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1 Reisefreiheit bedeutet mir nichts 

 

Ein Streit unter Genossen

 

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Das Gebäude der sozialistischen Tageszeitung »Neues Deutschland« in Berlin-Friedrichshain sieht aus wie ein Bahnhof. An diesem kühlen, diesigen Abend des 4. November 1996 drängt sich eine Traube von Menschen um den Seiteneingang zum Veran­staltungs­saal. Um 18 Uhr soll eine Podiums­diskussion zwischen Andre Brie und Sahra Wagenknecht beginnen. Es ist noch nicht sechs Uhr, aber der Saal ist schon voll. Viele müssen draußen bleiben.

Veranstaltungen der PDS fangen früh an. Die meist älteren Besucher sollen rechtzeitig wieder zu Hause sein, und überhaupt ticken die Uhren in Ostdeutschland anders als im Westen. Auch wenn Arbeitslose, Frührentner, Umschüler und Warte­schleifen­dreher mittlerweile eine Mehrheit stellen in Politveranstaltungen, wenigstens in denen der PDS, so bestimmt immer noch der Rhythmus der Frühschicht den Zeitplan. Und obwohl die PDS längst keine Arbeiterpartei mehr ist, hier steht sie auf jeden Fall in der Tradition der SED, von deren zuletzt 2,3 Millionen Mitgliedern die Mehrzahl der Arbeiterklasse zugerechnet wurde. Wobei die Parteistatistiker allerdings ein wenig nachgeholfen hatten, um das Bild der »revolutionären Vorhut der Arbeiter­klasse« noch proleten­freundlicher zu zeichnen.

 

    Neues Deutschland   

Ich hatte mir einen Presseplatz reservieren lassen, und so drängle ich mich durch die wartende Menge, begleitet von einigen unfreun­dlichen Kommentaren der Enttäuschten, die zu spät gekommen sind und nicht mehr eingelassen werden. Vor dem Podium mit drei Stühlen säuberlich in Sitzreihen etwa 200 Besucher. An einer Seitenwand ein festliches Transparent mit der Aufschrift »50 Jahre Neues Deutschland«.

Ich frage mich, was es an diesem Jubiläum zu feiern geben soll. Das »ND«, wie es in einschlägigen Kreisen genannt wird, war vom 23. April 1946, wenige Tage nach der Vereinigung von KPD und SPD zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), bis zum 4. Dezember 1989, als die SED in einer Volks­revolution unterging, das Sprachrohr der Einheits­parteiführung. Das Verlaut­barungs­organ erst Ulbrichts, dann Honeckers hat oft Haß und Spott auf sich gezogen. Manche SED-Mitglieder haben in ohnmächtigem Zorn gezählt, wie oft Erich Honecker in einer einzigen Ausgabe abgebildet war, etwa zu Zeiten der Leipziger Messe: bis zu zwanzig Mal das Konterfei des Parteichefs war nicht ungewöhnlich.

Andere haben sich am »ND« in der Kunst geübt, zwischen den Zeilen zu lesen. Immer in der Hoffnung, in irgendeiner Spalte – verklausuliert, zwischen Nichtssagendem eingegraben – ein Wort, eine Wendung zu finden, die aus dem verstaubten Einheits­sprachmüll herausstach. Ein hoffnungsloses Unterfangen.

Ich habe das »ND« immer stinklangweilig gefunden, auch im Jahr 1977, als ich während eines Einjahres­lehrgangs an der DKP-Parteischule »Franz Mehring« im Ostberliner Stadtteil Biesdorf zu seinen Abonnenten und Dauerlesern zählte. Ich habe mich trotzdem fleißig durch das glücklicherweise recht schlanke Blatt gequält, weil die darin wiedergegebenen Wertungen und Stellung­nahmen für meine Partei de facto verbindlich waren. Ich habe sie für richtig gehalten.1

Das »ND« war vor allem die Stimme seiner Herren. Es hat jedes Verbrechen des Stalinismus gepriesen: die Niederschlagung des Arbeiter­aufstands vom 17. Juni 1953 genauso wie die schändlichen Schauprozesse gegen den Leiter des Aufbau-Verlags, den Antifaschisten Walter Janka, und gegen den Philosophen Wolfgang Harich 1957, den Bau der Mauer 1961 wie den Einmarsch des Warschauer Pakts in Prag 1968, den sowjetischen Krieg gegen Afghanistan nicht weniger als die blutige Niederschlagung der Studenten­demonstrationen auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking im Sommer 1989.

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Natürlich erfaßten die Wellen der stalinistischen Verfolgung auch das »ND«: Unter dem Beifall des Zentralorgans wurde einer seiner ersten Chefredakteure, Lex Ende, im August 1950 aus der SED ausgeschlossen. Bis zu seinem Tod 1951 durfte sich der Kunsthändlersohn aus Bad Kissingen, einst ein führender Kopf des kommunistischen Widerstands gegen die Nazis, als Buchhalter in einem volkseigenen Metallbetrieb »bewähren«. Auch Politbürokandidat Rudolf Herrnstadt, Chefredakteur von 1949 bis 1953, verschwand in der Versenkung. Der Ulbricht-Kritiker wurde im Januar 1954 als Parteifeind aus der SED ausgeschlossen und arbeitete bis zu seinem Tod im August 1966 in der Merseburger Niederlassung des Deutschen Zentralarchivs.
    Was also gibt es da zu feiern?

 

Der für mich reservierte Platz ist in der ersten Reihe. Journalisten werden gut behandelt in der PDS. Insoweit ist die Partei längst auf Westniveau. Wenn nicht darüber, denn bei keiner anderen Recherche hatte ich sowenig Widerstand zu überwinden, um Informationen und Informationsquellen aufzutun. Als ich für mein Buch über die »Blockflöten«2 in der CDU auf Achse war, bedurfte es einiger Nacht-und-Nebel-Aktionen, um an aufschlußreiches Material heranzukommen. Als ich den geheimen Kontakten zwischen SPD und SED in den achtziger Jahren nachspürte,3 rannte ich gleich gegen zwei Mauern: eine stand im damaligen PDS-Zentralarchiv und eine im SPD-Vorstand, der alles von mir wissen, aber gar nichts herausrücken wollte. Bei meiner Suche nach der Blockpartei­vergangenheit der ostdeutschen FDP-Landesverbände4 empfand sich der Liberalen­vorstand als nicht zuständig. Und das Verhalten der ostdeutschen evangelischen Landeskirchen erinnerte mich bei meiner Untersuchung über die »Kirche im Sozialismus«5 an das »Gesetz des Schweigens« auf Sizilien.

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Aber keine Recherche war umfassender und länger als die auf dem Spuren der PDS. Sie dauerte nicht Wochen oder Monate wie in all den anderen Fällen, sondern Jahre. Und meine Reise durch die PDS hatte lange begonnen, bevor ich ein Buch über Deutschlands interessanteste Partei schreiben wollte. Zum erstenmal war ich im Dezember 1989 auf Tour. Kurze Zeit vor dem Sonderparteitag der SED, der ihr Ende und die Geburt der PDS bedeutete, traf ich mich mit einem vormaligen Abteilungsleiter des Zentralkomitees, der mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit während eines Spaziergangs durch Ostberliner Seitengassen im kalten Nieselregen berichtete, wie die Lage der Partei und der Stand der Vorarbeiten zum SED-Sonderparteitag war. Im Herbst 1990, kurz vor dem ersten gesamtdeutschen Bundestagswahlen, fuhr ich von Plauen bis nach Rostock, um zu schauen, wie Basis und Führung de» alten neuen Partei mit ihrer Vergangenheit und mit ihrer Zukunft leben können. Seitdem habe ich unzählige Veranstaltungen und Sitzungen der PDS besucht: Basisorganisations-, Kreis-, Landes- und Partei­vorstands­sitzungen, Versammlungen von Kreistags- und Landtagsfraktionen, Wahlversammlungen und zuletzt dem Schweriner Parteitag im Januar 1997.

Die bisher letzte Reise führte mich im Mietwohnmobil sechs Wochen lang in Städte und Dörfer fast überall in der einstigen DDR. An ihrem Beginn stand das Streitgespräch zwischen Sahra Wagenknecht und Andre Brie am 4. November 1996.

 

    Kunstprodukte    

 

Ein spannender Auftakt, denn der Kontrast könnte nicht größer sein als der zwischen diesen beiden Exponenten verfeindeter Richtungen. Sahra Wagenknecht vertritt die Kommunistische Plattform (KPF) in der PDS, einen Zusammenschluß traditions­verhafteter stalinistischer Hardliner – in Berlin krasser noch als im Rest von Neufünfland. Zur KPF gehören rund 500 meist ältere Genossen.

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In eher konservativen Medien ist von bis zu 5000 Plattformkommunisten die Rede, andere spekulieren über 2500. Die KPF selbst gibt sich konspirativ und veröffentlicht keine Mitgliederzahlen. Meine Recherchen haben ergeben, daß die Zahl 500 der Wahrheit am nächsten kommt. So oder so, die KPF wäre in einer 100.000-Mitglieder-Partei eine unbedeutende Sekte, wenn es nicht zwei Dinge gäbe, die sie aufwerten. Zum einen widerspiegelt sie in ihren Thesen, was Mehrheiten in der Partei glauben; ich komme darauf zurück.

Aber genauso wichtig wie die teilweise ideologische Deckungsgleichheit zwischen Parteimehrheiten und KPF ist zum anderen das Spektakel, das seriöse und unseriöse Medien um Sahra Wagenknecht veranstalten. Sie ist eine Frau, die Widersprüche in sich vereint: Sie ist jung und schwärmt von Walter Ulbricht. Sie frisiert sich wie Rosa Luxemburg und denkt doch eher wie Josef Stalin. Das Theater der Medien um die hübsche Frau mit den häßlichen Gedanken gibt ihr auch innerhalb der PDS eine Wertigkeit, die ihr nicht zukäme aufgrund ihrer stupiden, oft unausgegorenen Thesen. Die in KPF-Kreisen verhaßte »bürgerliche Presse« strahlt zurück in die Partei. Insofern sind Sahra Wagenknecht und die KPF Kunstprodukte. Und längst ist die PDS Teil der Mediengesellschaft.

Vorstandsmitglied André Brie ist der Widerpart von Sahra Wagenknecht. Brie, den seine Stasiverstrickung den Job als stellver­tretender Partei­vorsitzender kostete, gehört zu den Reformern und ist einer der besten theoretischen Köpfe in der PDS-Führung. Er hat schon zu Honecker-Zeiten zusammen mit seinem Bruder Michael, dem jetzigen Mitvorständler Dieter Klein und anderen an einer Reform des Sozialismus gearbeitet in der »Sozialismus­projekt«-Gruppe an der Ostberliner Humboldt-Universität.6 Auf die Ideen von Brie und Genossen konnten im Dezember 1989 und danach jene in der SED zurückgreifen, die ihre Partei erneuern wollten.

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Kurz vor dem Streitgespräch mit Sahra Wagenknecht hat André Brie seine Genossen im »stern« aufgefordert, endlich in der Bundesrepublik »anzukommen«7. Dafür traf ihn der Haß der DDR-Nostalgiker in der PDS. Von denen gibt es viele. Auch im überfüllten Versammlungs­raum des »ND«.

Sie nehmen Brie die Kritik übel, und sie beklagen, daß er sie in einem bürgerlichen Magazin geäußert hat. Brie hat sich in ihren Augen an den »Klassenfeind« verkauft. Wenn schon Kritik, dann doch bitte im »ND«.

 

    Vorgebliche Demokratie    

 

Wie die Sympathien im Saal verteilt sind, zeigt sich gleich, als »ND«-Chefredakteur Reiner Oschmann die Kontrahenten vorstellt. Donnernder Beifall im meist älteren Publikum für Wagenknecht, weniger Applaus und einige Mißfallens­äußerungen für Brie.

Sahra Wagenknecht kommt sofort zur Sache. Sie greift eine Diskussion auf, die seit längerem schon die Gemüter erhitzt in der PDS. Soll sich die Partei, wenn sich denn die Möglichkeit ergibt, an einer Landesregierung oder gar an einer Bundesregierung beteiligen oder sie wenigstens dulden, wie es ja schon in Sachsen-Anhalt geschieht? Während der Parteivorstand und Gregor Gysi sich hinter salomonischen Formeln eher bedeckt halten, aber mehrheitlich doch fürs Mitregieren sind, sind andere voraus­geprescht. Darunter der mecklenburgisch-vorpommersche PDS-Vorsitzende Helmut Holter, der auf dem Schweriner Parteitag im Januar 1997 fordern wird, mit dem »Petting« aufzuhören und zur Sache zu kommen. Wahrscheinlich wird die erste SPD/PDS-Landesregierung in Schwerin vereidigt werden. SPD-Chef Harald Ringstorff mußte schon nach der Landtagswahl 1994 von der Baracke daran gehindert werden, eine rot-rote Koalition auszuhandeln. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Johannes Rau hatte für diesen Fall angedroht, alle Parteiämter niederzulegen.

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Sahra Wagenknecht hält nichts von PDS-Ministern. Statt Regierungsbeteiligung fordert sie außerparlament­arische Aktion. Man müsse die »verfluchte, weitverbreitete Resignation« durchbrechen, den »Druck der Straße auf das Kapital« entwickeln, sonst ändere sich nichts. Unter stürmischem Applaus beweist Sahra Wagenknecht, daß sich in der stalinistischen Gedankenwelt seit Ende der zwanziger Jahre nichts Wesentliches geändert hat. Auch wenn die einschlägigen Kampfbegriffe vermieden werden, so sind Sozialdemokraten immer noch Feinde und Parlamente Schwatzbuden, die allein schon durch ihre Existenz die Diktatur des Kapitals verschleiern. Wie ein roter Faden zieht sich die Geringschätzung von Liberalität, demokratischen Institutionen und konkurrierenden Parteien durch die Diskussionsbeiträge von Sahra Wagenknecht.

Ich kenne jedes Argument, das hier fällt, schon lange. Man findet diese Thesen in vielfältigen Variationen samt und sonders in Protokollen von KPD-Parteitagen und Reden kommunistischer Führer etwa ab Mitte der zwanziger Jahre, seitdem die deutschen Kommunisten sich unter der Losung »Bolschewisierung der KPD« Stalins Diktat unterwarfen. Und den Spruch des letzten KPD-Vorsitzenden Max Reimann im Parlamentarischen Rat 1949, die KPD werde das Grundgesetz verteidigen gegen die, die es beschlossen hätten8, hat noch die DKP in den achtziger Jahren strapaziert. Dabei liegt es auf der Hand, daß die westdeutschen SED-Filialen die demokratischen Grundrechte des Grundgesetzes mit einem Federstrich ausgelöscht hätten, wenn sie nur die Macht dazu gehabt hätten. Sie wollten eine deutsche Vereinigung unter dem Vorzeichen der SED.

Für Sahra Wagenknecht ist jede kapitalistische Gesellschaft eine »vorgebliche Demokratie«. Sie sagt: »Ich hätte ja gar kein Problem damit, ein positives Verhältnis zu einer parlamentarischen Demokratie zu entwickeln, wenn es denn wirklich eine wäre.«

Dieses Argument ist dumm und perfide zugleich. Und vor allem ist es taktisch. Es unterstellt, daß seine Urheberin mehr Demokratie will, als die Bundesrepublik bietet. Aber wie paßt das zur Lobpreisung der DDR, vor allem der Ulbricht-Ära?

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Nein, Sahra Wagenknecht hat mit Demokratie nichts im Sinn. Sie sehnt sich zurück nach jenen Zeiten, in denen das Politbüro oder gar nur der Generalsekretär allein bestimmte, was dem Glück der »sozialistischen Menschengemeinschaft« diente. Sie fordert Demokratie, um den Klassenfeind zu entlarven, nicht, weil sie Demokratie will. In einem Interview mit dem »Spiegel« hat sie erklärt, ein künftiger Sozialismus könne sich mehr Demokratie »leisten« als der vergangene.9 Für sie ist Demokratie ein Luxusartikel, der bei günstiger Lage zugeteilt werden kann oder eben auch nicht.

Bezeichnend, daß Sahra Wagenknecht, hier getreu auf den Spuren von Marx und Engels, auf den preußischen Staatsphilosophen Hegel zurückgreift, wenn sie über Freiheit spricht. Allerdings kommt bei ihr nur die Vulgärvariante von Friedrich Engels' Interpretation10 heraus: »Das Recht zum Beispiel, eine Gesellschaft zu verneinen, ist für mich noch nicht Freiheit. Freiheit ist dann gegeben, wenn man die Möglichkeit hat, mit einem in Einsicht gegründeten guten Gewissen eine Gesellschaft zu bejahen, in der man lebt.«11  

Demnach kann man unter Umständen in Diktaturen freier leben als in Demokratien, denn jede Diktatur gibt einem die Möglichkeit, sie zu bejahen. Und unbestreitbar haben viele, die dies tun oder getan haben, ein gutes Gewissen. Viele in der PDS haben noch heute ein gutes Gewissen, wenn sie an ihr Engagement für den realen Sozialismus denken. Sie hätten doch nur das Beste gewollt!

Für André Brie, der die Bundesrepublik trotz schwerwiegender Mängel für demokratischer hält, als es die DDR je war, hat Sahra Wagenknecht nur schlecht versteckte Geringschätzung übrig.

 

    Heimatverlust    

 

Die Kontinuität stalinistischer Demokratieverachtung offenbart sich unverhüllt, als einer aus dem Publikum Sahra Wagenknecht widerspricht: Zu DDR-Zeiten seien Diskussions­veranstaltungen wie diese nicht möglich gewesen. Ob denn das nicht zeige, daß es im neuen Deutschland mehr Demokratie gebe als in der einstigen Deutschen Demokratischen Republik?

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Die Kritisierte greift zur <Ja-aber-Methode> – man nehme das Unabweisbare an und drehe es dann Stück um Stück durch den Fleischwolf der Ideologie: Gewiß habe es in der DDR leider Demokratiedefizite gegeben, »aber können wir den Demokratie­begriff nur an solchen Fragen festmachen?« – also daran, ob etwa Meinungs- und Versammlungsfreiheit herrschen oder nicht?

Natürlich nicht, denn: »Die Frage ist doch, was bewirken solche Diskussionen für die Strukturiertheit der Gesellschaft? (...) Demokratie ist für mich fundamental auch eine Frage: Wem kommt der gesellschaftliche Reichtum zugute, wie groß und wie klein er immer sei. Das gesellschaftliche Mehrprodukt in der DDR wurde zumindest (...) dafür verwendet, ein soziales Netz zu finanzieren, und es wurde nicht in die Taschen von superreichen Milliardären umverteilt.«

Dröhnender Beifall. Sahra Wagenknecht kommt in Fahrt: »Ich finde es zynisch angesichts von real sechs Millionen Arbeitslosen in diesem Land, angesichts von Tausenden von jungen Leuten, die eine Lehrstelle suchen und keine kriegen, denen von vornherein jede Chance verbaut wird, irgendwo demokratisch etwas mitzugestalten, weil sie nicht einmal ins Berufsleben einsteigen können – angesichts all dessen davon zu reden, daß diese Gesellschaft demokratischer ist als die DDR-Gesellschaft, das finde ich wirklich zynisch.«

Wieder tobender Beifall. Sahra Wagenknecht hat die Herzen der meisten Zuhörer erobert. Denen ist die verquere Logik der Wagenknechtschen Thesen egal, wonach Demokratie offensichtlich nur gegeben ist, wo Vollbeschäftigung herrscht. Sie begeistern sich für jedes Argument gegen den »Klassenfeind«. Sie haben die deutsche Vereinigung als Heimatverlust erlebt. Sie hatten sich wohlgefühlt in der SED-Diktatur, und sie haben ihr Feindbild nicht geändert. Sie sind verbittert, wie Tausende anderer PDS-Mitglieder auch.

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Sahra Wagenknecht bedient die DDR-Nostalgiker mit Thesen, die vor allem deren Gefühle ansprechen. Sonst wäre es nicht vorstellbar, daß unter Applaus demokratischen Rechten jeder Eigenwert abgesprochen wird. Für Wagenknecht und den Großteil der Zuhörer ist Demokratie eine gefährliche Importware aus dem feindlichen Ausland.

Folgerichtig polemisiert Sahra Wagenknecht gegen die Entspannungspolitik. Die ja von der Sowjetunion initiierte Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) ist für sie Ausdruck des Zurückweichens vor dem Imperialismus, eine »Selbstaufgabe«12, vor allem wegen des berühmten »Korbs 3« der Schlußakte von Helsinki (1975), in der demokratische Grundrechte vereinbart worden waren. Weil die Forderung nach Demokratie die Herrschaft der kommunistischen Parteien in Osteuropa erschütterte, empfindet Sahra Wagenknecht demokratische Werte als Bedrohung.

Demokratie ist ihr günstigstenfalls ein Werkzeug, mit dessen Hilfe sich Dinge erreichen lassen und das man je nach Lage in die Hand nimmt oder weglegt. Das ist eine alte Strategie der Kommunistischen Internationale: Man nutze die Demokratie, um die eigene Diktatur zu errichten.

Friedrich Engels hatte im Blick auf die Lage der Sozialdemokratie im wilhelminischen Deutschland noch geschrieben: »Wir brauchen die Demokratie wie die Luft zum Atmen.« Laut Lenin ist die Diktatur des Proletariats viel demokratischer als jede bürgerliche Demokratie, weil die große Mehrheit des Volkes die Macht ausübe.13 Der Sowjetrevolutionär hatte die Demokratie wenigstens theoretisch noch ernst genommen. Für ihn war sie »eine Staatsform, eine der Spielarten des Staates«.14 Spätestens mit Stalin aber landete »Demokratie« im Neusprech-Wörterbuch. Das Volk hatte am wenigsten zu sagen in der Volksdemokratie, auch in der sich demokratisch nennenden Republik des Walter Ulbricht.

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    Bauchschuß verdient    

 

André Brie hatte sich für das Streitgespräch einen anderen Fahrplan ausgedacht. Er hatte auf einen rationalen Diskurs gesetzt. Vor allem wollte er seine Kontrahentin mit wahrlich aberwitzigen Zitaten aus ihren Veröffentlichungen konfrontieren. Ihm fällt es sichtlich schwer, sich in der erhitzten Menge Gehör zu verschaffen. Er muß sich vorkommen wie ein Redner auf einem Schlesiertreffen, der sich dafür stark macht, die politische Wirklichkeit in Europa wahrzunehmen und zu achten. Mit Heimat­vertriebenen gleich welcher Couleur läßt sich schwer sachlich argumentieren. Vor allem wenn der Heimatverlust frisch zurückliegt.

Brie versucht es trotzdem: Für ihn hängt die parlamentarische Demokratie von den politischen Kräftever­hältnissen ab. »Die Linke beklagt sich immer, daß sie unterliegt, aber sie kann sich doch nicht beklagen, wenn sie unfähig ist, die geistigen und anderen Kräfteverhältnisse in diesem Land zu prägen. (...) Die Demokratie ist nicht alles, aber ohne die Demokratie ist alles nichts.«

Ihm geht es darum, die Bundesrepublik demokratischer zu machen. Er fordert weitgehende soziale Rechte, die Gleichstellung der Frauen, einen besseren Schutz von gesellschaftlichen Minderheiten. Er will die »kulturelle Hegemonie der Konservativen brechen«, sich also mit der bundesdeutschen Gesellschaft einlassen, um sie demokratisch umzubauen. Dafür braucht es ein breites Bündnis, inklusive Sozialdemokraten und Grüne.

Sahra Wagenknecht dagegen akzeptiert als Bündnispartner nur die DKP als »größte Organisation der westdeutschen Linken«. Sie will sich gewissermaßen nur mit sich selbst verbünden. Sahra Wagenknecht und die KPF in der PDS sind nur deswegen noch nicht geschlossen zu ihrer wahren geistigen Heimat, der DKP, zurückgekehrt, weil sie dort in der Bedeutungslosigkeit enden würden. Die so verachteten bürgerlichen Medien nähmen sie schlicht nicht mehr wahr.

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Ganz am Ende einer denkwürdigen Diskussion kommt das Gespräch auf die Mauer. Der Diplomatensohn und gelernte Außen­politiker André Brie rechtfertigt die Entspannungspolitik, die Sahra Wagenknecht dagegen dem verstorbenen SED-Chef Erich Honecker als schweren Fehler ankreidet. In ihren Augen begann der Untergang der DDR, als die Mauer durchlässiger wurde. In einem Interview hat sie erklärt: »(...) Reisefreiheit an sich bedeutet mir nichts. Irgendeine imperialistische Metropole interessiert mich halt nicht. So aus lauter Selbstzweck da hinfahren – wozu?«15

Als Brie die Mauer verurteilt, ruft in der Sitzreihe hinter mir ein Zuhörer laut und erregt: »Die haben doch den Bauchschuß verdient, die Davonläufer!«

 

Natürlich haben wir das Grenzgebiet absolut sicher gemacht. Da kam keiner rein und keiner raus. Dafür haben sich die Mädchen immer gefreut, wenn neue Grenzer zum Dorftanz kamen. War ja sonst keiner da. Und für Blutauffrischung haben unsere Jungs auch gesorgt. Sonst hätten die ja bald alle den gleichen Namen gehabt. 

Leider konnten wir die Grenze gegen äußere Angriffe nie schützen. Wir haben es aber auch nicht geübt. Im Polit­unterricht hieß es immer: Wir werden sowieso überrollt und sind dann Partisanen im Hinterland des Feindes. Das braucht man nicht üben. Geübt haben wir aber öfter Grenzalarm. Da ging es darum, etwaige Grenzverletzer unschädlich zu machen. In unserem Grenzabschnitt kamen wirklich zweimal welche an. Aber dann ist die ganze Kompanie raus und so lange gejagt, bis wir sie hatten. Die Offiziere waren dann so nervös, als wäre wirklich ein Krieg ausgebrochen. 

Noch nervöser waren wir alle, wenn sowjetische Soldaten desertiert waren und in den Westen wollten. Die kamen dann mit zwei MPi's und tausend Schuß Munition und ballerten aus dem Weg, was sich ihnen dahin stellte. Da mußte man sich immer gut verstecken, um nicht zufällig selbst umgenietet zu werden.

Einen Aspekt des sicheren Schutzes unserer Staatsgrenze hat der Genosse General nicht erwähnt: den Umweltschutz. Weil ja keiner raus und rein kam, konnte sich die Natur völlig geschützt entwickeln. Heute, wo viele dort mit dem Auto fahren und wandern, sind viele Tiere und Pflanzen wieder gefährdet.

Aus einem Leserbrief an das »Neue Deutschland« 19. März 1996.

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