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8  Der Verantwortung nicht ausweichen  

Auf dem Weg zu Rot-Rot

 

 

 

199

Otto Görisch hat weiße Haare, und er trägt eine Brille. Der pensionierte Lehrer, stämmig, breites Gesicht, lebhafte Augen, ist 1932 in Wittenberg geboren. Neben ihm mir gegenüber am Tisch Peter Hamann, Jahrgang 1939, schmächtig, dunkelhaarig, nicht nur physisch im Schatten von Otto Görisch. Beide kennen sich schon seit FDJ-Zeiten. Wahrscheinlich hat Otto Görisch schon immer den Ton angegeben, so, wie bei unserem Gespräch im Kreisbüro der PDS Waren, einer wunderschön in der mecklenburgischen Seenlandschaft gelegenen Kreisstadt (Kreis Müritz). Im Lauf unseres Gesprächs wird sich Peter Hamann nur zweimal kurz zu Wort melden, um jedesmal gleich von Otto Görisch unterbrochen zu werden. 

Ich frage meine Gesprächspartner nach dem Verhältnis von SPD und PDS in Mecklenburg-Vorpommern und hier im Kreis. Immerhin hatte SPD-Chef Harald Ringstorff schon nach den Landtagswahlen 1994 der PDS Avancen gemacht, und der PDS-Landesvorsitzende Helmut Holter gehört eh zu den Verfechtern einer rot-roten Landesregierung, wenigstens der Tolerierung einer sozialdemokratischen Landesregierung.

Otto Görisch beklagt sich, "daß wir nun erklären müssen, koalitionsbereit oder koalitionsfähig zu sein oder werden zu müssen. Das ist nicht angenehm." Er bezieht sich auf den Vier-Punkte-Katalog der SPD in Mecklenburg-Vorpommern, in dem die Sozialdemokraten "notwendige Klarstellungen" von der PDS verlangen, darunter auch das Eingeständnis, die SPD sei zwangsvereinigt worden. Die PDS hat auf dieses Papier postwendend geantwortet. Allerdings hat Landeschef Holter eingeschränkt: "Die vier Punkten die die SPD dazu angeboten hat, sehe ich als Gegenstand längerfristiger Diskussionen. Was wir jetzt dazu sagten, zeigt das Maß unserer Kompromißfähigkeit nach vier Jahren Geschichtsaufarbeitung und politischer Diskussion in der PDS. Mehr war jetzt nicht möglich."222

Schauen wir mal, was künftig noch möglich sein wird.


 

Kasten

 


    Niemand empfand die Vereinigung als Unrecht   

 

Wo auch immer ich über das Verhältnis zwischen PDS und SPD diskutiere, man landet immer bei der "Zwangsvereinigung", dem Zusammenschluß von KPD und SPD in der sowjetischen Besatzungszone im April 1946. Sie steht zwischen den Parteien. Wie alle in der PDS bestreitet Otto Görisch, daß die Vereinigung durch Zwang zustande gekommen sei, und fast alle Sozial­demokraten, mit denen ich über dieses Thema gesprochen habe, beharren darauf, daß ohne massiven Druck, ohne Repressalien und Verfolgungen von Einheitsparteigegnern die SED nie hätte gegründet werden können. 

Ich frage meine beiden Gesprächspartner mehrfach, ob 1945 und 1946 Sozialdemokraten in die SED gezwungen worden seien. Otto Görisch bestreitet es massiv. 

Dann sagt Peter Hamann, leicht unsicher: "Ja, aber da gab es doch einen sozialdemokratischen Stadtrat ..." 

Görisch unterbricht: "Erst mal zur Rolle der Kommandanten hier." Und er zählt die Namen sowjetischer Stadtkommandanten auf, die sich für die Einheit der beiden Arbeiterparteien eingesetzt hätten. In den Westzonen dagegen hätten die Besatzungsbehörden eine Vereinigung verboten. In Waren dagegen habe der sowjetische Stadtkommandant gesagt: "Schließt euch zusammen. Eine Hand ist leichter zu brechen als eine Faust."

203


Otto Görisch hat zusammen mit einer Gruppe von Genossen eine Broschüre erarbeitet. Darin sind die Stationen zur Einheit beider Parteien detailliert aufgelistet.220 Aus dieser Broschüre geht hervor, daß nach Meinung von Görisch und Genossen Zwang bei der SED-Gründung nicht stattgefunden habe.

 

 

((Kasten Anfang)) Der Vier-Punkte-Katalog - "Notwendige Klarstellungen" - der SPD in Mecklenburg-Vorpommern (Oktober 1994)

Die vier Punkte: 1. Die Grundrechte und die in den Artikeln 20 und 28 des Grundgesetzes festgelegten Grundsätze (u. a. demokratischer und sozialer Bundesstaat - die Redaktion) werden als unabänderlicher Rahmen für die Verfassung von Mecklenburg-Vorpommern und als Grundlagen aller Politik in Mecklenburg-Vorpommern anerkannt. Das bedeutet im einzelnen: 1. Ein klares Bekenntnis zu den Menschenrechten; Bindung von Gesetzgebung, vollziehender Gewalt und Rechtsprechung an die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht; die Ausübung der Staatsgewalt, die vom Volke ausgeht, in Wahlen und Abstimmungen; die Ausübung der Staatsgewalt, die von Volke ausgeht, durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung (Gewaltenteilung); die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht. Die Nichtbeachtung der Grundrechte und der vorgenannten Grundsätze war eine wesentliche Ursache für die Fehlentwicklung der DDR. Die Opfer dieser Fehlentwicklung haben Anspruch auf Rehabilitierung und Wiedergutmachung. 2. Die SPD erwartet, daß sich die PDS ohne Wenn und Aber zu der durch Volksabstimmung legitimierten Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern bekennt und auf ihre Forderung verzichtet, neben den gesetzlichen Verfassungsorganen sogenannte Runde Tische einzurichten. Die Runden Tische haben in der Phase des Obergangs von der SED-Diktatur zur Demokratie eine wichtige Rolle gespielt. Ihre Aufgabe ist nun auf die demokratisch gewählten Volksvertretungen im Land und in den Kommunen übergegangen. 3. Die SPD erwartet von der PDS die öffentliche Erklärung, daß die Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur SED im Jahre 1946 Unrecht war und nur unter Androhung von Gewalt zustande gekommen ist. Die Ausschaltung der SPD im Jahre 1946 wird von der PDS als ein historischer Fehler bewertet, durch den die Demokratie beseitigt und die Diktatur ermöglicht wurde. Die PDS wird sich für die Verfolgung der Sozialdemokraten in der DDR entschuldigen. 4. Die Kräfte, die die o. g. Grundrechte und Grundsätze nicht anerkennen, wie die Kommunistische Plattform, Anarchisten u. ä. Gruppen, dürfen keinen Einfluß auf die Politik des Landes Mecklenburg-Vorpommern bekommen. Parlamentarische Demokratie und Kommunismus sind unvereinbar. ((Bitte die beiden Teile des Kastens nummerngleich auf einer Doppelseite gegenüberstellen.))

Auszüge aus der Erklärung der PDS auf Forderungen SPD

1. Die PDS steht auf dem Boden des Grundgesetzes und der Landesverfassung. Sie ist eine die Landesverfassung konstituierende politische Kraft und hat sich ohne Vorbehalt, ohne Wenn und Aber aktiv an deren Ausarbeitung beteiligt. Die PDS achtet die verfassungsmäßigen Grundrechte und die in den Artikeln 20 und 28 des Grundgesetzes verankerten Grundsätze, die sie für unveräußerlich hält. Wir teilen den Standpunkt, daß die Nichtbeachtung von Grundrechten sowie unkontrollierte und unkontrollierbare diktatorische Machtausübung eine wesentliche Ursache für die Fehlentwicklung und den Untergang der DDR waren. Die Opfer dieser Fehlentwicklung haben Anspruch auf Rehabilitierung.

2. Die PDS bekennt sich zur Landesverfassung. (...) Sie ist allerdings der Auffassung, daß es im Interesse eines politischen Kurswechsels im Lande und der Möglichkeit einer sozialdemokratischen Minderheitsregierung nötig ist, einen Stil des Regierens im Geiste der Runden Tische von 1989/90 einzuführen. (...)

3. Die Vereinigung von KPD und SPD zur SED im Jahre 1946 verlieh dem Streben sehr vieler Mitglieder der beiden Parteien nach Gemeinsamkeit und organisatorischer Einheit als Lehre aus dem Faschismus Ausdruck. Ebenso gab es viele Mitglieder der SPD und KPD, die die Vereinigung nicht wollten. Sie wurden erheblichem und ungerechtfertigtem Druck ausgesetzt. Ob das Wort von der "Zwangsvereinigung" gerechtfertigt ist, sollte die Diskussion zwischen den Parteien unter Hinzuziehung von Historikern klären. Es ist bittere historische Wahrheit, daß durch maßgebliche Kreise der SED während und nach der Vereinigung von 1946 Sozialdemokraten Verfolgungen und Repressalien erleiden mußten sowie aus dem politischen Leben ausgeschaltet wurden. Die PDS insgesamt wie auch der Landesverband Mecklenburg-Vorpommern haben auf Parteitagen seit 1990, in Erklärungen und Verlautbarungen ihr Bedauern hierüber und ihre Entschuldigung dafür zum Ausdruck gebracht. Wir verweisen in diesem Zusammenhang darauf, daß nicht wenige Kommunisten nach 1945 von denselben oder ähnlichen Repressalien und Verbrechen betroffen wurden wie Mitglieder und Funktionäre der SPD. Als Rechtsnachfolgerin der SED bekennt die PDS ihre Verantwortung auch dafür und weiß sie, daß sie diese ihre Verantwortung nur durch eigene Erneuerung und glaubhaftes demokratisches Wirken abtragen kann. Dazu hat sie den festen Willen. (...)

4. Die PDS ist eine demokratische und pluralistische Partei, in der es Plattformen, Strömungen und Flügel gibt. So gibt es z. B. eine kommunistische ebenso wie eine sozialdemokratische und ökologische Plattform. Dies steht in völliger Übereinstimmung mit dem Programm und Statut der PDS, die keine Ausgrenzung von Strömungen zulassen, soweit und solange diese sich an die Beschlüsse der Partei halten. Obwohl der vieldeutig gebrauchte Begriff "Kommunismus" durch die Praxis und das Scheitern des Staatssozialismus sowie durch den Stalinismus schwer diskreditiert worden ist, gibt es keinen Grund, Kommunisten generell die Fähigkeit abzusprechen, Demokraten zu sein. Sie sind wie andere Menschen lern- und erkenntnisfähig, um aus Vergangenem und eigenem Erleben entsprechende Konsequenzen zu ziehen.

((Kasten Ende))

 

Daß die PDS-Regionalhistoriker im Müritzkreis keine Zwangshandlungen entdeckt haben, überrascht mich nicht. Ich habe in all den Jahren auch nicht einen einzigen Zeitzeugen aus PDS-Kreisen gefunden, der systematische Repressalien der sowjetischen Besatzer eingestanden hätte. Und all die Zeitzeugen, die sich etwa per Leserbrief im "ND" melden, berichten ebenfalls nichts davon: "Ich kann heute noch beschwören, daß es im SPD-Vorstand und bei den Mitgliedern unseres Ortes nur Zustimmung zum Zusammenschluß mit der KPD gab", schreibt Harri Salomon aus Spremberg. Arnold Eisensee: "1946 habe ich in dem 3000 Bewohner zählenden Städtchen Ranis die Vereinigung von SPD und KPD miterlebt. Beide Parteien beschlossen einstimmig, sich zu einer Partei zu vereinigen. Niemand von den ca. 96 Sozialdemokraten und ca. 34 Kommunisten wurde unter Drohung gezwungen, und niemand empfand die Vereinigung als Unrecht." - "In Schwerin gab es keine Zwangsvereinigung. Wer das behauptet, lügt. (...) Es war wirklich kein Zwang", schreibt die Berlinerin Marianne Kodera-Krahn. Willi Lewin: "Ich stamme aus einer alten sozialdemokratischen Familie. Mein Großvater wurde 1871 Parteimitglied, meine Eltern um 1910. Mein Vater, obwohl Atheist, doch unter den Nazis als Jude verfolgt, sagte 1934/35 zu uns vier Kindern: ‚Unser größter Fehler als Sozialdemokraten war es, daß wir vor 1933 nicht mit den Kommunisten zusammengefunden haben.' Er kam 1943 im KZ Wuhlheide um. Auch alle seine Schwestern und Brüder wurden von den Nazis ermordet. Meine Geschwister und ich traten nach der Befreiung in Westberlin in die SPD ein mit der festen Absicht, uns für die Vereinigung mit der KPD einzusetzen. Was wir auch taten." - Rudi Göbel: "Mein Vater war Vorsitzender der SPD-Ortsgruppe. Anfang Mai 1946 fand die Vereinigung der beiden Ortsgruppen SPD und KPD zur SED statt. Mein Vater wurde zum Vorsitzenden der SED gewählt, und der Vorsitzende der KPD-Ortsgruppe wurde Stellvertreter. Von den knapp 50 Mitgliedern waren drei SPD-Genossen und zwei KPD-Genossen gegen diese Vereinigung. Eine Verfolgung oder Repressalien gegen diese Genossen gab es nicht." - Alfred Müller: "Ich habe über Kreis-, Bezirks- (Magdeburg) bis zur Landeskonferenz (Halle) die Auseinandersetzungen über die Vereinigung beider Parteien miterlebt. Ich behaupte auch heute noch, daß sich keiner der damals von ihren Ortsvereinen (SPD) und Dorfgruppen (KPD) delegierten Mitglieder unter zentralem Zwang für die Vereinigung auf Kreisebene, später auf Landesebene entschieden hat. Ich selbst und mehrere Diskussionsredner in den von mir erlebten Beratungen haben damals ein Weiterbestehen von KPD und SPD als eigenständige Parteien neben der SED nicht in Frage gestellt. Ihre Aussichten langer Lebensfähigkeit neben der SED hielten wir allerdings für begrenzt. Ich lehne als "Tatzeuge" ab, meine damalige Zustimmung als Mitglied der SPD zum Zusammenschluß beider Parteien als Mithilfe zu einer strafwürdigen Handlung einstufen zu lassen."221

In den Dörfern, Städten, Kreisen und Ländern hat es eine breite Bewegung für eine Einheitspartei gegeben. Genauso unbestreitbar aber ist, daß der SPD-Vorstand in Berlin von der KPD und der Sowjetischen Militäradministration stark bearbeitet worden ist. Auch ist bis heute die Zahl derjenigen nicht festgestellt, die als sozialdemokratische Einheitsgegner oder -skeptiker bearbeitet, schikaniert, ja, verhaftet und umgebracht wurden. Keine Frage, es hat brutalen Zwang gegeben. Aber es hätte des Zwangs nicht bedurft, um die Einheitspartei zu gründen. Die Gewalt war dem Stalinismus immanent, sie bedurfte keines äußeren Grundes. Stalinismus wendet auch dann Gewalt an, wenn er sie nicht benötigte, um seine Ziele zu erreichen. Deswegen ist die Tatsache, daß es Zwang gegeben hat, kein Beleg für die These der Zwangsvereinigung. Das Dilemma der sozialdemokratisch orientierten Geschichtsschreibung wird deutlich, seit die Wende den Historikern den Zugriff auf bis dahin verschlossene Aktenbestände eröffnet hat. Bis dahin galt folgende Darstellung: Direkt nach Kriegsende hätten die Kommunisten eine Vereinigung mit der SPD abgelehnt, wohl im Glauben, stärkste Partei werden zu können. Aber bald sei klar geworden, daß trotz allen Zulaufs zur KPD (März 1946: 600 000 Mitglieder) die Sozialdemokraten die stärkste Kraft in der SBZ werden würden, wenn nicht schon waren (März 1946: 680 000 Mitglieder). Deshalb und um die zahlreichen Positionen in der Verwaltung ausfüllen zu können, habe die KPD seit Herbst 1945 "nach dem großen Blutspender" gesucht und sei daran gegangen, sich die SPD einzuverleiben. Hatte die KPD bis dahin lediglich auf eine Aktionseinheit der beiden Arbeiterparteien gesetzt, so habe sie nun das Projekt SED betrieben. Im Dezember 1945 habe es auf einer Konferenz von je dreißig Spitzenfunktionären beider Parteien ("Sechziger-Konferenz") zunächst starken Widerstand der SPD gegeben. Deren Vorsitzender Otto Grotewohl und seine Genossen erklärten, eine Vereinigung könne gesamtdeutsch erfolgen, nicht in einer der vier Besatzungszonen. Andere Sozialdemokraten beklagten Übergriffe der Besatzer gegen Sozialdemokraten, die die Vereinigung ablehnten. Das geschah am ersten Tag der Konferenz. Am zweiten Tag akzeptierten die Sozialdemokraten überraschenderweise die Verschmelzung mit der KPD. Kurz darauf, im Januar 1946, aber ging der Zentralausschuß der SPD, wie sich der provisorische Parteivorstand nannte, wieder zurück auf seine Position, nur ein Reichsparteitag könne die Vereinigung beschließen. Doch nun habe der Druck der Besatzungsmacht es schließlich erreicht, daß der SPD-Zentralausschuß einer Vereinigung zustimmte. "Wo sich Ablehnung zeigte, griff die sowjetische Besatzungsmacht massiv ein, unter anderem mit Redeverboten und sogar Verhaftungen von sozialdemokratischen Einheitsgegnern", schreibt der große Biograph der deutschen Arbeiterbewegung Hermann Weber in seinem vorzüglichen Standardwerk zur DDR-Geschichte222, das vor der Wende erschienen ist.

Kurz nach der Wende publizierte Hermann Weber einen Aufsatz unter dem Titel "Mit Zwang und Betrug", in dem er unter anderem schreibt: "Bis vor kurzem haben Historiker der DDR überhaupt geleugnet, daß die Bildung der SED 1946 eine Zwangsvereinigung war. Sie sprach stets vom ‚freiwilligen Zusammenschluß', gegen den sich angeblich nur einige ‚rechte' Sozialdemokraten unter dem Einfluß Kurt Schumachers gewandt hatten. Wenn jetzt die Archive geöffnet werden, dürfte sich durch Einsicht in geheimgehaltene Unterlagen ein ganz anderes Bild ergeben. Schließlich ist schon aus den bisher bekannten Dokumenten und nach dem heutigen Forschungsstand jedem unvoreingenommenen Betrachter klar, daß die Sozialdemokraten zunächst in die Einheitspartei hineingezwungen und danach betrogen und von den sowjetischen und deutschen Kommunisten, den Trägern der Macht, unterdrückt worden sind."223 1996 bekräftigt Hermann Weber seine Position224 und beruft sich dabei auf die verdienstvolle Quellenedition zur SED-Gründung, die der Berliner Historiker Andreas Malycha 1995 vorgelegt hat.225

Andreas Malycha, der bis zur Wende am ZK-Institut für Marxismus-Leninismus (IML) gearbeitet hat, hat in der Tat bahnbrechende Forschungsarbeiten zur Gründung der SED und darüber hinaus vorgelegt. Er dazu einen gewaltigen Quellenberg abgearbeitet. Er spricht aber keiner Stelle von "Zwangsvereinigung", sondern von "Zusammenschluß", "Verschmelzung" oder "Fusion".226 Malycha schildert die "stalinistische Geburtshilfe", verkürzt aber den Einheitsprozeß nicht auf Gewalt. In seinem vorzüglichen Buch über die Umwandlung der gerade gegründeten SED in eine stalinistische Partei zeigt er statt dessen, daß die Gewalt umfassend erst nach dem Zusammenschluß der beiden Parteien eingesetzt hat, als es darum ging, den "Sozialdemokratismus" auszurotten.227 Ich führe das Umdenken der SPD seit Dezember 1945 auf zahlreiche Faktoren zurück, darunter und nicht zuletzt auch auf den Zwang der Besatzungsmacht. Entscheidend aber war der Druck der Basis, der wiederum nicht ohne Zutun der Kommunisten aus Deutschland und aus Moskau zustande kam, aber auch ohne dies stark gewesen wäre. Hätte der Zentralausschuß unter Otto Grotewohl der Vereinigung nicht zugestimmt, dann wäre sie in den Ländern gegen den Vorstand erfolgt. Am Ende siegte die Hoffnung, daß in der neuen Partei die einstigen Sozialdemokraten die Übermacht gewinnen und sich dem Zugriff der Besatzungsmacht entziehen könnten. Schließlich brachten sie mehr Mitglieder und vor allem auch mehr erfahrene Funktionäre als Mitgift ein. Aber die Braut wurde betrogen - hier hat Hermann Weber recht -, weil sie nicht mit Stalin und Ulbricht gerechnet hatte. Schon binnen kurzer Zeit waren die ehemaligen Sozialdemokraten entweder bekennende Anhänger der Lehren Stalins oder aus der Partei ausgeschlossen, oder verjagt, verhaftet, wenn nicht gar ermordet. Übrigens waren auch manche Kommunisten gegen die Einheitspartei. Bei ihnen wirkten das Sektierertum der Weimarer Zeit nach, oder sie wollten lieber kleiner, aber ideologisch "rein" sein.

Im Kreis Waren waren die Sozialdemokraten für die Vereinigung mit der KPD. In einem vom SPD-Ortsverein Waren herausgegebenen Buch über die Parteigeschichte der Sozialdemokraten im Müritzkreis ist von "Zwangsvereinigung" nicht die Rede. Darin wird vielmehr detailliert geschildert, wie sich am 24. März, einen knappen Monat vor dem Vereinigungsparteitag in Berlin, Kommunisten und Sozialdemokraten zur SED zusammenschlossen. In dem Buch heißt es: "Gespräche mit älteren Parteimitgliedern, die die Zeit der Vereinigung und die darauffolgenden Jahre bewußt miterlebten, zeigten, daß sie den Weg zur Vereinigung im festen Glauben gegangen sind, ihrer Verantwortung gegenüber dem notleidenden Volk gerecht zu werden."228 So war es, nicht nur in Waren. Und trotz vieler Fakten lebt die Legende von der "Zwangsvereinigung" weiter. So etwa in einer Broschüre des SPD-Landesvorstands mit dem Titel "Zwangsvereinigung von SPD und KPD in Mecklenburg-Vorpommern", deren Inhalt keinen Beleg für den Titel darstellt. So schreibt etwa der Historiker Klaus Schwabe in dem Bändchen: "Belege für die erzwungene Einheit gibt es genauso, wie es sie gibt für eine freiwillige Entscheidung" der Sozialdemokraten.229 Wenn es Belege gegen die Zwangsvereinigung gibt, warum steht sie dann im Titel der Broschüre?

Weil dieses Thema längst zum Gegenstand des politischen Streits geworden ist. Hermann Weber beklagt zu Recht, daß Konservative heute der SPD vorwärfen, die Vereinigung 1946 sei freiwillig erfolgt. "Offensichtlich wollen sie damit von der einstigen Mitmacher-Rolle der Blockparteien ablenken."230 In der Tat bestehen die ostdeutschen Landesverbände von CDU und FDP bis heute zum überwiegenden Teil aus einstigen Mitgliedern und Funktionären der mit der SED befreundeten Blockparteien CDU, DBD, NDPD und LDPD. Im Bundestag sitzen bis heute Leute, die bis 1989 die Mauer gepriesen und die führende Rolle der SED bejubelt haben, und dies auf den Fraktionsbänken der Christdemokraten und der Liberalen.

Im Juli 1990 publizierte die CDU/CSU-Bundestagsfraktion eine Broschüre über "die politischen Verstrickungen der SPD in die SED-Diktatur". In der Einleitung heißt es: "In der sowjetischen Besatzungszone waren es Blauäugigkeit und Opportunismus, die die SPD in die Arme der KPD trieben. Sie machte sich damit mitverantwortlich an der Errichtung der zweiten schrecklichen Diktatur auf deutschem Boden in diesem Jahrhundert."231 Und folgt ein Potpourri aus Zitaten, das mich in seiner Machart an unsägliche SED-Agitationsbroschüren erinnert. Man rühre all das zusammen, was einem ins Weltbild paßt, und was nicht hineinpaßt, übersehe man großzügig.

Erstaunlich übrigens, daß diese Sichtweise exakt übereinstimmt mit der Position der SED und mancher Unbelehrbarer in der PDS, die ebenfalls unterstellen, daß die Sozialdemokraten dereinst einheitsbeseelt in die SED strömten. Die historische Wahrheit, so, wie sie auch Malycha in seinen Arbeiten schildert, ist komplizierter und für Agitatoren, gleich welcher Couleur, nicht brauchbar. Wenn man den Begriff "Zwangsvereinigung" als eindimensional ablehnt, so bestreitet man keineswegs, daß Zwang eine wichtige Rolle gespielt hat. 1945/46 konnten die Sozialdemokraten in Ostdeutschland nicht wissen, daß die KPD von Anfang einen eindeutigen Kurs verfolgte: Sie wollte die herrschende Partei werden, entweder allein oder durch "Blutspende". Das war der kommunistischen Führung um Pieck und Ulbricht schon lange vor Kriegsende klar. Der Berliner Historiker Manfred Wilke hat dieses Konzept in einem brillanten Vortrag vor der Bundestags-Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte dargelegt.232

Alle strategischen und taktischen Erwägungen der KPD waren der Machtfrage untergeordnet. Am Ende ging es darum, die eigene politische Herrschaft zu errichten und die Konkurrenten um die Macht auszuschalten. Der Weg zur Liquidierung des jederzeit erfolgreicheren Hauptrivalen in der Arbeiterbewegung war die Vereinigung, der die Säuberung umgehend folgte. In diesem Sinn hatte Thälmann recht gehabt, als er erklärte, die Vernichtung der Sozialdemokratie sei endgültig erst möglich, wenn die Kommunisten die Macht erobert hätten. Nach dem Parteibuchumtausch 1951 hatte die stalinisierte SED 320 000 Mitglieder weniger! Walter Ulbricht, Wilhelm Pieck und Wilhelm Florin - letzterer war in der Komintern für Säuberungen zuständig gewesen! -, die einstigen Politbürogenossen Thälmanns, führten den Kampf gegen die Sozialdemokraten siegreich zu Ende. Stalin hatte sie gelehrt, "daß ohne Zerschlagung der in den Reihen der Arbeiterklasse tätigen kleinbürgerlichen Parteien (...) der Sieg der proletarischen Revolution unmöglich ist".233 Wer den Marxismus-Leninismus in der Arbeiterbewegung durchsetzen wollte, mußte den Sozialdemokratismus vernichten. Davon ließen sich die Kommunisten auch durch die Schrecken des Nationalsozialismus nicht abhalten. Das konnten die Sozialdemokraten 1945/46 allerdings bestenfalls ahnen. Sie hofften, daß die Kommunisten aus dem Desaster von 1933 gleichfalls Lehren gezogen hatten. Und was die Kommunisten nach 1945 erklärten, hörte sich ganz danach an.

((Kasten Anfang)) Mit der Vernichtung des Hitlerismus gilt es gleichzeitig, die Sache der Demokratisierung Deutschlands, die Sache der bürgerlich-demokratischen Umbildung, die 1848 begonnen wurde, zu Ende zu führen, die feudalen Überreste völlig zu beseitigen und den reaktionären altpreußischen Militarismus mit allen seinen ökonomischen und politischen Ablegern zu vernichten. Wir sind der Auffassung, daß der Weg, Deutschland das Sowjetsystem aufzuzwingen, falsch wäre, denn dieser Weg entspricht nicht den gegenwärtigen Entwicklungsbedingungen in Deutschland. Wir sind vielmehr der Auffassung, daß die entscheidenden Interessen des deutschen Volkes in der gegenwärtigen Lage für Deutschland einen anderen Weg vorschreiben, und zwar den Weg der Aufrichtung eines antifaschistischen, demokratischen Regimes, einer parlamentarisch-demokratischen Republik mit allen demokratischen Rechten und Freiheiten für das Volk. An der gegenwärtigen historischen Wende rufen wir Kommunisten alle Werktätigen, alle demokratischen und fortschrittlichen Kräfte des Volkes zu diesem großen Kampf für die demokratische Erneuerung Deutschlands, für die Wiedergeburt unseres Landes auf!

Aus dem Aufruf der KPD vom 11. Juni 1945234 ((Kasten Ende))

Auch die "Grundsätze und Ziele" der SED, die auf dem Vereinigungsparteitag 1946 beschlossen wurden, erinnern eher an das Heidelberger Programm der SPD von 1925 oder an das "Prager Manifest" des sozialdemokratischen Exilvorstands von 1934. In ihrer Struktur erinnern die Grundsätze an das Erfurter SPD-Programm von 1891, auch dieses war aufgeteilt in Gegenwartsforderungen und Aussagen über das sozialistische Endziel. In den SED-Grundsätzen ist zum Beispiel die Rede von der "Sicherung der demokratischen Volksrechte, Freiheit der Meinungsäußerung in Wort, Bild und Schrift (...). Gesinnungs- und Religionsfreiheit". Garantiert werden soll auch das "Koalitions-, Streik- und Tarifrecht". Und da heißt es auch: "Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands erstrebt den demokratischen Weg zum Sozialismus; sie wird aber zu revolutionären Mitteln greifen, wenn die kapitalistische Klasse den Boden der Demokratie verläßt."235 Betrachtet man die Programme der SPD vor dem Godesberger Programm (1959), so konnten sich die Sozialdemokraten inhaltlich als Sieger fühlen. Von Marxismus-Leninismus steht nichts im ersten SED-Programm, genausowenig vom demokratischen Zentralismus, und nicht einmal Stalin wird bejubelt. Die Zugeständnisse der KPD waren groß, und wenn man zu DDR-Zeiten Forderungen aus den "Grundsätzen" erhoben hätte, wäre man in Bautzen gelandet. Zu den Verlockungen auf dem Weg zur Einheitspartei gehörte die Illusion, die Sozialdemokraten könnten in der SED die Oberhand gewinnen.

Aber vor allem sollte man sich in die Lage nach 1945 versetzen. In den Augen der meisten politisch denkenden Deutschen hatte der Kapitalismus abgewirtschaftet, wie es auch die CDU in ihrem Ahlener Programm sagte. Irgendein Sozialismus sollte an seine Stelle treten. Die Sowjetunion hatte die Hauptlast des Kriegs getragen und war nicht nur Besatzer, sondern auch Befreier. Stalin - "Uncle Joe" - war kurz nach 1945 nicht der blutrünstige Diktator, sondern der unumstrittene Führer einer der großen Mächte der Welt, die gemeinsam das Erbe des Nationalsozialismus zu verwalten hatten. Die Nazis hätten die Weimarer Republik nicht zerschlagen können, hätten Sozialdemokraten und Kommunisten sie gemeinsam verteidigt. In den KZ hatte es meist keinen Unterschied gemacht, welches Parteibuch ein Gefangener hatte. Und nach der Niederlage der Nazis, war es da nicht klar, daß deren entschiedenste Gegner eine führende Rolle beanspruchten? Waren nicht die Kommunisten 1933 als erste aus dem Reichstag ausgeschlossen und gejagt worden, während Konservative und Liberale Hitlers Ermächtigungsgesetz zustimmten, dem allein die sozialdemokratischen Angeordneten widersprachen? Und hatten sich die bürgerlichen Kräfte nicht völlig diskreditiert, als sie die Nazis an die Macht brachten und sich ihnen andienten? Die Zukunft gehörte dem Sozialismus und seinen Parteien - das war vor allem in der sowjetischen Zone, wo ja auch die Besatzungsmacht sozialistisch war, in den Monaten nach dem Mai 1945 eine klare Sache. Hunderttausende strömten in die Parteien, die den Sozialismus versprachen: Mehr als 1,2 Millionen Mitglieder hatten SPD und KPD vor ihrem Zusammenschluß allein in der SBZ!

Die sozialdemokratischen Befürworter und konservativen Kritiker der Zwangsvereinigungsthese haben gleichermaßen politische Motive. Es geht um die sogenannte Kommunismusanfälligkeit der SPD, die die einen behaupten und die anderen bestreiten. Konservative werfen der SPD traditionell vor, mit den Kommunisten zu kungeln, mindestens unsichere Kantonisten zu sein. Und Sozialdemokraten verweisen darauf, daß nur die Gewalt sie in Ostdeutschland zur Vereinigung mit den Kommunisten gebracht habe, um damit auch die Denunziation abzuweisen.

Bei diesem Streit ging es früher um die Aktionseinheit mit Kommunisten oder mehr oder minder delikate Absprachen mit SED-Größen, etwa um der SPD bei Bundestagswahlen zu helfen (so, wie es Egon Bahr ja eingestanden hat). Heute geht es um die PDS. Um die Frage, ob die SPD mit der PDS zusammenarbeiten will, sei es in einer Koalition, sei es durch ein Tolerierungsabkommen wie in Magdeburg. Aber kann man die PDS mit KPD oder SED vergleichen?

Ich kritisiere in diesem Buch die PDS, auch wegen ihrer Unfähigkeit, ihre stalinistische Vergangenheit aufzuarbeiten. Ich werde diese Kritik im letzten Kapitel, wo es um die Tragödie der deutschen Linken geht, zusammenfassen um mich deshalb hier kurz fassen. Der PDS ist eine Menge vorzuwerfen, aber sie ist keine kommunistische Partei. Deshalb hinkt der historische Vergleich. Es geht bei der Erörterung einer Zusammenarbeit von SPD und PDS nicht um eine Aktionseinheit oder Einheitsfront, schon gar nicht um eine Volksfront, wie Ahnungslose im Konrad-Adenauer-Haus, der CDU-Zentrale, fabulieren. Eine Zusammenarbeit von SPD und PDS würde unsere Gesellschaft nicht grundlegend verändern. KPD und SED waren nach dem Prinzip des demokratischen Zentralismus organisiert, der alles mögliche war, nur nicht demokratisch. Er besagte im Kern, daß die Vorstände von oben nach unten bestimmten, was die Partei tat. An der Spitze stand ein Politbüro (in der DKP hieß es Präsidium), dessen Weisungen diszipliniert zu folgen war. Abweichende Positionen durften öffentlich gar nicht geäußert werden, intern nur in Grenzen, auf keinen Fall mehr nach der Beschlußfassung. Die Einheit und Geschlossenheit der Partei unter Führung ihrer Leitungsorgane waren höchste Güter, "Fraktionsmacherei" war verpönt und wurde unnachgiebig geahndet. Zu Zeiten der Kommunistischen Internationale, also von 1919 bis 1943, waren die nationalen Leitungsorgane der kommunistischen Parteien in aller Welt den Weisungen des Exekutivkomitees der Komintern (EKKI) unterworfen. Das EKKI bestimmte im Zweifels- und Streitfall auch die Zusammensetzung der Vorstände. Nach Auflösung der Komintern und dem kurzen Zwischenspiel des Kommunistischen Informationsbüros (1943 bis 1956) übernahm die sowjetische KP direkt die Rolle der obersten Entscheidungsinstanz, die sie zuvor vermittelt über ihre bestimmende Rolle in den internationalen Gremien ausgeübt hatte.

Angesichts dieser Grundstruktur war jedes Mißtrauen in die KPD berechtigt. Eine Partei, die nur Manövriermasse ihrer Führung oder gar einer ausländischen Macht ist, ist nicht berechenbar. Eine Partei, die nicht demokratisch aufgebaut und einem Endziel verpflichtet ist, ist als Bündnispartner eine Zumutung. Eine Partei ohne Demokratie kann keine demokratische Politik betreiben. Die PDS ist nicht ferngesteuert. Die Autorität ihrer Führung überschreitet in manchen Fällen nicht einmal die Eingangspforte des Karl-Liebknecht-Hauses. Der Pluralismus in der Partei ist statuarisch fest verankert, die Meinungsfreiheit wird geradezu exzessiv genutzt. Gruppen in der Partei, also Fraktionen, haben das Recht, sich zu organisieren und erhalten Geld aus Parteimitteln. Niemand ist verpflichtet, Parteitagsbeschlüsse richtig zu finden. Von demokratischem Zentralismus kann keine Rede sein. In den Parteimedien gibt es immer wieder kontroverse Diskussionen. Die Bundestagsgruppe und die Fraktionen in Landtagen und Kommunalparlamenten sowie die fast 200 PDS-Bürgermeister sind nicht weisungsgebunden, sondern entscheiden eigenverantwortlich, oft genug zum Ärger von Leitungsgremien der eigenen Partei. Was ihre politische Struktur angeht, ist die PDS pluralistischer als alle anderen Parteien. Dies ist kein Übergangsstadium, sondern der Grundzustand der PDS. Insofern sind plötzliche taktische Wendungen, wie man sie von kommunistischen Parteien immer erwarten mußte, unvorstellbar. Die Entscheidungsfindung dauert in keiner Partei länger als in der PDS, weil die pluralistische Struktur umfassende Diskussionen verlangt. Und selten geht es um klare Linien, meistens enden die Debatten in Kompromissen zwischen den Lagern und Strömungen. Genausowichtig als Unterscheidungsmerkmal ist, daß die PDS keine Avantgardepartei ist und mit Lenins Parteitheorie nichts mehr im Sinn hat. Sie wird sogar in Kreisen der KPF nicht mehr gepriesen, und das Marxistische Forum beansprucht ebenfalls keine führende Rolle für die Partei. Lenins Parteikonzept, wie er es 1902 in "Was tun?" entwickelt und wie es Stalin bis zum militärischen Exzeß fortgeschrieben hat, hat sich auch in den Augen der PDS-Genossen nicht bewährt.

Die führende Rolle der Partei ist ohnehin nur zu verwirklichen, wenn die Partei geschlossen und diszipliniert auftritt. Die Avantgarde bedarf einer organisatorischen Struktur, die die PDS nicht einmal entfernt aufweist. Man muß nur einmal einen Parteitag besuchen, und man verabschiedet sich stante pede von der Idee, die PDS würde und könnte einen Führungsanspruch in Leninschem Sinn erheben. Statt dessen ist die PDS im Osten, nur dort hat sie Gewicht, eine Volkspartei mit einem Wähleranteil von rund 25 Prozent der Stimmen. Vor allem aber hatten kommunistische Parteien ein unverrückbares Ziel: die Eroberung der politischen Macht, auf lateinisch: die Diktatur des Proletariats. Der PDS aber ist das Proletariat abhanden gekommen. Zum einen ist sie keine Arbeiterpartei, wie ihre soziale Zusammensetzung ausweist, und zum anderen bezweifeln die maßgeblichen Theoretiker und Spitzenpolitiker, daß die Arbeiter eine revolutionäre Rolle spielen könnten. Von einer historischen Mission ist weder im Programm noch in den Köpfen der politischen Aktivisten noch eine Spur zu finden. Und eine Diktatur will bis auf ein paar Unbelehrbare auch niemand mehr in der Partei. Eine Partei ohne Diktatur des Proletariats, ohne kommunistisches Ziel, ohne demokratischen Zentralismus und ohne den Glauben an die revolutionäre Rolle der Arbeiterklasse ist keine kommunistische Partei.236 Warum also keine Koalition mit der SPD? Dafür gibt es mehrere Gründe: Erstens muß die SPD mit dem latenten Antikommunismus, vor allem in Westdeutschland, rechnen. Im Westen würde eine Koalition oder die Aussicht auf eine Tolerierung durch die PDS im Bundestag Stimmen kosten.

Zweitens will die SPD den Hauptkonkurrenten im eigenen Lager nicht stärken, sondern erklärtermaßen beseitigen. In Ostdeutschland ist die SPD so schwach, weil die PDS so stark ist. Gäbe es die PDS nicht, würde die SPD einen Großteil ihrer Stimmen gewinnen. Und auch ihrer Mitglieder, denn immer noch stehen im Osten knapp 30 000 Sozialdemokraten mehr als 100 000 PDS-Mitgliedern gegenüber. Die SED hat die sozialdemokratische Traditionslinie zerschnitten, einer ihrer letzten Erfolge mit Nachwirkung. Sachsen oder Thüringen etwa waren bis 1933 und dann wieder bis 1946 Hochburgen der SPD. Der sächsische Landesverband hatte vor der Vereinigung mit der KPD mehr als 200 000 Mitglieder, ein knappes Drittel der sozialdemokratischen Mitgliedschaft in der SBZ! Heute regieren dort Konservative, darunter viele Ex-Blockflöten, und bei den Landtagswahlen 1994 hat die PDS hat nur ein Zehntelprozent weniger Stimmen gewonnen als die SPD (16,5 zu 16,6 Prozent), obwohl sie in Sachsen schwer zerstritten ist! Mit der Beseitigung der PDS müssen die Sozialdemokraten noch ein bißchen warten. SPD-Landeschefs wie Harald Ringstorff (Mecklenburg-Vorpommern) und Richard Dewes (Thüringen) haben die Zeichen der Zeit erkannt und bemühen sich, das Verhältnis ihrer Partei zur PDS flexibler zu gestalten. Der Sozialdemokrat Reinhard Höppner konnte in Sachsen-Anhalt nur Ministerpräsident werden, weil er die Stimmen der PDS bekam. Das "Magdeburger Modell", die Tolerierung eines rot-grünen Bündnisses durch die PDS, hat sich trotz aller Unkenrufe schon mehrere Jahre bewährt. Es heißt nicht umsonst "Modell": Es zeigt den Sozialdemokraten den Weg, eine Koalition mit der PDS zu vermeiden, ohne auf ihre Stimmen zu verzichten. Auch bei einem Wechsel in Bonn könnte es auf die PDS-Bundestagsabgeordneten ankommen.

Drittens gibt es bei der PDS nach wie vor eine Glaubwürdigkeitslücke. Die deftigen Mängel bei der Vergangenheitsaufarbeitung wirken auch politisch. Die Sozialdemokraten kritisieren zu Recht, daß man nicht glaubwürdig für Demokratie streiten kann, wenn man die SED-Diktatur nicht grundlegend und restlos ablehnt. Und die SPD hat, vor allem in Westdeutschland, Angst vor Neuauflagen der "Rote-Socken-Kampagne", deren letzte der CDU im Osten zwar geschadet, die SPD im Westen aber in Schwierigkeiten gebracht hat. Hinzu kommt, daß die SPD in Ostdeutschland als Bürgerbewegungspartei gegründet worden ist. Sie hat eine andere Biographie als die Landesverbände im Westen. Sie hat auch andere Erfahrungen mit der SED gemacht. War doch manchen West-SPD-Vertretern die Honecker-Partei in den achtziger Jahren nicht mehr gar so feindlich vorgekommen. Man vereinbarte gemeinsame Papiere für Abrüstung, kungelte auch ein bißchen, dies aber nicht ideologisch, sondern machtpolitisch. Wohingegen die Bürgerbewegungen tagtäglich mit Verfolgung konfrontiert waren. Fürchtet die West-SPD eher die Attacken der Union, wenn sie sich mit der PDS einläßt, so haben Vertreter der Ost-SPD oft prinzipielle Schwierigkeiten mit einer Partei, die sich selbst als Nachfolgerin der bei Bürgerbewegten verhaßten SED bezeichnet.

Und doch wird im Osten die sozialdemokratische PDS-Ablehnung weiter aufweichen. Die Alternative zu Tolerierung oder Koalition ist nämlich die große Koalition mit der CDU. Wenn die SPD die PDS-Option nicht wahrnimmt, verliert sie jeglichen Bewegungsspielraum, sofern es keine absolute Mehrheit für eine Partei oder für Rot-Grün gibt. Wenn die SPD die PDS von vornherein außen vor läßt, hat sie auch bei Koalitionsverhandlungen mit der CDU schlechte Karten. Wenn die SPD aber offen ist für eine Zusammenarbeit mit Honeckers Erben, dann gerät die CDU in eine katastrophale strategische Lage: Da die FDP im Osten praktisch nicht mehr existent ist, hat sie keinen Koalitionspartner mehr. Außer in Sachsen ist eine absolute CDU-Mehrheit unwahrscheinlich. Es ist wohl eher diese koalitionsstrategische Ausgangslage, die das Konrad-Adenauer-Haus dazu bewegt, sich über jede Annäherung zwischen SPD und PDS zu empören. Wäre das Rote-Socken-Getöne allein moralisch begründet, dann hätte die Union nicht die einstigen Blockparteien CDU und DBD mitsamt allen SED-treuen Kadern aufnehmen dürfen.237

((Kasten Anfang)) Die Vereinigung der beiden Arbeiterparteien war dem Wesen nach ein Vorgang, der dem Geist des gerade beginnenden Kalten Krieges widersprach - und ist dennoch oder gerade deswegen von den frühen Schlachten des Kalten Krieges geprägt und verzerrt worden. Nichts wäre schlimmer, als dieses historische Ereignis und seine Folgen heute wieder nur in den Kategorien des Kalten Krieges zu bewerten: Schwarz - oder weiß; gut - oder böse. Die Folge wäre, daß eine Debatte über die Vergangenheit die Diskussion über das Heute und das Morgen blockiert. Das wäre falsch. In einer Frage allerdings gibt es eine klare Position: Die Entwicklung der SED führte zur Unterdrückung demokratisch-sozialistischer Ansätze - gleich, ob sozialdemokratischer oder kommunistischer Herkunft. Viele ihrer Anhängerinnen fielen Parteisäuberungen zum Opfer oder wurden zum Schweigen verurteilt. Nicht wenige mußten für ihren Widerstand gegen diese Entwicklung schwere persönliche Opfer bringen, manche büßten mit Haft oder sogar mit dem Tod. Es ist für demokratische SozialistInnen selbstverständlich, daß sie Formen politischer Auseinandersetzungen, die zu solchen Folgen führten, verurteilen und für sich selber ausschließen. Daran lassen wir keinen Zweifel!

Meine zweite Anmerkung: Am Anfang der SED standen die erklärte Absicht und im Herzen vieler Genossinnen und Genossen beider Parteien der ehrliche Wunsch, nach zwölf schrecklichen Jahren die Lehren aus der Geschichte zu ziehen und das Beste aus der Tradition der beiden großen Arbeiterparteien zu machen. Dennoch haben wir in der SED das sozialdemokratische Erbe gründlich und endgültig verspielt. Das zu leugnen hat keinen Zweck. Daß die Erinnerung an die revolutionäre Sozialdemokratie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in der SED hochgehalten wurde und auch durchaus lebendig war - das ist eher eine Bestätigung als ein Gegenbeweis gegen die These, daß eben sozialdemokratische Fortentwicklung in der SED nicht mehr stattgefunden hat. Die Frontlinien des Kalten Krieges trennten auch sozialdemokratische und kommunistische Bewegung, SPD und SED - und bis heute SPD und PDS. Am Ende des Jahrhunderts ist diese Verselbständigung eine historische Tatsache - anders als an seinem Anfang oder in seiner Mitte. Gemeinsame Wurzeln und gemeinsame Geschichte sind ungeachtet dessen eine Realität und ein Thema auch heute. Aber: Den Konservativen eine Alternative entgegenzusetzen und ihre Herrschaft zu überwinden - diesem Ziel bringt uns nicht der integrierende Geist näher. Wir leben nicht zu Zeiten August Bebels. Heute geht es um eine streng rationale Auseinandersetzung eigenständiger Partner um Probleme und Inhalte der Gegenwart.

PDS-Chef Lothar Bisky auf dem Magdeburger Parteitag, Januar 1996.238 ((Kasten Ende))

Sachsen-Anhalts CDU-Chef Christoph Bergner mußte als erster die neue sozialdemokratische Beweglichkeit erfahren, als sein liberaler Koalitionspartner bei den Landtagswahlen im Juni 1994 die Fünfprozentklausel verfehlte. Obwohl die CDU stärkste Partei war, beharrte SPD-Spitzenkandidat Höppner darauf, Ministerpräsident zu werden. Er wurde es, aber nicht in einer großen Koalition, sondern in einem rot-grünen Minderheitskabinett, gewählt auch mit Stimmen der PDS. Die Zusammenarbeit zwischen Höppner und der PDS um Roland Claus und Petra Sitte funktioniert gut, und das Geschrei um das Magdeburger Modell ist abgeflaut. In Sachsen-Anhalt entpuppt sich die PDS vielmehr als eine linkssozialdemokratische Partei, sehr zum Ärger von KPF und Marxistischem Forum. Spätestens seit dem Schweriner PDS-Parteitag vom Januar 1997 ist klar, daß die PDS trotz allen Widerspruchs der Traditionalisten in ihren Reihen den Schulterschluß mit Rot-Grün sucht. Seit der deutschen Vereinigung hatte sie sich immer als Oppositionskraft verstanden, auch weil sie ihren Platz im neuen Deutschland nicht gefunden hatte. Sie war zudem vor allem mit sich selbst beschäftigt. Und das ist kein Wunder: Binnen weniger Monate wurde die SED entmachtet, verlor Hunderttausende von Mitgliedern und ihre komplette Führung, mußte sich von ewigen Wahrheiten verabschieden und nach langem Streit den Großteil ihres Vermögens abtreten, brauchte neue Köpfe und neue Programme, wurde von Skandalen geschüttelt und wird bis heute immer wieder von der eigenen Vergangenheit eingeholt. Nicht zuletzt gelten PDS-Leute als Parias, wird ihnen, nicht ohne Grund, die SED um die Ohren gehauen. Aber immer waren sie auch Abtreter für jene, die eigene Schuld weiterreichen.239 Nun aber hat sich die Partei strategisch und programmatisch stabilisiert. Sie hat funktionierende Vorstände und Parlamentsfraktionen. Und: Eine Vergangenheit, die allmählich in die Ferne rückt, bedrückt weniger stark. Zwar sind die meisten Genossen noch nicht in der Bundesrepublik angekommen, aber in den Vorständen sind viele unterwegs. Die Führungsmannschaft der Partei um Lothar Bisky, Gregor Gysi, André Brie und Geschäftsführer Dietmar Bartsch, der vielleicht Bisky als Parteivorsitzender beerben wird, die Landespolitiker Roland Claus, Petra Sitte oder Helmut Holter wollen keine Neuauflage der kommunistischen Einheitsfrontpolitik, sie wollen schon gar keine Verschmelzung. Sie wollen auch wegen programmatischer Überschneidungen eine parlamentarische Zusammenarbeit mit Sozialdemokraten und Grünen. Sie wollen die konservative Hegemonie brechen.

Ich werde im nächsten Kapitel diese Strategie der PDS schildern. Hier reicht die Feststellung, daß die PDS mitspielen will im pluralistischen Spiel. Sie glaubt ihren Platz links von SPD und Grünen gefunden zu haben und will nun ausloten, was von dort aus möglich ist.

Ein wichtiges Mittel dazu ist die Erfurter Erklärung. Sie ist nach dem Magdeburger Modell der zweite wichtige Versuch der PDS, der politischen Diaspora zu entkommen. Die Erfurter Erklärung wurde kurz, aber noch rechtzeitig zum Schweriner Parteitag im Januar 1997 fertig, um den Genossen Parteitagsdelegierten einen Ausblick auf künftige Erfolge zu geben. Hektisch hatten führende Parteivorstandsmitglieder am Text gefeilt, und hektisch suchten sie nach prominenten Erstunterzeichnern aus dem linken, vor allem dem sozialdemokratischen Lager. Sie fanden 37. Auf dem Parteitag hielt dann der Vorsitzende der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen in Thüringen, Bodo Ramelow, eine vielbeachtete kämpferische Vorstellungsrede. Außer ihm gehören weitere Gewerkschaftsführer zu den Erstunterzeichnern: Gisbert Schlemmer, Vorsitzender der Gewerkschaft Holz und Kunststoff; Horst Schmitthenner, Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall; Frank Spieth, der Thüringer DGB-Chef. Weitere prominente Erstunterzeichner sind: Stefan Heym, Günter Grass, Dieter Lattmann, Peter von Oertzen, Heino Falcke, Dorothee Sölle, Gerhard Zwerenz, Daniela Dahn, Herbert Schirmer und andere. Eine illustre Gesellschaft von Menschen, die über jeden Kommunismusverdacht erhaben sind. Dazu zählen jene Sozialdemokraten, die die Erfurter Erklärung seitdem unterzeichnet haben wie Egon Bahr, die brandenburgische Sozialministerin Regine Hildebrandt, Mecklenburg-Vorpommerns Finanzministerin Sigrid Keler, die Juso-Bundesvorsitzende Andrea Nahles oder Thüringens SPD-Chef Richard Dewes. Natürlich beschworen CDU/CSU gleich das Gespenst eines "Volksfrontbündnisses" (wobei mich bei solchen Apostrophierungen immer wieder Zweifel befallen, ob die, die da von Volksfront sprechen, überhaupt wissen, was das ist). Kanzler Kohl sprach gar von "Haßpredigern, die sich in Erfurt zusammenrotten und ihr Haupt erheben".240

Die Erfurter Erklärung - Überschrift: "Bis hierher und nicht weiter: Verantwortung für die soziale Demokratie - besteht aus sieben Punkten: Im ersten Punkt wird der Angriff auf die soziale Demokratie kritisiert und die galoppierende Staatsverschuldung beklagt. Angesichts dessen müßten sich die gesellschaftlichen Kräfte zusammenfinden, "die bereit und imstande sind, die Verantwortung für die soziale Demokratie mit der Bindung an ein soziales Europa zu übernehmen". Punkt 2 verlangt eine gerechte Verteilung von Einkommen und Gütern in Ost und West. Im dritten Punkt fordert eine andere Regierung. "Wer sie will, muß aus der Zuschauerdemokratie heraustreten." In Punkt vier wird erklärt, daß die Hauptaufgabe der Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit sei. Verlangt wird eine gerechtere Verteilung der Arbeit, die Belastung der Reichen und eine ökologische Steuerreform. Im fünften Punkt wird gesagt, daß zur Finanzierung der neuen Politik Steuerehrlichkeit ausreiche. Und: "Geldtransfers, Gewinne, Großerbschaften, Vermögen, Spekulationen mit Grund und Boden und Umweltzerstörung müssen spürbar stärker besteuert werden." Punkt 6 sei ganz zitiert, weil über ihn am meisten gestritten wird und weil aus Sicht der PDS von zentraler Bedeutung ist: "Gebraucht wird eine Opposition, die den Wechsel mit allen Kräften will. Sie kann nur aus den bisher getrennten Oppositionskräften entstehen. Kein Nichtberührungsgebot darf sie schrecken, zumal die amtierende Macht sich in eigener Sache keineswegs darum schert: Der Kanzler versichert Reformsozialisten in Osteuropa seiner Freundschaft. Im Inneren der Republik sind Reformsozialisten für ihn der böse Feind, obwohl seine Regierung 1990 bis 1994 mit Kadern der vier früheren SED-Schwesterparteien die Mehrheit errang. Allzu schnell hat sich die veröffentlichte Meinung darüber hinwegtäuschen lassen. Wir brauchen eine Regierung, die ohne inneres Feindbild regiert. Das Gut-Böse-Schema aus der Zeit der Systemkonfrontation kann das Vollenden der Einheit nicht leisten. Von der SPD fordern wir: Mut zur Opposition auf ganzer Linie. Die Mehrheit der Bevölkerung traut ihr mehr Gerechtigkeit zu, aber noch nicht die Entschlossenheit zur Macht, sie auch zu verwirklichen. Die sozialdemokratische Mehrheit im Bundesrat überträgt ihr eine zwiespältige Rolle, weil nur zu oft der Eindruck einer großen Koalition entsteht. Die SPD muß ihrer Herkunft als Partei der sozialstaatlichen Reformen auf neue Weise gerecht werden: sie muß auch in nachhaltig veränderten Zeiten mehr Demokratie wagen. Von Bündnis 90/Die Grünen fordern wir: Den begonnenen Weg der Überwindung ihrer ‚Ein-Punkt-Kompetenz' (Ökologie) fortzusetzen. Sie sollte auch Kontur als soziale Reformkraft gewinnen und den Eindruck widerlegen, sie wolle am Ende die FDP ersetzen. Wer von den Grünen diese Vorstellung absurd empfindet, wird die Mathematik der Mehrheit realistisch sehen. Es gilt, für eine parlamentarische Kraft neben der SPD, die in den ostdeutschen Ländern eindrucksvoll gewählt wird, offen zu sein.

Von der PDS fordern wir, ihre Positionen zum historisch gescheiterten Sozialismusmodell weiter zu klären. Es geht nicht um Demutsgesten und den Verzicht auf antikapitalistische Strömungen. Es geht um demokratische Zuverlässigkeit bei aller Entschiedenheit, eine demokratisch-sozialistische Kraft im Spektrum der Parteien zu sein. An alle drei Parteien: Sie dürfen der Verantwortung nicht ausweichen, sobald die Mehrheit für den Wechsel möglich wird. Lassen Sie niemand im Zweifel, wie schwierig es sein wird, Kompromisse einzugehen und dennoch die eigene Unverwechselbarkeit zu bewahren. Gleichzeitig die Kraft für neue Konzeptionen, Theorie und Vision aufzubringen erfordert Toleranz in den eigenen Reihen." Im siebten Punkt plädieren die Unterzeichner für einen "neuen gesellschaftlichen Aufbruch", für ein "Bündnis für soziale Demokratie".241

In der Erfurter Erklärung steht nichts, was man nicht schon in sozialdemokratischen oder gewerkschaftlichen Veröffentlichungen gelesen hätte - ausgenommen der Appell, daß die Oppositionskräfte zusammenarbeiten sollen. Darauf konzentriert sich die Kritik aus der Union. Es ist scheinheilig, daß die PDS immer wieder darauf verweist, dies sei gar nicht der wichtigste Punkt der Erklärung. Für sie ist Punkt 6 in Wahrheit das A und O. Vor allem deshalb hat sie die Kampagne entfacht, die mittlerweile weit mehr als 40 000 Menschen (Stand November 1997) per Unterschrift unterstützen. Was in der Erfurter Erklärung steht, trifft die Stimmung vieler Deutscher, vor allem in Ostdeutschland. Trotzdem haben sich SPD und Grüne offiziell von der Erklärung distanziert und erreicht, daß auf einem Kongreß der Initiatoren der Erklärung im Oktober 1997 in Erfurt die Forderung nach einer Zusammenarbeit mit der PDS ausgeklammert wurde. Eine Niederlage für Bisky & Co. Aber kein Desaster. Am Ende wird die Sozialdemokratie der Verlockung nicht widerstehen können, die linke Mehrheit bei Landtagswahlen auch zum eigenen Nutzen zu realisieren. Es ist nur die Frage, wo zuerst.

Warum wollen die Reformer in der PDS die Zusammenarbeit mit der SPD? Warum auch die Beteiligung an Regierungen? Nicht weil sie die Republik zu unterwandern beabsichtigen. Nicht um den Sozialismus zu errichten, womit mancher Konservative den Bürger erschreckt. Natürlich wollen Bisky, Gysi oder Brie gestalten. Sie wollen als Politiker zumindest Teile ihrer Ziele realisieren und glauben, dies am besten tun zu können, wenn sie mit in der Regierung sitzen. Das ist wichtig, aber nicht das wichtigste. Ein sozialpsychologisches Moment ist von noch größerer Bedeutung: der Versuch der Erneuerer, die PDS in das politische System der Bundesrepublik zu integrieren, endlich aus dem Getto herauszukommen. Nur so gibt es eine Chance, die Partei zu verändern, die Ostalgiker zurückzudrängen, die Genossen auf Ziele einzuschwören, die in der Zukunft liegen, statt mit dem Blick zurück zu leben.

Es ist eine verrückte Situation: Ohne ideologische Mehrheit in der Partei für dieses Konzept will deren Spitze die eigenen Genossen einer pädagogischen Erfahrung aussetzen, um sie von der Fixierung auf die Vergangenheit abzubringen. Sie profitiert dabei von der Tatsache, daß die Hardliner von Wagenknecht bis Heuer bei allen Seifenblasen keine Strategie besitzen. Und davon, daß die Genossen an der Basis, wenn auch unwillig, der Führung folgen. Das haben sie in 43 1/2 Jahren SED gelernt. Und diese Autoritätshörigkeit aus Zeiten des demokratischen Zentralismus nutzen jene Kräfte, die mit der SED sonst nicht mehr viel zu tun haben wollen. Das ist noch verrückter. Die PDS braucht die Kooperation mit anderen politischen Kräften, auch die Regierungsverantwortung, um sich zu erneuern. Dafür braucht sie auch die Erfurter Erklärung. Ich bin skeptisch, ob es der Partei je gelingen wird, sich ganz von Stalin zu befreien. Aber wenn es klappen soll, dann darf sie nicht im Morast sitzenbleiben. Eigentlich sollten SPD, Grüne und die Union die Integration der PDS in die politische Landschaft unterstützen. Immerhin repräsentiert die Partei in Ostdeutschland mehr als zwanzig Prozent der Wählerstimmen. Man sollte nicht beklagen, daß viele Ostdeutsche nichts zu tun haben wollen mit dem neuen Deutschland, wenn man sie nur dann akzeptiert, wenn sie eine andere Partei wählen als die PDS.

Ich werde die PDS wohl nie wählen. Die Gründe dafür stehen in diesem Buch. Aber ich bin dagegen, daß Bisky, Gysi, Brie und Genossen weiter so behandelt werden, wie Gerhard Riege behandelt worden ist. Ich bin dagegen, daß jene verächtlich gemacht werden, die mit der PDS zusammenarbeiten wollen. Auch deshalb habe ich die Erfurter Erklärung unterschrieben. Ich gebe zu, mit Bauchschmerzen.

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