozialpolitik, vor allem die Massenarbeitslosigkeit. Hier sehen sie den Hauptansatzpunkt für PDS-Erfolge. "Die zentrale wirtschafts- und sozialpolitische Schlüsselfrage für eine moderne sozialistische Partei ist der Kampf um das Recht auf Erwerbsarbeit. (...) Die Forderung nach einem selbstbestimmten Leben kann nur dann verwirklicht werden, wenn Massenarbeitslosigkeit und Ausgrenzung ganzer sozialer Schichten überwunden werden", heißt es in einem Thesenpapier von André Brie, Hans Modrow, Lothar Bisky, Kerstin Kaiser-Nicht, Michael Schumann und anderen vom September 1991.247 

Natürlich gab es heftige Einwendungen der Traditionalisten. Die führende Rolle der Partei war weg, die Arbeiterklasse hatte als

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 revolutionäres Subjekt ausgedient und damit auch der Klassenkampf, eine "richtige" Revolution sollte es auch nicht geben, das Privateigentum an Produktionsmitteln sollte nur beschränkt und nicht abgeschafft werden.

Am Ende der ersten Etappe der Strategiedebatte in der PDS standen auf der einen Seite meist abstrakte Formeln, in denen sich der Versuch ausdrückte, es besser zu machen, die richtigen Lehren aus der diktatorischen Vergangenheit zu ziehen. Auf der anderen Seite standen die abstrakten Formeln jener, die Ideale der Geschichte beschworen und sich geistig keinen Millimeter von Stalin wegbewegt hatten. Gregor Gysi interpretiert diesen Zwist als Neuauflage eines alten Streits der "beiden traditionellen Hauptrichtungen linker Politik in den vergangenen Jahrzehnten". Die einen wollten den Kapitalismus reformieren, die anderen wollten Widerstand üben und den Kapitalismus revolutionär überwinden. Das erinnert in der Tat an die Diskussion über Reform und Revolution, wie sie die Arbeiterbewegung von Anfang an geführt hatte: zuerst Marx gegen Bakunin und die Anarchisten, dann Rosa Luxemburg und Karl Kautsky gegen Eduard Bernstein im "Revisionismusstreit" in der deutschen Sozialdemokratie (dessen russische Variante der Kampf zwischen Menschewiki und Bolschewiki in Rußland war), dann die Konflikte zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten in der Weimarer Republik (und zwischen der Zweiten und der Kommunistischen Internationale in Europa). Und nun schließlich innerhalb der PDS? Ganz bestimmt nicht.

 

Reformer und Reaktionäre

Fast alle jener, die sich in der PDS revolutionär geben, sind in Wahrheit vergangenheitsfixiert. Sie entwickeln keine Politik, keine Strategie für Gegenwart und Zukunft, sondern verteidigen ihre Biographien. Es sind 

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nicht zuletzt die älteren weißhaarigen Herren, deren Beiträge zu jedem beliebigen politischen Thema immer in der Vergangenheit enden. Wenn man mit ihnen über Arbeitslosigkeit diskutiert, fällt ihnen nichts ein außer, daß Arbeitslose in der DDR nicht gegeben habe. Beim Thema Mieten loben sie die niedrigen Mietpreise in der DDR. Beim Thema Emanzipation kommen sie auf betriebliche Kinderkrippen in den volkseigenen Betrieben. Und in Sachen Kriminalität erklären sie, daß man früher ohne Angst durch Parks habe laufen können. KPF und Marxistisches Forum bieten im Kern nicht viel mehr als eine systematisierte Variante der Stammtischostalgikerthesen. Was sollte daran revolutionär sein?

Auch der Streit um die Strategie wird nicht zwischen Reformern und Revolutionären ausgetragen, sondern zwischen Reformern und Reaktionären, vor allem Stalinisten. Die Unterschiede liegen zwar oft nicht in Reinform vor, aber im Kern geht es darum.

Ende 1991, auf der 3. Tagung des 2. Parteitags, versuchte Gregor Gysi die Positionen zu benennen, in denen sich die zerstrittenen Lager einig seien. Zum ersten sei die kapitalistische Gesellschaft nicht das letzte Wort der Geschichte. Zweitens sei die kapitalistische Produktions- und Lebensweise, "ihre Ausbeutungsverhältnisse und ihr Expansionismus" die Hauptursachen für die Existenzkrise der Menschheit. Drittens habe unsere Zivilisation nur eine Überlebenschance, wenn schon "in absehbarer Zeit radikale Wandlungen in der Gesellschafts-, Wirtschafts-, Individualitäts- und Weltentwicklung durchgesetzt werden. Es geht also um sozialistische Ziele." Allerdings gebe es unterschiedliche Auffassungen darüber, was sozialistische Ziele seien. Doch bestehe Einigkeit in den "Forderungen nach Sicherung des Friedens und radikaler Abrüstung, nach sozialer Gerechtigkeit, nach tiefgreifenden Vergesellschaftungsprozessen, nach einem neuen Verhältnis zur Natur, nach Abschaffung sämtlicher patriarchalischer Strukturen, nach einer solidarischen Weltwirtschaftsordnung und anderen radikalen Veränderungen mit dem Ziel, die Emanzipation des Menschen im Einklang mit der Natur zu verwirklichen, was voraussetzt, Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse zu beseitigen und jegliche Diskriminierung von Menschen wegen ihres Geschlechts, ihrer Rasse, ihrer Nationalität, ihrer Weltanschauung, ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer Behinderungen zu beseitigen."

"Meines Erachtens" seien sich die Genossen, viertens, auch darin einig, daß "wichtige Wege zur Erreichung dieses Ziels die permanente Demokratisierung und Erhöhung des Kulturniveaus in den gesellschaftlichen Verhältnissen sein sollte". Fünftens schließlich beklagt Gysi, daß politisch, ökonomisch, sozial und psychisch der Boden dafür bereitet werde, daß "dieses größere Deutschland erneut zu einer schwer kalkulierbaren und damit nicht ungefährlichen Großmacht wird, der Boden für einen neuen deutschen Nationalismus. Diese Entwicklung kann und muß aufgehalten werden. Als Internationalisten tragen wir dafür große Mitverantwortung."248

Das ist ein Sammelsurium von Klagen und Forderungen, die in ihrer Abstraktheit und Unverbindlichkeit vor allem Hilflosigkeit signalisieren. Es ist das Bemühen, einer Partei ein linkes gesamtdeutsches Profil zu geben, die in der politischen Wirklichkeit doch nur einen Schwerpunkt kennt: die Verteidigung ostdeutscher Interessen, vor allem der PDS-Klientel. Betrachtet man etwa die Initiativen der PDS-Bundestagsgruppe, der Gregor Gysi vorsitzt, zwischen 1990 und 1994, so zeigt sich, daß die meisten der Parteitags- und Programmglaubenssätze so verwirklichungsgefährdet sind wie Sonntagspredigten. Es ging der PDS, auf jeden Fall ihren Bundestagsabgeordneten, zum Beispiel in der zwölften Wahlperiode des Bonner Parlaments neben einigen linken Pflichtübungen um die Ex-DDR: etwa um einen "Kündigungsschutz für bisherige Angehörige des öffentlichen Dienstes der ehemaligen DDR", die "Gleichstellung von ostdeutschen Lehrerinnen und Lehrern", die "Bestandsgarantie für sanierungsfähige Betriebe der Treuhand", "Privatisierungskriminalität", die "weitere Behandlung der Altkredite der LPG-Rechtsnachfolger", ein "Spionage-Amnestiegesetz" und so weiter und so fort. Am Ende der langen Liste parlamentarischer Initiativen kommt der Rest der Welt: eine Große Anfrage zur Entwicklungspolitik der Bundesregierung und eine kleine Anfrage zu Menschenrechtsverletzungen in der Türkei.249 Das ist alles über den nach PDS-Auffassung entscheidenden Konflikt der Welt. Und von Ökologie, einer anderen Lebensfrage, war genausowenig die Rede. Auch hier gilt Engels' Satz von der Praxis, die das Kriterium der Wahrheit sei. Lothar Bisky hat die PDS in seiner Auswertung des Schweriner Parteitags vom Januar 1997 als die "Partei der sozialen Alternative" definiert. Und er forderte die "Konzentration auf den Kern der sozialen Frage", also auf die Themen Arbeit, Haushalts- und Steuerpolitik.250 Hätte er hinzugefügt "für Ostdeutschland", dann hätte sich die PDS, zumindest in den Augen ihres Vorsitzenden, der eigenen politischen Wirklichkeit ein Stück weit angenähert.

Es ist wichtig, besondere Interessen ostdeutscher Bürger zu vertreten. Viel zu viele sind durch die Einheit unter die Räder gekommen. Aber ist das linke Politik? Im wesentlichen betreibt die CSU nichts anderes. Auch sie bemüht sich, gesamtdeutsch nicht zu kurz zu kommen (dies allerdings von einer besseren Ausgangslage aus und mit größerem Erfolg). Interessanterweise hat sich KPF-Führer Michael Benjamin einen Reim gemacht auf die Schwierigkeit, ostdeutsche Interessen mit dem Zwang zur linken Profilierung zu vereinen, indem er die PDS schnurstracks zur ostdeutschen Volkspartei verklärte und die Ostdeutschen quasi insgesamt zur Arbeiterklasse erkor, weil die soziale Differenzierung in Neufünfland noch nicht so ausgeprägt sei wie im Westen.251 Und der Berliner PDS-Historiker Heinz Karl assistiert:

"Die sogenannten ostdeutschen Interessen, als deren authentische Vertreterin sich die PDS in hohem Maße durchgesetzt hat, haben weitgehend einen antikapitalistischen Inhalt: Widerstand gegen Eigentumsveränderungen zugunsten westdeutscher kapitalistischer Interessenten, gegen Arbeitsplatzvernichtung und Entwertung beruflicher Qualifikation, gegen Mietwucher und ‚Altschulden'-Regelung, gegen die kapitalistische Privatisierung sozialer und kultureller Einrichtungen usw. usf. Die Verfechtung dieser Interessen ist antikapitalistische Politik und eine entscheidende, unverzichtbare Komponente linker Politik überhaupt. Vor allem der PDS kommt zugute, daß unter einem beträchtlichen Teil der Ostdeutschen Erfahrungen und Wertmaßstäbe aus der Zeit der DDR lebendig sind, die bemerkenswerterweise an Wirksamkeit nicht ab-, sondern zunehmen."252 Karl und Benjamin vertreten eine große Mehrheit in der eigenen Partei, wenn sie so verklausuliert für die Rückkehr sozialer Wärme plädiert. Wie einst in der DDR.

Die strategischen Aussagen im gültigen PDS-Programm von 1993 sind dürftig, aber darin unterscheiden sie sich nicht von Aussagen in Programmen anderer Parteien. Es wird festgestellt, daß der "kapitalistische Charakter der modernen Gesellschaften ursächlich verantwortlich ist für die Gefährdung der menschlichen Zivilisation". Daher sei es erforderlich, daß "die Herrschaft des Kapitals überwunden werden muß". Die Menschheit müsse "bei Strafe ihres Untergangs" in historisch kurzer Zeit einen "Ausweg aus der bisherigen zerstörerischen Entwicklungslogik finden".253 Mit solchen Floskeln kann jeder alles anfangen, die Sahra Wagenknecht genauso wie André Brie. Das Programm wie auch sonstige programmatische Aussagen der PDS haben meist Kompromißcharakter. Die Lager einigen sich auf einen Minimalkonsens, oder der Parteivorstand rechnet schon von vornherein den Widerstand der Traditionalisten ein.

((Kasten Anfang)) Das Programm der PDS markiert alternative Umrisse einer lebenswerten Gesellschaft: Demokratisierung, Widerstand gegen den Rechtsruck, Verwirklichung kommunaler Selbstverwaltung, Recht auf Arbeit, soziale Grundsicherung und menschenwürdiges Wohnen, ökologische Umgestaltung der Wirtschaft, Entfaltung der Individualität von Frauen, Männern und Kindern, humanistische, von kommerziellen Zwängen freie Inhalte für Kultur, Bildung und Wissenschaft und Abwendung globaler Bedrohungen. Aber die PDS kann ebenso wenig wie andere Kräfte, die ähnliche Vorstellungen von einer besseren Zukunft haben, gültige genaue Auskunft darüber geben, wie die Brüche zu solcher Zukunft sich vollziehen werden und wer sie auf welche Weise tragen wird.

Aus dem offiziösen Kommentar zum PDS-Programm.254 ((Kasten Ende))

Aber die praktische Bedeutung wohlklingender Formeln strebt gegen Null. Das wissen natürlich auch Gysi und Genossen, die sich vorgenommen haben, Politik zu machen, statt den Niedergang des Arbeiter-und-Bauern-Staats zu beweinen. Und deshalb versuchen die Reformer in der Partei, die Strategiedebatte voranzubringen, der Partei endlich ein politisches Konzept und ein klares Profil zu geben. Das Profil brauchen die Genossen vor allem in ihrer Diaspora im Westen. Gysi, Bisky und André Brie wissen, daß es dort kaum Fortschritte geben dürfte, wenn die PDS sich allein als als "Rächerin der entmachteten DDR-Eliten" profiliert. Sie wagen einen Riesenspagat: Sie wollen im Osten ihr eigentlich konservatives, vergangenheitsfixiertes Klientel behalten, weil die PDS ohne diesen Wählerstamm in der Bedeutungslosigkeit versinken würde. Und sie wollen gleichzeitig das linke Potential im Westen gewinnen. Aber paßt der Kommunistische Bund (KB), eine vergleichsweise undogmatische Sekte in Norddeutschland, die in der PDS aufgegangen ist, zu ISOR? Um zusammenzubringen, was nicht zusammenpaßt, gibt es in der PDS eine Arbeitsteilung. Das Gros der Partei kümmert sich um die Verlierer der DDR-Revolution, und vor allem Gregor Gysi versucht, die PDS in Westdeutschland aufzubauen. Nun kann man mit der Rechtfertigung der DDR im Westen nur Alt-DKPler, wenn überhaupt, hinterm Ofen vorlocken. Und im Osten interessieren sich die meisten nur deshalb für eine Veränderung der BRD, weil sie die DDR immer noch für das bessere Deutschland halten. Wie bringt man diese so unterschiedlichen Milieus zusammen?

Ein erster Anlauf war Gregor Gysis "Ingolstädter Manifest", ein Grundsatzpapier, das er im Februar 1994 vorstellte, quasi zur Einstimmung auf die Wahlen im Herbst des Jahres. Das Manifest versteht sich als ein "Plädoyer für einen neuen Gesellschaftsvertrag". "Zu viele kämpfen nur um ihren Anteil am kleiner werdenden Kuchen. Lassen Sie uns anfangen, das Brot des 21. Jahrhunderts für alle zu backen."255 Für alle? Welch ein Sakrileg in linken Kreisen! Gemutmaßt wurde sogar, daß Gysi Ulbrichts "sozialistische Menschengemeinschaft" in neuem Gewand anpries oder gar Ludwig Erhards "formierte Gesellschaft".256 Aber das ist falsch. Gysi hat vor allem den Klassenkampf begraben. "Wir haben die Wahl zwischen sozialem Krieg und einem neuen Gesellschaftsvertrag."257 Vertrag zwischen wem? Ja, wirklich, zwischen Gewerkschaften und "aufgeklärten Unternehmern", Wissenschaftlern und Politikern. Historische Vorbilder sind ihm der westdeutsche Sozialstaat und der "New Deal"258 von US-Präsident Franklin D. Roosevelt, die "erfolgreich gegen den sozial verantwortungslosen Staat, gegen die absolute Macht des Kapitals auf dem Arbeitsmarkt und gegen die Ideologie der Ungestaltbarkeit der Marktwirtschaft angetreten" seien.259

Gysi fordert in seinem Manifest eine "Dritte Stimme". Es sollen nicht mehr nur Personen und Parteien gewählt werden können. Der Wähler soll künftig mit einer Drittstimme auch nichtstaatliche Organisationen wählen können, die sich für Umweltschutz, die Dritte Welt, Feminismus usw. einsetzen. "Je mehr Stimmen solche Organisationen auf sich vereinigen können, desto mehr Geld müßte ihnen aus dem Bundeshaushalt bzw. den Länderhaushalten zur Verfügung gestellt werden."260 Fünf Prozent der öffentlichen Haushalte sollen auf diesem Weg verteilt werden.

Gysi verlangt eine "direkte politische Mitbestimmung durch die sozialen Kräfte dieser Gesellschaft und vor allem durch jene, die sich sonst nicht Gehör verschaffen können". Dazu soll "neben dem Bundestag der Parteien" ein "Bundeskammer der sozialen Bewegungen" eingerichtet werden für Gewerkschafter, Unternehmer, Umwelt- und Mieterverbände, Behinderteninitiativen, ausländische Bürgerinnen und Bürger, Arbeitslose, Schwule, amnesty international, Volkssolidarität261 oder Greenpeace. Diese zweite Kammer - wo bleibt bei Gysi der Bundesrat? - soll Gesetze einbringen und Gesetzesvorlagen des Bundestags zeitweilig zurückweisen dürfen bei Entscheidungen, "die tief in das Leben von Betroffenen eingreifen".

Dies Ostdeutschen sollen dazu eine eigene Kammer wählen können, ausgestattet mit "Initiativ- und Einspruchsrechten" gegen ihre Benachteiligung. Gysi erinnert an das Schweizer Modell der Volksabstimmungen, um den Vorwurf abzuwehren, "das Volk sei zu dumm, um sich selbst zu regieren".262 Schlechter könne es dadurch nicht werden.

Auch in der Wirtschafts- und Sozialpolitik betritt Gregor Gysi Neuland. Er fordert "Runde Tische der Arbeitspolitik". Der öffentliche Dienst und große Unternehmen sollten ein halbes Jahr lang keine Arbeitskräfte entlassen dürfen. In dieser Zeit sollen Runde Tische Konzepte gegen die Arbeitslosigkeit erarbeiten. Dazu zählt Gysi neue Arbeitszeitmodelle, die Verkürzung der Arbeitszeit sowie steuerpolitische Regelungen, die Entlassungen bestrafen und Einstellungen belohnen.263

Gysis "Ingolstädter Manifest" ist auch deshalb kritisiert worden, weil es in weiten Passagen nach Wolkenkuckucksheim klingt.264 Es hat in der Tat starke populistische Züge. Und es überhöht die direkte Demokratie. Wie man die Schweiz als demokratisches Musterland darstellen kann, ist mir rätselhaft. Sie ist bei der Frauenemanzipation und der Ausländerpolitik wahrlich kein Beispiel für Liberalität. Und gäbe es in Deutschland die Möglichkeit, die Todesstrafe per Volksabstimmung einzuführen, es wäre längst geschehen. Gysis Manifest war ein Wahlkampfdokument, gemünzt auf den Westen Deutschlands. Es war der Versuch, die PDS in Altelfland salonfähig zu machen, was offenbar erforderte, fast allen ostdeutschen Ballast abzuwerfen.

Das ist der zweite Aspekt des Manifests, und er ist auf lange Sicht viel wichtiger als einzelne unausgegorene Forderungen. Die PDS des "Ingolstädter Manifests" ist nämlich nicht die PDS, wie sie sich in ihren Lagern und programmatischen Aussagen zeigt. Insofern heulten die Traditionalisten zwischen Wagenknecht und Heuer zu Recht auf. Für sie war das Manifest Verrat am Programm. Klassenkompromiß statt Klassenkampf. "Aufgeklärte Unternehmer" waren für sie nach wie vor Klassenfeinde. Gysis zettelte mit seinem Manifest eine neue Strategiedebatte in der PDS an. Sie wurde für einige Monate unterbrochen, weil alle Flügel angesichts der Bundestagswahlen Zurückhaltung übten. Aber dann brach der Streit richtig los.

Ende November 1994 beschloß der Parteivorstand als Diskussionsgrundlage für den 4. Parteitag im Januar 1995 "10 Thesen zum weiteren Weg der PDS"265, ein programmatisches Dokument, das sich in manchen Punkten an Gysis "Ingolstädter Manifest" anschloß. Darin wird unter anderem erklärt, daß die PDS "ostdeutsche Interessen als integralen Bestandteil einer alternativen Reformpolitik für ganz Deutschland begreift". Gefordert wird eine "Mehrheit für demokratische und soziale Reformen. Ohne PDS gibt es diesen Wechsel nicht." Die Rede ist einmal mehr von einem "Reformaufbruch, um zu einem neuen Gesellschaftsvertrag zu gelangen". Aber dieser sei nicht durch Verhandlungen zu bekommen, sondern durch den gemeinsamen Kampf der Reformkräfte. "Da es um das Überleben der Menschheit geht, lassen sich die Probleme der Gegenwart und Zukunft nicht mit einem vereinfachten und reduzierten Denken in den Kategorien von Klassenkampf oder Sozialpartnerschaft erreichen."

In der Partei brach ein Sturm der Entrüstung los. Die Absage an den Klassenkampf, das Konzept eines Gesellschaftsvertrags und die ebenfalls in den Thesen enthaltene Bekräftigung des Bruchs mit dem Stalinismus rührten an den Nerv vieler Genossen. Hinzu kam, daß der Parteivorstand dieses zentrale Dokument gerade drei Wochen vor Antragsschluß zum Parteitag vorlegte. Die Genossen fühlten sich nicht ganz zu Unrecht überrumpelt. Der Parteivorstand scheiterte mit seinem Vorstoß. Als klar wurde, daß er auf dem Parteitag keine Mehrheit für seine Thesen bekäme, zog er sie zurück und präsentierte statt dessen die Hälfte: ein Papier zu den "fünf wichtigsten Diskussionspunkten der gegenwärtigen Debatte"266. Nach einigem Hin und Her und Drohungen von Gysi und Bisky wurde die fünf Punkte schließlich verabschiedet.

((Kasten Anfang)) Sozialismus ist für uns Weg, Methode, Wertorientierung und Ziel. Er ist für uns verbunden mit vielfältigen Formen der Vergesellschaftung, Überwindung der Kapitalvorherrschaft, Ökologie, Demokratie, Solidarität, sozialer Gerechtigkeit, Emanzipation des Menschen, Überwindung des Patriarchats, Freiheit und Verwirklichung der Menschenrechte, Beseitigung der Arbeitslosigkeit, Minderheitenschutz, Chancengleichheit in Bildung und Kultur und Dezentralisierung. Das bedeutet, daß unser Sozialismus-Begriff ein Höchstmaß an Demokratie und Liberalität einschließt. Es geht nicht um die Frage, ob und wieviel Demokratie und Liberalität sich eine sozialistische Gesellschaft leisten kann, sondern darum, daß ihr sozialistischer Charakter von der Realisierung umfassender Demokratie und Liberalität abhängt. Durch keinen Zweck werden undemokratische und illiberale Methoden gerechtfertigt. Jeder Schritt wirklicher Demokratisierung, des Ausbaus der individuellen Freiheit, des Abbaus sozialer Ungerechtigkeit, der Erhöhung kommunaler Selbstbestimmung ist ein Schritt in Richtung Sozialismus. Dabei verstehen wir Demokratie als Einheit von repräsentativer, kommunaler, unmittelbarer und Wirtschaftsdemokratie. Liberalität bedeutet für uns Linke die Verbindung von tiefem Humanismus, Individualität, Menschenrechten, persönlicher Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Toleranz, Minderheitenschutz, Pluralismus, sozialer Gerechtigkeit sowie Chancengleichheit beim Zugang zu Bildung und Kultur in einer Gesellschaft.

Aus den "fünf wichtigsten Diskussionspunkten der gegenwärtigen Debatte". ((Kasten Ende))

Die fünf Punkte richten sich vor allem an die Partei. Insofern endete der Versuch, die PDS programmatisch und strategisch vorwärtszubringen, weitgehend in der Bekräftigung bereits erzielter Erneuerungsfortschritte gegen eine stärker werdende Fronde des Traditionalismus. Die Stoßrichtung ging nicht nach vorn, nicht einmal nach außen, sondern nach innen. Statt die Partei weiterzuentwickeln, mußten Bisky, Gysi und André Brie retten, was zu retten war, gegen die erstarkenden restaurativen Kräfte.

Nach vorne weist immerhin die Einsicht, daß man sich in eine Gesellschaft "hineinbegeben" müsse, wenn man sie verändern wolle. Auch wird eine Regierungsbeteiligung der PDS für möglich erklärt, sie berühre nicht "das prinzipielle Oppositionsverständnis". Aber die Partei sieht weiterhin "das Schwergewicht ihrer Tätigkeit in außerparlamentarischen Bewegungen und Aktionen". Das ist aber durch die Praxis längst widerlegt, war schon zu dem Zeitpunkt, als es geschrieben wurde, ein Beruhigungsmittel für jene, die die PDS eher als Bewegung denn als Partei betrachten wollten. Mit einem Anflug von Sarkasmus schreibt Michael Brie: "Es gibt eigentlich nur ein einziges Feld, auf dem es der PDS gelungen ist, sich als soziale Bewegung zu verhalten - auf dem Feld ihrer Selbsterhaltung."267

Am Schluß des Dokuments bekräftigt die PDS ihren Willen, mit SPD und Bündnis 90/Die Grünen zusammenzuarbeiten. Aber Gysis Gesellschaftsvertrag ist gestrichen und der Klassenkampf insoweit wieder ins Arsenal eingezogen, aus dem er schon hinausgeworfen worden war. Kein einziger der konkreten Vorschläge des "Ingolstädter Manifests" ist übriggeblieben. Die Frage ist erlaubt, ob sie denn ernst gemeint waren. Und wenn ja, warum der Parteivorstand sie nicht vertreten hat.

Dem Streit um die Punkte folgten neue Papiere und sogar eine Strategiekonferenz. Aber der Versuch, der PDS ein neues Programm und eine klare Strategie zu geben, ist bislang gescheitert. Auch der Schweriner Parteitag im Januar 1997 hörte vor allem altbekannte Formeln, die vielfältige Interpretationsmöglichkeiten offenlassen. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse in der Partei ist das eher positiv. Und so wird es noch lange bei abstrakten Kompromißformeln bleiben, in die jeder hineinliest, was ihm gefällt: den Klassenkampf genauso wie einen Gesellschaftsvertrag, die Vergesellschaftung genauso wie die soziale Marktwirtschaft.

Doch in einem Punkt ist sich die Partei einig. Und da wird sie auch konkret. Nämlich wenn es darum geht, ostdeutsche Interessen zu vertreten. Es gibt kein Grundsatzdokument der PDS, indem auch nur annähernd so detaillierte Forderungen erhoben werden wie im "Programm zur Vertretung ostdeutscher Interessen" vom Sommer 1995. "Die PDS ist nicht bereit, die fortgesetzten Benachteiligungen und Demütigungen der Ostdeutschen hinzunehmen", steht da.268 Und dann folgt Forderung auf Forderung für Eigenheim- und Wochenendhäuschenbesitzer, gegen Berufsverbote und die "Diskreditierung ostdeutscher KünstlerInnen", für 100 000 neue Arbeitsplätze und so weiter und so fort. Darin zeigt sich, was die wirkliche Lebensgrundlage der Partei ist, worin sich fast alle Genossen einig sind. Alle Bemühungen, sich als gesamtdeutsche linke Partei zu profilieren, sind gescheitert an der Wirklichkeit der Interessen.

"Die Erkenntnis ist eine Funktion des Seins. Ein Wechsel im Sein des Erkennenden wird durch einen entsprechenden Wechsel im Wesen und Ausmaß des Erkannten begleitet", schreibt der englische Schriftsteller Aldous Huxley.269 Solange die PDS nicht im Westen angekommen ist, wird sie keine linke Partei sein, sondern Lobby der Diener einer glücklicherweise untergegangenen Diktatur. Angela Marquardt, Chefin der Arbeitsgemeinschaft Junge GenossInnen und bis Januar 1997 stellvertretende PDS-Vorsitzende, befürchtet, daß es der Partei gar nicht um eine "andere Gesellschaft" gehe, sondern "um ein werberisch-pathetisches Come together an die Geprellten und Ausgegrenzten dieser Gesellschaft".270 Sie hätte uneingeschränkt recht, wenn sie sich geographisch nur auf Ostdeutschland bezogen hätte. Denn was hat ein Penner in Düsseldorfs Königsallee mit einem Ex-Politbüromitglied zu tun?

Die PDS verkündet ein Sammelsurium von Forderungen und nicht immer die gleichen. Aber sie hat keine Strategie. Und so abstrakt der Weg, so abstrakt das Ziel, der Sozialismus, in den Vorstellungen der Bisky-Partei.

((Kasten Anfang)) Der Sozialismus ist für uns ein notwendiges Ziel - eine Gesellschaft, in der die freie Entwicklung der einzelnen zur Bedingung der freien Entwicklung aller geworden ist. Sozialismus ist für uns eine Bewegung gegen die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, gegen patriarchalische Unterdrückung, gegen die Ausplünderung der Natur, für die Bewahrung und Entwicklung menschlicher Kultur, für die Durchsetzung der Menschenrechte, für eine Gesellschaft, in der die Menschen ihre Angelegenheiten demokratisch und auf rationale Weise regeln. Sozialismus ist für uns ein Wertesystem, in dem Freiheit, Gleichheit und Solidarität, menschliche Emanzipation, soziale Gerechtigkeit, Erhalt der Natur und Frieden untrennbar verbunden sind.

Aus dem Programm der PDS. ((Kasten Ende))

Man muß der PDS den Offenbarungseid in Sachen Strategie vorwerfen, aber darf sie nicht dafür kritisieren, daß sie ihre Fernziele nicht genau bestimmt oder bestimmen kann. Das ist gewissermaßen gute alte Marxsche Tradition. Marx und Engels hatten sich immer geweigert, im Kochbuch des Sozialismus nach Rezepten zu suchen und sich mit ein paar Formeln begnügt, die sie aus der Kritik des Kapitalismus gezogen hatten. Eine davon steht im PDS-Programm und wird auch in anderen Dokumenten gerne zitiert: "eine Gesellschaft, in der die freie Entwicklung der einzelnen zur Bedingung der freien Entwicklung aller geworden ist".

Der Streit über das, was Sozialismus oder Kommunismus seien, ist so alt wie die Arbeiterbewegung. Herrschten zunächst Gleichheitsideale vor, oft in Anlehnung an urchristliche Utopien, so begannen die Theoretiker des Marxismus bald praktische Kriterien zu entwickeln. Berühmt wurde Lenins Wort, Kommunismus sei "Elektrifizierung plus Sowjetmacht". Das war, auf das vorindustrielle Rußland gemünzt, die kürzestmögliche Begriffsraffung eines genialen Agitators. Sozialismus war nach Marx und Engels erst möglich, wenn die modernen Produktivkräfte an die Fesseln der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, des Privateigentums an den Produktionsmitteln, stießen. Den Technologien und Arbeitsverfahren des Kapitalismus wohne eine unaufhaltsame Tendenz zur Vergesellschaftung inne. Diese zeige sich bereits in Form der Aktiengesellschaften und Trusts. Aber das Privateigentum behindere die weitere Vergesellschaftung und damit den sozialen und historischen Fortschritt. Die sozialistische Revolution sprenge diese Fesseln und eröffne den Produktivkräften zum Nutzen aller Menschen neue Entwicklungsperspektiven ohne Ausbeutung und Entfremdung.

Nun paßte dieses Verständnis nicht auf Rußland, das im Jahr 1917, abgesehen von wenigen Gebieten, ein Agrarstaat mit feudalen Verhältnissen war. So mußte nach Lenins Auffassung die russische Revolution gleich zwei Aufgabe erfüllen: die bürgerlich-demokratische Revolution nachholen und die Produktivkräfte des Sozialismus entwickeln. Von der Oktoberrevolution, nach SED-Auffassung dem entscheidenden Moment der Weltgeschichte, hatte die Weltgeschichte zunächst nichts mitbekommen. Lenins Aufstand war der gutgeplante Putsch einer kleinen Minderheit in Petrograd. Damit fing die Revolution in Wahrheit erst an, denn es folgte ein jahrelanger Bürgerkrieg.

Nicht zuletzt die Erfahrungen des Machtkampfs in Rußland bewirkten, daß der Gewalt eine größere Bedeutung in den Sozialismusvorstellungen gegeben wurde als bei Marx und Engels. Die Diktatur des Proletariats hatten auch sie schon gefordert, aber als Übergangsmodell, nachdem sie die Erfahrungen der Pariser Kommune von 1871 ausgewertet hatten. Doch diese Diktatur sollte dann bald weichen und der Staat absterben. Daß man den Sozialismus mit Gewalt erkämpfen muß, davon waren Marx und Engels überzeugt, obwohl Engels in seinen letzten Lebensjahren Zweifel anmeldete und auf einen friedlichen, parlamentarischen Übergang hoffte. Daß man den Sozialismus mit Gewalt gegen die Arbeiter aufrechterhalten müßte, war Marx und Engels jedoch nie in den Sinn gekommen. Genau das aber taten ihre Nachfahren. Am Ende gab es ein großes "Geeiere" in der Staatsfrage. Entdeckten Lenins und Stalins Nachfolger doch, daß die Rolle des Staates sogar immer wichtiger werde, bevor er schließlich in fernen Zeit absterben dürfe. Das war eine ganz eigene Dialektik. Aber es entsprach in etwa dem totalitären Überwachungs- und Steuerungswahn der Staatssozialisten. Sie legten nicht mehr Kompetenzen und Möglichkeiten in die Hände der Gesellschaft, sondern entmündigten diese durch einen Staat, der zur Beute der Partei geworden war. Der Staat degenerierte zum Machtinstrument des Politbüros, solch eine Machtkonzentration kennt die bürgerliche Gesellschaft nicht. Sozialismus war für die SED, wie für alle anderen kommunistischen Parteien, die Herrschaft der eigenen Partei über die Gesellschaft und die Verstaatlichung der Produktionsmittel. Sozialismus verstand sie auch als eine längere Übergangsperiode zum Kommunismus, in dem der Staat dann verschwinden würde. In der Sowjetunion würden sogar schon die materiell-technischen Grundlagen des Kommunismus geschaffen, erklärten die stalinistischen Theoretiker und Politiker, aber das war nur eine Verbeugung vor der führenden Rolle der Supermacht.

Die PDS stand von Anfang an vor der Aufgabe, ihr sozialistisches Ziel von der SED-Ideologie abzugrenzen. So war es nur folgerichtig, daß die Partei zunächst erklärte, welchen Sozialismus sie nicht wollte. Sie bestimmte ihre Position "jenseits von administrativem Sozialismus und Herrschaft transnationaler Monopole"271. Der in diesem Buch vielfach erwähnte antistalinistische Grundkonsens drückt dies aus. Schnell einigten sich die Genossen zum Ärger der SPD darauf, nun vom demokratischen Sozialismus zu sprechen und sich entsprechend umzutaufen. Die theoretischen Grundlagen der SED seien "verschlissen", erklärte Gregor Gysi im Mai 1990 vor dem Parteivorstand. Der PDS müsse es gelingen, den "demokratischen Sozialismus als Bewegungsrichtung des gesellschaftlichen Fortschritts zu begründen, als ökonomischen, sozialen, politischen, ökologischen, geistig-kulturellen, globalen und anderen Fortschritt". Und es folgt dann ein Definitionsversuch, der Gregor Gysi zu DDR-Zeiten ins Gefängnis gebracht hätte:

"In vielen Punkten - Individualität, Freiheit, Gerechtigkeit, Frieden, Naturbewahrung usw. - hat die PDS keine anderen Werte als andere politische Parteien, wohl aber andere Vorstellungen über deren Inhalt und über deren Realisierungswege. Weiterhin ist wichtig: Der Schlüssel zum Verständnis des demokratischen Sozialismus kann nur gefunden werden, wenn nicht nur nach der Überwindung der vor uns stehenden Gesellschaft Gesamtdeutschlands, sondern nach deren progressiver Weiterentwicklung für die Menschen gesucht wird. Demokratischer Sozialismus bedeutet nicht, den Gesamtentwurf einer neuen Gesellschaft zu zeichnen und für dieses Modell die politischen Kräfte zu mobilisieren. Demokratischer Sozialismus bedeutet heute vor allem politische Bewegung, nur den Fortschritt, konstruktiv-alternative Politikfähigkeit auf allen Gebieten unter Beweis zu stellen. Im konkreten und einzelnen aus gesamtgesellschaftlicher und globaler Sicht etwas für die Menschen zu bewirken, für die Modernisierung gesellschaftlicher Bereiche, für die Realisierung der im Programm der PDS formulierten Grundwerte. Das spezifische strategische Profil der PDS als linke Kraft des demokratischen Sozialismus und ihr marxistischer Ansatz ergeben sich letztlich daraus, daß das Eintreten für gesellschaftlichen Fortschritt nicht von der Demokratisierung des Eigentums an Produktionsmitteln und von den Interessen der nicht über das große Eigentum Verfügenden getrennt werden."272

Einen Monat später fordert Gysi: "Weg vom falschen Kollektivismus, hin auch zum Individuum, allerdings in sozialer und ethischer Verantwortung." Gleichzeitig hält er fest an der kommunistischen Utopie einer klassenlosen Gesellschaft.273 In den Aussagen ihrer Führung verabschiedet sich die PDS vom klassischen Revolutionsmodell und setzt statt dessen auf eine fortlaufende Demokratisierung der bürgerlichen Gesellschaft. Das, was André Brie und andere Theoretiker "modernen Sozialismus" nennen, löst die scharfe Unterscheidung zwischen Gesellschaftssystemen auf und sucht nach Einrichtungen, die sich entwickeln lassen in Richtung auf mehr Demokratie, Partizipation der Bevölkerung. Das gilt auch für den Markt. Die Erneuerer in der PDS wollen den Markt nicht abschaffen, sondern demokratisieren und "sozial" steuern.274 Und Gysi erklärte in einer Parteitagsrede, daß die von der PDS angestrebte Gesellschaft "Demokratischer Sozialismus" heißen solle und sich erheblich von dem unterscheide, was als realer Sozialismus bekannt sei. "Ihre Hauptaufgabe wird darin bestehen, Voraussetzungen für eine völlig veränderte Weltwirtschaftsordnung zu schaffen. Der Hauptmangel der Privatwirtschaft, nämlich daß sie an Wert-, an Profit- und Kapitalverwertung und nicht am Gebrauchswert orientiert ist, muß überwunden werden, ohne auf marktwirtschaftliche Mechanismen für hohe Effizienz und Innovationsfähigkeit der Wirtschaft zu verzichten." Der Weg zu diesem Ziel könne nur in einer "permanenten Demokratisierung des gesamten gesellschaftlichen Lebens, auch des internationalen Lebens bestehen".275

Zur Erbitterung der Hardliner hat sich die Parteiführung auch von der Vorstellung befreit, daß Sozialismus gleichbedeutend sei mit der Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Gysi glaubt, "daß ein demokratischer Sozialismus verschiedene Eigentumsformen verträgt". Im Interesse der Effizienz solle es auch "Wettbewerb zwischen den verschiedenen Eigentumsformen geben".276 Es geht den Sozialismusmodernisierern nicht darum, den Kapitalismus als Gesellschaftsformation abzulösen. Vielmehr wollen sie seine Institutionen - Eigentum, Markt, Parlamente usw. - demokratisieren und auf diesem Weg die Vorherrschaft des Kapitals zu überwinden, aber es nicht abzuschaffen. Es geht kurzum um eine nicht vom Profit beherrschte Marktwirtschaft und um direkte Demokratie, die die Vertretungskörperschaften ergänzt.

((Kasten Anfang)) Wenn jede Institution für sich genommen ambivalent ist und sehr gegensätzliche Wirkungen haben kann, wenn jede einen hohen Gestaltungsspielraum in sehr verschiedene Richtungen offenhält, wenn sehr unterschiedliche Machtstrukturen mit gleichen Institutionstypen vereinbar sind, dann müßte eine sozialistische Position mehr als jede andere ein sehr offenes und innovatives Verhältnis zu den Institutionen moderner Gesellschaften haben. Ohne die Ausschöpfung der sehr verschiedenen, sich ergänzenden und oftmals auch gegensätzlichen Potenzen dieser Institutionen ist die Verwirklichung sozialistischer Zielstellungen undenkbar. Um es umgangssprachlich zu sagen: Sozialistinnen und Sozialisten müssen aus den Institutionen der Moderne alles rausholen, was im Interesse ihrer Zielstellungen drin ist. Es gibt keinen nichtmodernen Sozialismus! Die Nutzung moderner Entwicklungspotentiale macht aber keinesfalls das eigentliche Wesen des Sozialismus aus. Dieses ist an die Durchsetzung von Macht- und Eigentumsstrukturen verbunden, die die Vorherrschaft des Kapitals und der Kapitalverwertung überwinden und die Durchsetzung der Menschenrechte auf dem historisch möglichen Stand erzwingen.

Mit anderen Worten: Der Standpunkt der Moderne ist die eine notwendige, aber keinesfalls hinreicbende Bedingung für einen authentischen Sozialismus. Und der spezifische Standpunkt des Sozialismus ist die Forderung, die sozialen Probleme der Moderne mit dem Ziel der umfassenden Durchsetzung der Menschenrechte zu lösen. Als politische Bewegung zielt der Sozialismus auf die Ablösung der kapitalistischen und die Formierung einer sozialistischen Moderne. Der Maßstab ist die Lösung der neuen sozialen Probleme. Dies berührt die Macht- und Eigentumsverhältnisse.

Aus dem offiziösen Kommentar zum PDS-Programm.277 ((Kasten Ende))

In der Strategiedebatte herrscht vor allem Eklektizismus. Es werden Papiere und Positionen vorgelegt, weil die soziale oder politische Situation es aus Sicht der Akteure erfordert. Oder um in die Partei hinzuwirken. Oder um die Klientel zu bedienen. Oder um die Daseinsberechtigung der Partei zu belegen. Oder um andere parteiinterne Gruppen anzugreifen. Die PDS äußert sich zu vielen Punkten, aber oft nicht kongruent. So ist es doch verwunderlich, wie man auf der einen Seite Tätern die Stange hält - ISOR, GRH, GBM usw. - und sich auf der anderen Seite für Humanität und die Opfer des Kapitals engagiert. Angela Marquardt, damals stellvertretende Parteivorsitzende, hat 1995 zusammen mit ihrer Parteivorstandsgenossin Halina Wawzynia, in einem Papier erklärt: "Der klare Bruch mit dem Staatssozialismus und der Staatspartei ist notwendige Voraussetzung sowohl für eine glaubwürdige und theoretisch fundierte Kritik des bürgerlichen Staates als auch für die Organisierung des praktischen Widerstandes gegen die bestehenden kapitalistischen Verhältnisse."278 Nichts richtiger als das. Doch an der Glaubwürdigkeit hapert es happig.

Das liegt schon allein daran, daß nur eine verschwindende Minderheit, vor allem in Berlin, über Programm und Strategie debattiert, höchstens ein paar hundert Genossen. Dem Rest der Partei ist dieser Streit eher zuwider. In den meisten stecken noch die Appelle der SED nach "Einheit und Geschlossenheit". Sie beharren auf dem, was ihnen zu Ulbricht- und Honecker-Zeiten im Parteilehrjahr beigebracht worden ist. Ich habe zu viele Sitzungen an der Basis miterlebt und zu viele Gesprächspartner getroffen, die sich weigerten, neue programmatische und strategische Überlegungen auch nur wahrzunehmen. Für sie ist nur wichtig, daß immer mal wieder vom Sozialismus die Rede ist. Das rechtfertigt ihr SED-treues Dasein, zeigt den älteren weißhaarigen Herren mit oder ohne Brille, daß die Bundesrepublik doch nicht das bessere Deutschland sei. Und von denen, die da debattieren, traue ich auch nicht allen demokratisch über den Weg. Wer, wie etwa das Marxistische Forum oder die KPF, der DDR hinterhertrauert, kann nicht glaubwürdig für mehr Demokratie auftreten. Wer wie Sahra Wagenknecht die Demokratie als einen Luxusartikel betrachtet, will sie nur nutzen, um sie abzuschaffen. Und wer der DDR das Recht zubilligt, Menschen mit anderen Auffassungen einzusperren und sich mit einer Mauer und Schüssen einzukesseln, der sollte über Demokratie und Humanität besser nicht reden.

Ich halte die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse im neuen Deutschland für veränderungswürdig. Es ist nicht hinzunehmen, daß Millionen von Menschen arbeitslos sind und bleiben. Es ist bedrohlich, daß die parlamentarische Demokratie an Substanz einbüßt. Es ist auch moralisch inakzeptabel, daß in Fragen der Humanität und Menschenrechte wirtschaftliche und politische Interessen den Ausschlag geben. Eine linke Partei hat die Pflicht, Programme und Strategien zu erarbeiten, um zu verhindern, daß Gesellschaft und Wirtschaft zu Spielbällen des internationalen Finanzkapitals werden.

Die PDS-Modernisierer um André Brie haben interessante Konzepte vorgelegt. Sie wollen Einrichtungen der bürgerlichen Gesellschaft weiterentwickeln, um sozialistische Werte durchzusetzen, vor allem mehr Demokratie. Sie haben sich befreit aus der geistigen Sklaverei des Stalinismus, der fast alle zivilisatorischen Errungenschaften als feindlich zurückgewiesen hat. Sie finden mehr sozialistische Entwicklungspotentiale im Kapitalismus als im realen Sozialismus.

Das ist nicht so neu, wie manche glauben. Erste Einsichten in die Reformierbarkeit des Kapitalismus stammen vom Urvater des Revisionismus, dem deutschen Sozialdemokraten Eduard Bernstein. Bernstein war ein Freund von Marx und Engels gewesen, hatte nach deren Tod angesichts neuer Entwicklungen im Kapitalismus - Genossenschaften, Parlamentarismus, Aktiengesellschaft, Gewerkschaftsbewegung - aber begonnen, die Revolutionsideen seiner Genossen anzuzweifeln.

Exakt vor einem Jahrhundert schrieb er: In allen Ländern, wo sozialistische Parteien zu einer politischen Bedeutung gelangt seien, beobachte man, daß die Überschwenglichkeiten in Phrase und Argumentation abgestreift würden. "Man spekuliert nicht mehr über die Verteilung des Bärenfells nach vollendetem allgemeinen Kladderadatsch, man beschäftigt sich überhaupt nicht viel mit diesem interessanten Ereignis, sondern studiert die Einzelheiten der Probleme des Tages und sucht nach Hebeln und Ansatzpunkten, auf dem Boden dieser die Entwicklung der Gesellschaft im Sinne des Sozialismus vorwärts zu treiben." Bernstein kritisierte die "alte Phrase", daß die Verwirklichung des Sozialismus von einem großen allgemeinen Zusammenbruch zu erwarten sei.279

Der Kapitalismus sehe zu verschiedenen Zeiten verschieden aus. Er müsse "unter dem Drucke moderner demokratischer Einrichtungen und der ihnen entsprechenden gesellschaftlichen Pflichtbegriffe ein anderes Gesicht annehmen (...), als solange der Besitz auch die politische Herrschaft monopolisierte." Das Aufkommen der modernen Demokratie habe die gesellschaftliche Pflichtenlehre nicht unbeeinflußt gelassen.280

Damals war in sozialdemokratischen Kreisen die Theorie populär, daß der Kapitalismus an den eigenen Widersprüchen zugrunde gehe und die revolutionäre Arbeiterbewegung nur ein bißchen nachhelfen müsse. Bernstein hielt dieser Auffassung seinen berühmt gewordenen Satz entgegen: "Ich gestehe es offen, ich habe für das, was man gemeinhin unter 'Endziel des Sozialismus' versteht, außerordentlich wenig Sinn und Interesse. Dieses Ziel, was immer es sei, ist mir gar nichts, die Bewegung alles. Und unter Bewegung verstehe ich sowohl die allgemeine Bewegung der Gesellschaft, d. h. den sozialen Fortschritt, wie die politische und wirtschaftliche Agitation und Organisation zur Bewirkung dieses Fortschritts." Ein Ziel könne man nur als Durchführung eines Gesellschaftsprinzips definieren und nicht als "Gesellschaftsplan". Statt Revoluzzertum forderte Bernstein die "allseitige Durchführung der Genossenschaftlichkeit" 284. Die Mittel und Wege zum sozialistischen Ziel könnten nur in den gegebenen Bedingungen gefunden werden. "Darum ist das allgemeine Ziel, die Bewegung selbst und ihr Fortschritt in der Richtung auf dieses Ziel die Hauptsache, während es recht gleichgültig ist, wie man sich das Endziel dieser Entwicklung ausmalt."285

 

So ist die PDS im Zeichen des "modernen Sozialismus" dort angekommen, wo Eduard Bernstein von hundert Jahren schon war. Bernsteins Revisionismus war lange Jahrzehnte Feindbild der Kommunisten. An Bernstein vor allem habe es gelegen, daß die Sozialdemokratie sich von einer revolutionären zu einer reformistischen Partei gewandelt habe, behaupteten die Kommunisten.

Zu SED-Zeiten war Bernstein eine Unperson, auf der man herumprügelte, ohne sie wirklich zu kennen. Vielleicht liegt es daran, daß keiner in der PDS von Bernstein spricht, aber führende Vertreter zu den Grundlagen zurückkehren, die der große alte Mann der deutschen Sozialdemokratie gelegt hat. Vielleicht wissen sie ja gar nicht, daß sie etwas vertreten, das schon hundert Jahre alt ist. Manche Dinge werden mit dem Alter nicht schlechter. Die Frage ist nur, ob die wenigen reformbewegten demokratischen Sozialisten lange auf dem stalinistischen Morast laufen können. Irgendwann zieht der Sumpf jeden hinunter.

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